42) Auf sich allein gestellt

Desmond war ohne weiteren Kommentar durch die Tür nach draußen entschwunden. Sie hörte ihn die Treppe hinuntergehen. Veronica blieb sich selbst überlassen in dem Raum zurück. Das zur Decke führende Seil hielt ihre Arme nach oben ausgestreckt, so dass sie sich weder setzen noch hinlegen, sondern nur stehen oder hängen konnte. Stehfolter, dachte sie. Doch schlimmer als das Stehen empfand sie das Kribbeln in ihren Armen und Händen, gegen das sie nichts unternehmen konnte. Sie drehte sich um ihre eigene Achse, um den Raum in Augenschein zu nehmen. Der stechende Kopfschmerz hatte etwas nachgelassen und auch ihr Sehvermögen stabilisierte sich so langsam. Leider herrschte nun finstere Nacht. Ohne den Mond und ohne eine künstliche Beleuchtung in der Nähe spendete nur das Band der Milchstraße ein schwaches Licht, das die Gegenstände in ihrem Gefängnis als undeutliche Schemen, schwarz vor dunklerem Schwarz, erkennen ließ.

Es gab ein kleines quadratisches Tischchen oder Schränkchen unter dem rechten Fenster; sie sah nur die Deckplatte. Rechts daneben, in einer Ecke des Raums, zeichnete sich wegen der vermutlich weißen Laken etwas heller ein Bett ab. Unter dem anderen Fenster sah es so aus, als stünde dort ein Stuhl. Links an der einwärts führenden Wand sah sie die Umrisse des eisernen Leuchters, an dem ihr Seil befestigt war. Am anderen Ende der Wand hing ein weiterer, meinte sie zu erkennen. Es folgte die Zimmerecke, auf deren Existenz sie nur schließen konnte, denn die Innenwand lag vollständig im Schatten. Außer der mittig angebrachten Türöffnung, die sie gesehen hatte, als Desmond hindurchgegangen war, kannte sie keine Details ihrer Beschaffenheit.

Noch immer wusste sie nicht, wie spät es war. Als sie aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war, hatte sie gerade noch die letzten Augenblicke der Dämmerung erlebt. Wie lang hatte sie mit Wickens gesprochen? Es mochten fünfzehn oder zwanzig Minuten gewesen sein, plus die Zeit, die sie auf die Inspektion des Raums verwendet hatte. Sie schätzte, es musste nun halb acht Uhr sein. Sie drehte sich der Fensterseite zu. Ihr Blick wanderte hinaus zum Sternenhimmel. Die Stellung der Konstellationen über dem Horizont sagte ihr, dass ihre Schätzung gut getroffen war. Ab jetzt würde ihre innere Uhr mitlaufen, die sie zuletzt im Wallace-Schloss trainiert hatte. Das verschaffte ihr drei Annehmlichkeiten: Sie würde orientiert bleiben, sie wäre beschäftigt und es beruhigte die Nerven. Wenn sie eine Chance haben wollte, hier lebend und un… Sie schauderte, als Marias Beschreibung aus ihrer Erinnerung aufstieg, wie Kite mit Kirk umgesprungen war.

Wenn sie hier lebend herauskommen wollte, griff sie den Gedanken neu auf, musste sie voll konzentriert bleiben. Sie musste jeden noch so kleinen Vorteil mit maximaler Wirkung gegen ihre Entführer einsetzen. Einer dieser Vorteile bestand darin, dass man sie wahrscheinlich unterschätzte. Mit ihren fünf Fuß zehn war sie nicht übermäßig groß; sie war jung und hatte ein sanftes Gesicht, und sie hatte ihre Kenntnis verschiedener Kampfsportarten noch nicht in Liverpool anwenden müssen. Das Überraschungsmoment war auf ihrer Seite, aber natürlich nur ein einziges Mal. Sie würde Erfolg haben oder… Der Gedanke war müßig.


„Ist es möglich, dass der Polizist meinte, Desmond sei nur im Moment abwesend?“, fragte Maria Borghese.

Zach schüttelte energisch den Kopf. „Nein, er hat ausdrücklich gesagt, der Kommissar sei heute nicht im Dienst. Er war jedoch auf der Wache und hat diese laut Angaben des Jungspunds an der Rezeption zusammen mit Veronica verlassen. Wenn er nicht am Fall Senfkorn arbeitet, wo könnte er dann hingegangen sein?“

„Frag mich etwas Leichteres. Das einzige, das mir einfällt, ist unser Ferienhaus an der schottischen Grenze.“

„Du meinst, Kirk befindet sich dort und sie sind hingefahren? Gibt es ein Telefon im Haus?“

„Das Gebäude liegt dermaßen abseits, dass wir mehrere Kilometer Kabel aus eigener Tasche hätten bezahlen müssen. Das war es uns nicht wert, zumal man ja ein Mobiltelefon mitnehmen kann, wenn man erreichbar sein möchte. In der Regel wollten wir aber nur unsere Ruhe.“

Zach richtete sich plötzlich in seinem Sitz auf der Rückbank des Taxis auf, das sie ins Stadtzentrum trug. „Ha! Du bist ein Genie!“ Er drückte Maria einen Kuss auf die Wange.

„Ich weiß,“ sagte sie lächelnd, „ aber womit habe ich deine Lobpreisung verdient?“

„Mir hätte schon längst einfallen können, Kirk mittels Handy-Ortung aufzuspüren.“ Die restlichen Fahrminuten schwieg der Detektiv. Er rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her. Als sie endlich vor dem Laden angekommen waren, warf er eine Einhundert-Pfund-Note auf den Beifahrersitz und sprang ohne weiteres Aufhebens aus dem Wagen.

Maria bedankte sich beim Fahrer. „Behalten Sie den Rest“, sagte sie. Dann folgte sie Zach in den Laden. Als sie die Tür hinter sich schloss, war er schon nirgends mehr zu sehen.


Die Zeit verrann, ihre innere Uhr tickte mit. Veronica begann, sich Pläne für mehrere Szenarien zurechtzulegen. Als sie zufrieden war, dachte sie an ihren Vater. Er vermisste sie bestimmt schon seit der Mittagszeit. Was würde er unternommen haben, als klar war, dass sie sich wahrscheinlich in Schwierigkeiten befand? Bestimmt drehte er jeden Stein auf der Suche nach ihr um, doch ob er in der Lage war, ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort nicht nur in Erfahrung zu bringen, sondern auch rechtzeitig zu erreichen, musste sie bezweifeln. Also: keine Fehler! Sie war auf sich allein gestellt.

Die Detektivin überlegte gerade, ob sie ihren Geist und die Beine erfrischen sollte, indem sie zu schlafen versuchte, oder ob sie Hände und Arme noch etwas schonte, um sie gegebenenfalls gegen Kite einsetzen zu können. Alles hing davon ab, wie lange man sie noch in dieser quälenden Haltung stehen ließ. Ihre innere Uhr zeigte elf. Sie hörte draußen einen Käfermotor näherkommen. Das Geräusch war einfach mit nichts zu verwechseln. Das musste Kite sein. Man hatte ihr die Entscheidung abgenommen: Sie würde wach bleiben.

Das Knattern erstarb. Eine dünne Blechtür wurde zugeschlagen. Kurz darauf hörte sie den satten Ton der ins Schloss fallenden schweren Haustür. Ein kurzer unverständlicher Wortwechsel zwischen zwei Männern. Danach herrschte wieder Stille.


