39) Lolita

Wieder herrschte für einige Augenblicke Stille im Hinterzimmer. Henry schaute zu Boden, als er leise sagte: „Ich sollte wahrscheinlich nicht über das sprechen, was ich dir nun zu sagen habe. Im Vertrauen auf unsere Freundschaft – und weil ich dich für einen ehrlichen Mann und einen professionell handelnden Ermittler halte – möchte ich meine Zuversicht zum Ausdruck bringen, dass Kirk weiß, was sie tut. Ihr wird schon nichts geschehen sein.“

„Wie kommst du zu der Einschätzung? Wie lang kennst du sie überhaupt?“

„Sie betrat vor etwa einem Jahr den Fab Store, just in dem Moment, als Paul und ich uns über Billy Shears unterhielten. Während wir in unserem Jargon fachsimpelten, stöberte sie durch die Auslagen. Sie schien uns keine Beachtung zu schenken. Nach einer Weile trat sie jedoch mit zwei Alben an den Tresen, ‚Rubber Soul‘ und ‚Sgt. Peppers‘, zeigte jeweils auf McCartneys Gesicht und sagte: ‚Sie meinen, das ist nicht derselbe Mann?‘ Ihre vorurteilsfrei geäußerte Wissbegier veranlasste uns dazu, ihr die Paul-ist-tot-Theorie zu erläutern. Sie stellte die richtigen Fragen, und so redeten wir mehrere Stunden lang mit einander, bis sie sagte: ‚Ist ja scharf! Wissen Sie was? Sie haben mich überzeugt. Man müsste diese ganzen Belege und Hinweise irgendwo sammeln..:‘ – und so kam sie in Kontakt mit der Familie.“

Zach hörte aufmerksam zu. Als Henry in Gedanken zu versinken schien, sagte er: „Erzähl weiter.“

Weitere Sekunden verstrichen, in denen lediglich gedämpfte Geräusche von der Straße hereindrangen. Dann begann Henry erneut zu sprechen. „Sie behauptete damals, fünfzehn Jahre alt zu sein, und sie wirkte überzeugend. Babyspeck, hippe Kleidung, naive Vorstellungen, schnoddrige Sprechweise – es passte alles ins Bild. Sie stellte Fragen über Fragen und wir alle fühlten uns berufen, diese ausführlicher zu beantworten, als sie verlangte. Sie kaufte zunächst wahllos zusammen, was ihr interessant erschien; mehr oder weniger das Standardprogramm für Einsteiger: seltene LP-Pressungen, signierte Gegenstände, Bühnenkleidung. Kite nahm sie also persönlich unter seine Fittiche, um ihr zu helfen, einen Fokus für ihre Sammlung zu finden. Von da an steckten die beiden ständig die Köpfe zusammen. Dass es Unstimmigkeiten zwischen uns gab, musste sie relativ schnell gespürt haben, denn sie lenkte das Gespräch immer wieder in diese Richtung. Sie begeisterte sich insbesondere für den Gedanken, objektive Beweise für McCartneys Tod und Billys Einstieg bei den Beatles zu finden, um der Musikindustrie die Maske herunterzureißen.“

„Wie tatkräftig sie bereit war, sich dafür einzusetzen, durftet ihr ja selbst beobachten“, warf Zach ein.

„Unzweifelhaft. Die Frage, die wir uns hätten stellen sollen, lautete: Warum? War es wirklich nur jugendlicher Idealismus oder steckte mehr dahinter?“

„Es wurde die Vermutung geäußert, es sei ihr um erotische Abenteuer gegangen.“

„Ha!“, lachte Henry auf. „Ich hege hierüber keinerlei Zweifel mehr. Es handelte sich aus meinem Verständnis um eine der Vorbedingungen, mit denen sie in diese Mission gegangen – oder sollte ich sagen: geschickt worden? – ist.“

Zach zog die Augenbrauen hoch. „Geschickt worden?“

„Bist du je nach Japan gereist, Zachary?“

„Nein. Weshalb fragst du?“

„Vielleicht hast du aber von der seit den 1980ern blühenden Jugendkultur gehört, die sich visual kei nennt?“

„Meinst du die Leute mit den bunten Haaren?“

„Ja, unter anderem. Popularisiert hat das eine Heavy-Metal-Gruppe namens X, deren Mitglieder sich in Anlehnung ans traditionelle Kabuki-Theater sehr feminin präsentierten: Schminke, Lippenstift, lange gefärbte Haare, teilweise sogar Röcke – das ganze Programm. Einer von ihnen, Yoshiki, veröffentlichte einen Fotoband mit dem Titel ‚Nude‘, der weibliche Erotik simulierte. Visual kei ist mehr als ein kurzlebiger Trend, es ist eine seit Jahrzehnten praktizierte Lebensweise, bei dem nicht nur die Grenzen zwischen Rock, Pop und Manga verschwimmen, sondern auch jene zwischen den Geschlechtern und Altersgruppen. Im Stadtzentrum von Tokyo gibt es eine Brücke, auf der sich die Musik- und Comicfans gern aufhalten – aufgetakelt als diese Idole in ihren schrillen Outfits. Aber du brauchst gar nicht ans andere Ende der Welt fliegen, um es mit eigenen Augen zu sehen. Geh einfach auf eine ihrer Conventions. Kleine Mädchen ebenso wie junge Frauen und auch Männer kleiden sich als ‚Loli‘, wie sie das nennen.“ Henry schaute Zach nun direkt in die Augen. „Du ahnst vielleicht bereits, worauf ich hinaus will.“

Zach brummte. „Lolitas?“, riet er.

„Lolitas, ja; minderjährige Nymphomaninnen.“

„Und Kirk entstammt dieser Szene?“

„Nein. Die Lolis sind nur ein Teil der visual kei– und Manga-Szene, wenn auch ein bedeutender. Ich glaube nicht, dass Kirk überhaupt von ihnen gehört hat, aber sie ist definitiv eine überzeugende Lolita-Darstellerin. Kirk war nicht fünfzehn Jahre alt, als ich sie kennenlernte, sondern zwanzig.“

„Was?“, rief Zach erstaunt. „Das hieße ja, sie wäre heute einundzwanzig. Bist du sicher? Sie sieht auf ihren Facebook-Fotos kaum älter als sechzehn oder siebzehn aus.“

Henry nickte grimmig. „Eines Tages, als ich gerade wieder mit Paul redete – wir standen am Verkaufstresen –, stellte sie sich neben mich, um ein Buch zu bezahlen, das sie kaufen wollte. Sie öffnete ihren Geldbeutel und ihr Ausweis fiel zu Boden. Ich hob ihn für sie auf. Mein Blick erfasste das Datum, und da wäre mir die Karte fast selbst entglitten.“

„Hast du sie je darauf angesprochen?“

„Auf ihr wahres Alter? Ja. Ich sagte ihr auf den Kopf zu, dass sie nicht das wäre, als was sie sich ausgab.“

„Und ihre Antwort?“

„Sie schien mich falsch verstanden zu haben. ‚Ich darf dir leider nicht erzählen, wer ich bin‘, sagte sie. ‚Warum nicht? Wer verbietet es?‘, fragte ich. Sie schüttelte nur den Kopf und antwortete: ‚Auch das darf ich dir nicht sagen.‘“

Zach überlegte. „Meinst du, jemand hat sie nach Liverpool geschickt, um sie auf die Familie anzusetzen?“

„Ja, der Schluss drängt sich auf. Und wer könnte das sein? Es muss entweder eine ziemlich hoch angesiedelte staatliche Stelle sein, etwa die oberen Etagen von Scotland Yard oder MI-5, oder sie arbeitet für obere Freimaurergrade, vielleicht sogar die Illuminaten. Jedenfalls glaube ich, dass sie weiß, was sie tut. Sie ist kein unerfahrener Teenager mehr.“

„Das eröffnet die Option, dass sie erreicht hat, was sie wollte, und dass sie zur Zentrale zurückgekehrt ist, um Bericht zu erstatten“, sinnierte Zach.

„So sieht es auch für mich…“

In diesem Moment polterten Schritte auf der Treppe. Mit eiligen Schritten stürme Maria zu ihnen herab und rief: „Mr Mustard ist tot. Sie haben es gerade im Lokalradio gebracht.“

Henry und Zach sprangen erschrocken von ihren Sitzen auf. „Was sagst du da?“

Die Italienerin stellte das Kofferradio, das sie mitgebracht hatte, auf den Bartresen und drehte den Lautstärkeregler höher. „… Nachbarn hörten vergangene Nacht mehrere Schüsse aus dem angrenzenden Haus. Sie sahen einen unbeleuchteten weißen Lieferwagen davonfahren. Laut Augenzeugen, die durch die offen stehende Vordertür ins Haus eindrangen, lag der Besitzer, Aaron Senfkorn, mit mit einer Schusswunde im Kopf tot am Boden. Die Polizei wurde umgehend zum Tatort gerufen. Sie sperrte das Grundstück ab. Offiziell hat die Mordkommission noch keine Stellung abgegeben, aber sie kündigte eine Verlautbarung für den Vormittag an. Wir rechnen jede Minute mit ihrem Statement und werden Sie auf dem Laufenden halten, sobald wir weitere Einzelheiten haben.“

Henry sank wieder in den Sessel zurück. Zach war kreidebleich geworden. Maria bemerkte es. Mit besorgtem Blick setzte sie sich auf das Sofa und zog ihn auf den Platz neben sich herunter. Sie legte einen Arm um ihn. Der Detektiv benötigte einige Minuten, bis er wieder sprechen konnte. Dann erzählte er ihnen von seinem Telefonat mit Mr Mustard. „Du musst dich getäuscht haben, Zach“, sagte Maria.

„Das war bestimmt nur ein seltsamer Zufall“, meinte auch Henry.

Zach glaubte keine Sekunde daran, aber was half es? Wenn ihm eine Vorschau auf das Geschehen gewährt worden war, so hatte er die Gelegenheit verpasst, Mustard vor seinem Schicksal zu bewahren. Für den Sammler kam jede Hilfe zu spät. Unfähig zu einer sinnvollen Reaktion warteten die drei auf die angekündigte Radiomeldung. Doch weder um elf noch um zwölf und auch nicht um ein Uhr gab es Neuigkeiten zum Fall Senfkorn.

