32) Gestern und heute

Veronica begann den Morgen mit einer kleinen Recherche. Molly Jones hatte am Vortag sehr seltsam reagiert, als Zach gescherzt hatte, der Koffer eigne sich fast für die Aufnahme eines Menschen. Die Sekretärin hatte das Album ‚Yesterday and Today‘ erwähnt und sich geschüttelt. Veronica kannte den Titel nicht, ging aber wie selbstverständlich davon aus, dass es sich um ein Beatles-Werk handelte. Sie blätterte durch die LP-Sortierkästen des Ladens. Sie fand drei Exemplare des Albums. Eines zeigte drei der Pilzköpfe um einen auf seiner kleinsten Seitenfläche stehenden Kistenkoffer geschart. Der Deckel war geöffnet und im Inneren saß Paul McCartney. Obwohl die Gesichter der vier Musiker keine Trauer ausdrückten, stellte Veronicas Imagination die Verbindung zu einem Sarg oder dem Verscharren eines Leichnams her. Sie suchte auf der Rückseite des Covers nach dem Copyright-Datum. Da, 1966. Yesterday and Today‘ musste eine der letzten Veröffentlichungen gewesen sein, an denen der biologische Paul McCartney mitgewirkt hatte. Im Gegensatz zu Molly Jones war sie nicht der Meinung, dass der dort abgebildete Koffer dem von Jane Asher glich, verstand jedoch ihre instinktive Reaktion auf den Scherz ihres Vaters.

Die Hüllen der beiden anderen LPs zeigten ein völlig anderes Bild: Die Beatles trugen weiße Arbeitskittel. Man hatte sie mit etwas garniert, das auf den ersten Blick wie Leichenteile aussah. Bei näherer Betrachtung erkannte sie, dass es sich um Körperteile aus der Tierschlachtung sowie lebensgroße nackte Baby-Plastikpuppen handelte, deren Köpfe nicht mehr auf den Rümpfen saßen. Die vier Musiker schienen die Metzgerszene zu genießen. Sie strahlten und grinsten, als habe ihnen jemand einen guten Witz erzählt. McCartney saß genau im Zentrum. Das Motiv stach schockierend aus der ihr bekannten Parade biederer Sechzigerjahre-Produktionen heraus. Das Spiel mit Ekel und Gewalt als Verkaufsargument trieben eigentlich Punk- und Metal-Bands, zehn beziehungsweise zwanzig Jahre später. Nicht einmal die Stones hatten Vergleichbares gewagt.

Veronica stellte fest, dass Onkel Paul die Scheibe mit dem Kofferbild für vergleichsweise kleines Geld verkaufte, für das Metzger-Ding hingegen Mondpreise im fünfstelligen Bereich aufrief. Sie leitete daraus ab, dass der Koffer die reguläre Version schmückte, die Schlachter-Clique eine limitierte, zensierte oder nur regional verkäufliche, jedenfalls rare Version. Sie wunderte sich erneut über die bizarren Dinge, die allenthalben zum Vorschein kamen, wenn man ein wenig am glänzenden Lack der Fab Four kratzte.

Ein Geräusch an der Ladentür ließ Veronica herumfahren. Ihr Nervenkostüm hatte gelitten, seit sie in Liverpool angekommen waren, stellte sie fest. Sie sah Maria, die den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte und gerade im Begriff stand, sich selbst einzulassen. Veronica winkte ihr, während sie sich in Bewegung setzte, um ihr zu öffnen. Die Italienerin zog den Schlüssel wieder ab. „Guten Morgen, Signorina Veronica“, sagte sie dankbar.