Der Laptop fuhr in nervenzerfetzend geringer Geschwindigkeit hoch. Kurz vor der Passworteingabe blieb er stecken. Zach fluchte und startete den Rechner neu. Maria legte eine Hand auf seinen Arm. „Vielleicht sollten wir Pauls Arbeitsrechner benutzen. Der läuft sehr viel schneller. Außerdem wird er besser gegen Schnüffelversuche abgesichert sein.“

„Ich brauche ein paar Spezialprogramme. Ohne die geht‘s nicht weiter.“ Zach presste die Lippen zusammen.

„Nimm den Laptop mit. Wir können ja parallel arbeiten“, erwiderte sie.

Maria fand tatsächlich einige nützliche Anwendungen auf Pauls Rechner, bevor es Zach gelang, den Laptop ans Laufen zu bringen. Der Detektiv hob eine Augenbraue, wunderte sich über die ungewöhnliche Ausstattung, stellte aber keine Fragen. Zu seiner Enttäuschung half ihnen das Ergebnis ihrer Recherche nicht weiter. Kirks Mobilnummer war seit einem Monat offline. Zuletzt war sie bei ihr zuhause registriert worden.


Eine halbe Stunde nach Eintreffen des Wagens hörte Veronica schwere Schritte auf der Treppe, dann auf den Holzdielen des Gangs. Vor ihrem Zimmer legte der Mann (?) eine Pause ein. Ein Schlüsselbund klackerte und klirrte, Metall schabte über das Holz der Tür. Mit einem Klicken öffnete sie sich. Licht fiel durch den schnell breiter werdenden Spalt. Es blendete sie, da ihre Augen auf die tiefe Dunkelheit des nächtlichen Raums eingestellt waren. Sie schloss die Lider gerade rechtzeitig, bevor grelle Wandlampen neben der Tür aufflammten. Die Gestalt, die sie kurz davor im Rahmen gesehen hatte, gehörte unverkennbar dem Schlossbesitzer mit seiner großen, kräftigen Figur. Sie hielt die Lider noch immer zugekniffen, als er sie ansprach.

„Welch seltenes Vögelchen hat sich da in meiner Falle gefangen? Hmhm!“, höhnte er im Tonfall eines Snobs. Als sie nicht reagierte, sagte er: „Du kannst die Augen wieder öffnen. Ich werde dich nicht fressen – jedenfalls nicht sofort.“ Wieder lachte er, doch diesmal ohne die geringste Spur von adligem Getue. Die Hyäne hatte die Oberhand gewonnen.

Vorsichtig linste Veronica aus zu schmalen Schlitzen verengten Lidern hervor. Das Licht blendete sie noch immer. Ihr Kopfschmerz flammte wieder auf, wenn auch ohne nennenswerten Biss. Gut. Zumindest würde sie sich konzentrieren können, wenn es die Situation erforderte. Hinter Kite, der sich direkt vor ihr aufgebaut hatte, sah sie Wickens im Türrahmen stehen. Ohne sich umzudrehen signalisierte der Hüne, der Polizist möge sie allein lassen. Desmond gehorchte. Die Tür fiel ins Schloss. Wie ihre Schwestern im Untergeschoss besaß auch sie keine Klinken, weder außen noch innen, bemerkte die junge Frau.

„Desmond hat mir berichtet, dass du die Kooperation verweigerst“, sagte Kite.

Veronica bemerkte die Klinge in seiner rechten Hand, einen zweischneidigen sehr kurzen Dolch. Ihr stockte der Atem. Sie hatte mit einer Pistole gerechnet und würde nun ihre Pläne buchstäblich aus dem Stand der neuen Situation anpassen müssen. Sie lachte unsicher.

„Das Lachen wird dir schon noch vergehen. Sieh, es ist nicht weiter schlimm. Im Grunde plagt mich nur die Neugier, wie weit ihr mit eurem albernen Detektivspiel gekommen seid. Ich glaube nicht, dass es euch gelungen ist, Beweise gegen mich zu sammeln. Falls doch – ich habe den guten Desmond Jones, der polizeiliche Ermittlungen stets von mir ablenkt.“ Der Dolch wanderte von der rechten in seine linke Hand, dann wieder zurück.

„Was haben Sie vor?“, fragte Veronica.

„Was ich vorhabe? Das liegt doch auf der Hand! Ich schaffe zuerst dich aus dem Weg, anschließend deinen Vater.“

„Das wird Ihnen überhaupt nichts bringen!“, rief sie. „Die gesamte ‚Familie‘ weiß bescheid. Wollen Sie die alle umbringen?“

„Das könnte ich natürlich. Es sind eh nur noch wenige übrig. PC31 habe ich als ersten erledigen lassen. Kirk hat meinen Dobermännern sehr gut geschmeckt, und gestern ist Mr Mustard zur Strafe für den Diebstahl über die Klinge gesprungen…“

Gegen den Entschluss, ihre Gefühle streng im Zaum zu halten, durchlief ein Schock Veronicas sämtliche Glieder. Ihre Lippen formten ein O. Sie wurde kreidebleich. Ohne das Seil, das sie in aufrechter Stellung hielt, hätte sie womöglich das Gleichgewicht verloren.

„…aber so weit brauche ich gar nicht zu gehen“, fuhr Kite fort. „Keine von diesen Memmen wird es wagen, einen Finger gegen mich zu erheben… Was ist? Wird dir übel? Soll ich den Onkel Doktor holen?“ Er verzog abschätzig den Mund. „Nein, den Anruf kann ich mir sparen. Bis er hier eintrifft, brauchen wir eher einen Bestatter.“ Er kicherte.

Veronica spuckte ihm ins Gesicht. Zum einen befriedigte sie damit ein tiefes Bedürfnis, zum anderen hoffte sie, ihn zu unbedachten Handlungen zu provozieren. Doch der Hüne wischte sich nur mit dem linken Ärmel den Speichel von der Wange. „Natürlich bist du sauer. Was habe ich erwartet?“ Dann setzte er wieder sein fieses Grinsen auf. „Du gefällst mir. Endlich eine, die Widerstand leistet. Ich liebe Herausforderungen.“ Seine Rechte fuhr nach vorn, dicht vor ihren Bauch, und ließ den Dolch in atemberaubender Geschwindigkeit zwischen Daumen und Zeigefinger kreiseln. Die junge Frau blieb unbewegt stehen. Sie starrte ihm feindselig in die Augen.

„Das Schicksal hat bestimmt, dass wir heute eine Neumondnacht haben;“ bemerkte Kite, „wie geschaffen für ein kleines Ritual. Hast du Lust?“

25) Jenseits von 1984

Der eiförmige weiße Kleinwagen verstopfte noch immer die Durchfahrt unter dem Vordach des Haupteingangs zum Schloss. Während Veronica wenig geschickt die Tür des GT aufzuschließen versuchte, musterte Zach das Nummernschild des Käfers erneut, da er in verschiedenen Datenbanken nach ihm zu suchen gedachte. Schließlich wurde die Beifahrertür von innen entriegelt. Während er einstieg, brauste der Motor auf. Der Sportwagen setzte zurück, bis er die Stelle erreichte, wo die beiden Äste der Zufahrt sich wieder vereinten. Dann schoss er auf Geheiß von Veronicas Stiefel aus dem Hof des Schlosses hinaus, durch den Park und den kleinen Wald bis zur Mauer. Das Tor stand offen. Ohne zu zögern lenkte die Fahrerin den orangefarbenen Blitz auf die Landstraße Richtung Liverpool.