38) Findet Kirk!

Punkt acht Uhr fuhr der orange lackierte Opel GT auf den Parkplatz der Polizeiwache. Diese befand sich zwar nur wenige Minuten zu Fuß vom Fab Store entfernt, doch Veronica wollte anschließend ein paar Dinge für den Haushalt einkaufen. Sie ließ sich dem Leiter der Mordkommission vorführen. Es entging ihr nicht, dass der junge Kollege, der sie zu Donald Wickens‘ Amtsstube begleitete, heimlich ihre Figur bewunderte. „Da wären wir wieder“, dachte sie. „Was ein schickes schwarzes Kleid doch ausmacht. Wäre ich in Pulli und Jeans erschienen, hätte er mich nach meinem Ausweis gefragt. Nun aber beeilt er sich, mir jeden Wunsch zu erfüllen.“ Sie hoffte, dass sie auf den Kommissar ähnlich attraktiv wirkte. Ihrer Erfahrung nach löste körperbetonte Kleidung die Zungen der meisten Männer schnell und zuverlässig. Aber Wickens war natürlich ein alter Hase in seinem Geschäft. Möglicherweise konnte er entsprechende Impulse routiniert zügeln. Seine forsche Stimme forderte sie auf, einzutreten, nachdem der junge Polizist angeklopft hatte. Wickens saß hinter dem Schreibtisch. auf dessen Oberfläche sich mehrere Stapel mit Aktenordnern türmten. Als Veronica den Arbeitsplatz fast erreicht hatte, stand er auf und reichte ihr über den Tisch hinweg die Hand. Dann wies er auf den Stuhl davor. „Setzen Sie sich“, forderte er sie auf.

„Hübsch haben Sie‘s hier“, sagte Veronica ironisch. Sie bemerkte an seinen irritierten Gesichtszügen, dass sie ihn mit ihrer Bemerkung auf dem falschen Fuß erwischt hatte. Das Büro war ein ebenso zweckmäßig wie hässlich eingerichteter Raum, an dem rein gar nichts hübsch oder schön aussah; eine durchschnittliche Amtsstube, wenn man so wollte.

„Wirklich?“, erwiderte er. „Nominieren Sie uns gern im Wettbewerb für die malerischsten Polizeiwachen Großbritanniens. Wo bleibt übrigens der Herr Papa? Sind Sie allein hergekommen?“

„Er hat leider geschäftlich zu tun und bedauert darüber hinaus sehr, dass ihr Kaffeeautomat… sie verstehen schon.“

Wieder dieser irritierte Blick. „Nein, ich verstehe nicht. Was ist das Problem mit dem Kaffee?“

„Das… fragen Sie ihn am besten selbst. Ich hoffe aber, dass wir uns trotzdem gut unterhalten.“ Sie zog ihr Kleid straff, dann setzte sie sich. „Mr Wickens, wir haben um dieses Gespräch ersucht, weil William Campbell – Mr Kite – uns beauftragt hat, den Verbleib eines Gegenstandes aus seinem Besitz zu ermitteln.“

Der Kommissar hob die Augenbrauen. „So?“

„Dieser wurde in der Nacht der letzten Familienfeier entwendet,“ fuhr sie fort, „dieselbe Nacht, in der Paulus Campbell ermordet wurde.“

„So so!“, sagte der Kommissar wieder.

Diesen Mann zu befragen würde mühselig werden, fürchtete Veronica. Er schien entschlossen, sich jedes Wort aus der Nase ziehen zu lassen. „Können Sie mir erzählen, wie der Abend des 30. April aus Ihrer Perspektive verlaufen ist?“, begann sie ihre Erkundigung.

„Nun, viel zu erzählen gibt es da nicht“, erwiderte er erwartungsgemäß. „Wir hatten uns in Kites Schloss versammelt, um den Erwerb von Mal Evans‘ Koffer zu feiern. Laut der Gerüchte, die seit Jahrzehnten umgingen, sollte er zahlreiche begehrte Gegenstände enthalten, die zusammen wahrscheinlich mehrere Millionen Pfund auf dem freien Markt wert sind. Paulus Campbell, der das Geschäft für uns abgeschlossen hat, hätte ihn mitbringen sollen, doch er ist nicht erschienen. Also betranken wir uns einfach und unterhielten uns über dies und das.“

„Hat denn niemand versucht, ihn telefonisch zu erreichen?“

„Aber ja. Sowohl Kite als auch ich haben ihn mehrmals angerufen, doch er hob nicht ab.“

„Was, glauben Sie, hielt ihn davon ab, auf der Feier zu erscheinen?“

„Keine Ahnung. Ein Missverständnis vielleicht?“

„Fiel Ihnen am Verhalten der Gäste etwas auf, das vom Gewohnten abwich? Gab es Anspielungen auf Dinge, die über den Kopf eines Uneingeweihten gingen? Gab es Begehrlichkeiten? Streit?“

„Nicht dass ich wüsste.“

„Ist Ihnen bekannt, welchen Gegenstandes wegen unsere Detektei ermittelt?“

„Kite erwähnte ein Foto.“

„Er bat sie nicht, bei der Wiederbeschaffung zu helfen?“

„Nein. Er erzählte es nur so nebenbei.“

„Wenn Sie einen Tip abgeben müssten, auf wen fiele Ihr Verdacht?“

„Ich habe wirklich nicht genug Informationen über die Sache, als dass ich mir eine Meinung bilden könnte.“

„Sie und Ihre Frau haben das Treffen als erste verlassen. Um welche Uhrzeit waren Sie zuhause?“

„Puh, keine Ahnung. Am frühen Morgen des 1. Mai irgendwann.“

„Sind Sie vom Schloss direkt zu Ihrer Wohnung gefahren?“

Wickens zeigte erneut Zeichen der Irritation. Er runzelte die Stirn. „Was soll die Frage? Inwiefern hat das mit dem Diebstahl zu tun? Verdächtigen Sie mich etwa?“

„Bitte geben Sie mir einfach eine Antwort.“

„Wir waren beide ziemlich müde. Meine Frau schlief bereits während der Rückfahrt ein. Keine weiteren Partys also.“

„Es hätte ja sein können, dass Sie sich gleich wieder in Ihre Arbeit stürzen wollten.“ Veronica ließ es wie eine scherzhafte Bemerkung klingen.

„Meine Kollegen sind durchaus in der Lage, für ein paar Stunden meiner Abwesenheit die Stellung zu halten. Sie genießen mein vollstes Vertrauen.“

„In gleicher Weise genießen Sie meines. Als neue Bürgerin Liverpools fühle ich mich beruhigt.“

Wickens musterte sie mit durchdringendem Blick, als wolle er abschätzen, ob sie es ernst oder ironisch meinte, doch Veronica hatte ein Pokerface aufgesetzt. Er wurde nicht schlau aus ihr. Sie beschloss, ihn aus der Reserve zu locken. Sie behauptete: „Wir haben Grund zu der Annahme, dass Duchess of Kirkcaldy die Gunst der Stunde genutzt hat. Mehrere der Gäste berichteten uns, dass sie in auffälliger Weise mit dem Hausherrn anzubändeln versuchte. Teilen Sie diese Einschätzung?“

Wickens lachte trocken. „Anzubändeln – nett ausgedrückt. Sie hat ihn vom Moment ihres Eintreffens angebettelt, flachgelegt zu werden, wenn Sie mich fragen. Geht mich aber nichts an.“

„Unsere Informationen besagen, dass sie dieses Ziel nicht nur erreicht hat, sondern im Zuge dessen auch Zugang zu dem Foto erhielt. Seit dem 1. Mai fehlt von ihr außerdem jede Spur. Wir vermuten nun, dass sie sich mit der Beute abgesetzt hat.“

Der Kommissar stutzte. Hatte er den Köder gefressen? Veronica legte nach. „Wir vermuten des weiteren, dass sie sich noch irgendwo in der Nähe aufhält, vielleicht bei Verwandten oder Freunden im Umland von Liverpool. Ist Ihnen darüber etwas bekannt? Haben Sie Kirk im vergangenen Monat eventuell sogar gesehen?“

Wickens setzte eine Miene konzentrierten Nachdenkens auf. Dann sagte er: „Ich habe sie tatsächlich gesehen. Sie kam zu mir und bat um den Schlüssel zum Landhaus der Familie. Wir haben einen alten Bauernhof in den Bergen nördlich von hier restauriert, müssen Sie wissen. Wir nutzen ihn als Ort für besondere Gelegenheiten. Kirk sagte, sie brauche eine Auszeit.“

„Meinen Sie, sie hält sich noch immer dort auf?“

„Sie hat den Schlüssel jedenfalls noch nicht zurückgegeben.“

„Wie finden wir das Landhaus?“

„Es steht ziemlich abgelegen; so abgelegen, dass selbst die meisten Routenplaner Ihnen keinen Weg weisen können. Wahrscheinlich finden Sie es ohne Hilfe überhaupt nicht.“ Wickens schaute Veronica forschend ins Gesicht. Als sie Anstalten machte, die logische nächste Frage zu stellen, kam er ihr zuvor. Er sagte: „Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen den Weg.“

„Das würden Sie tun? Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar. Wann hätten Sie denn Zeit?“

Der Kommissar zuckte mit den Schultern. „Gleich, wenn Sie wollen.“ Er zeigte auf die Aktenstapel auf seinem Schreibtisch. „Ich suche gerade eh einen Vorwand, dem hier zu entkommen.“


Veronica und der Kommissar eilten längst im GT nach Norden, als Henry the Horse den Fab Store betrat. Zach empfing ihn wie einen alten Freud. Sie umarmten sich und klopften einander auf den Rücken. „Schön, dass du dir Zeit für mich nimmst“, sagte der Detektiv.

