12) Koffer auf Abwegen

Sie räumten den Tisch ab und trugen das Geschirr in die Küche zurück. Veronica bestand darauf, dass ihr Vater abspülte, während sie einen Teil des Eintopfs in Portionen abpackte, die sie später einfrieren wollte. Zwanzig Minuten später betraten sie den mit Büchern tapezierten Raum, in dessen Mitte der Sci-Fi-Arbeitsplatz stand. Zach zeigte sich beeindruckt. Bevor er sich von den Bänden in den Regalen in andere Welten entführen ließ – sie kannte seine Schwäche für Gedrucktes nur zu gut – rückte Veronica einen zweiten Stuhl neben ihren Cockpitsessel und deutete an, er solle Platz nehmen.

„Ok, womit steigen wir ein?“, fragte Zach.

„Ich würde vorschlagen, ich spiele ein paar Stellen aus dem KSCN-Interview vom 29.11.‘75. Er redet mit Laura Gross über sein Leben, seine Karriere und natürlich die Beatles. Gross ist eine junge Journalistin und eine Freundin der Familie. Achte auf den Tonfall. Was er über seine Memoiren sagt, ist natürlich auch höchst interessant… Bist du bereit?“

„Kann‘s kaum erwarten!“

Veronica klickte das Lesezeichen an, unter dem der Audiomitschnitt des Interviews gespeichert war. Sie ließ es ein paar Minuten laufen, um ihrem Vater einen Eindruck vom Austausch der beiden Gesprächspartner zu vermitteln. Dann sprang sie zur Mitte der Aufnahme. Mal Evans betonte, dass er es geliebt habe, als Tourmanager der Beatles arbeiten zu dürfen. Er habe zwar drei Schwestern, aber keine leiblichen Brüder. Er bezeichnete den Sänger Harry Nilsson als seinen Blutsbruder, aber auch die vier Beatles. Dann drückte er seine Hoffnung aus, dass sie sein Buch, das bald herauskommen sollte, mögen würden. Sie hörten Laura Gross sagen: „Ich weiß, dass du niemals etwas schrecklich Negatives über sie schreiben würdest.“ Mal Evans antwortete: „Nun, das könnte ich. Ich sprach mit Ringo über das Buch. Ich sagte: ‚Ich würde dich nicht in ein schlechtes Licht rücken wollen.‘ Und er sagte: ‚Schau, wenn du nicht die Wahrheit erzählst, fang gar nicht erst damit an. Gerade du solltest es so erzählen, wie es war.‘ Und da gibt es ein paar Dinge, deretwegen sie bestimmt wütend auf mich sein werden.“ Er habe jedoch viel Spaß und eine gute Beziehung zu diesen Leuten gehabt. Daher könne er jetzt nicht etwas anderes behaupten. An was er sich erinnere, sei eine gute Zeit gehabt zu haben.

Veronica sprang zum Ende und ließ die letzten paar Minuten abspielen. Zach sagte: „Hmm, Das hört sich wirklich nicht so an, als habe er eine reißerische Publikation geplant, aber er war sich bewusst, dass es witzlos gewesen wäre, nur die angenehmen Momente zu beschreiben.“

„Ist dir aufgefallen, in welch zuversichtlicher Stimmung er sich befand?“

„Ja, der Mann hatte scheinbar mehr Pläne als Sorgen.“

„Dann schau dir mal an, was größere Veröffentlichungen über ihn schreiben.“ Veronica rief eine Textdatei auf, aus der sie vorzulesen begann: „Beatlechat bestätigt unseren Eindruck. Evans habe seine letzten beiden Lebensjahre hauptsächlich in den Staaten verbracht, wo er mit John, Ringo, Harry Nilsson, Keith Moon und anderen Musikern Partys feierte. Im September 1975 präsentierte er sich auf einem Beatles-Fantreffen in New York. Dann jedoch schwenkt der Bericht um und zeichnet ein ganz anderes Bild. Badfinger, eine erfolgreiche Band, die er entdeckt und produziert hatte, lösten sich im April auf – also lange vor dem Fantreffen –, weil der Sänger sich umgebracht hat. Evans arbeitete jedoch schon bald am Nachfolgeprojekt des Gitarristen. Angeblich – hier widerspricht sich der Bericht selbst, schwand auch der Kontakt zu den Ex-Beatles. Es ist aus anderen Quellen jedoch bekannt, dass dieser nie abgebrochen ist; er traf zum Beispiel McCartney in L.A., als der dort auftrat.“