Eine Weile sagte niemand etwas. Veronica verunsicherte die Häufigkeit, mit der sie in der letzten Zeit schockiert worden war. Zach sorgte sich wegen der dunklen Szenerie, die sich aus den neuen Informationen herauszuschälen begann. Nahm er die Million an, die Kite angeboten hatte, betrat er eindeutig kriminelle Gefilde. Der Staat kannte keine Gnade mit jenen Untertanen, die ihm Steuern vorenthielten. Für Leute vom Schlage des Wallace-Schlossherrn war der Staat keine Bedrohung; der Mann gehörte zu jener schmalen Schicht, die den Apparat ihrem Willen gefügig machten. Zach aber wurde erpressbar. Lehnte er das Geld dagegen ab, blieb er ein Außenseiter und war in Liverpool erledigt. Dann konnte er den Fab Store genau so gut schließen. Die beiden Bedingungen, die Kite für ihre Aufnahme in die Familie gestellt hatte, waren praktisch ein und dieselbe. Geschickt eingefädelt. So also wurde man Mitglied einer elitären Loge – und blieb ein Leben lang an sie gekettet. Politik, Justiz, Polizei, Handel, Industrie, Adel, Geheimdienste; schon hier in dieser aufgeblasenen Mittelstadt im englischen Abseits wurde ein holografisches Abbild der mafiösen Durchdringung sämtlicher Leitungspositionen sichtbar, an der klandestine Gruppen unermüdlich weiterwebten.

Tiefenstaat, Freimaurertum, Mafia, Regierungen, Finanzkraken und die industriellen Komplexe, von denen in sozialkritischen Zirkeln allenthalben die Rede war, stellten lediglich unterschiedlich benannte Ausschnitte ein und desselben Netzwerkes dar, das sich unter völligem Ausschluss der weit über neunzigprozentigen Mehrheit an den Gütern der Erde sowie der Arbeitskraft von Mensch, Tier und Maschine bereicherte. Wenn er die Million annahm, baute er an ihrer ‚Neuen Welt-Ordnung‘ mit, dem Projekt zur vollständigen Versklavung der Menschheit. Die meisten Menschen hielten die NWO für eine paranoide Verschwörungstheorie. Dabei machten diejenigen, die sie anstrebten, aus ihren steinernen Herzen keine Mördergrube. Wollte man sie vor Gericht ziehen, würde es an Beweisen nicht im Mindesten mangeln. Aber natürlich lagen auch die höheren Richter im selben Bett wie die niemals Anklagbaren. Letztere waren eine winzige Minderheit, der höchstens einer unter zehntausend Menschen angehörten.

Leider war es ihnen im Lauf der Jahrhunderte gelungen, die Wahrnehmung ihrer Schafherde mit größer werdendem Erfolg nach Belieben zu formen, so dass die Mehrheit die Interessen ihrer Eigentümer, der Hirten und der Schäferhunde völlig selbstverständlich für die eigenen hielt. Schlimmer noch: Sie war sich der Existenz der Eigentümer überhaupt nicht bewusst. Die, die aus glückseliger Unwissenheit erwachten, sahen sich vor eine harte Entscheidung gestellt: entweder auf die ‚Segnungen‘ der Einbettung in den Mastbetrieb zu verzichten und damit aus dem sozialen Kontext, der Herde, weitgehend herauszufallen, oder vorsätzlich Verrat an der eigenen Spezies zu begehen, indem man zugunsten seines Vorankommens andere Schafe vom Ausscheren abhielt. Wer beruflichen oder sozialen Erfolg haben wollte, beugte sich dem Druck. Die ganze Welt war eine verdammte Schaf-Farm, eingeteilt in nationale Pferche unterschiedlicher Größe.

Gehörte Kite zur Kaste der Eigentümer? Eher unwahrscheinlich‚ vermutete Zach. ‚Nutznießer‘ hatte auf der Visitenkarte des Schlossherrn gestanden. Seine Familie musste relativ weit oben bei den Schäfern rangieren. Als Nachkomme von William Braveheart Wallace in der dreißigsten Generation hatte er alten schottischen Adel beansprucht. Er hatte von seinem ‚Großvater und den verbliebenen drei Beatles‘ gesprochen, behauptete also, der Enkel Sir Pauls, genauer gesagt von Billy Shears alias William Shepherd zu sein. Shepherd, der Schäfer. Namen waren nicht immer Schall und Rauch.

„Dad?“

Zach schrak aus seinen Gedanken auf. Durch die Windschutzscheibe sah er die ersten Häuser am Stadtrand von Liverpool. Die Landschaft war vor seinen offenen Augen an ihm vorbeigezogen, ohne dass er sie wahrgenommen hatte. „Ja, was gibt‘s, Kiddo?“, fragte er zurück.

„Wer ist dieser Maxwell Knight?“

„Wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, war er der Leiter des MI-5, Inlandsgeheimdienst ihrer Majestät, der Königin von England. Man sagt, er sei das Vorbild für die M-Personalie in den James-Bond-Filmen gewesen. Wie es scheint, haben ihn auch die Beatles in einem Song verewigt.“

„Glaubst du, dass der alte Knacker auf dem Foto Paul McCartney diesen Hammer über den Schädel ziehen konnte?“

„Das halte ich für den am wenigsten wahrscheinlichen Hergang – es sei denn, er hatte Helfer, die Paul festhielten. Der mochte vom Unfall noch benommen gewesen sein, aber er war ein junger, kräftiger Mann von Mitte Zwanzig.“ Zach grübelte ein paar Augenblicke, bevor er weitersprach. „Ich werde mir immer unsicherer, was von all den… Fakten… überhaupt mit der Wirklichkeit Verbindung hat. In gewissem Sinne befinden wir uns vierzig Jahre jenseits von 1984. Das Wahrheitsministerium veränderte die Geschichtsschreibung zwar fortlaufend, aber es gab in Orwells Roman zu jedem Zeitpunkt nur eine gültige Version davon. Das war das Fundament der Herrschaft der Partei. In unserer Welt dagegen gibt es so viele nebeneinander stehende Wahrnehmungen und übereinander liegende Schichten der Realität, dass niemand sagen kann, was tatsächlich geschah.“

„Ja. Nach allem, was wir wissen, sagt keine Quelle ‚die Wahrheit, die ganze Wahrheit, und nichts als die Wahrheit‘. Gibt es sie überhaupt?“

„Sicher, und mit dem passenden geistigen Werkzeug lässt sie sich oft auch finden. Das beinhaltet, dass du neben den Medien auch deiner eigenen Wahrnehmung misstrauen musst, weil sie von dem Ozean an Unwissen, Filtern, Linsen, Falschinformationen, dysfunktionalen Denkmustern und mangelnder Weisheit geprägt wird, in dem wir alle schwimmen. Wenn du es allerdings in unbedarfter Weise, ohne das Werkzeug versuchst, wirst du paranoid. Dann rennst du dir in einem Irrgarten das Hirn blutig, dessen Wände aus Propaganda, Einbildung und Verschwörungstheorien gebaut sind. So kann man nicht leben.“

Veronica gluckste, als habe sie einen besonders fiesen Witz gehört. „Das erinnert mich an ein Zitat von Robert Anton Wilson aus der Einleitung zu seinem Buch Das Lexikon der Verschwörungstheorien. Er beschreibt so ungefähr, was du gerade erläutert hast, und kommt zu dem Schluss, dass Hunde wahrscheinlich die einzigen Leute sind, die dem Menschen überhaupt noch trauen, aber ihm sei aufgefallen, dass selbst die Hunde neuerdings Zweifel hegten.“

Ihr Vater warf den Kopf zurück und lachte lauthals. Veronica fiel mit ein. Es war wieder so weit: Sie sahen die Absurdität der Welt beide zugleich in völliger Klarheit. Der Kaiser war splitterfasernackt, eine Witzfigur mit Hühnerbrust, O-Beinen und einem winzig kleinen Schniedel. Sie steuerte den GT an den Straßenrand, damit sie sich in aller Hysterie ausschütten konnten. Humor befreite die belagerte Seele.