„Guten Morgen, Maria. Überpünktlich wie immer.“

„Störe ich?“

„Im Gegenteil. Ich kann Gesellschaft heute ganz gut gebrauchen.“

„Haben Sie schlecht geträumt?“

„Danke der Nachfrage. Ich hätte Anlass dazu gehabt.“

Maria sah die Schallplatten, die die Detektivin auf den Sortierkisten liegen gelassen hatte. „Na, da kann einem aber auch schlecht werden, wenn man den Tag mit solchen Szenen beginnt.“

Veronica schnaubte. „Können Sie mir erklären, weshalb eine angeblich für Frieden und Liebe stehende Band sich in einer derart morbiden Aufmachung fotografieren lässt?“

„Von wegen, morbide – Avant-Garde! So lautet zumindest die gängige Erklärung.“

„Morbide und geschmacklos. Wie lautet die zweitgängigste Erklärung?“

Maria warf ihr einen listigen Blick zu und fragte zurück: „Wie kommen Sie darauf, dass es die gibt?“

„Weil das, was in den Zeitschriften und Büchern über die Beatles steht, mehr Löcher enthält als ein Schweizer Käse, mehr Widersprüche aufweist als ein falsches Geständnis, und weil ich bisher für jede solche Story eine besser zu den Tatsachen passende gefunden habe.“

„Schön beobachtet. Wie wär‘s dann hiermit: Die Beatles hatten die Nase voll davon, dass ihre Alben für US-Veröffentlichungen von der Plattenfirma verhackstückt wurden. Capitol Records hat sie gekürzt, umgestellt und mit anderen ihrer Werke kombiniert. In diesem Fall hat das Label einige Songs vom noch nicht erschienenen ‚Revolver‘-Album mit Stücken von den beiden Vorgängern auf ‚Yesterday and Today‘ gepresst. Das ‚Butcher-Cover‘, wie es von Kennern genannt wird, sollte ein visueller Protest werden. Der Schuss ging nach hinten los; die schon ausgelieferten Chargen mussten nach massiven Beschwerden von Händlern und Kunden zurückgerufen und neu verpackt werden. Die Band hat aber zumindest erreicht, dass ‚Yesterday and Today‘ das letzte solche Produkt blieb.“

„Grimms Märchen, die Zweite. Als ob die PR-Leute des Labels keine Ahnung hatten, welch eklatanten Tabubruch sie begingen! Waren sie auf Schockwirkung aus? Schließlich ist auch schlechte Presse gute Werbung.“

Maria wiegte den Kopf. „Es gibt hier zwei sehr interessante Umstände, die gegen eine simple PR-Aktion sprechen – und für eine tiefer gehende Manipulation. Ad 1: Yesterday and Today wurde am 15.6.‘66 veröffentlicht. Nehmen wir eine einfache numerologische Operation vor: Eins plus fünf ergibt sechs, für all jene, denen die drei weiteren Sechsen nicht genügen. Vier mal sechs ergibt 24. Zwei plus vier ergibt wieder…“

„Sechs! Hol‘s der Teufel.“

„Nur eins von vielen Beispielen, in denen die Veröffentlichung an Daten mit esoterischer Bedeutung stattfand. Ad 2: Im August, vier Tage vor Beginn der US-Tour erschienen drüben sowohl das Album ‚Revolver‘ als auch die Single-Auskopplung ‚Eleanor Rigby / Yellow Submarine‘. Von den insgesamt vierzehn Songs spielten sie wie viele live? Was glauben Sie?“

„Die Bands, auf deren Konzerten ich war, haben stets mehr als die Hälfte, manchmal sogar alle Lieder von ihrer neuesten Scheibe gespielt.“

„Die Beatles spielten keinen einzigen aktuellen Song, nur zwei vom Vorgänger ‚Rubber Soul‘, und neun alte Kamellen, darunter zwei Coverstücke.“

Veronica runzelte die Stirn. „Ich bin zwar keine PR-Spezialistin; vielleicht hat man den Zweck von Öffentlichkeitsarbeit in den Sechzigern auch anders verstanden als heute, aber aus meiner Sicht wurde bei der Vermarktung von ‚Revolver‘ Murks gebaut. ‚Yesterday and Today‘ fraß Aufmerksamkeit und Kaufkraft auf. Gleichzeitig sorgte das Butcher-Cover für einen Skandal, der bestimmt manche von ihrer Beatlemania kurierte. Und zu guter Letzt wird das neue Material überhaupt nicht live gespielt? Was sollte die Tour überhaupt bringen?“