Veronica scrollte weiter. „Hooks and Harmony sagt: ‚Die Abwärtsspirale setzte sich fort. Mal Evans trennte sich von seiner Frau Lily und zog nach Los Angeles, um Arbeit in der Musikindustrie zu suchen. Seine Frau reichte im Dezember 1975 die Scheidung ein.‘“ Sie schaute auf. „Die meisten Berichte über die Zeit zwischen der Auflösung der Beatles und Evans‘ Tod betonen die Misserfolge und spielen die glücklichen Momente des Mannes herunter, wenn sie sie überhaupt erwähnen. Oftmals bekomme ich den Eindruck, sie schreiben alle von einander ab. Und das fing unmittelbar nach dem tragischen Ereignis an. Angeblich sei er arbeitslos gewesen und habe Beziehungsprobleme mit seiner Freundin Fran gehabt. Laura Gross, die wie gesagt direkten Einblick in sein Privatleben hatte, bezeichnet diese Meldungen als ‚himmelschreiende Lügen‘.“

„Zeichnen sich hier die beiden Lager ab, auf die wir bei dem australischen Kofferfund gestoßen sind?“, überlegte Zach.

„Jetzt wo du‘s sagst… Die Partei, die Mal Evans in ein ungünstiges Licht rückte, bekam die weitaus größere Aufmerksamkeit, so wie dreißig Jahre später die Fraktion, die den australischen Koffer als ‚fake‘ abstempelte.“

„Hast du weitere Audios oder Videos oder war‘s das?“

Veronica holte einen anderen Tab ihres Browsers in den Vordergrund. „Das hier…“, sie zeigte auf den Bildschirm, „… ist eine Diskussion mehrerer Beatles-Koryphäen, darunter Ken Womack. der Mann, der an der ultimativen Mal-Evans-Biografie schreibt. Du erinnerst dich?“

„Den Namen habe ich mir gemerkt. Ich würde dem Mann wirklich zu gern einmal in die Karten schauen.“

„Rate mal wer noch. Die Aufnahme stammt vom August 2022, anlässlich eines Beatles-Kongresses in Chicago. Die Hintergrundgeräusche waren teils recht laut, aber man versteht gut genug, was die Leute sagen.“ Sie klickte auf den Abspielknopf und dann lauschten sie, bis eine Stunde später wieder Stille in Pauls Arbeitszimmer einkehrte.

Zach ächzte. „Faszinierend. Warum fühle ich mich dennoch um wertvolle Lebenszeit betrogen?“

„Vielleicht liegt es daran, dass er lediglich das offizielle Narrativ vom tragischen Hans im Glück bedient. Er lässt gerade so viel durchblicken, dass man an seinen Lippen hängen bleibt, aber eigentlich sagt er nur: ‚Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen‘.“

„Richtig. Dieselbe Masche wie bei Beatlechat: Er gibt zu, es gab ein paar Glanzlichter – Evans bezog auch nach dem Beatles-Split Gehalt von der Band, arbeitete für deren Soloprojekte, hatte Produktionsaufträge, traf McCartney in L.A., telefonierte ständig mit Lennon und Harrison, dinierte mit Ringo Starr zu Weihnachten, hatte seine fast fertigen Memoiren in der Tasche und über den 12. Januar hinaus Zeit, an ihnen zu feilen. Der Verlag zahlte Vorschuss und das Projekt war von allen vier Beatles abgesegnet. Kein Wunder klang er bei seinem Interview mit Laura Gross so glücklich“, zählte Zach auf, was er aus dem Podcast aufgeschnappt hatte. Sarkastisch: „Grund genug, sich mit Alkohol und Valium zu bedröhnen, seine Freunde vollzuheulen und ohne Anlass mit einer Knarre herumzufuchteln, bis man erschossen wird.“

„Ich sehe zwei mögliche Erklärungen für dieses widersprüchliche Verhalten: Mal Evans ‚hat sein Leben schön säuberlich in Schubladen gepackt, denen er getrennt begegnete,‘ wie Womack es einschätzt. Oder die Story, dass er psychisch zerrüttet, mit Drogen vollgepumpt und einer Waffe in der Hand sein Ende quasi provozierte, stimmt nicht.“

„Was wäre, wenn er ohne sein Wissen mit Drogen vollgepumpt wurde?“, spekulierte Zach.