„Keine Ursache,“ erwiderte der ältere Mann, „du weißt doch, dass ich Rentner bin und Montag vormittags sowieso zum Frühstücken in die Altstadt komme. Ehrlich gesagt vermisse ich die langen Gespräche hier im Laden.“

„Na, dann lass uns doch die Tradition wieder aufnehmen.“ Zach wies mit der Rechten auf die Tür im Hintergrund des Ladenlokals. „Komm, ich mach uns einen Kaffee.“

Eine Viertelstunde später, als der Duft des heißen Aufgussgetränks dem Raum eine gewisse Atmosphäre der Gemütlichkeit verliehen hatte, schwenkte Zach auf das Thema über, das ihm für heute am Herzen lag. „Henry, ich glaube, die ‚Familie‘ steckt in großen Schwierigkeiten.“ Der Detektiv ließ den Satz in der Luft hängen. Er betrachtete das Gesicht seines Gegenübers auf der Suche nach Zeichen der Zustimmung oder Ablehnung.

Henrys Mundwinkel zuckten, doch er antwortete nicht sofort. Er nahm seine Tasse vom Tisch, führte sie langsam an die Lippen und nippte vorsichtig daran. Erst nachdem er sie zurückgestellt und es sich wieder im Sessel bequem gemacht hatte, erwiderte er: „Und nicht erst seit heute.“

„Zu dem Eindruck bin auch ich gekommen, nachdem ich mit vielen von euch gesprochen habe. Wenn ich es recht verstehe, gibt es unter den Sammlern zwei grundlegend verschiedene Auffassungen darüber, wo eure Aktivitäten hinführen sollen, resultierend aus unvereinbaren Ansichten über die menschliche Natur. Würdest du mir zustimmen?“

„Brillant auf den Punkt gebracht, mein lieber Zachary. Auf der einen Seite steht ein elitärer Haufen, der sich für Übermenschen hält, während er den Rest der Menschheit als unnützes, dummes Volk betrachtet, dem man sagen muss, was es tun und lassen soll. Auf der anderen Seite – zu der ich selbst mich zähle – befinden sich jene unter uns, die die Kontroll- und Manipulationsbemühungen Ersterer als das erkennen, was sie eigentlich sind: selbsterfüllende paranoide Wahnvorstellungen. Ich glaube… nein, ich weiß, dass Menschen im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, wie die Floskel so schön besagt, zu unendlich viel mehr Gutem fähig sind als wir gerade sehen, wenn man sie nur lässt. Die moderne Welt ist nicht das Ergebnis einer angeblich fehlerhaft geschaffenen Spezies, sondern legt Zeugnis vom Scheitern des Kontrollwahns eines engen Kreises von Nutznießern ab.“

„Ich hätte es nicht treffender formulieren können,“ stimmte Zach dem Älteren zu, „doch meine Bemerkung zielte weniger auf das latente Konfliktpotenzial in der Familie ab sondern vielmehr auf eine akute Notlage. Eure Gruppe hat Kites Regime auf eine Weise herausgefordert, die der Mann als Kriegserklärung auffasst. Die Detektei wurde von ihm beauftragt, ein von euch entwendetes Foto wieder zurückzuführen.“

Henrys Augenbrauen zuckten in die Höhe.

„Darüber kam es auch zwischen uns und Kite zum Bruch. Also mach dir keine Sorgen. Ich werde bestimmt niemand an ihn ausliefern. Ich möchte dich aber darauf aufmerksam machen, dass eure gewohnten Routinen auf unabsehbare Zeit der Vergangenheit angehören. Möglicherweise steht die Familie als solche vor der Auflösung.“

„Danke für deine Offenheit. Ich werde dir natürlich als Kunde treu bleiben.“

„Freut mich zu hören, Henry. Im Moment plagen mich eine ganze Reihe anderer Sorgen. Ich möchte dieses Foto auftreiben; ich versuche, den Mörder meines Stiefbruders zu finden; ich brauche Munition, die mir Kite vom Leib hält, und, am drängendsten: Ich muss mit Kirk sprechen. Leider ist sie seit dem Familientreffen spurlos verschwunden.“

„Das fiel mir ebenfalls auf“, erwiderte Henry. „Ich habe mehrfach versucht, sie anzurufen, doch sie geht nie an die Leitung. So langsam mache ich mir Sorgen.“

„Ohne Umschweife: Weißt du, wer das Foto mitgenommen hat?“

„Nein. Ich hätte jedem abgeraten, es einzustecken. Viel zu gefährlich. Und ich hoffe für Kirk, dass sie nicht Diejenige-welche war, denn sonst wird sie es mit Kites unbeherrschtem Zorn zu tun bekommen.“

„Ehrlich gesagt befürchten wir genau das, unabhängig davon, ob sie es war oder nicht. Sie bot sich als Blitzableiter geradezu an, nachdem sie Kites Wachsamkeit geschwächt hat.“

19) Und täglich grüßt der Peppers-Code

Zach nahm das Sgt. Peppers-Album zur Hand, um es eingehend zu studieren, drehte es, um auch die andere Seite zu betrachten und nickte dann. Er reichte es an Veronica weiter. Auch diese konnte nicht umhin, den Beschreibungen Maria Borgheses zuzustimmen.

„Das ist aber noch längst nicht alles. Halten Sie sich fest: Eine DNA-Probe Sir Pauls, die wegen einer Vaterschaftsklage aus Deutschland genommen wurde, stimmte nicht mit einer Probe aus den frühen Sechzigern überein. Eine Handschriftenanalyse belegte, dass die Unterschriften aus den Sechzigern und den Achtzigern nicht von derselben Person stammen – die spätere hat ein Rechtshänder gezeichnet; Paul war jedoch Linkshänder. Eine Stimmanalyse kam zum gleichen Schluss: nicht derselbe Mann. Als Sir Paul 1980 in Japan wegen Drogendelikten festgenommen wurde, stellten die Beamten fest, dass seine Fingerabdrücke nicht denen entsprachen, die 1960 im Zusammenhang mit einer Anzeige wegen Brandstiftung in Hamburg genommen wurden.“

„Atemberaubend. Wieso befindet sich der Mann dann noch auf freiem Fuß?“

„Die Klage in Deutschland wurde als verjährt zurückgewiesen. In Japan hat die britische Regierung zu seinen Gunsten eingegriffen. Die unabhängigen Untersuchungen zu Stimme und Aussehen wurden von den sogenannten Qualitätsmedien nur punktuell aufgegriffen und schnell wieder fallengelassen. All jene, die trotz allem nicht locker lassen, erledigt in den Augen der Weltöffentlichkeit das Wörtchen ‚Verschwörungstheorie‘.“

„Mit dem sind wir spätestens seit 2020 bestens vertraut. Es ist infam, aber Sie haben recht“, stimmte Zach zu. „Es spielt keine Rolle mehr, was man belegen und beweisen kann. Sobald man der Mehrheit widerspricht – die unhinterfragt glaubt, was die Massenmedien ihnen erzählen – wird man als Spinner abgestempelt; als ob Wahrheit das Ergebnis von Volksabstimmungen wäre.“

Maria Borghese hatte den Detektiv aufmerksam angeblickt, während er sprach. Sie fragte: „Und Sie, Signore Ziegler? Auf welcher Seite stehen Sie? Schlägt Ihr Herz für die Mehrheit oder für die Minderheit? Stimmt die offizielle Story oder haben die Infokrieger mit ihrer alternativen Sicht auf die Dinge recht?“

„Ich habe keinen Einsatz in diesem Spiel. Mich interessiert die Wahrheit, egal wohin sie mich führt. Sie besitzt keine zwei Seiten, sie macht keine Kompromisse. Wir alle sehen die Wirklichkeit durch unsere persönliche Brille und kommunizieren das, was wir von ihr wahrnehmen, solange es unsere persönliche Agenda fördert. Es ist unvermeidlich, weil es menschlich ist. Daher kann die Verantwortung für meinen Geist – für Wahrnehmung, Verarbeitung, Erinnerung und Weitergabe sinnlicher Eindrücke – immer, ohne Ausnahme, nur bei mir selbst liegen. Mein Herz schlägt für die, die sich aufrichtig Mühe geben, nach dieser Einsicht zu leben. Der Rest kann mit seinen Glaubensbekenntnissen von mir aus zum Teufel gehen.“

„Genau das tut er, glauben Sie mir. Genau das tut er buchstäblich. Aber sparen wir uns das Gespräch für einen anderen Tag auf. Ich bin höchst erfreut, in Ihnen Geschwister im Geiste gefunden zu haben. Ich hege keine Zweifel, dass wir wunderbar zusammenarbeiten werden. Sie sind würdige Nachfolger Signore Campbells.“

„Danke Maria – ich darf Sie doch so nennen, oder?“, sagte Veronica. „Wir fühlen uns Ihnen ähnlich verbunden. Ich werde natürlich meine eigenen Nachforschungen anstellen müssen. Wenn es stimmt, was Sie uns eben mitgeteilt haben, ändert das alles. Die Antwort auf meine ursprünglichen Fragen steht jedoch noch offen.“

„Sicher – Veronica“, antwortete die Italienerin mit einem sanften Lächeln. „Sie möchten wissen, was der Code auf der Basstrommel besagt?“

„Ja. Und weshalb Onkel Paul ihn an die Wand gehängt hat.“

„Unter dem Porträt des jungen Paul McCartney, wohlgemerkt. ‚I ONEI X‘ steht für 11 IX, den elften September – ein wichtiges Datum in der freimaurerischen Numerologie. Zufälle kommen in den Kreisen nicht vor. Diese Leute planen für Jahrhunderte im Voraus. Ein Todesfall am 11.9. stellt eine rituelle Opferung dar. ‚HE ◊ DIE‘ erklärt sich selbst, ist jedoch leicht inkorrekt. Die Raute zeigt auf Billy Shears, den lebendigen McCartney-Darsteller, nicht auf den verstorbenen Paul McCartney – ganz im Gegensatz zu dem Arrangement Ihres Onkels.“ Sie deutete mit dem Daumen über die Schulter auf die Wand neben der Tür. „Signore Campbell arbeitete unter der Prämisse, dass der Peppers-Code die Wahrheit sagt. Das machte es einfacher, die ausgefallenen Wünsche seiner Kunden zu erfüllen, die fast alle der Überzeugung sind, dass Paul McCartney 1966 starb. Er hat mir nie gesagt, weshalb er das Bild aufgehängt hat, aber ich glaube, es sollte ihn täglich… zwicken.“

„Sie sagten doch, McCartney sei bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Wie passt ein Unfall zu einer geplanten Opferung?“, warf Zach ein.