„Wie ich schon sagte, es sieht mehr nach Massenmanipulation aus. Die Beatles wurden über Monate ins Bewusstsein der Konsumenten gepresst. Ein Compilation-Album, eine Single, eine neue LP, Interviews, Zeitungsberichte, Skandalnachrichten, Tour… Die simplen Melodien und albernen Teenie-Liebestexte der frühen Alben gingen gut ins Ohr; ‚Revolver‘ klang weniger gefällig, die neuen Stücke waren wesentlich komplexer. Also hat man sie weggelassen, um die Stimmung bis zum 29. August, dem Tag des allerletzten Konzerts vor einem Massenpublikum, nochmals richtig aufzuheizen. Dreizehn Tage später stirbt McCartney; eine neue Ära beginnt, in der die Band Psychedelic-Musik schreibt, deren Texte fast ausschließlich aus unterschwelligen Botschaften bestanden, und in der ihre Mitglieder offen den Gebrauch von Hasch und LSD befürworten.“

„Verstehe,“ sagte Veronica, „Die Fans und die Radio hörende Bevölkerung vollzogen die Lockerung der Moralvorstellungen mit, denn wenn‘s ihre Lieblinge, die vier netten Jungs aus Liverpool, gut fanden, musste es cool sein. Dann folgte der Sommer der Liebe, Flower Power, Vietnam-Proteste, New Age – was gibt es daran auszusetzen? War das nicht eine Verbesserung gegenüber dem verkrusteten, verklemmten Zustand vorher?“

„Relativ gesehen schon, aber es geht den Olympiern nicht um Reformen. Billy Shears schreibt in seinen Memoiren, dass es ihr Ziel sei, die alte Ordnung komplett zu zerstören, um ihre neue Weltordnung wie Phoenix aus der Asche daraus erstehen zu lassen. Institutionen, Traditionen, Religionen, Nationen und so weiter – Konzepte, die dem Leben einen Halt und einen Rahmen geben – sollen ihrer Grundlagen beraubt und aufgelöst werden. Dann folgt ‚der Große Neustart‘. Die Unterhaltungsindustrie spielt eine wesentliche Rolle im Zerstörungswerk, weil sie zum einen für harmlos gehalten wird, zum anderen jedoch ihre Inhalte tief ins Unterbewusste des Menschen einpflanzt. Gerade junge Menschen, die sowohl formbar sind als auch gern gegen die herkömmlichen Normen rebellieren, können auf diesem Weg leicht für die Sache der Olympier eingespannt werden. Billy schreibt, die Beatles und die Rolling Stones seien gezielt aufgebaut und eingesetzt worden, um Barrieren zu brechen.“

„Wer sind diese Olympier? Halten die sich für Götter? Was wollen sie von uns?“, wunderte sich Veronica.

„Die Kontrolleure nennen sich so. Sie entstammen uralten Blutlinien, Dynastien, die Jahrtausende in die Vergangenheit zurückreichen, vielleicht sogar bis zum Beginn der Zivilisation. Sie bedienen sich der Illuminati, diese bedienen sich der Freimaurer, und letztere bedienen sich der gesellschaftlichen Hierarchien, um die gewöhnliche Bevölkerung zu lenken. Letztlich geht es um die Schaffung eines neuen Menschen, einer künstlichen Spezies – unsterblich, allwissend, allmächtig –, die den Göttern, der Natur, ja dem gesamten Universum trotzen kann.“

„Größenwahn, wie er im Lehrbuch steht.“

„Psychopathen und Soziopathen, Signorina, wenn man es in psychologischen Begriffen ausdrücken will; Satanisten, wenn man es aus religiöser Sicht betrachtet. Falls es stimmt, was Billy Shears schreibt, sind nicht nur die oberen Ränge der Freimaurer und die Illuminaten Satanisten. Die Olympier selbst glauben, dass Luzifer die Welt regiert.“