Veronica grübelte. „Da wir dank Pauls Erbe wissen, dass das Manuskript sein Gewicht in Gold wert ist, können wir ein Interesse unterstellen, seine Veröffentlichung zu verhindern. Wir sind jedoch noch immer nicht in der Lage, die Darstellungen von Evans‘ Ende zu bestätigen oder zu widerlegen.“

„Was hatte die Polizei im Haus zu suchen? Wer hat die denn bestellt?“

„Seine Freundin Fran Hughes soll über seine Niedergeschlagenheit so besorgt gewesen sein, dass sie seinen Ghostwriter John Hoernie angerufen haben soll. Der berichtete, er habe Evans ‚mit Drogen vollgepumpt und benommen‘ vorgefunden. Evans habe Hoernie gebeten, sicherzustellen, dass die Memoiren auch wirklich veröffentlicht werden. Es sei dann zu einer verbalen Auseinandersetzung gekommen, bei der Evans eine Schusswaffe zur Hand nahm. Der Ghostwriter soll vergeblich versucht haben, sie ihm zu entwinden. Die Freundin rief daraufhin die Polizei an. Evans habe sich auch der Aufforderung der Polizisten verweigert, seine Waffe niederzulegen, also erschossen sie ihn.“

„Okay… der Mann hat die Kontrolle über seine Gefühle verloren – dumm gelaufen. Seine Freundin ruft die Polizei und begeht damit den Fehler ihres Lebens – steckst du nicht drin; dumm gelaufen. Die Beamten verschlampen Beweismaterial – kann passieren; dumm gelaufen. Der Nachlass verschwindet auf dem Postweg nach England – dumm gelaufen. Der Ghostwriter erfüllt den letzten Willen des Verstorbenen nicht – weil er entweder keine Kopie des Manuskripts aufbewahrt hat oder es rechtliche Hürden gab – auch dumm gelaufen. Der Verlag mottet Evans‘ Tagebuch ein und vergisst es für zehn Jahre im Keller – welch ein Zufall, dumm gelaufen. Als es zusammen mit anderen Papieren wieder auftaucht, wird nicht seine Frau informiert sondern Yoko Ono – Verfahrensfehler; dumm gelaufen. Erst 35 Jahre nach der Wiederentdeckung gibt Lily Evans zu, die Erinnerungen ihres Mannes zu besitzen. Zumindest in diesem einen Fall würde ich auf Vorsatz plädieren“, resümierte Zach. „Für sich genommen kann jeder dieser Vorgänge auf simples menschliches Versagen zurückzuführen sein, aber in der Gesamtschau halte ich so viele Irrtümer für höchst unwahrscheinlich. Falls Mal Evans vorsätzlich ausgeschaltet wurde, steht Fran Hughes zuoberst auf meiner Liste der möglichen Helfer, dann der Ghostwriter. Wer hat den Haushalt aufgelöst, ebenfalls die Freundin?“

„Nein, sein Freund, der Sänger Harry Nilsson. Er war derjenige, der die Urne und den Nachlass nach England geschickt hat.“

„Ich mag seine Musik,“ sagte Zach.

„Eine interessante Notiz am Rande: Mama Cass von The Mamas & The Papas ist 1974 tot in Nilssons Londoner Wohnung aufgefunden worden. 1978 fand man Keith Moon von The Who in exakt demselben Zimmer, in demselben Bett sogar. Beide waren zweiunddreißig Jahre alt. Die Leichenschau wurde vom selben Doktor durchgeführt. Zufälle gibt‘s…“

„Dann muss Nilsson mit auf die Liste.“

„Wenn‘s hilft. Ich sehe keine aktuellen Verbindungen dieser Leute nach Liverpool.“

„Die brauchen sie auch nicht. Uns interessiert der Auftraggeber, wenn es ihn gibt, denn das wäre wohl der, der auch hinter Pauls Tod steckt. Es müsste jemand sein der die finanziellen Mittel und personellen Verbindungen besitzt, Pauls Transaktionen zu verfolgen, und der Entsprechendes vor fast fünfzig Jahren schon leisten konnte.“

„Und der ein Interesse daran hatte und immer noch hat“, ergänzte Veronica.