In den Rainford Gardens angekommen stieg Veronica zielstrebig die Treppen hinauf. Ein Gedanke ging ihr im Kopf herum, den sie am Tisch in Onkel Pauls Studierzimmer zu verifizieren suchte. Die Geschwindigkeit, in der der Rechner betriebsbereit war, überraschte sie noch immer, aber sie ließ sich nicht ablenken. Sie rief Quellen zu Freimaurerei und Numerologie auf, um einen Überblick zu bekommen. Die Darstellungen verwirrten sie mehr, als dass sie Orientierung gaben. Manche beschrieben die Freimaurer als einen Club schrulliger Männer, die Geld für wohltätige Zwecke sammelten und alten Damen über die Straße halfen. Andere stellten sie als sinistre Geheimniskrämer dar, die Regierungen und sonstige mächtige Organisationen unterwanderten. Wieder andere sahen in ihnen Diener Satans, die kleine Kinder in schwarzen Messen opferten. Sie waren in Orden beziehungsweise Logen organisiert, aber sie fand daneben zahlreiche Gruppen und Körperschaften, denen nachgesagt wurde, sie seien freimaurerische Frontorganisationen.

Sie suchte nach einer Verbindung zu den Beatles, wurde mit Treffern überschüttet, fand jedoch wenig, das konkrete Hinweise auf eine Mitgliedschaft gab. Freimaurersymbolik zog sich jedoch in auffälliger Häufigkeit unverhohlen von den frühesten Tagen bis zur Gegenwart durch. Albencover und Fotos waren regelrecht gespickt damit. Immer wieder tauchten außerdem Verbindungen zu Ordensgründer Aleister Crowley auf. Als sie entdeckte, dass er gleich zwei Mal auf dem Titelbild des Sgt.-Peppers-Albums vertreten war, stieß sie halb amüsiert, halb beunruhigt Luft durch die Nase aus. Dieses Ding schien wirklich der Dreh- und Angelpunkt in der ganzen Beatles-Geschichte zu sein.

Dann probierte sie, den Einstieg über die Numerologie zu erhalten, doch auch hier kam sie nicht weiter. Es gab verschiedene Systeme in verschiedenen Kulturen, die sich teilweise überlappten. Eng damit verbunden waren Kabbalistik, Astrologie, Tarot, Okkultismus und natürlich das Freimaurertum. Die Sache schien ihr alles andere als trivial. Ohne konkrete Anhaltspunkte würde sie Monate brauchen, sich tief genug einzuarbeiten.

Sie überlegte. Es forderte Überwindung, die Nachforschungen aufzunehmen, die sie nun in Angriff nahm. Veronica vermutete hier den direktesten Zugang zu der Frage, die sie beschäftigte: War der Wechsel geplant gewesen, und wenn ja, weshalb? Erst gestern hatte Maria sie mehrfach erwähnt, dass es im Grunde – besonders bei den Freimaurern – keine Zufälle gab. Sie hatte ausdrücklich darauf hingewiesen, ein Todesfall am 11.9. mache eine rituelle Opferung höchst wahrscheinlich; auch Billy Shears habe das in den Raum gestellt. Trotzdem war sie durch die Worte Mr Kites heute wie von einem Hammerschlag getroffen worden: „John und Paul hatten einen faustischen Handel abgeschlossen, und Paul hat den Preis dafür gezahlt.“

Die Detektivin holte tief Luft. Zunächst musste sie das Feld abstecken. Um was ging es konkret? Was verstand man unter einem ‚faustischen Handel‘? Die Suchmaschinentreffer lieferten mehrere alternative Bezeichnungen zu ihrem Suchbegriff, darunter ‚faustischer Pakt‘ und ‚Teufelspakt‘. Sie überflog natürlich den Wikipedia-Artikel. Auch die vierte Szene aus Goethes Drama Faust stand weit oben in der Liste. Veronica las ihn sorgfältiger. Faust, ein Mann von großer Neugier und noch größerem Ehrgeiz, geplagt jedoch von allerlei Ängsten, entsagt Gott, von dem er sich verlassen fühlt. Er verschreibt seine Seele dem Teufel, der in Gestalt des Dämons Mephistopheles in sein Haus eingedrungen ist und ihm verspricht:

Ich will mich hier zu deinem Dienst verbinden, / Auf deinen Wink nicht rasten und nicht ruhn; / Wenn wir uns drüben wiederfinden, / So sollst du mir das gleiche tun.

Veronica glaubte nicht an den Teufel. Sie vermutete in ihm einen Buhmann, den man benutzte, um Kindern Wohlverhalten beizubringen oder Narren die Furcht zu lehren. Trotzdem lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken, als sie die Zeilen las. Goethes detailversessene Beobachtungsgabe der menschlichen Psyche verdankte das Werk seine bleibende Faszinationskraft über zwei Jahrhunderte hinweg. Hatte er den Teufel für wirklich gehalten? Oder war Mephisto lediglich eine allegorische Figur, ein Symbol für… was?

Ihr fiel auf, dass Mephisto Fausts Seele forderte, nicht sein Leben. Das mochte eine vielleicht entscheidende Differenz zum Fall McCartney darstellen. Mephisto konnte warten, denn egal, wie viele Jahre Faust am Leben blieb, gegen die Ewigkeit des Jenseits blieben sie verschwindend gering. Die Mörder Pauls schienen es dagegen eilig gehabt zu haben. Das Opfer durfte nur 24 Jahre alt werden. Veronica fütterte die Suchmaschine nun mit Beatles & Faust, dann mit Beatles & Teufelspakt. Sie stieß auf einen Artikel, der sie regelrecht elektrisierte. Mit einer Deutlichkeit, die kaum zu wünschen übrig ließ, legte er John Lennon die Worte in den Mund: „Ich habe meine Seele an den Teufel verkauft“. Als Quelle gab er ‚Joseph Niezgoda‘ an.

Es dauerte nur Sekunden, bevor sie auf eine ausführlichere Referenz stieß: The Lennon Prophecy, ein Buch, das „eine Neuprüfung der Todeshinweise bei den Beatles“ vornahm. Das musste eigentlich im Bestand des Ladens oder einer der beiden Hausbibliotheken vorhanden sein. Sie schaute sich im Raum um. Wo war die Musikabteilung? Ah, dort drüben. Sie ging ans Regal, überflog die Titel auf den Buchrücken und hatte den zweihundertseitigen Band schnell gefunden. Sie hoffte, dass er ein Register besaß – Uff! Glück gehabt. Die Zahl der Verweise auf Teufel, Satan und Faust war hoch, doch sie hatte erneut Glück. Bereits einer der ersten Indexeinträge, die sie nachschlug, führte sie zum Zitat. Laut Niezgoda hatte John Lennon es Mitte der 1960er auf dem Höhepunkt der Beatlemania seinem Freund Tony Sheridan gegenüber geäußert. Der Autor gab sogar eine Quelle an: Ray Colemans Definitive Lennon-Biografie, Seite 348. Die reinste Schnitzeljagd! Stünde die Bibliothek ihres Onkels nicht in Griffweite, könnte eine saubere Recherche Tage oder Wochen dauern. Sie stellte den Niezgoda zurück an seinen Platz und überflog die Buchrücken erneut.

