„Ich suche Sie im Auftrag von Mr Kite auf. Er ist Stammkunde in Campbell‘s Fab Store und…“
„Ich weiß, wer Mr Kite ist, –“ schnauzte Zach, wenngleich weniger druckvoll, als er beabsichtigt hatte. Sein Ärger über die Störung begann sich bereits aufzulösen. Als Vollblutddetektiv plagte ihn permanent die Neugier. So auch jetzt. Welch kauziger Auftritt dieses Typen, der keinen eigenen Namen nannte, sondern sich als Besitz eines wesentlich bedeutsameren Befehlsgebers zu verstehen schien – formell gekleidet, aber eben lediglich der Hund eines Herrchens, unter dem er sich zweifelsohne eine Ehrfurcht gebietende Präsenz vorzustellen hatte. Seit Paul ihm gezeigt hatte, wie man die unbesiegbare Aura der scheinbar Allmächtigen brach, beeindruckten ihn Äußerlichkeiten wie Kleidung, Posen oder Wortgewalt jedoch überhaupt nicht mehr. Er würde diesem Wauwau die Hausregeln erklären und ihm dann freundlicherweise erlauben, den Wunsch seines Herrn vorzutragen. „– aber am siebten Tage ruhte selbst Gott, der Herr,” fuhr er fort, “und ich habe nicht vor, daran etwas zu ändern. Sonntags bleibt dieses Geschäft geschlossen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag.“
Er tat so, als wolle er der Melone die Tür vor der Nase zuschlagen. Diese öffnete und schloss ihren Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen, hob schnell die Hand und würgte ein krächzendes „Aber…!“ hervor.
„Ist noch was?“, fragte Zach.
Melone fasste sich mit der Rechten ins Revers, tastete eine gefühlte Ewigkeit darin herum und produzierte schließlich eine Visitenkarte, die er dem Detektiv wortlos entgegenstreckte. Zach musterte den Mann von oben bis unten, bevor er sie annahm. Lässig drehte er sie zwischen den Fingern, dann schaute er nach unten. Er las:
‚M. Kite, Nutznießer. The Wallace Castle Liverpool, Scotland Road,‘ und eine Telefonnummer.
„Mr Kite, ja. So weit waren wir schon.“
Erneut hatte er Melone auf dem falschen Fuß erwischt. Die Augen weiteten sich, der Mund formte ein O, durch das Luft hörbar nach innen strömte. Einen Moment schien es, als wolle er zu weinen anfangen, doch dann begann der Mann, seine Fassung wiederzugewinnen. Er räusperte sich und sagte: „Mr… hrm… Kite wünscht mit Ihnen zu sprechen und schlägt ein Treffen auf seinem Schloss vor. Er lässt fragen, ob es Ihnen gleich morgen recht wäre.“
Zach ging im Geist ihre Vorhaben für den kommenden Tag durch. „Nein,“ erwiderte er. Sie würden ausgiebig mit Maria Borghese sprechen. Eventuell würde auch Henry hereinschauen; wer konnte sagen, wie viel Zeit sie danach brauchten, alles zu verarbeiten, oder welche Erledigungen umgehend zu tätigen sein würden. „Morgen bleibt keine Zeit für zusätzliche Termine,“ fuhr er fort. „Was, meinen Sie, wird Mr Kite von dem Vorschlag halten, das Treffen um einen oder zwei Tage zu verschieben?“
Der Mann zog ein Taschentuch heraus, nahm seine Melone ab und tupfte sich die Stirn. Dieses Gespräch schien seinem Handlungsspielraum das letzte abzuverlangen. Zach hegte fast so etwas wie Mitgefühl für ihn, doch so leid es ihm tat – man musste seine Pflöcke früh genug einschlagen, sonst wurde man gnadenlos überfahren. Er hatte nicht vor, den Laufburschen für die örtliche Schickeria zu spielen, und er würde es sie von der ersten Sekunde an wissen lassen.
Melone hatte sich endlich zu einer Antwort durchgerungen. Er sagte: „Ich… äh, betrachten Sie Dienstag als bestätigt. Bitte finden Sie sich pünktlich um 11 Uhr mittags in Wallace Castle ein. Auch Ihre Begleiterin ist willkommen.“ Er tupfte erneut Schweiß von der Stirn.