„Versteht sich von selbst. Aber es grenzt den Personenkreis stark ein: zwei noch lebende Beatles, eine Beatles-Witwe, und eventuell enge Freunde der Band wie beispielsweise Donovan oder die Stones; obwohl ich es für eher unwahrscheinlich halte, dass die wussten, was in dem Manuskript stand. Die ex-Beatles hingegen hatten laut Womack die Veröffentlichung genehmigt – sicher nicht ohne die Katze im Sack gesehen zu haben.“

„Weshalb sollte man jemand eine Genehmigung erteilen und ihn dann umbringen; speziell einen engen Vertrauten und treuen Diener, mit dem man bestimmt hätte verhandeln können? Man hätte auch einfach ein Verbot aussprechen können, entweder persönlich oder auf gerichtlichem Weg; gegen die Bandkollegen ging das doch auch.“

„Weil der Mann mit seinem immensen Insiderwissen womöglich eine wandelnde Zeitbombe war. Und um den Verdacht von sich abzulenken.“

„Fein. Wir befinden uns noch immer tief im Land der Spekulation über Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten, aber das Bild gewinnt zumindest an Schärfe.“

„Findest du? Wir tappen durch einen Wald voll widersprüchlicher Informationen. Was haben wir denn als Grundlage für weitere Ermittlungen in der Hand außer diffusen Verdachtsmomenten?“, beschwerte sich ihr Vater.

„Mehr als die Polizei mit ihren unbrauchbaren Videos und geistigen Scheuklappen. Wir haben zumindest eine Ermittlungshypothese.“

„Ich habe einen Kopf, der gleich explodiert. Und ich weiß nicht, ob mir die Richtung gefällt, in die das geht. Hast du dir überlegt, was geschehen soll, falls wir einem Beatle etwas nachweisen können?“

„Die Antwort auf diese Frage hat Zeit, bis es so weit ist, aber willst du denn nicht wissen…“ Veronica stockte, setzte neu an: „Willst du denn nicht die Wahrheit kennen?“

Zach holte tief Luft. Mit zitternder Stimme antwortete er: „Ich fürchte den Abgrund, der sich vor uns auftut.“

9) Das darf doch wohl nicht wahr sein!

Zach kehrte erst am späten Nachmittag in den Laden zurück. Schwer beladen mit Einkaufstüten stapfte er ins Hinterzimmer herein, wo Veronica es sich bei Keksen und grünem Tee im Sessel bequem gemacht hatte.

„Faules Stück Fleisch!“, polterte er theatralisch, als er die Tüten auf der Bar abstellte. „Keinen Zentimeter hast du dich bewegt, während dein alter Herr heldenmutig in den Urwald eingedrungen ist, um mit bloßen Händen einen Tiger für dein Abendessen zu erlegen.“

„Igitt!“, rief Veronica, „Du weißt doch, dass ich keinen Tiger mag. Außerdem hatte ich Vogelspinne bestellt.“

„Solange du deine Füße unter meinen Tisch hängst, isst du, was ich anschleppe.“

„Solange ich koche, wird gegessen, was ich verlange. Im übrigen war ich nicht ganz so faul, wie es dir vielleicht scheint.“

„Ach nein? Was hast du denn auf die Beine gestellt?“

„Mich. Und dann habe ich mich damit von der Eingangstür bis hierher zum Sessel transportiert.“

„Na gut. Das will ich für dieses Mal gelten lassen“, lenkte Zach ein. „Schau, was ich erbeutet habe.“ Er zog Milch- und Saftflaschen aus einer der Tüten, aus einer anderen einen Eisbergsalat, Broccoli, Bohnen, Lauch, Zwiebeln, Kartoffeln, einen Butterblock und ein paar Äpfel. „Der Salat hat sich besonders heftig gewehrt. Fast wäre er mir entkommen.“

Veronica klatschte in die Hände. „Du bist mein Held, Paps. Wenn ich einmal groß bin, will ich werden wie du.“

Eine weitere Tüte kehrte er einfach auf den Kopf und riss sie dann an den Zipfeln in die Höhe. Schokoladenriegel, Kekse, Kartoffelchips, Karamelbonbons, Popcorn, Marshmallows und andere Snacks polterten auf die Theke und von dort auf den Boden. „Alles, was das Denkerhirn so braucht“, verkündete er.