„Jetzt verstehe ich so langsam, weshalb Mr Kite sagte, McCartney habe es verdient, Luzifer übergeben zu werden. Er meinte buchstäblich eine Opferung, richtig?“

„Si. Ich deutete es vor ein paar Tagen schon einmal an.“

„John Lennons Spruch, er habe seine Seele an den Teufel verkauft, muss man dann ebenfalls wörtlich nehmen, oder?“

„So ist es. Manche glauben, es geschah am 27. Dezember 1960, als das erste Mal ein Beatlemania-ähnlicher hysterischer Ausbruch auf einem ihrer Konzerte entstand; Billy nennt den 24. Oktober 1963. Es spielt keine Rolle. Paul und John, und vielleicht auch George, sagten Dinge, deren Tragweite sie in ihrem jugendlichen Leichtsinn kaum abschätzen konnten. Geld, Mädchen, Ruhm, Einfluss – der Teufel gibt dir alles, wenn du ihm im Gegenzug deinen größten Schatz versprichst: deine unsterbliche Seele.“

„Ich mag das Wort ‚Gott‘ nicht; es ist überfrachtet mit Vorstellungen, die ich nicht teile“, sagte Veronica, „aber ich glaube, es gibt etwas Höheres, eine ordnende Kraft, die das Leben liebt. Die Seele ist es, die uns lebendig macht, oder?“

Maria nickte.

„Ich glaube aber nicht an den Teufel. Der wurde doch nur erfunden, um den Menschen Gehorsam beizubringen.“

Die Italienerin lachte trocken. „Ich würde mich hüten, ihn zu unterschätzen. Erstens besitzt das Böse eine eigene Dynamik, eine Kraft, die dem Guten, dem Göttlichen, entgegen gerichtet ist. So wie Christus das Fleisch gewordene Gute darstellt, personifiziert der Teufel das Böse. Sie können sich die beiden Seiten in ganz verschiedenen Worten, Bildern und Konzepten zurechtlegen, aber ihre Existenz als solche bleibt davon unberührt.“

„Verstehe. Jede Kultur formt ihre eigenen Mythen, um die Kräfte zu erklären, die ihr Dasein beeinflussen.“

„Si, Signorina Veronica. Deshalb spielt es – zweitens – keine Rolle, ob Sie den Teufel, Satan oder Luzifer für real halten oder nicht. Was zählt ist vielmehr, dass die Olympier und ihre Untergebenen an ihn glauben, denn es hat Auswirkungen auf alles, was sie tun. Paul McCartney mag den Teufel für einen Witz gehalten haben, fiel aber dennoch dem Silberhammer der Satansdiener zum Opfer. Da sie global alle Machtstrukturen kontrollieren, stimmt Billys Aussage, dass Luzifer die Welt beherrscht; ob im übertragenen oder wörtlichen Sinn, bleibt sich gleich.“

Im Gesicht der jungen Detektivin zeigte sich Betroffenheit.

„Es gibt hierbei noch einen dritten Aspekt, der genau wie die beiden anderen von der Mehrzahl unserer Zeitgenossen abgestritten und daher überhaupt nicht beachtet wird. Die Riten, Opfer und Beschwörungsformeln des religiösen Satanismus sind nicht der Kern seiner Lehre. Das sind sie bei keiner Religion. Der Lohn des Satanisten sind weltliche Güter. Mit anderen Worten: Er glaubt an den radikalen Materialismus und verankert den Menschen daher in der rein physisch-rationalen Ebene, die seinem niederen Ego-Bewusstsein entspricht. Wenn wir bedenken, wie die Wirklichkeit in den Medien gezeichnet wird, wie Geld alle Bereiche der Gesellschaft dominiert, was die Leute allgemein für erstrebenswert halten und wer in ihrem Leben die Hauptrolle spielt – nämlich nur sie selbst –, dann können wir ohne Einschränkung festhalten, dass die Mehrzahl der Menschen Materialisten und Egoisten sind. De facto handeln sie wie Satanisten.“

