18) Die Tür zum ersten Kreis der Hölle

Die Worte der Italienerin hatten Veronica in jenen verwirrten Zustand zurückgeworfen, in der sie sich bei der Entdeckung des Peppers-Codes am frühen Morgen befunden hatte. Die Kakophonie der Stimmen in ihrem Kopf betäubte sie und hinderte sie daran, einen klaren Gedanken zu fassen. Wie in Trance packte sie die Schallplatte, den kleinen runden Rahmen und den Taschenspiegel zusammen und folgte ihrem Vater und Maria nach hinten in den Raum, in dem ihr Onkel ermordet worden war. Sie schloss die Tür. Ein runder Fleck auf der Tapete daneben markierte die Stelle, an der der runde Rahmen gehangen hatte. Einen Moment lang war ihr Geist völlig leer. Dann schaute sie auf ihre Hände hinab. Sie sah das kleine Bild… Und jetzt?… Sie hängte es an seinen Platz zurück. Ihre Augen lasen den Schriftzug: „I ONEI X HE ◊ DIE“, lasen ihn erneut: „I ONEI X HE ◊ DIE“, erneut: „I ONEI X HE ◊ DIE“, erneut. „I ONEI X HE ◊ DIE.“

Sie drehte sich um. Maria Borghese setzte sich gerade in den Sessel. Ihr Vater ließ sich auf das Sofa nieder. Seine freudige Stimmung war innerhalb von Sekunden völlig verflogen. Sein Gesicht wirkte aschfahl. Veronica glaubte zu wissen, was in ihm vorging. Sie standen wieder an jenem finsteren Abgrund, von dem Henry gesprochen hatte, und ihm graute davor, was sie darin entdecken mochten.

„Signorina, Signore Ziegler,“ begann die Italienerin zu sprechen, „ich bin ein Mensch, der sich bemüht, die Dinge realistisch zu betrachten. Ich enthalte mich übertriebener Darstellungen. Davon hängt der Erfolg meiner Arbeit ab. Verstehen Sie daher, was ich nun zu sagen habe, nicht als aufgeblasene Wichtigtuerei. Dies sind Tatsachen von höchster Brisanz. Wenn Sie sie in ihrer vollen Bedeutung erfasst haben, werden Sie die Welt nie wieder so sehen können, wie weit über neunzig Prozent der Leute da draußen.“

Betretene Stille.

„Ich hätte mir gewünscht, unseren ersten Tag der Zusammenarbeit leichtherziger zu verbringen. Welch ein Unglück, mit der Tür derart ins Haus fallen zu müssen. Vielleicht ist es aber so am besten, denn Sie werden von nun an ohnehin fast täglich damit befasst sein.“ Maria Borghese legte wieder eine Pause ein. Schließlich beugte sie sich vor. Von einem zur anderen schauend fragte sie: „Haben Sie je das Gerücht gehört, dass Paul McCartney tot sein soll?“

Veronica stöhnte leise. „Ich habe es geahnt!“

Zachs Kopf hüpfte mehrfach auf und ab. „Erst vorgestern hat mich der Chef der Mordkommission mit der Nase darauf gestoßen. Ich bin mir fast sicher, es schon vor Jahrzehnten gehört aber nicht ernst genommen zu haben.“

„Hat er das?“, fragte Maria erstaunt.

„Ja. Er tat den Gedanken als Revolvergeschichte ab.“

„Der gute Desmond gehört zu jenen, die es besser wissen müssten. Ich behaupte darüber hinaus, dass er es tatsächlich besser weiß.“

„Moment mal, Sie wollen sagen, dass hinter den Gerüchten mehr steckt als Sensationsgier?“ Veronica.

Statt einer Antwort schloss die Italienerin langsam die Augen und öffnete sie dann ebenso langsam wieder.