Eine Dose gesalzener Nüsse rollte Veronica vor die Füße. Sie hob sie auf. „Soll ich fett werden und an Arteriosklerose sterben?“ klagte sie.

„Das war der Plan. Vorher jedoch… Was hast du herausgefunden? Komm schon, ich sehe dir an, dass du gleich platzt, wenn du‘s nicht los wirst.“

„Das Wichtigste zuerst: Wir sind einer Meinung; wir logieren ab heute in Onkel Pauls Wohnung statt im Hotel. Ich habe dir auch schon ein Zimmer ausgesucht. Die Prinzessinnensuite gehört mir. Widerspruch zwecklos.“

Ihr Vater zuckte die Achseln. „Da bin ich wohl machtlos. Weiter.“

„Ich habe die Wohnung für unseren Einzug vorbereitet. Dabei bin ich auf Onkel Pauls Studierzimmer gestoßen, das den schickesten Arbeitsplatz im ganzen Königreich enthält. Du wirst Augen machen. Die Internetleitung – der Hammer. Das Ergebnis kommt schneller auf den Bildschirm, als man die Suchanfrage tippen kann.“

„Ja, ja, ja“, quakte Zach. „Solange er‘s schneller ausspuckt als du will ich zufrieden sein. Komm endlich auf den Punkt!“

„Tsk tsk,“ schnalzte Veronica. „Dass die jungen Leute von heute keine Geduld mehr aufbringen – schrecklich!“

Der Detektiv fletschte die Zähne. Seine Hände formten sich zu Krallen.

Die junge Frau kicherte. „Also gut. Ich habe Henrys Informationen in diverse Suchmaschinen gespeist, um zu sehen, was die Welt von ihnen hält. Und siehe da: alles öffentlich verfügbar.“ Sie nahm einen Stapel Ausdrucke vom Beistelltischen, blies die Kekskrümel fort und deklamierte: „Die Times berichtete am 13. Juli 2004, dass ein englischer Tourist namens Fraser Claughton aus Tankerton in der Grafschaft Kent, damals 41 Jahre alt, auf einem Flohmarkt in Lara bei Melbourne, Australien, einen verschlissenen Koffer für seine Klamotten gekauft hat. Als er ihn öffnete, fand er – Zitat Times – ‚eine der wichtigsten Sammlungen an Beatles-Memorabilien,‘ den ‚heiligen Gral,‘ nach dem fast dreißig Jahre lang alle gesucht hatten: das sogenannte Mal-Evans-Archiv. Der Autor der Meldung deutet weder in seiner Überschrift noch im Text Vorbehalte an, sondern wurde recht konkret bezüglich des Inhalts des Koffers: Fotos – vierhundert an der Zahl –, Vinylalben, Konzertprogramme und versiegelte Tonbandbehälter, die die Aufschrift ‚Abbey Road … not for release‘ tragen. Auf den Tonbändern befänden sich alternative Versionen von We Can Work It Out und Cry Baby Cry, akustische und elektrische Versionen von weiteren Stücken, die später verworfen wurden, sowie Gespräche zwischen McCartney und Lennon. Peter Doggett, ein Berater des Auktionshauses Christie‘s, bestätigte, dass mit Ausnahme zweier Stücke alles ‚sehr aufregend klingt‘ und es gut möglich sei, dass es sich um Evans‘ Archiv handele. John Read, ein Kinderbuchverleger, der den glücklichen Finder in dieser Sache vertrat, stellte den Bezug zu Mal Evans unter Verweis auf Studiounterlagen her, die im Koffer gefunden worden seien und den Namen des Roadies trügen. Ein Mitarbeiter des Beatles-Labels Apple, Mark Lewisohn, äußerte sich als Einziger etwas vorsichtiger, da er die Tracks nur am Telefon gehört habe; er sei aber gewillt, sich überraschen zu lassen. Harmony Central berichtete am nächsten Tag, dass ein Viereinhalb-Stunden-Band bei Apple zur Verifikation liege. Alle präsentierten Fakten sind konkret genug, dass man Missverständnisse ausschließen kann.“

„Aber?“, hakte Zach nach.