30) Jane Ashers Koffer

Dank Maria und Henry kannte Zach nun die Adressdaten aller Mitglieder der ‚Familie‘. Die Bezeichnung, die er für eine Gruppe von Memorabiliensammlern anfangs nur seltsam gefunden hatte, nahm in seinen Ohren inzwischen düstere Untertöne an. Die vermeintlichen Hobbyisten mit ihren etwas zu großen Budgets entpuppten sich vor dem Hintergrund seiner neuesten Informationen als eine Art Loge. Die Gruppe besaß einen autoritären Anführer, der Pflichten einer nicht näher bestimmten Natur einfordern konnte, und sie verfolgte eine vom öffentlichen Interesse losgelöste Agenda. Noch am Sonntag hatte der Detektiv geglaubt, Bedingungen vorgeben zu können, unter denen eine Zusammenarbeit des Fab Store mit der Familie möglich würde. Drei Tage später sah es so aus, als bestätige sich Henrys Warnung, dass es Kite war, der den Ton angab. Zach konnte entweder seinen Prinzipien treu bleiben, was dazu führen würde, dass der Schlossherr dem Laden die Kundschaft und damit die wirtschaftliche Grundlage abspenstig machte; nebenbei würde Kite natürlich das Manuskript nicht bezahlen, da er es offiziell nie erhalten hatte. Oder Zach kassierte die Million Schwarzgeld, wurde in den inneren Kreis aufgenommen, würde sich vermutlich dumm und dämlich verdienen – und gab dem Paten selbst die Mittel in die Hand, ihn für den Rest seines Lebens zu schikanieren.

Diese Entscheidung fiel im erstaunlich leicht. Er brauchte Kites Geld nicht. Er konnte einfach Pauls Millionenerbe einstecken und nach London zurückkehren. Die Frage, ob er den Fiskus schädigte, wenn er die Kohle annahm, spielte keine Rolle; Steuern waren aus seiner Sicht von Schutzgelderpressung nur dadurch zu unterscheiden, dass der Staat mehr bewaffnete Gangster unterhielt. Aber er würde eher auf jeden Zugewinn verzichten, als nach der Pfeife anderer Leute zu tanzen – insbesondere von Leuten vom Schlage dieses William Wallace Campbell.

Das leitete Zachs Gedanken zu dem Ermittlungsauftrag zurück, den der Schlossherr ihm erteilt hatte. Kite hatte das Foto aus den Akten irgendeiner Behörde entwenden lassen – und war dann seinerseits von Leuten bestohlen worden, die eine Revision der gefälschten Bandgeschichte anstrebten, wenn man Maria Glauben schenkte. Sowohl die Behörde als auch Kite hatten gegen Naturrecht verstoßen. Erstere hatten die Bevölkerung über die Identität des Toten belogen, letzterer hatte sich angeeignet, was ihm nicht freiwillig gegeben wurde. Die Gruppe, der Maria angehörte, besaß aus demselben Grund ebenfalls kein Recht, das Objekt an sich zu nehmen, außer man betrachtete sie als Teil jener von der Behörde betrogenen Bevölkerung; dann konnte man ihnen zugute halten, dass sie ihre verletzten Rechte wieder herstellten. Sein Herz schlug für für ihre Sache, auch wenn er das, was zwischen Kirk und Kite geschehen war, entsetzlich fand. Tatsächlich bewunderte er die Bereitschaft dieser Menschen, aus freien Stücken persönliche Opfer für etwas zu bringen, an das sie glaubten. Es waren die Angepassten, Duckmäuser und Hasenfüße, die Tyrannen wie Kite den Weg ebneten und an der Macht hielten.