„Als ich in Deutschland zur Schule ging, durchliefen wir ein Verkehrstraining für Fahrradfahrer. Ein paar Polizisten zeigten uns, wie man Unfälle vermeidet. Ich erinnere mich noch genau an den Titel einer Broschüre, die sie damals ausgeteilt haben: Unfall ist nie Zufall! Das gilt um so mehr, als der Fahrer des DB6 an sein schicksalhaftes Ende glaubte, und als seinem Schicksal möglicherweise nachgeholfen wurde, wie die Shears-Memoiren andeuten.“

Veronica schüttelte den Kopf. „Bei aller Liebe zur Wahrheit, ich glaube, wir haben heute Früh mehr erfahren, als wir in solch kurzer Zeit verarbeiten können. Ich habe tausend neue Fragen, aber mir platzt gleich die Schädeldecke weg. Lasst uns das Thema wechseln und eine Kleinigkeit essen.“

Der Detektiv und die Italienerin stimmten zu. Während die beiden über Einzelheiten der Zusammenarbeit diskutierten, holte Veronica Saft und Sandwiches aus der Küche. Als sie sich schließlich wieder gesetzt hatte, nahm sie sich lediglich eine kleine Käseecke, an der sie herumzuknabbern begann. Dem Gespräch folgte sie nur mit einem Ohr. Ihre Gedanken befanden sich hunderte Meilen entfernt, auf einer mondbeschienenen, von alten Bäumen gesäumten kurvigen Landstraße.


Kurz nach zehn Uhr desselben Montag Morgens schneite wie erwartet auch Thomas Henry Bishop alias Henry the Horse herein. Maria Borghese putzte gerade das Hinterzimmer. Der Boden des Ladens, den die Italienerin gewischt hatte, glänzte noch feucht. Henry nahm den Hut ab, grüßte die beiden Zieglers gut gelaunt und stellte fest: „Wie ich sehe, haben Sie eine Reinigungskraft gefunden.“

„Wir hatten Glück und konnten das Vertragsverhältnis mit Pauls Putzhilfe übernehmen“, erwiderte Zach.

„Oh, dann arbeitet Semolina also weiterhin hier? Ich freue mich sehr für sie. Sie werden sehen, die Frau ist ein Schatz!“

„Semolina? Wer ist Semolina?“, fragte Zach verwundert. „Nein, unsere Aushilfe heißt Maria Borghese.“

Henry lachte verlegen. „Entschuldigen Sie, dass ich Verwirrung stifte. Maria ist natürlich ein geschätztes Mitglied unserer Familie und führt als solches den Namen Semolina Pilchard. Sie haben sich noch gar nicht mit ihr über die Beatles unterhalten?“

„Sie haben keinen Ahnung… doch, vermutlich haben Sie mehr Ahnung als wir, schließlich haben Sie uns vor den dunklen Ecken der Bandhistorie gewarnt. Wir sind jedoch in der Kürze der Zeit noch nicht dazu gekommen, mit Maria über die Sammlerszene in Liverpool zu sprechen.“

„Tun Sie das, Zachary. Ich vertraue Semolinas Urteil uneingeschränkt. Da ich gerade hier bin, werde ich gerne auch selbst Auskunft erteilen.“

„Nun, wir hatten gestern Morgen das zweifelhafte Vergnügen, einer der Kreaturen von Mr Kite zu begegnen. Er lud uns für heute auf Kites Schloss ein.“

„Dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Ich komme gerade von meinem montäglichen Frühstück zurück und möchte Ihnen lediglich mitteilen, dass der Betrag für die Bänder angewiesen ist.“

„Sehr freundlich von Ihnen, danke!“, erwiderte Zach. „Konnten die Aufnahmen denn Ihre Erwartungen erfüllen?“

„Über die Maßen. Die Gespräche zwischen den Musikern fand ich äußerst kurzweilig. Sie arbeiteten tatsächlich an zwei unbekannten Stücken. Die Entscheidung, sie nicht auf das Album zu packen, war gerechtfertigt, aber wer weiß, was aus ihnen geworden wäre, wenn die Jungs noch ein wenig länger daran gefeilt hätten.“

„Die Beatles waren genial. Mir fällt kein anderes Wort dafür ein.“

„Die Musik ist zweifelsohne großartig, aber das Schreiben ist den Jungs nicht leicht gefallen. Es gibt genügend Hinweise, dass vieles aus der Feder von Ghostwritern stammt und ein guter Teil der Aufnahmen von Sessionmusikern eingespielt worden ist.“

Zach stöhnte. „Henry, nimm‘s mir nicht übel, aber wir haben von Maria – Semolina – heute eine volle Breitseite abbekommen. Veronica und ich werden das erst einmal verifizieren und verarbeiten müssen, bevor wir uns auf weitere Hiobsbotschaften einlassen können.“

„Selbstverständlich. Gut Ding will Weile haben, Zachary. Falls Sie den Fab Store weiterführen, bleibt Ihnen viel Zeit, die weniger erfreulichen Anblicke hinter der schönen Kulisse zu erkunden. Wie haben Sie sich denn nun entschieden? Werden Sie den Laden wieder aufmachen?“

„Ja, wir werden mit Semolinas Hilfe und dank Pauls Grundstock an Waren und Ersparnissen in der Lage sein, den Versuch zu wagen. Immerhin sind wir schon drei Mitgliedern der Familie begegnet, und morgen lernen wir das vierte kennen.“

„Ach morgen erst? Ich dachte, Sie wurden für heute eingeladen. Wann werden Sie denn in Wallace Castle erwartet?“

„Ich habe den Termin auf morgen um elf Uhr verschoben.“

Henry zeigte ein beeindrucktes Gesicht. „Sie sind äußerst couragiert, Zachary. Das gefällt mir. Strapazieren Sie die Geduld des Maestro jedoch nicht zu sehr. Er besitzt nur einen begrenzten Sinn für Humor.“

„Maestro? Wohl eher Zirkusdirektor, dem Clown nach zu urteilen, den er vorgeschickt hat.“

„Wie ich bereits andeutete, verfügt Kite über familiäre Verbindungen und finanzielle Mittel, die es angeraten sein lassen, ihn nicht unnötig zu reizen. Behalten Sie im Auge, dass er mit seinen Aufträgen wohl den größten Teil von Pauls Umsatz generiert hat. Und er greift anderen Sammlern gelegentlich unter die Arme, was Ihnen letztlich ebenfalls zugute kommt.“

„Schon gut. Ich kann es lediglich nicht leiden, wenn man mich einschüchtern und herumkommandieren will.“

„Hat der Bote Ihnen mitgeteilt, worin der Grund oder Anlass der Einladung besteht?“

„Nein. Wir können jedoch sicher sein, dass er über das Manuskript reden will.“

„Er wird auch wissen wollen, wie es mit dem Fab Store weitergeht. An seiner Stelle würde ich vorzufühlen versuchen, mit wem ich es künftig zu tun habe.“

„Würden Sie. So so…“ Zach zwinkerte. Sein rechter Zeigefinger richtete sich auf den älteren Mann, der Daumen fuhr herab wie der gespannte Hahn eines Revolvers.

Bishops Augen weiteten sich. „Erwischt. Zugegebenermaßen bin ich Kite ausnahmsweise eine Nasenlänge voraus.“

„Und Sie stellen sich etwas geschickter an. Wissen Sie, Henry, ich habe kein Problem damit, schlauen Menschen die Früchte ihrer Bemühungen zu überlassen. Es geht mir jedoch entschieden gegen den Strich, wenn jemand eine Agent-Smith-Nummer abzieht.“

8) Tonbandspulen

Jemand rief ihren Namen.

„Veronica? Erde an Mars, bitte kommen!“ Ihr Vater.

Sie schüttelte den Kopf. „Entschuldige. Ich war gerade in Gedanken.“

„Würde es dir etwas ausmachen, das Warenbuch hereinzuholen? Henry wird uns helfen, die Kunden zu identifizieren, die ihre Bestellungen noch nicht abgeholt haben.“

„Schon unterwegs.“

Als Veronica nach einer halben Minute wieder ins Hinterzimmer zurückgekehrt war, standen Henry und Zach vor dem geöffneten Safe. Sie reichte ihrem Vater das Buch. Die beiden Männer gingen die Einträge einen nach dem anderen durch und verglichen sie mit den Objekten im Safe. Ihr Vater zückte einen kleinen Zettelblock und einen Kugelschreiber, die er stets in seiner Hemdtasche mitführte. Er schrieb die Klarnamen auf, die Henry ihm nannte. Daneben notierte er weitere Angaben, die ihm wichtig schienen. Als sie die Inventur abgeschlossen hatten, war die Spannung im Gesicht des Detektivs einer gewissen Zufriedenheit gewichen. Veronica konnte sich vorstellen, weshalb. Sie würden nicht auf der Ware sitzen bleiben, sondern sie zu Geld machen können – eine Sorge weniger auf ihrer Liste der zu erledigenden Dinge. Sie hatten einen kleinen Erfolg erzielt und ein bisschen mehr Klarsicht bezüglich des Milieus gewonnen, in das sie unversehens eingetaucht waren.

Der Ältere zeigte nun auf ein flaches, ungefähr dreißig Zentimeter messendes quadratisches Gehäuse aus grauem PVC. „Das dürfte für mich hinterlegt sein“, meinte er.

Zach nahm die Plastikkassette aus dem Regal. Auf einer der Schmalseiten stand in schwarzem Filzstift:‚Abbey Road – nicht zur Veröffentlichung‘ geschrieben. Er öffnete den Verschluss und schaute hinein. Wie erwartet enthielt das Gehäuse eine Tonbandspule. „Wie viel Spielzeit ist das – vier Stunden?“

„Viereinhalb“, antwortete Henry, „Die Rolle stammt aus dem August 1969, von einem der letzten Studiotermine der Beatles, und ich habe keinen Zweifel, dass darauf nie gehörte Musik und Gespräche verewigt wurden.“

„Was macht Sie so sicher?“, wollte Veronica wissen.