„Aber die Los Angeles Times meldete am 18. Juli, dass Peter Nash, Leiter des britischen Fanclubs, die Tapes am 15. gehört habe und als falschen Alarm einstufe. Einen Monat später, am 18. August, veröffentlichte Yahoo News eine ausführliche Associated Press-Meldung, der vermeintliche Beatles-Schatz sei ‚fake;‘ das Original bleibe weiterhin verschollen. Peter, Nash, der den Fund im Auftrag eines britischen Senders untersucht habe, nenne die Angelegenheit nun einen publikumswirksamen Schwindel. Er habe fotokopierte Ticketabrisse gesehen, und die Fotos seien lediglich Laserscans aus den 90er Jahren; bei dem Material von den Bändern handele es ich um ‚die ganz normalen Tracks, die die meisten Beatles-Sammler eh schon besitzen.‘ Es gebe außerdem überhaupt nichts in dem Koffer, das auf Evans hinweise. Apple-Sprecher Geoff Baker sagte, er denke, bei dem Fund handle es sich um einen Schwindel.

AP gab an, Claughton, der glückliche Tourist, sei nicht aufzufinden. Die Times und Jack Malvern, ihr Reporter, wären für Kommentare nicht zu haben. John Read, der hier als Pop-Memorabilienhändler tituliert wird, nehme keine Anrufe entgegen. Und das Beste: Das Auktionshaus Christie‘s gab zur Kenntnis, dass sie, ausdrücklich, nicht für eine Einschätzung der Gegenstände kontaktiert worden seien und auch keiner ihrer Experten diese gesehen hätte.“

„Da laus mich doch glatt der Affe!“, stieß Zach hervor. „Also, entweder lügen dieser Fanclubleiter, die Presseagentur, der Apple-Sprecher und Christie‘s alle miteinander oder…“

„Oder der Tourist, sein Vertreter, der Times-Reporter und der Christie‘s-Berater haben alle gelogen und unser neuer Freund hat heute einhundertachtzigtausend Britische Pfund für eine Zeitungsente ausgegeben“, schloss Veronica. „Egal wie man es dreht oder wendet, man kommt nicht umhin, von einer Verschwörung zu sprechen.“

Zach überlegte eine Weile still, bevor er sagte: „Aufgrund der Zeitungsmeldungen allein könnten wir kaum mehr tun, als die Glaubhaftigkeit der Aussagen zu bewerten. Da wir jedoch den Streitgegenstand vorliegen haben – mehr noch, da wir mit kundigen Sammlern in Kontakt stehen, die bereit sind, erkleckliche Summen dafür hinzublättern – scheint die Gruppe der Leute, die ganz laut ‚Betrug!‘ schreien, selbst eine Betrügerbande zu sein, die den Deckel des Koffers zuhalten will.“

„Es sei denn, es gab mehr als einen Koffer“, warf Veronica ein. „Auch dafür fand ich Hinweise.“

„Als wäre der Fall nicht schon kompliziert genug. Na gut, hau mir eine weitere Kofferstory um die Ohren.“