Aber Zach hatte nun einmal Kites Auftrag angenommen. Er würde ermitteln – und er würde entscheiden, wie viel davon das Familienoberhaupt erfahren durfte. Der Detektiv prüfte seine Prioritätenliste. Wie erwartet gab es Verschiebungen. Er hatte geplant, Henry einzuladen, dem er genau wie Maria ein gewisses Vertrauen entgegenbrachte. Doch der ältere Mann hatte das Schloss verlassen, bevor Kirk das Autopsiefoto ihren Helfern übergab. Vermutlich konnte er wenig zur Klärung der Vorgänge an jenem Abend beitragen. Statt Henry würde Zach nun Dr Robert anrufen – den Notar. Er griff zu dem schwarzen, Schellack-gepanzerten Telefon und gab über dessen Wählscheibe die Nummer der Kanzlei ein. Fasziniert beobachtete er, wie die Scheibe nach jeder Ziffer von einer Feder getrieben langsam wieder in ihre Ausgangsstellung zurückglitt. Es erinnerte ihn an Honig, der von einem Löffel troff.

„Notariat Dr Jules R. Miller; Wickens am Apparat. Was kann ich für Sie tun?“, meldete sich die Stimme der Sekretärin.

Wickens? So hieß doch der Leiter der Mordkommission, wunderte sich der Detektiv. Miller hatte die Sekretärin ‚Mrs Jones‘ genannt, als er ihr die Erbunterlagen übergab. Was ging hier vor? „Guten Tag, Mrs Jones“, versucht er also sein Glück. „Hier spricht Zachary Ziegler, der Nachlassnehmer von Paulus Campbell.“

Die Frau am anderen Ende der Leitung gab durch nichts zu erkennen, dass seine Anrede inkorrekt sein könnte. Stattdessen flötete sie: „Guten Tag, Mr Ziegler. Steht alles zu Ihrer Zufriedenheit?“

„Danke der Nachfrage. Meine Tochter und ich sind in Liverpool geblieben, um die Bedingungen für eine Weiterführung des Ladens zu prüfen. Es gefällt uns ausgenommen gut in der Stadt.“

„Das freut mich sehr. Ich werde ihnen wohl bald einen Besuch abstatten müssen, um den bestellten Koffer abzuholen.“

Zach stutzte. Dann erkundigte er sich: „Sind Sie zufällig Mrs Molly Jones?“

Die Stimme am Telefon lachte vergnügt. „Ich würde eher sagen: vorsätzlich. Schließlich habe ich den Namen als mein Sammlerpseudonym gewählt.“

Zach stimmte in ihr Lachen ein. „Ach so. Na, das trifft sich aber gut. Ich wollte Sie schon seit einigen Tagen ansprechen, aber Sie wissen ja, wie es so geht, wenn man in eine Situation wie die meine geworfen wird…“

„Aber ja doch, Mr Ziegler. Ich verstehe Sie vollkommen. Wenn Sie mehr Zeit brauchen…“

„Ganz und gar nicht. Bitte kommen Sie baldmöglichst in den Laden. Ich möchte mich ohnehin ein wenig mit Ihnen unterhalten – über Paul und die Familie.“

„Gern. Wenn Sie möchten, gleich heute nach Feierabend, sagen wir: sechs Uhr. Ich habe im Zentrum zu tun.“

„Hervorragend. Da wäre eine weitere Bitte. Auch wenn es mir ungemein Freude bereitet, mit Ihnen zu plaudern, so habe ich eigentlich aus einem anderen Grund angerufen. Ich müsste dringend mit dem Notar sprechen. Können Sie mir einen Termin vereinbaren?“ Zach hörte das Rascheln umgeblätterter Seiten; hin, her, und wieder hin.

„Passt Ihnen Freitag, 14 Uhr?“


Viertel nach sechs Uhr abends läutete die elektrische Klingel. Veronica ging die Treppen hinunter, um zu sehen, wer vor der Ladentür stand. Sie erkannte die Gestalt der Notariatssekretärin sofort und beeilte sich, das Schloss zu entriegeln. „Mrs Jones, einen schönen guten Abend. Was führt Sie zu uns?“

Die Mittvierzigerin trat ein. Veronica schloss sofort wieder ab.