„Weil die ‚Experten‘ das Evans-Manuskript verschwiegen haben, das nun einmal mit im Koffer lag. Sie haben den Fund zum Schund deklariert, um Fragen nach den gefährlichen Erinnerungen eines Mannes zu verhindern, die den Beatles-Mythos als Schneewittchen-Story entlarvt hätten.“

„Eine steile These. Darauf verwetten sie wie viele Britische Pfund?“

„Einhundertachtzigtausend, wie mit Ihrem Onkel ausgemacht.“

Veronica pfiff durch die Zähne. „Wollen Sie nicht wenigstens einmal hineinhören, bevor Sie so viel Geld ausgeben, Henry? Unter der Verkaufstheke steht ein Tonbandgerät.“

„Das ist unnötig, danke. Als Freund und als Ehrenmann stehe ich zu meinem Wort – selbst wenn das Band leer wäre.“

„Ich hätte nichts dagegen, ein Ohr zu riskieren“, schaltete sich Zach ein.

„Lassen Sie mich einen anderen Vorschlag anbringen“, wehrte Henry ab. „Was halten Sie von der Einladung zu unserer nächsten Feier, auf der ich die interessantesten Stellen zum ersten Mal der Familie zu Gehör bringen werde? Es wäre gleichzeitig eine gute Gelegenheit, Ihre künftigen Kunden kennenlernen und sich in Liverpools Gesellschaft einzuführen.“

Weder Zach noch Veronica zeigten sich begeistert. Sie mussten jedoch zugeben, dass ein Mann, der so viel Geld für etwas ausgab, das Recht hatte, sich das gute Stück zuerst einmal ganz allein zu Gemüte zu führen. Bishop begleitete die beiden Zieglers zur Registrierkasse, wo er ihnen erläuterte, wie Paul das Geschäft üblicherweise zum Abschluss gebracht hatte.

„In einem der Fächer auf der linken Seite liegt ein Block mit Vertragsformularen. Den brauchen wir.“

Veronica stöberte in den dunklen Ablagen unter der Theke. Sie förderte den Block zutage. Die obersten Exemplare waren bereits ausgefüllt, wie sie beim Durchblättern feststellte. Auf dem dritten Blatt fand sie den gesuchten Namen, Thomas Henry Bishop. Als Vertragsgegenstand hatte Paul ‚1 Tonbandspule Abbey Road aus Evans-Archiv‘ eingetragen und als Kaufpreis standen tatsächlich einhundertachtzigtausend Pfund im entsprechenden Formularfeld. Käufer und Verkäufer hatten durch ihre Unterschrift den Vertrag zur Beschaffung des Objekts geschlossen. Zwei weitere Unterschriften standen noch aus: ‚Ware erhalten‘ und ‚Betrag erhalten‘.

Henry bestätigte den Erhalt der Ware. „Den Betrag werde ich Ihnen binnen eines Monats auf Pauls Geschäftskonto überweisen. Ich hoffe doch, Sie können bereits darüber verfügen.“

„Der Notar hat alles in die nötigen Bahnen gelenkt. Ich hatte bisher nur keine Gelegenheit, bei der Bank vorstellig zu werden. Das sollte natürlich nicht Ihr Problem sein, Henry. Wir sind Ihnen für Ihre Hilfe zu Dank verpflichtet.“

Der Ältere deutete eine Verbeugung an, reichte Vater und Tochter die Hand zum Abschied und setzte seinen Hut auf. Zach schloss ihm die Tür auf. Henry the Horse trat auf die Rainford Gardens hinaus, ein Tonband für einhundertachtzigtausend Pfund unter den Arm geklemmt, und entschwand in den Sonnenschein eines inzwischen weit fortgeschrittenen Morgens.


Der Besucher hatte ihre Planung ebenso wie ihre Konzentration über die Maßen beeinträchtigt. Zach beschloss daher, sich ein wenig die Beine zu vertreten, um den Kopf frei zu bekommen. Als er gegangen war, überlegte Veronica, ob sie einen der Punkte von ihrer Liste in Angriff nehmen könnte, fand jedoch keine rechte Lust dazu. Stattdessen stieg sie die Treppe hinauf in die Wohnung, um sich in Ruhe umzusehen. Es war still hier oben. Vom Betrieb auf den Straßen vor und hinter dem Haus war fast nichts zu hören. Falls sie hier einzogen, würden sie störungsfrei arbeiten und entspannen können. Es gab zwei mit Doppelbetten möblierte Schlafzimmer. Sie öffnete jenes, das sie aufgrund der persönlichen Gegenstände darin als Pauls Raum identifiziert hatte. Die Bettwäsche schien sauber, zeigte jedoch subtile Zeichen der Benutzung. Veronica prüfte die Schränke. Auf der Suche nach frischen Laken und Bezügen ließ sie ihre Finger über Pauls Kleidung wandern: Unterwäsche, Socken, Krawatten, Hemden, Hosen, Anzüge – alles wirkte elegant, wenn auch ein wenig altmodisch. Der Blick auf einige Etiketten bestätigte ihre Einschätzung, dass der Verstorbene dieselbe Größe getragen hatte wie ihr Vater.

Der Brustbereich einer der Mäntel war ausgebeult. Sie steckte ihre Hand in die Innentasche und zog einen langen prall gefüllten Geldbeutel heraus, wie ihn Markthändler normalerweise verwenden. Sie zögerte. War es indiskret von ihr, derart in die Privatsphäre eines ihr unbekannten Mannes einzudringen? Unsinn, schalt die Detektivin in ihr wirsch. Ihr Onkel war tot und ihr Vater hatte den Haushalt, der ihm rein rechtlich nun gehörte, noch nicht wirklich in Besitz genommen. Einen Augenblick stand sie unentschlossen vor dem offenen Kleiderschrank, dann siegte die gute Kinderstube. Ihr Vater hatte sie die Goldene Regel gelehrt, nach der sie so gut es in dieser verrückten Gesellschaft ging lebten. Sie behandelten andere, wie sie selbst behandelt werden wollten, und sie unterließen alles, was sie nicht ihrerseits durch die Hand eines Anderen erleiden wollten. Damit waren sie bisher ganz gut gefahren. Man wurde so nicht reich, aber man konnte jeden Tag reinen Gewissens schlafen gehen.

A propos schlafen gehen. Sie steckte den Geldbeutel ohne hineinzusehen in die Innentasche des Mantels zurück. Dann schnappte sie sich zwei Garnituren frischer Bettwäsche und tauschte die alten aus. Dasselbe wiederholte sie im Gästezimmer. Wo in Pauls Raum eine Schrankwand die Szene beherrschte, erstreckte sich hier ein maßgeschreinertes Regal, das fast zur Gänze mit Büchern gefüllt war. Zahlreiche Paperback-Romane mit allerlei Klassikern von Asimov bis Zola machten den Hauptbestand aus. Daneben standen ledergebundene und kartonierte Hardcover. Sie erkannte die Britannica und andere Nachschlagewerke. Einige Bände behandelten religionswissenschaftliche Themen. Manche sehr alt wirkende Schinken trugen lateinische Titel oder kryptische Symbole. Und natürlich gab es eine ganze Abteilung mit Musikbezug. Sie würde sich die Sammlung genauer ansehen, sobald sie etwas mehr zur Ruhe gekommen sein würde. Zwischen den beiden Fenstern, die warmes Licht durch die vordere Außenwand des Gebäudes ins Zimmer strömen ließen, stand ein schlichter Sekretär, den Veronica sofort mochte. Die vielen Schubladen, Türchen und Sortierfächer des Möbelstücks übten eine magische Anziehung auf sie aus. Sie hatte sich entschlossen: Sie würde ihrem Vater vorschlagen, vom Hotel in die Innenstadt zu ziehen, und sie würde ihn bitten, ihr diesen Raum zu überlassen.

Das Sahnehäubchen wäre allerdings ein Internet-Anschluss, dachte sie sich. Ihr Onkel mochte ein weit reichendes Netzwerk persönlicher Beziehungen besessen haben. Dass das allein gereicht hatte, um jene Wunder zu wirken, die man ihm nachsagte, bezweifelte sie. Hatten sie überhaupt einen Computer gesehen, als Miller, der Notar, sie durch die Wohnung führte? Es war erst gestern gewesen, aber sie hatten in den letzten Tagen so viele aufregende Informationen absorbieren müssen, dass die Erinnerung an ihre Tour wie durch ein gemustertes Chiffontuch betrachtet wirkte.

Direkt gegenüber wurde sie fündig. Ein großer Raum, dessen Wände auf allen Seiten vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen bedeckt waren, musste wohl das Studierzimmer gewesen sein. In der Mitte der schmaleren Seite gab es ein Fenster, vor dem ein moderner Liegesessel stand. Ein riesiger Schreibtisch beherrschte das Zentrum des Raums. Füße und Rahmen bestanden aus kräftig rotem Holz, die Tischplatte bestand aus milchig weißem Glas, in das auf der linken Seite ein versenkbarer 28-Zoll-Flachbildschirm eingelassen war. Zum zweiten Mal an diesem Tag stieß Veronica einen leisen Pfiff aus.

Sie setzte sich in den Science-Fiction-artigen Drehstuhl vor den Bildschirm und unterzog den Arbeitsplatz einer näheren Betrachtung. Sie sah keinen Rechner. Es mochte ein Kompaktgerät sein, das im Bildschirm oder auf dessen Rückseite installiert sein konnte; oder der Computer stand in einem anderen Zimmer. Praktischerweise sollte man ihn hier, von diesem Platz aus, einschalten können. Wo war der Knopf? Sie ließ ihre Finger über das Holz gleiten. Auf der Unterseite der Tischplatte spürte sie zwei kleine Erhebungen. Sie beugte sich hinunter und sah, wonach sie gesucht hatte. Sie drückte den rechten der beiden Knöpfe. Licht flammte unter dem milchweißen Glas der Oberfläche auf. Aha, dachte sie. Onkel Paul hat wohl des öfteren Baupläne, Dias oder ähnliches angeschaut. Dieses Möbel wäre dabei sicherlich eine große Hilfe gewesen.

Der andere Knopf musste den Computer hochfahren, vermutete sie.

7) Henry the Horse

„Dürfte ich Ihnen eine letzte Frage stellen – als Kunde?“, erkundigte sich Thomas Henry Bishop.

„Um was geht es?“, fragte Zach zurück.