Da! Sie zog den Coleman heraus, schlug die angegebene Seite auf, und… konnte das Zitat nicht finden. Sie las die gesamte Seite mehrfach, überflog auch den Text davor und danach – nichts! Und nun? Hatte Niezgoda fantasiert? Sie prüfte das Impressum des Buchs. Nach einer Weile bemerkte sie endlich, dass sie die Ausgabe eines anderen Verlages in Händen hielt. Nun warf sie einen Blick ins Register; der Verweis dort führte sie zu einer gänzlich anderen Seitennummer, aber hier war es: Um den unglaublichen Erfolg seiner Band zu erklären, sagte John zu Tony: „Ich habe meine Seele an den Teufel verkauft.“ Er solle den Satz angeblich nur nebenbei geäußert haben, aber Tony habe sofort verstanden, was John meinte. Woher das Zitat stammte, gab Coleman nicht an. Aus Aussagen an anderer Stelle wurde klar, dass der Autor den Beatles häufig persönlich begegnet war, und so konnte Veronica nur vermuten, dass Coleman als Ohrenzeuge berichtete. Der sechszeilige Absatz, der die Begebenheit beschrieb, stand darüber hinaus in keiner Kontinuität mit den umliegenden Teilen des Kapitels, in dem es um ‚Geld‘ ging. Ob John Lennon den Teufel aus Jux, im übertragenen Sinn oder im Ernst erwähnte, ließ sich so nicht feststellen. Nur im Zusammenhang mit den anderen Indizien trug der isolierte Datenpunkt zum Entstehen eines Bildes bei. Dass zahlreiche weitere Musiker und Schauspieler von Bob Dylan über Jimmy Page, James Hetfield und Katie Perry bis Eminem teils in identischen Worten die Quelle ihres Erfolges benannten, wie Veronica herausfand, verlieh John Lennons Zitat jedoch ein höheres Gewicht.

In Gedanken versunken saß sie im Pilotensmöbel an Pauls Arbeitstisch und überlegte, wie sie weiter vorgehen sollte. Da vernahm sie eine Stimme aus dem unteren Stockwerk, deren fröhlicher Klang ihr Gefühl von Bedrückung zu verspotten schien. Daher verstand sie zunächst nicht, was sie hörte. Als sie sich auf das Geräusch konzentrierte, drang schließlich zu ihr durch, dass jemand lachte; völlig hysterisch lachte.

12) Koffer auf Abwegen

Sie räumten den Tisch ab und trugen das Geschirr in die Küche zurück. Veronica bestand darauf, dass ihr Vater abspülte, während sie einen Teil des Eintopfs in Portionen abpackte, die sie später einfrieren wollte. Zwanzig Minuten später betraten sie den mit Büchern tapezierten Raum, in dessen Mitte der Sci-Fi-Arbeitsplatz stand. Zach zeigte sich beeindruckt. Bevor er sich von den Bänden in den Regalen in andere Welten entführen ließ – sie kannte seine Schwäche für Gedrucktes nur zu gut – rückte Veronica einen zweiten Stuhl neben ihren Cockpitsessel und deutete an, er solle Platz nehmen.

„Ok, womit steigen wir ein?“, fragte Zach.

„Ich würde vorschlagen, ich spiele ein paar Stellen aus dem KSCN-Interview vom 29.11.‘75. Er redet mit Laura Gross über sein Leben, seine Karriere und natürlich die Beatles. Gross ist eine junge Journalistin und eine Freundin der Familie. Achte auf den Tonfall. Was er über seine Memoiren sagt, ist natürlich auch höchst interessant… Bist du bereit?“

„Kann‘s kaum erwarten!“

Veronica klickte das Lesezeichen an, unter dem der Audiomitschnitt des Interviews gespeichert war. Sie ließ es ein paar Minuten laufen, um ihrem Vater einen Eindruck vom Austausch der beiden Gesprächspartner zu vermitteln. Dann sprang sie zur Mitte der Aufnahme. Mal Evans betonte, dass er es geliebt habe, als Tourmanager der Beatles arbeiten zu dürfen. Er habe zwar drei Schwestern, aber keine leiblichen Brüder. Er bezeichnete den Sänger Harry Nilsson als seinen Blutsbruder, aber auch die vier Beatles. Dann drückte er seine Hoffnung aus, dass sie sein Buch, das bald herauskommen sollte, mögen würden. Sie hörten Laura Gross sagen: „Ich weiß, dass du niemals etwas schrecklich Negatives über sie schreiben würdest.“ Mal Evans antwortete: „Nun, das könnte ich. Ich sprach mit Ringo über das Buch. Ich sagte: ‚Ich würde dich nicht in ein schlechtes Licht rücken wollen.‘ Und er sagte: ‚Schau, wenn du nicht die Wahrheit erzählst, fang gar nicht erst damit an. Gerade du solltest es so erzählen, wie es war.‘ Und da gibt es ein paar Dinge, deretwegen sie bestimmt wütend auf mich sein werden.“ Er habe jedoch viel Spaß und eine gute Beziehung zu diesen Leuten gehabt. Daher könne er jetzt nicht etwas anderes behaupten. An was er sich erinnere, sei eine gute Zeit gehabt zu haben.

Veronica sprang zum Ende und ließ die letzten paar Minuten abspielen. Zach sagte: „Hmm, Das hört sich wirklich nicht so an, als habe er eine reißerische Publikation geplant, aber er war sich bewusst, dass es witzlos gewesen wäre, nur die angenehmen Momente zu beschreiben.“

„Ist dir aufgefallen, in welch zuversichtlicher Stimmung er sich befand?“

„Ja, der Mann hatte scheinbar mehr Pläne als Sorgen.“

„Dann schau dir mal an, was größere Veröffentlichungen über ihn schreiben.“ Veronica rief eine Textdatei auf, aus der sie vorzulesen begann: „Beatlechat bestätigt unseren Eindruck. Evans habe seine letzten beiden Lebensjahre hauptsächlich in den Staaten verbracht, wo er mit John, Ringo, Harry Nilsson, Keith Moon und anderen Musikern Partys feierte. Im September 1975 präsentierte er sich auf einem Beatles-Fantreffen in New York. Dann jedoch schwenkt der Bericht um und zeichnet ein ganz anderes Bild. Badfinger, eine erfolgreiche Band, die er entdeckt und produziert hatte, lösten sich im April auf – also lange vor dem Fantreffen –, weil der Sänger sich umgebracht hat. Evans arbeitete jedoch schon bald am Nachfolgeprojekt des Gitarristen. Angeblich – hier widerspricht sich der Bericht selbst, schwand auch der Kontakt zu den Ex-Beatles. Es ist aus anderen Quellen jedoch bekannt, dass dieser nie abgebrochen ist; er traf zum Beispiel McCartney in L.A., als der dort auftrat.“

Veronica scrollte weiter. „Hooks and Harmony sagt: ‚Die Abwärtsspirale setzte sich fort. Mal Evans trennte sich von seiner Frau Lily und zog nach Los Angeles, um Arbeit in der Musikindustrie zu suchen. Seine Frau reichte im Dezember 1975 die Scheidung ein.‘“ Sie schaute auf. „Die meisten Berichte über die Zeit zwischen der Auflösung der Beatles und Evans‘ Tod betonen die Misserfolge und spielen die glücklichen Momente des Mannes herunter, wenn sie sie überhaupt erwähnen. Oftmals bekomme ich den Eindruck, sie schreiben alle von einander ab. Und das fing unmittelbar nach dem tragischen Ereignis an. Angeblich sei er arbeitslos gewesen und habe Beziehungsprobleme mit seiner Freundin Fran gehabt. Laura Gross, die wie gesagt direkten Einblick in sein Privatleben hatte, bezeichnet diese Meldungen als ‚himmelschreiende Lügen‘.“

„Zeichnen sich hier die beiden Lager ab, auf die wir bei dem australischen Kofferfund gestoßen sind?“, überlegte Zach.