„Aber… wie geht das? Wir haben mit dieser Idee gespielt, weil ihre Enthüllung natürlich den besten Grund abgegeben hätte, Mal Evans und andere Plappermäuler aus dem Verkehr zu ziehen. Wenn ich überlege, wie das praktisch vonstatten gehen soll, einen globalen Superstar durch ein Double zu ersetzen, versagt jedoch meine Vorstellungskraft. Milliarden Menschen richteten täglich ihre Augen auf diese Person. Irgendwer hätte Alarm geschlagen.“

„Milliarden Menschen richteten ihre Augen auf mediale Bilder, unter denen ‚Paul McCartney‘ geschrieben stand. Sie sahen, was man ihnen zu sehen aufgetragen hatte. Obgleich man verschiedene Bilder von Beatle Paul nebeneinander legen kann, die belegen, dass im Lauf der Jahre mehrere Doubles eingesetzt wurden, sehen die Leute bis heute, was sie zu sehen erwarten. Die Verwendung von Doppelgängern ist in Politik und Unterhaltung seit langem gängige Praxis. Stalin und Saddam dürften die bekanntesten Beispiele hierfür darstellen. Auch gefälschte Film- und Fotoaufnahmen sind weder eine Selten- noch eine Besonderheit. Denken Sie an all die Prominenten, die in echt ganz anders aussehen als auf den Hochglanzseiten der Modemagazine. In Zeiten von Photoshop und Deep Fakes geraten authentische Bilddokumente langsam in die Minderheit. Der leiblichen Person kommen dagegen nur sehr, sehr wenige Leute nahe genug, um Unterschiede wahrnehmen zu können.“

„Okay, aber weshalb spielen eben jene wenigen alle mit? Weshalb sagt niemand: ‚Das ist nicht unser Vater‘? ‚Das ist nicht mein alter Freund‘?“

„Die Antwort hierauf mag für verschiedene Zeugen verschieden lauten. Evans‘ Schicksal ist vielleicht die extremste Variante. Man muss bedenken, dass einflussreiche Menschen es häufig vorziehen, unter ihresgleichen zu bleiben, in einer Art geschlossenem Club, in dem jeder weiß, wann er dichtzuhalten hat. Kontrolle über die Presse kann verhindern, dass unliebsame Nachrichten die Runde machen. Familienmitglieder werden das Andenken ihres Verwandten nicht durch Skandale beschmutzen wollen. Geschäftspartner haben Verluste zu befürchten, wenn bekannt wird, dass die Gans, die goldene Eier für sie legte, gestorben ist. Die Regierung könnte Unruhen und Selbstmordwellen befürchten. Gründe mitzuspielen gibt es also genug. Viel faszinierender finde ich, dass sowohl die Band als auch ihr nahe stehende Personen unzählige dezente Hinweise gegeben haben – wie das Cover des Sgt. Peppers Albums –, die entweder nie vom Mainstream aufgegriffen worden sind oder einfach als Unsinn abgestempelt wurden.“

Zach richtete sich auf. „Das ist ein Punkt, der mir widersprüchlich vorkommt. Es erscheint mir unlogisch, dass man einerseits im Geheimen einen fliegenden Wechsel hinlegt, möglicherweise inklusive der Beseitigung unliebsamer Zeugen, und gleichzeitig, buchstäblich mit Pauken und Trompeten, die Neuigkeiten bekannt macht.“

„Auch hierfür mag es verschiedene Gründe geben“, erläuterte Maria Borghese. „Man mag gehofft haben, dass man die Öffentlichkeit langsam auf die schlechten Nachrichten vorbereiten kann. Oder es könnte sich um ein Katz- und Mausspiel handeln, bei dem unter Beweis gestellt werden sollte, was unter der Nase der Öffentlichkeit alles möglich ist. Die Band wird zur Verschwiegenheit verpflichtet worden sein, nutzte jedoch jede Möglichkeit, die Wahrheit unter dem Deckmantel der Fiktion hinauszuposaunen. Und vielleicht spielte auch die Eitelkeit des Ersatzmannes eine Rolle, der der Nachwelt zur Kenntnis geben wollte, wer in Wirklichkeit hinter der genialen Musik der Spätphase der Beatles steckte.“