„Welche davon?“ Veronica ließ die Papiere, aus denen sie zitiert hatte, neben den Sessel fallen und nahm einen weiteren Stapel Ausdrucke vom Tisch. „Geschichten gibt es in Hülle und Fülle. Mal Evans, wenigstens darin sind sich alle Quellen einig, war wohl derjenige, der noch vor den Freundinnen, Frauen und Managern der Band die vollständigsten und tiefsten Einblicke in das Denken und Handeln der Beatles gehabt hat. Als Mädchen für alles schleppte er Koffer, lenkte den Tourbus, baute Instrumente auf, besorgte Essen und kümmerte sich um das persönliche Wohlergehen der Musiker. Er beschaffte ihre Unterhosen und wusch ihre Socken, buchstäblich. Manchmal durfte er einfache Klänge und Geräusche zu den Aufnahmen beitragen, war Stichwortgeber für einige Songs und tauchte in Nebenrollen ihrer Filme auf. Dabei blieb er stets bescheiden und diskret. Zwar führte er von Anfang an Tagebuch, plauderte jedoch nie aus dem Nähkästchen. Erst Ende 1975, also fünf Jahr nach der Bandauflösung, machte er von sich reden. In einem Fernseh- und mehreren Radiointerviews erzählte er von seinem Memoiren-Projekt, das zunächst ‚200 Miles to go‘ – Noch 320km – hieß, später auf den Titel ‚Living the Beatles Legend‘ – Ich lebte die Beatles-Legende – umgetauft wurde. Abliefern sollte er das fertige Manuskript angeblich am 12. Januar 1976, aber es gibt auch Quellen, die sagen, er habe noch ein halbes Jahr mehr Zeit gehabt. Wie dem auch sei, es kam der Abend des 4., 5. oder 6. Januar 1976 – je nachdem, welche Quelle man heranzieht…“

„Das ist ja unglaublich!“, polterte Zach.

„…aber wahr. In der damaligen Ausgabe des Rolling Stone Magazins nennt Patrick Snyder den 4. Januar. Die Wikipedia nennt den 5., bezieht sich dabei jedoch auf eine Meldung der LA Times vom selben Tag, das heißt, die Ausgabe, die berichtet, was am 4. geschehen ist. Eine Sonntagsausgabe der Londoner Times, die des Jahrestages gedenkt, behauptet, Mal Evans‘ Ehefrau sei am Morgen des 5. über den Tod ihres Mannes am Vorabend informiert worden. In einem Blog aus dem Jahr 2012 fand ich auch den 6. Januar, aber das war vermutlich ein Tippfehler.

Welchen Datums auch immer, erschossen worden ist er von zwei, drei oder vier namentlich bekannten Polizisten, wiederum je nachdem, welcher Quelle man Glauben schenkt. Seine damalige Freundin, Frances Hughes, mit der er zusammenlebte, hat wohl den Ghostwriter der Memoiren, einen gewissen John Hoernie, angerufen, weil Mr Evans jenes Abends psychisch völlig am Ende gewesen sein soll. Angeblich stand er unter Valium und Alkohol. Das Gespräch der beiden Männer scheint unglücklich verlaufen zu sein, denn Evans nahm eine Waffe zur Hand, die je nach Quelle entweder eine Pistole oder ein Gewehr gewesen ist, und entweder eine Luftwaffe oder scharf gewesen sein soll. Die Freundin alarmierte die Polizei. Die Beamten forderten Evans angeblich auf, die Waffe fallen zu lassen, was dieser verweigerte, und so feuerten sie sechs Schüsse auf ihn ab, vier davon tödlich.“

„Vielleicht sollte man sich den Polizeibericht zusenden lassen“, warf Zach ein.

„Das hat schon eine gewisse Tina Foster versucht, wurde jedoch abgewiesen.“

Zach schüttelte den Kopf.

„Hier beginnt jedenfalls die Geschichte um das sogenannte Memorabilien-Archiv. Die Polizei hat die Anwesenden als Zeugen mitgenommen und einiges an Gegenständen sichergestellt. Von diesem Moment an sind die Memoiren verschwunden. Einer Version nach haben die Behörden den Koffer verbummelt, einer anderen zufolge hat ein enger Freund, der Sänger Harry Nilsson, Evans‘ Sachen gepackt und mit seiner Asche nach London geschickt, zu Evans‘ Witwe Lily. Beides ging verloren. Die Urne tauchte wenig später am Flughafen wieder auf. Eine Truhe voller persönlicher Gegenstände, darunter seine Tagebücher, wurde erst 1986 im Keller des New Yorker Verlags Grosset and Dunlap gefunden, bei dem die Memoiren erscheinen hätten sollen. Man informierte Yoko Ono, die die Sachen freundlicherweise an Mrs Evans weiterleitete.“

„Wie kommt das Zeug nach New York, wenn es nach London gesendet wurde? Was haben persönliche Effekten bei einem Verlag zu suchen? Und warum gibt dieser sie ausgerechnet Yoko?“, warf Zach ein.