„Einen Tag vor seinem Ableben erhielt ich einen Anruf von Mr Campbell, bezüglich einer Bestellung, die ich… die wir in Auftrag gegeben hatten. Er teilte mir mit, dass die Gegenstände eingetroffen seien.“

„Welche Gegenstände hatten Sie bestellt?“

„Wir – einige andere Sammler und ich – hatten nach einem Koffer mit einer Anzahl verschiedener Objekte darin suchen lassen. Ich interessiere mich dabei für die Tonbandspulen.“

„Ich habe welche im Lager gesehen. Lassen Sie mich das Warenbuch checken.“ Zach ging hinter den Tresen, zog das Buch heraus und fuhr mit dem Finger über die letzten Einträge. „Die einzigen Bänder, die hier verzeichnet sind, wurden auf den Namen ‚Horse‘ bestellt – Horse wie Pferd. Keine Einträge für Bishop. Ist Mr Horse einer Ihrer Kollegen?“

„Nein, das bin ich. Paul hat mich so genannt.“

„Wie originell. Bishop, der Läufer, Horse, der Springer – spielen Sie Schach?“

Thomas Henry Bishop kicherte vergnügt. „Mr Kite hat mir den Spitznamen ans Revers geheftet. Benötigen Sie einen weiteren Hinweis oder genügt das bereits?“

Zach starrte den Älteren ratlos an. Bishop schnaubte.

and of course Henry the Horse dances the waltz…“, sang er mit brüchiger Stimme. Und als sich bei Zach noch immer kein Verständnis regte, ergänzte er: „‚Being For The Benefit Of Mr Kite!‘, einer meiner persönlichen Favoriten, was Beatles-Songs angeht.“ Er trat an einen der Sortierkästen heran, aus dem er nach weniger als drei Sekunden des Suchens eine in transparentes Plastik gehüllte Schallplatte herauszog. „Voilà – Sgt. Pepper. Ich nehme an, das sagt Ihnen etwas.“ Auf eine bestätigende Geste Zachs drehte er die Scheibe um, tippte mit dem Zeigefinger genau auf die Mitte der knallroten textbedeckten Fläche und reichte sie Zach.

Der Detektiv schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. „Aber natürlich! In der Familie haben alle ein Pseudonym angenommen. Man hat mich gewarnt.“

Bishop alias Horse nickte, sagte jedoch kein Wort. Er legte den Kopf leicht schief, wie ein Lehrer, der auf weitere Erläuterungen des Schülers wartete.

„Sie sind also das Walzer tanzende Zirkuspferd…,“ stellte Zach fest. Er überlegte einen Moment. Dabei ließ er die Augen durch den Raum wandern. Plötzlich richtete er sie wieder auf sein Gegenüber. „Wer ist Mr Kite?“, stieß er hervor.

„Sehr gut! Sie stellen genau die richtige Frage. Wer ist dieser Mr Kite, zu dessen Gunsten wir hier sind? Es ist genau, wie ich sagte: Im Grunde besitzen Sie die nötigen Voraussetzungen zur Führung dieses Ladens bereits.“

„Nun, wer ist also Mr Kite?“

„So nennt sich der Besitzer der bedeutendsten und teuersten Sammlung von Beatles-Memorabilien im Königreich – wenn man von den Erzeugern dieser Objekte einmal absieht.“

„Mit Erzeugern meinen sie die Bandmitglieder selbst, nehme ich an.“

„Richtig. Und der einzige noch lebende und im Land ansässige Beatle – abgesehen von Pete Best, der nicht wirklich zählt – hört auf den Namen Sir James Paul McCartney. Stellen Sie sich vor, sie wären mit ihm verwandt; ob das wohl Spuren in Ihrer Sammlung hinterließe?“

„Wollen Sie damit andeuten, Mr Kite – oder wie auch immer er mit bürgerlichem Namen heißen mag –“

„Mr Kite besitzt im eigentlichen Sinn keinen bürgerlichen Namen,“ unterbrach ihn Bishop, „aber selbstverständlich benutzt er einen Klarnamen… den zu enthüllen ich ihm selbst überlassen möchte. Sie werden ihn früh genug kennenlernen. Kite war einer der Beteiligten an unserer kleinen Bestellung. Er hat das bedeutendste Objekt aus dem Koffer für sich reserviert.“

„Nun machen Sie mich neugierig. Was hat es mit diesem Koffer auf sich?“, erkundigte sich Zach.

„Lassen Sie uns nach hinten gehen. Es ist eine lange Geschichte, und ich muss mich setzen; meine Beine sind nicht mehr die Jüngsten.“

„In Ordnung. Ich schließe nur eben den Laden ab.“

Zach schritt zur Eingangstür, verriegelte sie, hängte das ‚Geschlossen‘-Schild, das auf den Boden gefallen war, wieder an den Haken am Fenster und führte Bishop zum Durchgang nach hinten. Als er eben nach der Klinke greifen wollte, ging die Tür auf und Veronica, die es scheinbar eilig hatte, in den Laden zu gelangen, prallte gegen seine Brust. Sie quiekte erschreckt, er gab ein atemloses „Uff!“ von sich.

„Wohin so eilig, junge Dame?“, fragte Zach.

„Wohin so eilig, mein Herr?“, fragte sie zurück. Sie musterte ihren Vater von oben bis unten; dann bemerkte sie den älteren Mann, der hinter ihm stand. Sie nickte ihm grüßend zu. Wieder an ihren Vater gewandt deutete sie auf die Schallplatte, die dieser noch immer in der Hand hielt. „Woher wusstest du, dass ich genau das hier suchte?“


Zach stellte Veronica und Bishop einander vor. Der Sammler erläuterte auch ihr sein Anliegen und erklärte, er sei bereit, den Zieglers bei der Abwicklung von Pauls letztem Auftrag behilflich zu sein. Er kenne die betreffenden Kunden.

„Möchten Sie etwas trinken? Tee, Kaffee, Cola, Wasser? Saft ist leider keiner mehr im Haus“, sagte Veronica.

„Einen Milchkaffee, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Miss Veronica. Ich darf Sie doch so nennen?“

„Kein Problem, Mr Bishop.“

„Henry. Ich bestehe darauf.“

„Einverstanden. Dad, möchtest du auch einen Kaffee?“

Zach, dem erst jetzt bewusst wurde, dass er ihren Gast in den Raum geführt hatte, der vom Blut seines Bruders gezeichnet war, nickte abwesend. Seine Augen suchten die Stelle am Boden. Voll Erleichterung nahm er zur Kenntnis, dass Veronica in der kurzen Zeit gute Arbeit geleistet hatte. Ein Fußabstreifer lag auf der ersten Treppenstufe, ein kleiner Teppich davor. Von der weiß nachgezeichneten Kontur der Leiche war nichts mehr zu sehen.

Henry – the Horse, schoss Zach erneut durch den Kopf – schien unbekümmert. Er ließ sich in den Sessel sinken, den Veronica ihm angeboten hatte. Die junge Frau begab sich an den Bartresen, setzte die Kaffeemaschine in Gang und ließ sich dann neben ihrem Vater aufs Sofa nieder.

„Verstehe ich das richtig?“, erkundigte sich der Detektiv. „Sie und einige andere Personen haben meinen Stiefbruder auf die Suche nach einem Koffer geschickt, der diverse Objekte Ihres Interesses enthielt.“

„Korrekt, Mr Ziegler… Zachary.“

„Sie möchten diese getrennt erwerben. Ihr Anteil daran sind die Tonbänder, die ich im Safe gesehen habe, ja? Dieser Mr Kite ist mit von der Partie und –“ Er überflog den Songtext. „Die Hendersons? Wer noch?“

„Nicht die Hendersons. Mr Kite und Mr Mustard werden die Manuskripte übernehmen, Molly Jones möchte den Koffer als solchen erwerben. Zusätzlich zu seiner Vergütung hätte Paul alle weiteren Inhalte behalten dürfen. Wir wissen nicht, worin diese genau bestehen. Es war von hunderten signierter Autogrammkarten die Rede, dazu Photographien, Konzertprogramme und Schallplatten.“

„Was hat es mit diesem Koffer auf sich? Wer hat ihn gepackt und wo ging er verloren?“

Bishop atmete ein Mal tief durch, überlegte kurz, dann begann er zu erzählen: „Im Juli 2004 ging eine Meldung durch die Presse, nach fast dreißig Jahren sei das sogenannte ‚Mal-Evans-Archiv‘ wieder aufgetaucht. Ein englischer Tourist habe auf einem australischen Flohmarkt für kleines Geld einen alten Koffer mitgenommen. Beim Öffnen habe sich herausgestellt, dass sich Beatles-Raritäten darin befanden, unter anderem Mitschnitte von Aufnahme-Sessions nie veröffentlichter Songs. Papiere, die man außerdem enthalten fand, legten nahe, dass der Koffer Mal Evans, dem Road Manager und engen Vertrauten der Beatles, gehört haben musste. Mehrere Experten äußerten sich sofort zuversichtlich, dass es sich um authentische Memorabilien handelte, doch schon Tage später widerriefen alle diese Einschätzung wieder. Sie gaben Erklärungen ab, lediglich ein Sammelsurium wertloser Kopien habe sich in dem Koffer befunden; bei den Tonaufnahmen habe es sich um gängige Bootlegs gehandelt. Sie verweigerten weitere Interviews. Auch der englische Tourist ist nie wieder in Erscheinung getreten. Über den weiteren Verbleib des Koffers beziehungsweise seines Inhalts gab es keine Erkenntnisse.“

Veronica, die zwischenzeitlich aufgestanden war, kam mit einer Kanne Kaffee und drei Tassen zurück. „Leider haben wir keine frische Milch im Haus. Möchten Sie Milchpulver oder trinken Sie ihn lieber schwarz, Henry?“

„Schwarz bitte.“

Nachdem Veronica eingegossen hatte, rührte er gedankenverloren etwas Zucker in die dampfende Brühe. Daher entging ihm sowohl die rasche Bewegung, mit der Zach seine Tasse entleerte, als auch Veronicas beherztes Zugreifen, das verhinderte, dass das Porzellan anschließend auf den Tisch gehämmert wurde.