„All diese vielen ‚Vielleichts‘,“ beschwerte sich Veronica. „Weiß man denn nichts Konkretes? Wann und wie soll McCartney gestorben sein? Wer ist der Mann, der ihn ersetzt haben soll?“

„Nun, was man konkret weiß, können Sie in allen gängigen Biografien nachlesen. Die Beatles legten am 29. August 1966 das letzte Konzert ihrer Geschichte im Candlestick Park in San Francisco hin und kehrten am folgenden Tag nach London zurück. Sie ließen verlauten, dass sie nicht mehr live auftreten wollten. Die vier Musiker widmeten sich sofort unterschiedlichen Projekten. Bis zur Veröffentlichung des Sgt.-Peppers-Albums im Mai 1967 gaben sie nur sehr wenige Interviews und traten so selten im Fernsehen auf, dass ein Gerücht die Runde machte, die Beatles hätten sich aufgelöst. Das Fanmagazin The Beatles Book Monthly reagierte im Februar 1967 auf ein weiteres Gerücht: Dass Paul McCartney am 7. Januar bei einem Unfall auf der vereisten Autobahn M1 ums Leben gekommen sein soll, sei völlig unwahr, schrieben sie. Der Beatles-Pressesprecher habe bekannt gegeben, dass er den Musiker am Telefon gesprochen habe. Paul habe mitgeteilt, dass sein schwarzer Mini-Cooper heil in der Garage stehe.“

„Und das war gelogen“, warf Zach halb fragend, halb feststellend ein.

„Aber nein, die Meldung, dass die Gerüchte falsch waren, entsprach der Wahrheit. Sie ist ein Paradebeispiel der Irreführung durch falsche Fährten, eine Nebelkerze, wie sie im Buche steht. Es geschah nicht am 7. Januar 1967, sondern am 11. September 1966, weniger als zwei Wochen nach der Rückkehr aus den USA. Paul McCartney besaß keinen schwarzen sondern einen lindgrünen Austin Mini, des weiteren einen silberblauen Aston Martin DB5 und einen dunkelgrünen Aston Martin DB6 – den Unfallwagen. Er verunglückte nicht auf der M1, sondern auf der Dewsbury Road, einer kurvigen Landstraße. Das Gerücht über Pauls Tod am 7.1.67 auf der M1 in einem schwarzen Mini Cooper ist tatsächlich völlig aus der Luft gegriffen.“

Der Detektiv schnaubte. „Brillant formuliert, man muss es eingestehen. Was macht Sie nun so sicher, dass Ihre Version der Geschichte die richtige ist?“

„Wir haben den Mann, der den Toten ersetzte.“

„Jetzt wird‘s spannend“, sagte Zach. „Wie heißt er denn?“

Die Italienerin grinste. „Er nennt sich Sir Paul McCartney.“

Zach stieß ein bellendes Lachen aus. Veronica kicherte. „Kein Scheiß!“, witzelte sie.

Maria Borghese fiel in ihr Lachen mit ein. Dann fuhr sie fort: „Das Titelstück des Sgt.-Peppers-Albums nennt uns seinen Namen: Billy Shears. Zumindest ist das einer seiner Namen. Er ist nicht nur ‚der Mann mit den tausend Stimmen‘, wie wir vom Song The Fool On The Hill erfahren, ein großartiger Stimmimitator, sondern auch ein Mensch mit zahlreichen Namen, darunter William Wallace Campbell, William Shepherd, Billy Pepper, Apollo Wermouth, Vivian Stanshall und Phil Ackrill. Später kamen neben der Persona McCartney weitere hinzu, beispielsweise Percy ‚Thrills‘ Thrillington. Im Film Magical Mystery Tour verrät er uns, dass er 1937 geboren wurde und somit fünf Jahre älter ist als der echte Paul. Billy macht gelinde gesagt wenig Hehl daraus, dass er für einen toten Mann eingesprungen ist. Das fängt bei der Begräbnisszene auf dem Peppers-Album an, das unter seiner Regie entstanden ist – den Code mit dem Todesdatum haben Sie ja schon entdeckt, Signorina –, zieht sich ab diesem Zeitpunkt wie ein roter Faden durch hunderte von Textstellen in Songs, kommt ständig in zweideutigen Interviewäußerungen zum Vorschein und findet seinen Höhepunkt in einer fast siebenhundert-seitigen Autobiografie, die an Offenheit kaum zu überbieten ist.“