„Guten Abend, Miss Ziegler. Ihr Vater rief am Vormittag in der Kanzlei an. Wir haben bei der Gelegenheit vereinbart, dass ich gleich heute vorbeikomme, um die bestellte Ware abzuholen.“

Die Kleidung der Frau – ein fessellanges Kleid aus leichtem blassgelbem Baumwollstoff, das viel Schlüsselbein enthüllte, großformatiger Modeschmuck im Ohr und Mokassins an den Füßen – gefiel Veronica ausgesprochen gut. Gleichzeitig hatte sie den Eindruck, einer nicht ganz zeitgemäßen Erscheinung gegenüber zu stehen. Dazu trug auch das zu einem Kranz geflochtene Haar bei. „Sie sind Kundin bei uns?“, fragte sie überrascht.

Während Veronica hinter die Theke ging, um das Warenbuch zu holen, sagte Mrs Jones: „Und hoffe, es bleiben zu können. Mr Campbells Dienste schlugen jeden Bestellkatalog. Ich wüsste gar nicht, was ich ohne den Fab Store anziehen sollte.“

Die Detektivin hielt erstaunt inne. „Wie meinen Sie das? Sie sehen doch wunderbar aus.“

„Danke“, erwiderte die Besucherin mit einem dankbaren Lächeln. „Ich sagte es ja. Das Kleid und den Schmuck hat Mr Campbell besorgt, nachdem ich die Sachen in einer alten Nachrichtensendung gesehen hatte. Sie gehörten Pattie Boyd, George Harrisons Freundin.

Nun fiel bei Veronica der Groschen. „Sie sammeln Kleidungsstücke aus den Sechzigern.“

„Das Meiste stammt aus den Sechzigern, aber ich lasse mir eigentlich alles Mögliche beschaffen, das mit den Freundinnen und Frauen der vier ex-Beatles zu tun hat: Schmuck, Schatullen, Perücken, Haushaltsgegenstände, Kleider – einfach alles. Statt ins Einkaufszentrum kam ich in den Fab Store, wenn ich etwas brauchte. Mein Haushalt ist weitgehend mit solchen Dingen ausgestattet.“

„Wie originell. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass das mit der Zeit ins Geld geht.“

Mrs Jones zuckte die Achseln. „Wofür soll man‘s sonst ausgeben? Wenn wir gehen, nehmen wir nur unsere Seelen mit.“

Veronica, die inzwischen das Warenbuch gefunden und auf den Tresen gelegt hatte, enthielt sich eines Kommentars. Wer wusste, welche Tragödien verhindert hatten, dass es bei den Jones‘s niemand gab, dem sie den Wohlstand eines erfolgreichen Berufslebens weitergeben konnten? Stattdessen fragte sie: „Was haben Sie bestellt, und auf welchen Namen, bitte?“

„Einen Koffer; für Molly Jones.“

Veronicas Zeigefinger fuhr die letzten Einträge entlang. „Ah, hier.“ Sie stutzte, erneut überrascht, als sie erkannte, dass es Mal Evans‘ Koffer sein musste, der hier gemeint war. „Das muss ein Fehler sein“, murmelte sie.

„Was denn?“

„Wir haben momentan nur einen Koffer auf Lager. Er gehörte Mal Evans, dem Roadie.“

„Das ist er. Mal hat ihn von Jane Asher ‚geerbt‘. Sie ließ ihn zurück, als sie McCartneys Haushalt verließ.“

„Wie können Sie das wissen? Der Koffer ist für so lange Zeit verschollen gewesen, dass alle glaubten, er sei ein Mythos.“

Molly Jones lächelte. „Nicht alle, und definitiv nicht mehr, seit er 2004 wieder aufgetaucht ist. Schauen Sie nach: Janes Initialen stehen neben den Schnallen eingraviert.“