Zach nickte ihm zu. „Einverstanden. Richten Sie Mr Kite meinen Dank für seine Einladung aus. Ich freue mich, mit ihm plaudern zu können.“ Er griff in die Gesäßtasche seiner Hose, holte eine Zehn-Pfund-Note heraus und steckte sie der Melone in die Brusttasche. Er lächelte dem Mann freundlich zu, dann drehte er sich um, ging in den Laden zurück und schloss die Tür. Ohne sich noch einmal umzusehen strebte er der hell erleuchteten Tür des Hinterzimmers zu, diesmal sorgfältig darauf achtend, nicht mit Hindernissen zusammenzustoßen. Auf dem Weg nach hinten entgleisten ihm sämtliche Gesichtszüge; er zwang sich zu einem ruhigen aber zügigen Schritt. Doch sobald er die Tür hinter sich zugeworfen hatte, platzte es aus ihm heraus. Er begann lauthals zu lachen. Veronica, die die seltsame Unterhaltung verfolgt hatte, stimmte sofort mit ein. Sie prusteten und keuchten und krümmten sich mehrere Minuten lang. Jedes Mal, wenn einer der beiden sich etwas beruhigen wollte, überwältigte sie eine erneute Lachsalve. Tränen rannen ihnen an den Wangen herab. Sie klopften sich gegenseitig auf den Rücken, stampften mit den Füßen und ließen sich etliches später endlich halb entkräftet auf ihre Sitze fallen.
„Hätte ich ihn fragen müssen, ob wir etwas aus der Pommesbude zu essen mitbringen sollen?“, setzte Zach erneut an. Die Frage löste eine weitere Runde vergnügten Gackerns aus.
„Schluss jetzt, ich kann nicht mehr!“, japste Veronica.
„Schmeiß den Film wieder an,“ krakeelte ihr Vater, „ich sehne mich nach echten Menschen.“
„Und ich nach authentischen Außerirdischen“, ergänzte sie.
Der Film lenkte sie für ein Stündchen von der Begegnung ab, und von all dem, was mit dem Mord an dem armen Onkel Paul zusammenhing. Weder Zach noch Veronica war wohl zumute, wenn sie daran dachten, welche Umstände sie nach Liverpool in dieses Haus geführt hatten. Ihre flippigen Unterhaltungen, durch die sie ein Stück ihrer Londoner Normalität in diese unbekannte Stadt importierten, und das hysterische Gelächter von gerade eben, das ihrem irrationalen Spiel mit schwer einzuschätzenden Gefahrenquellen geschuldet war, lagen wie ein dünner Firnis über dem tief sitzenden Gefühl von Bedrohung, das sie beschlichen hatte. Erst vor fünf Tagen waren sie hier eingetroffen, aber Thomas Henry Bishops Warnung, dass der Abgrund, in den sie gerade blickten, zu ihnen zurückschauen könnte, verfolgte sie bis in die unruhigen Träume des langen Mittagsschlafs, den sie sich heute gönnten. Als sie gegen drei Uhr nachmittags erwachten – mit Schmerzen im Hintern, gebrochenem Kreuz und zerknittertem Gesicht – hatte sich ihre Stimmung ins Gegenteil dessen verwandelt, was sie am Morgen gewesen war. Veronica setzte eine neue Kanne Kaffee auf, dann machten die beiden es sich in einer Art Katzenjammer am Küchentisch bequem.