„Jetzt wo du‘s sagst… Die Partei, die Mal Evans in ein ungünstiges Licht rückte, bekam die weitaus größere Aufmerksamkeit, so wie dreißig Jahre später die Fraktion, die den australischen Koffer als ‚fake‘ abstempelte.“

„Hast du weitere Audios oder Videos oder war‘s das?“

Veronica holte einen anderen Tab ihres Browsers in den Vordergrund. „Das hier…“, sie zeigte auf den Bildschirm, „… ist eine Diskussion mehrerer Beatles-Koryphäen, darunter Ken Womack. der Mann, der an der ultimativen Mal-Evans-Biografie schreibt. Du erinnerst dich?“

„Den Namen habe ich mir gemerkt. Ich würde dem Mann wirklich zu gern einmal in die Karten schauen.“

„Rate mal wer noch. Die Aufnahme stammt vom August 2022, anlässlich eines Beatles-Kongresses in Chicago. Die Hintergrundgeräusche waren teils recht laut, aber man versteht gut genug, was die Leute sagen.“ Sie klickte auf den Abspielknopf und dann lauschten sie, bis eine Stunde später wieder Stille in Pauls Arbeitszimmer einkehrte.

Zach ächzte. „Faszinierend. Warum fühle ich mich dennoch um wertvolle Lebenszeit betrogen?“

„Vielleicht liegt es daran, dass er lediglich das offizielle Narrativ vom tragischen Hans im Glück bedient. Er lässt gerade so viel durchblicken, dass man an seinen Lippen hängen bleibt, aber eigentlich sagt er nur: ‚Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen‘.“

„Richtig. Dieselbe Masche wie bei Beatlechat: Er gibt zu, es gab ein paar Glanzlichter – Evans bezog auch nach dem Beatles-Split Gehalt von der Band, arbeitete für deren Soloprojekte, hatte Produktionsaufträge, traf McCartney in L.A., telefonierte ständig mit Lennon und Harrison, dinierte mit Ringo Starr zu Weihnachten, hatte seine fast fertigen Memoiren in der Tasche und über den 12. Januar hinaus Zeit, an ihnen zu feilen. Der Verlag zahlte Vorschuss und das Projekt war von allen vier Beatles abgesegnet. Kein Wunder klang er bei seinem Interview mit Laura Gross so glücklich“, zählte Zach auf, was er aus dem Podcast aufgeschnappt hatte. Sarkastisch: „Grund genug, sich mit Alkohol und Valium zu bedröhnen, seine Freunde vollzuheulen und ohne Anlass mit einer Knarre herumzufuchteln, bis man erschossen wird.“

„Ich sehe zwei mögliche Erklärungen für dieses widersprüchliche Verhalten: Mal Evans ‚hat sein Leben schön säuberlich in Schubladen gepackt, denen er getrennt begegnete,‘ wie Womack es einschätzt. Oder die Story, dass er psychisch zerrüttet, mit Drogen vollgepumpt und einer Waffe in der Hand sein Ende quasi provozierte, stimmt nicht.“

„Was wäre, wenn er ohne sein Wissen mit Drogen vollgepumpt wurde?“, spekulierte Zach.

Veronica grübelte. „Da wir dank Pauls Erbe wissen, dass das Manuskript sein Gewicht in Gold wert ist, können wir ein Interesse unterstellen, seine Veröffentlichung zu verhindern. Wir sind jedoch noch immer nicht in der Lage, die Darstellungen von Evans‘ Ende zu bestätigen oder zu widerlegen.“

„Was hatte die Polizei im Haus zu suchen? Wer hat die denn bestellt?“

„Seine Freundin Fran Hughes soll über seine Niedergeschlagenheit so besorgt gewesen sein, dass sie seinen Ghostwriter John Hoernie angerufen haben soll. Der berichtete, er habe Evans ‚mit Drogen vollgepumpt und benommen‘ vorgefunden. Evans habe Hoernie gebeten, sicherzustellen, dass die Memoiren auch wirklich veröffentlicht werden. Es sei dann zu einer verbalen Auseinandersetzung gekommen, bei der Evans eine Schusswaffe zur Hand nahm. Der Ghostwriter soll vergeblich versucht haben, sie ihm zu entwinden. Die Freundin rief daraufhin die Polizei an. Evans habe sich auch der Aufforderung der Polizisten verweigert, seine Waffe niederzulegen, also erschossen sie ihn.“

„Okay… der Mann hat die Kontrolle über seine Gefühle verloren – dumm gelaufen. Seine Freundin ruft die Polizei und begeht damit den Fehler ihres Lebens – steckst du nicht drin; dumm gelaufen. Die Beamten verschlampen Beweismaterial – kann passieren; dumm gelaufen. Der Nachlass verschwindet auf dem Postweg nach England – dumm gelaufen. Der Ghostwriter erfüllt den letzten Willen des Verstorbenen nicht – weil er entweder keine Kopie des Manuskripts aufbewahrt hat oder es rechtliche Hürden gab – auch dumm gelaufen. Der Verlag mottet Evans‘ Tagebuch ein und vergisst es für zehn Jahre im Keller – welch ein Zufall, dumm gelaufen. Als es zusammen mit anderen Papieren wieder auftaucht, wird nicht seine Frau informiert sondern Yoko Ono – Verfahrensfehler; dumm gelaufen. Erst 35 Jahre nach der Wiederentdeckung gibt Lily Evans zu, die Erinnerungen ihres Mannes zu besitzen. Zumindest in diesem einen Fall würde ich auf Vorsatz plädieren“, resümierte Zach. „Für sich genommen kann jeder dieser Vorgänge auf simples menschliches Versagen zurückzuführen sein, aber in der Gesamtschau halte ich so viele Irrtümer für höchst unwahrscheinlich. Falls Mal Evans vorsätzlich ausgeschaltet wurde, steht Fran Hughes zuoberst auf meiner Liste der möglichen Helfer, dann der Ghostwriter. Wer hat den Haushalt aufgelöst, ebenfalls die Freundin?“

„Nein, sein Freund, der Sänger Harry Nilsson. Er war derjenige, der die Urne und den Nachlass nach England geschickt hat.“

„Ich mag seine Musik,“ sagte Zach.

„Eine interessante Notiz am Rande: Mama Cass von The Mamas & The Papas ist 1974 tot in Nilssons Londoner Wohnung aufgefunden worden. 1978 fand man Keith Moon von The Who in exakt demselben Zimmer, in demselben Bett sogar. Beide waren zweiunddreißig Jahre alt. Die Leichenschau wurde vom selben Doktor durchgeführt. Zufälle gibt‘s…“

„Dann muss Nilsson mit auf die Liste.“

„Wenn‘s hilft. Ich sehe keine aktuellen Verbindungen dieser Leute nach Liverpool.“

„Die brauchen sie auch nicht. Uns interessiert der Auftraggeber, wenn es ihn gibt, denn das wäre wohl der, der auch hinter Pauls Tod steckt. Es müsste jemand sein der die finanziellen Mittel und personellen Verbindungen besitzt, Pauls Transaktionen zu verfolgen, und der Entsprechendes vor fast fünfzig Jahren schon leisten konnte.“

„Und der ein Interesse daran hatte und immer noch hat“, ergänzte Veronica.