Veronica starrte der Sekretärin für einen Moment ins Gesicht, dann packte sie das Warenbuch und die Vertragsformulare. „Kommen Sie mit.“ Sie ging zwischen den Warentischen auf die Tür des Hinterzimmers zu und durch sie hindurch. Molly Jones folgte ihr. Veronica öffnete den Safe. Der Koffer – mehr Kiste als Reisetasche – stand mittig auf dem Boden. Sie zog ihn heraus und inspizierte den Verschluss, der tatsächlich aus zwei Schnallen bestand, neben denen sie links ein ‚J‘ und rechts ein ‚A‘ in verschnörkelter Schrift eingraviert sah. Sie legte das Trumm flach hin. Es leistete keinen Widerstand, als sie an den Schnallen zog. Der Deckel ließ sich ohne Probleme öffnen. Innen war der Koffer mit einer Samtpolsterung ausgeschlagen, die einmal golden geglänzt haben musste, nun jedoch zu einem trüb gelblichen Braun verblasst war. In- wie auswärtig zeigte er deutliche Abnutzungsspuren: Abgestoßene Ecken, Macken, Risse und Flecken ließen ihn eher unansehnlich wirken.

„Wenn man nicht wüsste, welch bewegte Geschichte er hinter sich hat, würde man auf dem Flohmarkt vielleicht zwanzig Pfund dafür hinlegen“, sagte Molly Jones, als ob sie Veronicas Gedanken erraten hätte.

„Einschließlich des alten Krempels darin“, ergänzte Veronica. „Und nun wechselt das Behältnis allein für zwölftausend Pfund Sterling die Besitzerin.“

„Kleingeld im Vergleich zum Wert einiger der Objekte, die es über die Jahrzehnte rettete. Verrückt, oder? Sagen Sie, dürfte ich vielleicht einen Blick darauf werfen?“

„Das kann ich nicht entscheiden, Mrs Jones. Manche Ihrer Kollegen widersprachen solchen Bitten.“

„Schade eigentlich.“

„Mhm. Aber ich hoffe, der Koffer entspricht Ihren Vorstellungen. Werden Sie ihn übernehmen?“

„Welch eine Frage.“

„Nur der Fairness halber. Es könnte ja sein, dass der wirkliche Gegenstand von den Spezifikationen des bestellten Objekts abweicht.“

„Nein, er erfüllt meine Erwartungen voll und ganz.“

„Helfen Sie mir; ich bin neu im Handelsgeschäft. Wie lange kann der Kunde die Ware ohne Angabe von Gründen zurücksenden?“, erkundigte sich Veronica mit einem Zwinkern.

„Und riskieren, dass das gute Stück für weitere fünfzig Jahre im Keller eines Freimaurers verschwindet?“ fragte die Sekretärin trocken zurück.

Veronica lachte laut auf. Sie trat an die Treppe und rief nach ihrem Vater. „Mr Ziegler wird die Übergabe vornehmen. Setzen Sie sich doch.“

Die Sekretärin hatte sich kaum gesetzt, als Zachs Schritte auf den Stufen über ihnen ertönten. „Mrs Jones,“ rief er ihr aus halber Höhe zu, „wie schön, dass Sie so schnell vorbeigekommen sind.“

„Die Freude ist meinerseits“, erwiderte sie. „Es hat entsetzlich lange gedauert, den Koffer aufzuspüren. Ich konnte es kaum erwarten, ihn endlich einmal zu berühren.“

„Er ist groß genug, sich darin für ein Schläfchen einzurollen“, scherzte Zach.

„Nun, da sie‘s erwähnen – er sieht dem Exemplar auf Yesterday and Today ein bisschen ähnlich.“ Sie schüttelte sich.

Die Zieglers warfen einander verstohlene Blicke zu. „Keine Ahnung“, signalisierten sie sich gegenseitig. Veronica reichte ihrem Vater den Block mit den Vertragsformularen. Der öffnete die Seite, auf der die Beschaffung des Koffers vereinbart war. Er legte das Dokument vor Mrs Jones auf das Tischchen. Sie unterschrieb die Empfangsbestätigung.

„Wie werden Sie ihn nach Hause bringen? Soll ich einen Transportdienst beauftragen?“, fragte Zach.

„Ja bitte. Setzen Sie es auf die Rechnung.“

„Geht auf‘s Haus“, wehrte Zach ab. „Ich hätte allerdings ein paar Fragen, die ich Ihnen stellen möchte.“

„Um was geht es?“