„Was mich seit Tagen irritiert,“ begann Zach, „ist diese seltsame Leere an der Stelle, an der Paul einen Platz in meinem Herz haben müsste. Er war mein bester Freund, als wir zur Schule gingen, und eine große Stütze zu der Zeit, als du zur Welt gekommen bist. Er verdiente ein Dankeschön und eine Entschuldigung, doch er ließ sie mich nie aussprechen. Zwanzig Jahre lang hielt er sich vor mir versteckt, und dann plötzlich dieser gewaltsame Tod, der endgültig alle Brücken zwischen uns einreißt. Diese Erkenntnis der unwiderruflichen Trennung war es, die mich im ersten Moment schockierte. Ich sollte traurig sein oder auf eine egozentrische Weise verärgert, weil er mir jede Gelegenheit genommen hat, unser geknicktes Verhältnis wieder zu kitten. Aber: nichts. Da ist nichts. Ich fühle – nichts! Er ist als ein unbekannt Gewordener gestorben, als Kondensationskern einer Gemeinschaft schattenhafter Fremder, als Kenner einer untergegangenen Kultur, der es zu Reichtum gebracht hat, indem er deren Artefakte aus dem Dunkel der Zeit ins Licht der Gegenwart zerrte. Weder zu dem Mann noch zu dem, was er uns hinterlassen hat, kann ich eine Beziehung herstellen… verstehst du, was ich sagen will?“
Veronica, über ihren Humpen gebeugt, den sie mit beiden Händen festhielt, hob den Blick, um ihrem Vater direkt in die Augen zu schauen. „Ich kann nur vermuten, was du fühlst – oder eher, was du nicht fühlst“, antwortete sie langsam. „Vielleicht ist es schwieriger für dich als für mich, weil du ihn einmal gekannt hast. Für mich besitzt er kaum mehr Substanz als der König aus einem Märchen oder irgendein Fremder, über den die Zeitungen berichten. Ich fühle keine Trauer, weil Onkel Paul nie einen Raum hier drin“ – sie klopfte sich auf die Brust – „eingenommen hat.“ Veronica überlegte kurz. „Total abgefahren! Ich meine, von einem Moment auf den anderen tritt jemand in mein Leben, der die Macht hat, es völlig auf den Kopf zu stellen, und ich weiß nicht einmal, wie er aussieht… aussah. Ich lerne ihn kennen, indem ich seine Überreste vom Boden kratze, seine Wohnung benutze, mit seinen Geschäftspartnern den Faden wieder aufnehme und mich für die Dinge zu interessieren beginne, die für ihn eine Bedeutung hatten. All das scheint mir mehr abenteuerlich als traurig.“
„Bäääh!“ – das Meckern eines Schafs.
Veronica sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. „Womit habe ich diesen Kommentar verdient, Herr Ziegler? Gerade noch wähne ich mich in einem ernsthaften Gespräch, und plötzlich reden Sie in Zungen.“
„Dank deiner Erläuterungen kam mir gerade der Gedanke, dass Paul hier“ – er drehte seine Tasse so, dass seine Tochter das Foto McCartneys sehen konnte und tippte mit dem Zeigefinger darauf – „nicht etwa seine Meinung zur Qualität des Tasseninhalts abgibt, sondern eine wichtige Botschaft für uns hat.“
Veronica schüttelte irritiert den Kopf. „Die da lautet?“
„Steht doch da.“
„Bäääh!? Das ist mir zu hoch.“
Zach stieß ein bellendes Lachen aus. „Wenn wir den wahren Paul erkennen wollen, müssen wir ihn völlig neu sehen lernen“, sagte er. „Nicht so, wie andere ihn für uns zeichnen – den netten Mann, der stets etwas Schönes für die Leute aus dem Hut zauberte –, aber auch nicht so, wie er sich selbst verstand: als Schäfer einer Herde, die zu dumm ist, seine wahre Funktion zu erkennen.“
„Okaay…“, sagte Veronica gedehnt. „Und wie stellen wir das an?“
„Indem wir ihn beobachten, ihn regelrecht ausspionieren – so, wie wir es bei einem Auftrag normalerweise tun. Wir lesen seine Emails, scannen seine Festplatte, prüfen seine Kontobewegungen, schauen in seine Manteltaschen,“ – Veronica schluckte; – „durchsuchen seine Möbel, leuchten in die staubigen Ecken seiner Wohnung, suchen nach verborgenen Hohlräumen, vollziehen seine Tagesaktivitäten nach. Was wir finden, vergleichen wir mit dem, was er über sich selbst erzählt hat und was andere über ihn sagen.“
„Arbeit für eine, die Vater und Mutter erschlagen hat… Na gut. Da passt ja unser Vorhaben, die Hausbibliotheken zu inspizieren, perfekt ins Programm. Suchen wir nach etwas Bestimmtem oder wollen wir uns zunächst ein allgemeines Bild von der Sammlung machen?“
„Lass uns schauen, womit er sich beschäftigt hat, welche Fächer und Themen ihn interessierten. Vielleicht fällt uns dabei schon etwas auf, dem man weiter nachgehen kann: viel benutzte Bücher mit Markierungen, Widmungen oder Randnotizen; Briefe und Fotos, die als Lesezeichen eingelegt wurden – derlei.“