„Versteht sich von selbst. Aber es grenzt den Personenkreis stark ein: zwei noch lebende Beatles, eine Beatles-Witwe, und eventuell enge Freunde der Band wie beispielsweise Donovan oder die Stones; obwohl ich es für eher unwahrscheinlich halte, dass die wussten, was in dem Manuskript stand. Die ex-Beatles hingegen hatten laut Womack die Veröffentlichung genehmigt – sicher nicht ohne die Katze im Sack gesehen zu haben.“

„Weshalb sollte man jemand eine Genehmigung erteilen und ihn dann umbringen; speziell einen engen Vertrauten und treuen Diener, mit dem man bestimmt hätte verhandeln können? Man hätte auch einfach ein Verbot aussprechen können, entweder persönlich oder auf gerichtlichem Weg; gegen die Bandkollegen ging das doch auch.“

„Weil der Mann mit seinem immensen Insiderwissen womöglich eine wandelnde Zeitbombe war. Und um den Verdacht von sich abzulenken.“

„Fein. Wir befinden uns noch immer tief im Land der Spekulation über Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten, aber das Bild gewinnt zumindest an Schärfe.“

„Findest du? Wir tappen durch einen Wald voll widersprüchlicher Informationen. Was haben wir denn als Grundlage für weitere Ermittlungen in der Hand außer diffusen Verdachtsmomenten?“, beschwerte sich ihr Vater.

„Mehr als die Polizei mit ihren unbrauchbaren Videos und geistigen Scheuklappen. Wir haben zumindest eine Ermittlungshypothese.“

„Ich habe einen Kopf, der gleich explodiert. Und ich weiß nicht, ob mir die Richtung gefällt, in die das geht. Hast du dir überlegt, was geschehen soll, falls wir einem Beatle etwas nachweisen können?“

„Die Antwort auf diese Frage hat Zeit, bis es so weit ist, aber willst du denn nicht wissen…“ Veronica stockte, setzte neu an: „Willst du denn nicht die Wahrheit kennen?“

Zach holte tief Luft. Mit zitternder Stimme antwortete er: „Ich fürchte den Abgrund, der sich vor uns auftut.“

11) Die Willfährigkeit des Hundes gegenüber dem Herrn

Er wusste nicht, was ihn mehr ärgerte: dass er sich lächerlich hatte machen lassen oder dass dieser unglaublich von sich selbst überzeugte Mensch nicht einmal erwägt hatte, die Indizien anzuschauen, sondern sie stattdessen einfach in eine Kiste mit der Aufschrift „dummes Zeug“ steckte, zusammen mit all den anderen Dingen, von denen „jeder weiß“, dass sie nicht sein können. Die Mehrzahl der Leute ging blind durch die Welt, weil sie glaubten, was sie sahen erkläre sich von selbst. Dabei wurde das, was sie sahen, ihnen gezeigt und erklärt – von Medien, die ganz anderen Absichten dienten, als die Wahrheit zu berichten. Als wäre es so abwegig, dass jene, die reich und mächtig waren, das gerne weiterhin bleiben würden. „Hätte ich Milliarden mit Lug, Betrug und Mord gemacht, würde ich ebenfalls alles Notwendige veranlassen, dass die Leute meine harmlosen Erklärungen hören, nicht das Gezeter der Betroffenen oder die Berichte der Aufklärer“, murrte Zach in seinen Drei-Tage-Bart.

Weil die meisten Menschen die Wirklichkeit nicht von der medienproduzierten Theaterkulisse unterscheiden konnten, war es Tony Blair gelungen, Großbritannien in einen Krieg gegen den Irak zu hetzen. Junge Soldaten hatten ihr Leben weggeworfen, als sie nach Massenvernichtungswaffen suchen halfen, die frei erfunden waren… um nur ein belegbares Beispiel der jüngeren Zeit zu nennen, bei dem etablierte Medien in ihrer Gesamtheit willfährig eine falsche Realität zeichneten. Keine Ausnahme, sondern der Regelfall. Es gab größere Verbrechen – sogar von atemberaubenden Dimensionen –, die sich genau hier und jetzt vor aller Augen abspielten, aber man durfte die nackten Tatsachen weder nüchtern noch im Scherz erwähnen, wenn man Einkommen, Wohnung, Freundschaften, Freiheit und Gesundheit behalten wollte. Als Privatermittler wusste er nur zu gut, wie das lief. Das schlimmste Unrecht geschah mit Wissen und Duldung, oft sogar unter Beteiligung der Behörden, gedeckt von ‚Journalisten‘, die wussten, wann sie wegschauen und wen sie vorführen mussten. Darum wunderte es ihn keineswegs, dass mindestens eine der beiden Personengruppen – die Bestätiger beziehungsweise die Leugner der Echtheit des Evans-Koffers – sich hatte benutzen lassen, einen bestimmten Eindruck zu vermitteln. Eigeninitiative wurde bestraft, Willfährigkeit des Hundes gegenüber dem Herrn machte sich bezahlt. Und der Herr wünschte die einhellige Zurschaustellung fachlicher oder administrativer Autorität. Wenn alle sagten: „Hören Sie auf die Experten; es gibt hier nichts weiter zu sehen!“, trauten sich nur die Wenigsten, einen zweiten Blick zu riskieren. Gruppendruck war ein effektives Mittel, frei grasende Schäfchen wieder in die Herde zurückzuholen.

Zachary Ziegler verdankte seinen Erfolg als Detektiv der Tatsache, dass er solchem Druck nicht nachgab, wenn es um die Wahrheit ging. Niemand war gefeit vor Täuschung, aber man musste sich die Freiheit bewahren, seine Fehler bewusst wahrzunehmen und einzugestehen. Wer aus Bequemlichkeit, Furcht vor dem Herausragen aus der Menge oder des Wohlgefühls wegen im Theatersessel kleben blieb – sei es ein Stuhl im Parkett, sei es ein Logenplatz – würde nie erfahren, wer diese Leute auf der Bühne wirklich waren oder was sie hinter den Kulissen trieben. Er lebte in einer aufwändig konstruierten Scheinwelt. Nach einiger Zeit vergaß er, dass sie künstlich war; sie wurde zu der Welt schlechthin, egal wie absurd sie sein mochte. Darum waren solche Leute wie Kommissar Wickens Zach zuwider. Sie spielten sich als Türsteher auf, die anderen vorgaben, in welchen Räumen sie sich geistig bewegen durften, was sie bei Strafe sozialer Ächtung zu tun oder zu lassen, zu denken oder zu ignorieren hatten.

Für jemand wie Zach warfen die von Leuten wie Wickens postulierten Tabus Fragen auf. Der Detektiv hatte befürchtet, mehr preisgegeben als erfahren zu haben, bis der Kommissar ihn quasi mit der Nase auf etwas gestoßen hatte: Das Motiv für die beiden gewaltsamen Tode im Zusammenhang mit den Evans-Erinnerungen – und für das Verschwinden des Manuskripts – könnte die drohende Entlarvung eines Hochstaplers in den Reihen der erfolgreichsten Band der Welt gewesen sein. Wenn Zweitligisten wie die Monkees oder Milli Vanilli bereits mit kommerzieller Vernichtung bestraft wurden, weil sie lediglich vorgetäuscht hatten, Musiker zu sein, würde derselbe Vorwurf im Fall der Beatles zu einem Erdbeben führen. Es würde die lieb gewonnenen Erinnerungen von ungezählten Millionen Musikhörern überschatten, die Glaubwürdigkeit von international bedeutenden Persönlichkeiten untergraben und das Image eines Landes und einer Industrie ruinieren. Nicht zuletzt ging es um Milliarden Britischer Pfund. Was waren dagegen eine lumpige Million für das vergilbte Manuskript oder die Leben zweier kleiner Lichter, die ihren Unterhalt aus den Abfällen dieser Beatles-Maschinerie bestritten hatten?

Zach wollte sehen, ob ihn die Spur, von der Wickens ihn hatte abbringen wollen, vielleicht weiterführte.


Als er zurückgekehrt war, fand er das Erdgeschoss leer vor. Ein appetitanregender Geruch nach Gemüse und Gewürzen hing am Fuß der Treppe in der Luft. Zach stieg hinauf. In der Küche stöberte er Veronica auf, die gerade einen Kessel voll Eintopf vom Gasherd nahm.