„An dieser Geschichte kam uns manches spanisch vor,“ führte der Sammler weiter aus, „insbesondere die schnelle Vorabbestätigung des Fundes durch Menschen, die einen Ruf zu verlieren hatten. Das ist unüblich – gerade angesichts der späteren Meldung, dass sich kein bisher unveröffentlichtes Material darunter befunden habe. Was genau begeisterte die sogenannten Experten an den ersten Kostproben so dermaßen, dass sie ihr Berufsethos vergaßen?“

„Das finde auch ich dubios“, warf Zach ein. „Da Sie den Koffer durch Paul aufspüren haben lassen, nehme ich an, dass Sie im Gegensatz zu den Experten von seiner Echtheit ausgehen. Wenn diese ihr Fach verstanden, müssen sie also mit ihrem abschließenden Urteil gelogen haben. Warum?“

„Es sieht für uns danach aus, als seien sie zurückgepfiffen worden. Über die Gründe kann man lange spekulieren, aber wir vermuten, dass die Bestätigung der Authentizität der Tonbänder die unangenehme Frage aufgeworfen hätte, weshalb zu keinem Zeitpunkt die eigentliche Sensation, das Manuskript von Mal Evans‘ Memoiren, erwähnt wurde.“

„Moment, Moment, Moment!“ rief Veronica dazwischen. „Das geht mir etwas zu schnell. Wie kommen plötzlich diese Memoiren ins Spiel?“

„Evans war ein Beatles-Fan der ersten Stunde. Nachdem er die Band live gesehen hatte, arbeitete er für sie zunächst als Türsteher. Er machte sich schon bald als Laufbursche, Roadie und Mädchen-für-alles unentbehrlich. Da er sehr viel Zeit mit den vier Jungs verbrachte, die alle wesentlich jünger als er waren, wurde er darüber hinaus zu einem engen Freund, dem sie ihre Sorgen anvertrauten. Das gestattete ihm Einblicke, die außer ihm nur wenigen anderen Personen vergönnt waren. Das enge Verhältnis dauerte bis weit über die Auflösung der Band hinaus an.“

Zach wiegte den Kopf. „Der Mann hatte also Dinge zu erzählen, die man in keiner anderen Beatles-Biographie lesen kann. Ist sein Buch eigentlich veröffentlicht worden oder haben ihn die Jungs verklagt?“

„Weder das eine noch das andere. Malcolm Frederick Evans ist am 5.1.1976 in seiner eigenen Wohnung in L.A. von der Polizei erschossen worden – kurz bevor er das Manuskript seiner Memoiren beim Verlag abliefern sollte. In dem nachfolgenden Chaos von Ermittlungen, Bestattungsvorbereitungen und Haushaltsauflösung ging nicht nur ein Koffer voller Beatles-Erinnerungsstücke verloren sondern auch das Manuskript. Sogar seine Asche verschwand während der Überführung nach England vorübergehend. Die näheren Umstände dieser tragischen Geschichte erweisen sich auch hier als dubios. Verschiedene Berichte enthalten kleine aber entscheidende Widersprüche zum Hergang. Ob das Manuskript sich in dem verschollenen Koffer befand, blieb ungeklärt, lag aber nahe. Der Zeitpunkt des Vorfalls erregte jedenfalls den Verdacht, dass zwischen der bevorstehenden Fertigstellung der Memoiren, dem gewaltsamen Tod des Autors und dem Verschwinden des Manuskripts ein finsterer Zusammenhang bestand.“

Stille herrschte im Hinterzimmer von Campbell‘s Fab Store. Für einige Augenblicke rührte sich niemand. Vater und Tochter schauten einander verblüfft an. Bishop nippte an seiner Kaffeetasse. Das leise Schlürfen schallte wie Motorenknattern durch den Raum. Zach räusperte sich. „Ich muss schon sagen… An Dramatik mangelt es Ihrer Geschichte nicht im Mindesten. Für mich waren die Beatles bisher lediglich vier geniale Musiker. Wer hätte gedacht, dass nach über einem halben Jahrhundert Geheimnisse zu lüften bleiben? So langsam verstehe ich Ihre Faszination für diese Band.“

Henry the Horse ließ sein Gebiss aufblitzen. „Ich möchte Sie nicht entmutigen, sich mit dem Gedanken an den Weiterbetrieb des Ladens anzufreunden, aber lassen Sie mich Ihnen sagen, dass diese Story weder den Anfang noch das Ende der zahllosen Ungereimtheiten im Umfeld der Gruppe darstellt. Wenn Sie ein wenig länger in diesen Abgrund starren, Zachary, wird schon bald etwas Ihren Blick erwidern.“

Veronicas Nackenhaare stellten sich auf. Die kryptische Inschrift, die sie studiert hatte, bevor die beiden Männer hereingekommen waren, stieg wieder in ihr Bewusstsein auf; ihre Augen suchten den kleinen kreisrunden Rahmen neben der Tür, dann schweiften sie zu Paul McCartney‘s jugendlichem Konterfei darüber. Unwillkürlich musste sie an das denken, was Ihr Vater über den anderen Paul, ihren Onkel, und die Gründe für dessen Verschwinden aus London gesagt hatte. War er wirklich nur unglücklichen Umständen zum Opfer gefallen oder gab es einen finsteren Zusammenhang?

6) I ONEI X HE ◊DIE

Sie hatten beschlossen, dass sie in der Frage, ob sie Pauls Wohnung und Laden behalten wollten – oder auch nur die Wohnung –, ein Gefühl dafür bekommen mussten, was das in der Praxis bedeutete, und dass sie daher mehr Zeit dort verbringen sollten. Sie würden den Warenbestand sichten, ein wenig im Hinterzimmer abhängen, irgendwann ein paar Nächte im Oberstock schlafen. Daher fuhren sie kurz nach acht Uhr in der Frühe ins Zentrum. Es war relativ still in den Gassen des Cavern-Viertels. Die Mathew Street verbreitete das Feeling einer Konzertfläche am Morgen ‚danach.‘ Ein Reinigungstrupp fegte Glasscherben, Papierknäuel, Servietten und Zigarettenstummel zusammen. Die Rainford Gardens lag ähnlich entvölkert. Sie öffneten die Ladentür, knipsten das Licht an und warfen die Mäntel über den Tresen.

Veronica schaute sich um. „Wo fangen wir an?“

„Das Unangenehme zuerst. Mir graust ein wenig vor dem Fleck am Boden, aber wenn wir hier mehr Zeit verbringen wollen, entfernen wir ihn am besten so früh wie möglich.“

Veronica nickte. „Ob Onkel Paul die Reinigung wohl selbst getätigt hat?“ Sie entnahm ihrer Jackentasche ein Notizbuch, zog die oberste Schublade am Tresen auf, kramte darin herum und entnahm ihr dann einen Bleistift. Während sie schrieb, proklamierte sie: „Ad 1: Putzhilfe…“ Sie überlegte. „Wo wir gerade über Personal nachdenken – Ad 2: Verkaufshilfe?“

„Ganz wichtig: Wie bekommen wir Kontakt zu Pauls Stammkundschaft?“, ergänzte Zach.

„Notiert. Während du darüber nachdenkst, inspiziere ich kurz die Küchen- und Badezimmerschränke. Vielleicht finde ich Reinigungsmittel.“

Es dauerte tatsächlich nicht lange. Ein Spind im Hinterzimmer enthielt alles Nötige. Statt ihren Vater zu rufen, begab Veronica sich selbst an die Arbeit. Der Kreideumriss wich ihrem Angriff sofort. Mit ihm verging auch das seltsame Gefühl, dass sich außer ihr noch jemand im Raum befand. Der Drang, über die Schulter zu blicken, ließ nach. Der Blutfleck wehrte sich natürlich hartnäckiger. Nach einer knappen Viertelstunde hatte er jedoch das meiste von seiner Intensität verloren. Nur ein unscharfer dunkler Schemen deutete an, wo Paulus Campbell gelegen hatte. Sie verdeckte ihn mit Auslegeware.

Veronica deponierte Bürsten, Eimer und Fleckenmittel wieder im Spind. Sie entnahm dem Kühlfach der Bar eine Cola. Der Fruchtsaft war leider schon verdorben. Sie stellte die halb leere Flasche mit ihrem schimmligen Inhalt in den Papierkorb, ging dann zum Sofa und ließ sich hineinfallen. Sie schaute sich um. Alles wirkte normal. Es gab keine Kampfspuren, keine zerbrochenen Gegenstände, keine verformten Geländer oder ähnliches. Alles musste sehr schnell vonstatten gegangen sein… oder das Opfer hatte seinen Mörder gekannt und war nichts ahnend auf ihn zugegangen oder hatte ihm arglos den Rücken zugedreht. Ging es um Geld? Wertgegenstände? Oder hatte es Streit gegeben… worüber? Sie schüttelte den Kopf. Alles Spekulationen. Sie wusste zu wenig, um den Tathergang nachvollziehen zu können.

Ihr Blick fiel auf einen kleines kreisrundes schwarz gerahmtes Bild neben der Tür zum Verkaufsraum, direkt unterhalb einer handsignierten Porträtaufnahme des jungen Paul McCartney. Es mochte vielleicht 15 bis 20 Zentimeter Durchmesser besitzen. Das Motiv kam ihr bekannt vor. Ein Schriftzug, der dem oberen Kreisbogen folgte, besagte „Sgt. Pepper‘s“. Aha, dachte sie. Ein Ausschnitt von einem Album-Cover der Beatles. Natürlich kannte sie die LP aus dem Plattenschrank ihres Vaters. Hier in Liverpool war ihr Anblick allgegenwärtig. Der Rest des Bildes ergab jedoch keinen Sinn für sie. Der Schriftzug wiederholte sich spiegelbildlich am unteren Rand. Dazwischen, an der breitesten Stelle, eingerahmt von Ornamenten, stand:

I ONEI X HE DIE

Was sollte das denn? Sie sprang vom Sofa auf und trat nah an das Bild heran. Nein, sie hatte sich nicht verlesen. Sie war sich gleichzeitig sicher, dass die Zeile so nicht auf dem Cover abgedruckt war. Wie aber lautete der Originaltext? Sie konnte sich nur undeutlich erinnern. Veronica kniff die Augen zusammen. Eine haarfeine Linie teilte die Inschrift waagerecht genau in der Mitte. Die untere Hälfte des Bildes sah leicht verschwommen aus. Also handelte es sich tatsächlich um das Foto einer Spiegelung. Wie seltsam. Sie konnte sich keinen Reim auf die Sache machen. ‚HE DIE‘ – er stirbt… oder starb – klang irgendwie bedrohlich. Das spitze Symbol zwischen den beiden Wörtern schien wie ein Pfeil nach oben zu zeigen, wo ein leicht pausbäckiger Paul von dem wesentlich größeren Foto auf sie herunterlächelte.