„Sie machen Witze!“, staunte Veronica. „Einer der bekanntesten Männer der Welt schreibt seine Memoiren, aber niemand nimmt das Geständnis zur Kenntnis, dass Sir Paul eigentlich Billy Shears – oder wie auch immer – heißt?“

„Signorina Veronica, er verkauft das Buch natürlich nicht unter seinem Beatles-Namen. Das würde ihm mit Sicherheit große rechtliche Schwierigkeiten eintragen, wie er im Text betont. Der Titel lautet The Memoirs of Billy Shears, wurde von einem gewissen Thomas E. Uharriet ‚kodiert‘, und behauptet im Impressum, ein fiktiver historischer Roman zu sein. Im Text dagegen bezieht er sich immer wieder auf ‚diesen sogenannten Roman‘, eine Literaturform, die er habe wählen müssen, um Tacheles reden zu können. Dank dieser Konstruktion kann er jederzeit glaubhaft behaupten, es sei alles nur fiktiv – eine reine Erfindung.“

„Nun, vielleicht ist es das. Woher wissen wir, dass die Memoirs keine Erfindung dieses sogenannten Kodierers sind?“, hakte Zach nach.

„Das Buch erschien seit 2009 in vier Auflagen. Es trägt das Bild McCartneys auf dem Umschlag, legt dem Musiker Worte in den Mund, unterstellt ihm Mitwisserschaft an einem Verbrechen und zitiert mehr als zulässig aus den Texten seiner Kompositionen. In vierzehn Jahren hat Sir Paul nie rechtliche Schritte dagegen eingeleitet. Der Verlag heißt Peppers Press. Mit ein bisschen Recherche erfährt man schnell, dass es sich um eines der vielen Tochterunternehmen von Macca Corp. handelt, dem Konzern, der Sir Pauls Aktivitäten den Rahmen gibt. Der Kodierer ist Geschäftsführer des Verlages. Das Buch erschien am selben Tag wie die Neuauflage der Beatles-Remasters und wird zusammen mit Sir Pauls offiziellem Buch The Lyrics promotet, das vor zwei Jahren veröffentlicht wurde.“

„Okay, starke Indikatoren für die Annahme, dass es sich bei Sir Paul und Billy Shears um dieselbe Person handelt“, gestand Veronica zu. „Was ist mit handfesten Beweisen?“

„McCartneys Gesichtsgeometrie hat sich von Mitte 1966 bis Anfang 1967 stark verändert. Manches kann auf Operationen und Implantate zurückgeführt werden, manches andere aber auch nicht. Sein Gesicht ist länger geworden, die Ohren ebenfalls; sie stehen nun weniger ab, sind am unteren Ende nicht mehr mit der Wange verbunden und unterscheiden sich in weiteren Details, die man nicht umoperieren kann. Seine Gesamtgröße ist um etliche Zoll länger geworden. Die Augen seiner Freundin Jane Asher befanden sich vorher über der Höhe seines Mundes, später auf Kinnhöhe. Im Vergleich zu Mal Evans war er ursprünglich einen halben Kopf kleiner als der Roadie, später fehlte wenig und er wäre ihm ebenbürtig gewesen. Als die Beatles noch zusammen auftraten, waren George, Paul und John ungefähr gleich groß. Spätere Fotos und Filme zeigen deutliche Größenunterschiede zwischen dem falschen Paul und den anderen. Das fängt schon bei Front und Rückseite des Peppers-Covers an. Überzeugen Sie sich selbst!“