„So spielt halt das Leben eben manchmal.“ Veronica kniff ein Auge zu. Ihr Vater schnaubte.

„Wie ich das sehe, haben wir es mit zwei, vielleicht sogar drei Chargen zu tun: Eventuell einem Koffer, den die Polizei von Los Angeles verbummelte, einer Kiste, die aus welchen Gründen auch immer für zehn Jahre beim Verlag versumpfte, und einer weiteren Kiste, die auf dem Weg nach London verschollen ging.“

„Und welche davon enthielt das Manuskript?“

„Könnte im Prinzip in jeder der Chargen gesteckt haben. Bis vor kurzem behauptete die Witwe, die Memoiren nicht zu besitzen, aber nun hat sie Ken Womack, einen bekannten Beatles-Spezialisten, beauftragt, sie zu veröffentlichen; ebenso die Tagebücher.“

„Einfach so? Ups, ich habe mich geirrt? Hier ist das Ding, nach dem die Beatles-Verrückten dieser Welt fünfundvierzig Jahre lang gesucht haben? Lächerlich!“, ereiferte sich der Detektiv.

„Um so lächerlicher, als wir sicher wissen, dass es in unserem Koffer lag, nicht in der New Yorker Kiste, die Yoko Ono an Lily Evans geschickt hat. Was veröffentlicht dieser Womack also da?“

„Hoernies Kopie, könnte eine harmlose Antwort lauten. Irgendwie gibt es mir in der Sache aber zu viele Ungereimtheiten und seltsame Zufälle. Weshalb hielt Mrs Evans das Manuskript geheim, statt es zu Geld zu machen?“

„Weil Yoko es bisher zurückgehalten hat? Oder einer der Beatles mit Prozessen gedroht hat?“, schlug Veronica vor.

„Mit anderen Worten, weil Mal Evans etwas zu erzählen hatte, das die erfolgreichste Band der Welt in ein neues Licht rückt. Es würde erklären, weshalb diese Gang von ‚Experten‘ die Echtheit des Koffers so vehement abgestritten hat. Ehrlich gesagt glaube ich an diesem Punkt nicht mehr an Zufälle. Wie hat Henry das genannt?“

„Schneewittchengeschichten.“

„Schneewittchengeschichten, so ist es. Ich kann zwar noch nicht exakt bestimmen, worin die Wahrheit besteht, aber ich kann mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen, dass sie nicht so harmlos sein wird, wie sie bei oberflächlicher Betrachtung erscheint. Dafür liegen zu viele Fehlinformationen über normalerweise einfach zu bestimmende Tatsachen vor.“

„Erkennst du schon einen Pfad in dem ganzen Durcheinander, Paps?“

„Es gibt etwas, das mich beunruhigt. Da verkündet jemand, dass er nun endlich über seine Zeit bei den Beatles reden will, und dann stirbt er plötzlich – nicht einfach so, sondern unter ungewöhnlichen Umständen. Dummerweise verschwindet seine Memorabilien-Sammlung, jedoch nicht nur ein Teil, sondern alle Teile gleichzeitig auf verschiedenen Wegen – einschließlich der berüchtigten Memoiren. Jahrzehnte später tauchen sie hier bei uns und zur gleichen Zeit bei der Witwe auf – und wieder stirbt ein Mann unter seltsamen Umständen, wieder verschwindet im selben Moment das Manuskript…“

Veronica horchte auf. „Hm? Wie bitte?“

„Tut mir leid, mein Schatz. Ich hatte noch keine Gelegenheit, es dir zu sagen. Als Henry und ich das Inventar prüften, fanden wir alle Objekte wie im Warenbuch verzeichnet – mit Ausnahme der Memoiren. Miller erzählte uns sogar davon, erinnerst du dich? Er sagte, Pauls Mörder habe die Kasse ausgeräumt und das Manuskript bei der Gelegenheit mit eingepackt.“

„Das darf doch wohl nicht wahr sein!“, rief Veronica