„Du musst damals ungefähr in meinem Alter gewesen sein, höchstens ein oder zwei Jahre älter“, dachte sie. „Gut, dass du nicht gestorben bist, Herzchen“ murmelte sie, „sonst wären der Welt viele großartige Songs entgangen.“ Auch ihr Onkel hieß Paul, erinnerte sie sich. Nur wenige trauerten um ihn. Die Welt war ungerecht – aber sie war voll guter Musik.

Veronica löste sich von McCartney‘s Gesicht, dann öffnete sie die Tür zum Verkaufsraum, um nach einem Sgt.-Pepper-Album suchen zu gehen. Sie wollte wissen, was die von der Spiegelung verdeckte Hälfte des Originalbilds zeigte.


Nachdem seine Tochter die Tür hinter sich geschlossen hatte, versuchte Zach den Raum durch die Augen eines Geschäftsmanns zu betrachten. Was war das Konzept hier? Bezüge zur Musik der 1960er und den Beatles stachen erwartungsgemäß überdeutlich hervor. Ein Großteil der Aktivitäten im Herzen Liverpools, zuvorderst Themenkneipen, Kitschbuden und Retro-Klamottenläden, verdienten so ihr Geld. Skulpturen von John Lennon, Brian Epstein, Cilla Black und selbst der fiktiven Eleanor Rigby aus dem gleichnamigen Beatles-Song verwandelten die Fußgängerzone in einen Themenpark, in den sich Campbell‘s Fab Store hervorragend einfügte. Die Backsteinfassade mit ihrer in Holz gefassten Ladenfront verlieh dem Laden jene historisch korrekte Ausstrahlung, die gleichermaßen zu dessen Inhalt wie auch zu dessen weiterer Nachbarschaft passte. Als Andenkenladen für die durch die Straßen ziehenden Beatles-Fans wirkte er jedoch zu farblos und bieder, als Antiquitätengeschäft wiederum zeigte er zu wenige großformatige Stücke. Zach kannte einschlägige Geschäfte, etwa den London Beatles Store in der Baker Street; einige weitere hatte er in der unmittelbaren Nähe des Fab Stores entdeckt. Sie überfrachteten ihre Schaufenster mit kleinteiligem Kitsch, während es im Inneren kaum Platz genug gab, zwischen den mit Waren dicht beladenen Ständern, Tischen und Regalen hindurchzugehen.

Pauls Schaufenster präsentierte sich dagegen schlicht. Links stand lediglich eine lebensgroße Holzstatue McCartneys in seiner Peppers-Uniform, befremdlicherweise mit dem Rücken zur Straße; in der rechten unteren Ecke der Glasfront hatte Paul die leicht verzerrten Konterfeis der Fab-Four vom Rubber Soul-Album angebracht. Das war alles. Passanten konnten daher ohne Mühe das Ladeninnere sehen – den ganzen, sehr aufgeräumt wirkenden Laden. Sicher, das hatte Klasse, aber der Mangel an Glitzer würde einem Mangel an hereingespültem Kleingeld entsprochen haben, rechnete er sich aus. Paul musste also, genau wie der Notar beschrieben hatte, seinen Unterhalt mit Stammkundschaft bestritten haben. Der Eindruck von Seriosität konnte da nur nützlich sein. Kleinkram wie die Autogrammkarten, Gitarrensaiten („wie George Harrison sie verwendete“) oder Broschüren zur Musikgeschichte der Stadt dienten wohl eher dazu, irrtümlich hereingeschneiten Andenkensuchenden einem Alibikauf anzubieten, der ihnen den ehrenhaften Rückzug gestattete.

Zachs Gedankengang wurde vom Bimmeln der Türglocke unterbrochen. Ein älterer Herr trat ein. Er trug einen langen grauen Filzmantel, dunkle Hosen mit Bügelfalten, schwarz glänzende Lackschuhe und einen breitkrempigen Hut, den er schon beim Durchschreiten der Tür abnahm. Darunter zeigte sich schütteres graues zur Seite gekämmtes Haar.

„Einen schönen guten Morgen, Sir!“, grüßte der Mann. Zach schätzte ihn auf Anfang sechzig, wohl situiert, gebildet. Ihm fiel auf, dass der Neuankömmling sich nicht umschaute, sondern seine Neugier direkt auf ihn richtete. Kein Andenkenjäger, vermutete er.

„Guten Morgen“, grüßte er freundlich zurück. „So früh schon unterwegs? Es hat doch noch kaum ein Geschäft geöffnet.“

„Ja, bedauerlicherweise hat die Rockdiskothek geschlossen“, erwiderte der Mann lächelnd, „Um so erfreulicher, diesen fabelhaften Laden wieder von Licht erhellt zu sehen. Ich hatte schon befürchtet, er gehöre der Geschichte an.“

„Nun, eigentlich ist er im Moment tatsächlich zu. Wir führen lediglich eine erste Bestandsaufnahme durch.“

„Darf ich nach Ihrem werten Namen fragen, Sir?“

„Zachary Ziegler“, erwiderte Zach. „Und Sie sind…?“

„Oh, verzeihen Sie. Wie unhöflich von mir. Mein Name ist Bishop. Thomas Henry Bishop. Mr Campbells Laden gehörte seit dem Augenblick seiner Eröffnung zu meinem festen Programm, wenn ich in die Innenstadt kam. Paul – Mr Campbell – war ein Meister darin, verschollene Perlen wiederzubeschaffen. Es gab nur wenige Wünsche, die er mir nicht erfüllen konnte. Ich schätzte ihn auch als feinen, intelligenten Menschen, der stets für eine tiefsinnige Konversation zu haben war. Welch ein Verlust…“

„Mein Beileid, Mr Bishop“, sagte Zach seiner eigenen gemischten Gefühle wegen unbeholfen.

„Papperlapapp!“, fuhr Bishop auf. „Es ist an mir, Ihnen mein Bedauern auszusprechen. Schließlich ist… war er Ihr Bruder, Mr Ziegler. Er hat manchmal von Ihnen erzählt. Nur Gutes, natürlich.“

„Das fände ich erstaunlich. Es ist viel Wasser die Themse hinunter geflossen, seit wir zuletzt miteinander gesprochen haben. Dennoch…“

„Wenn Sie einem Fremden gestatten, Ihnen einen Rat zu erteilen: Grämen Sie sich nicht. Die Gründe für sein Untertauchen lagen mehr in seinen eigenen Versäumnissen begründet als in einem vermeintlichen Verschulden Ihrerseits.“ Bishop schaute ihm ernst aber freundlich ins Gesicht. „Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, Mr Ziegler?“, fragte er und fuhr ohne auf eine Antwort zu warten fort: „Kommen Sie erst einmal zu sich, finden Sie sich in Ihrer neuen Umgebung zurecht und lassen Sie uns zu gegebener Zeit bei einer Tasse Tee über den lieben Paul sprechen.“

„Besten Dank, Mr Bishop. Sie sind der zweite Freund meines Bruders, der mir begegnet – und der zweite, der das anbietet.“

Der Ältere lächelte wieder. „Da sich ihm so viele verbunden und auch verpflichtet gefühlt haben, werde ich vermutlich nicht der letzte bleiben. Aber bitte: Nehmen Sie mein Angebot an. Es wäre mir eine Freude!“

Ein Impuls drängte Zach, Bishop die Hand zu reichen, und dieser ergriff sie. „Es wäre auch mir eine Freude. Ich komme mit Sicherheit darauf zurück. Sind Sie bald wieder in der Stadt, Mr Bishop?“

„Nennen Sie mich bitte Henry.“

„Einverstanden. Ich bin Zachary.“

Sie schüttelten einander erneut die Hände.

„Freut mich, Zachary. Was Ihre Frage angeht: Ja, recht häufig sogar. Ich nehme jeden Montag mein Frühstück im Bistro dort drüben am Eck ein.“

„Was führte Sie dann heute hierher?“

„Wie angedeutet liegt mir der Laden sehr am Herzen. Ein weiterer… Freund hat mich auf Ihr Eintreffen aufmerksam gemacht. Da wollte ich die Gelegenheit ergreifen, ein paar Worte mit Ihnen zu wechseln.“

„Das sprach sich ja schnell herum. Ich hatte den Eindruck, Liverpool sei etwas größer als ein Dorf.“

Der Ältere schmunzelte. „Eine Großstadt, ohne Frage, wenn auch weit abgeschlagen im Vergleich zu London. Die Sammlerszene ähnelt allerdings einer Familie.“

„Verstehe. Ich kann der Familie leider nicht versprechen, dass der Fab Store weiter bestehen bleibt. Wie gesagt fangen meine Tochter und ich gerade erst an, die Lage zu erfassen. Ich muss Ihnen zudem gestehen, dass wir zwar durchaus Freunde der analogen Technik sind, das Metier meines Bruders jedoch kaum kennen. Wir sind Privatermittler, keine Musikexperten oder Kaufleute. Wir wären auf fachmännische Hilfe angewiesen.“

„Man könnte auch Paul ohne Einschränkung als eine Art Privatermittler bezeichnen. Statt Personen hat er eben Dinge aufgespürt. Wenn Sie Ihre eigene Detektei betreiben, besitzen Sie genug kaufmännisches Wissen, um eine saubere Abrechnung zu erstellen. Und was die fachliche Expertise betrifft: Es gibt keinen besseren Ort, an solche heranzukommen. Vielleicht kann ich helfen. Erwähnte ich schon, dass Ihr Bruder Freunde hatte?“

„Am Rande. Lassen Sie mich darüber nachdenken. In ein paar Tagen sehe ich die Dinge bestimmt klarer.“