„Oh, wie schön. Du kommst genau zur rechten Zeit. Das Essen ist fertig.“

„Himmel, Veronica, wie viele Besucher erwartest du denn?“

„Dich. Heute irgendwann. Scharf gewürzten Eintopf kann man problemlos ein paar Tage aufbewahren und er ist bei Bedarf in wenigen Minuten wieder heiß.“

„Ich habe jedenfalls ungeheuren Hunger und ich liebe Eintopf! Der erste Teller geht auf ex.“

„Untersteh dich! Wir setzen uns jetzt schön gemütlich hin und du erzählst mir, wie‘s bei der Polizei gelaufen ist. Danach würde ich gern deine Meinung zu ein paar weiteren Widersprüchen hören, die mir im Zusammenhang mit dem Evans-Archiv aufgefallen sind.“

Zach trug den Kessel zum Esstisch, Veronica legte zwei Gedecke auf. Sie schlürften in aller Ruhe die ersten drei Portionen, bevor der Detektiv begann, von seiner Begegnung mit Kommissar Wickens zu berichten.

„Viel Neues ist das wirklich nicht“, bemerkte Veronica, als ihr Vater sich wieder dem Essen zuwandte. „Seltsam finde ich, dass er einerseits solches Interesse an Henry zeigte, dann aber direkt abwiegelte, als es um das Manuskript ging“.

„Ja, das war echt auffällig. Ich möchte es fast als die dritte Instanz bezeichnen, in der das Buch als Informationsquelle sozusagen aus dem Weg geräumt wurde, wenn auch nur verbal.“

„Ich würde nicht so weit gehen, ihm Absicht zu unterstellen. Dafür haben wir keine Beweise. Er könnte auf deine Andeutung vielleicht sogar völlig frei von Hintergedanken so herablassend reagiert haben. Wenn das einen weiteren Bildpunkt zu unserem Muster beiträgt, dann einen ziemlich schwachen.“

„Zugegeben. Ich werde das berücksichtigen.“ Er löffelte schweigend seinen Eintopf. Dann sagte er: „Die Beatles waren meine ganze Jugend hindurch dauernd mit irgendwas in den Schlagzeilen: George auf Tour, Ringo macht Fotos, ein neues McCartney-Album, John wird erschossen… ich erinnere mich an diese Dinge eher nebelhaft. Und dann die ewigen Gerüchte über das geheime Leben der Stars – die Medien schienen einen Wettbewerb um die groteskesten Nachrichten zu führen. Ich könnte schwören, nie von der Doppelgängertheorie gehört zu haben, aber das ist ziemlich unwahrscheinlich. Viel eher habe ich sie einfach als Zeitungsente abgetan und direkt ins Gedächtnisloch verbannt. Elvis lebt, Paul ist tot und die Erde ist eine Scheibe, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Ja klar. Da ging es dir genau wie diesem Kommissar, wie hieß er gleich?“

„Wickens. Ich kann ihn ja verstehen. Ohne strenge Geisteshygiene verkäme unser jeweiliges Bild von der Wirklichkeit zu einer schlimmeren Karikatur, als es eh schon ist. Man sollte jedoch für neue Informationen offen sein, um fehlerhafte Ansichten korrigieren zu können; zumindest würde ich das von einem Ermittler erwarten. Täuschungen auseinanderzunehmen ist unser Geschäft.“

Veronica zuckte mit den Schultern. „Wir alle haben blinde Flecken.“

„Mit einem ermordeten Stiefbruder und einer gestohlenen Million am Bein will ich mir diesen blinden Fleck nicht leisten. Netterweise hat Wickens das Manuskript in einen neuen Kontext gerückt, der erklären könnte, worin das Tatmotiv bestand. Angenommen, die dreckige Wäsche der Beatles beinhaltet einen Doppelgänger, einen Hochstapler, der weder singen noch komponieren noch spielen konnte; angenommen, dieser Evans hat eine Skandalstory geschrieben, um noch einmal ordentlich Reibach zu machen, nachdem klar war, dass die Band sich unwiederbringlich aufgelöst hatte – der Schaden hätte so hoch sein können, dass nicht einmal ein Konzern, geschweige denn ein einzelner Mensch ihn auszugleichen in der Lage gewesen wäre. Will sagen: Der Rechtsweg hätte in diesem Fall weniger Erfolg versprochen, als … ein beherztes Einschreiten der betroffenen Parteien.“

„Darauf könntest du deinen Hintern verwetten. Bevor ich dir das gestatte, müssen wir jedoch die Annahme in eine Gewissheit verwandeln.“

„Schwierig. Wir müssten das Manuskript lesen, um zu verstehen, ob beziehungsweise warum es aus dem Verkehr gezogen wurde.“

„Nicht notwendigerweise“, widersprach Veronica. „Es genügt, dass die Hintermänner der Tat – wenn es eine Tat gegeben hat – wussten oder glaubten, Mal Evans tanze aus der Reihe. Das impliziert, dass sie Grund zur Sorge hatten – Dreck am Stecken.“

„Weiß nicht… üble Nachrede kann den selben Effekt haben wie echte Skandale aufzudecken. Sofern wir nichts Konkreteres herausfinden, stecken wir erst einmal fest.“

Wieder senkte sich für einige Minuten Schweigen über den Tisch.

„Gibt es denn nirgends irgendwelche Kopien, ausschnittweise Vorabveröffentlichungen oder jemand, der das Original gelesen hat? Was hat Mal Evans selbst darüber gesagt? Du erwähntest gestern, er habe sein Buch über Rundfunk beworben.“

„Ich habe keine Zitate aus den Memoiren gefunden. 2005 sind in der Sunday Times ein paar harmlose Einträge aus seinem Tagebuch erschienen, die seine Witwe Lily freigegeben hatte. Die Familie schien chronisch an knappem Geld zu leiden. Evans verdiente wenig und war selten zuhause. Lily ließ durchscheinen, dass sie dies bis heute belastet und dass sie findet, die Band habe Mal schlecht behandelt. Er selbst, das zeigen die Zitate deutlich, hatte weniger Probleme damit. Er verstand sich bis zum Schluss als enger Freund der vier Musiker und blieb ein Fan der Gruppe. Dass er mit seinem Insiderwissen einmal richtig Kasse machen wollte, passt nicht recht ins Bild, das ich von ihm gewonnen habe. Du solltest dir die Interviews von Ende 1975 anhören. Er hat keinen Versuch unternommen, Skandale anzupreisen oder Sensationsgier zu wecken. Über die Beatles redete er ausschließlich in respektvollem Ton – und sie über ihn: Sie nannten ihn den ‚sanften Riesen‘.“

„Zwischen den Reden und den Taten liegen oft Welten“, warf Zach ein.

„Bei manchen Leuten mehr, bei anderen weniger. Ich würde diesen Mann zu letzteren zählen. Er hat sein ganzes Leben als Enthusiast gehandelt. Aber wie gesagt, mach dir selbst ein Bild.“

„Noch heute. Deine Schilderung klingt danach, als führe diese Fährte in eine Sackgasse oder auf einen Holzweg. Dem harmlosen Image stehen jedoch der gewaltsame Tod des Mannes und die vielen Ungereimtheiten um seine Hinterlassenschaften gegenüber. Legen wir gleich los? Bei der Gelegenheit kannst du mich endlich in die Mysterien von Pauls Studierzimmer einweihen.“

8) Tonbandspulen

Jemand rief ihren Namen.

„Veronica? Erde an Mars, bitte kommen!“ Ihr Vater.

Sie schüttelte den Kopf. „Entschuldige. Ich war gerade in Gedanken.“

„Würde es dir etwas ausmachen, das Warenbuch hereinzuholen? Henry wird uns helfen, die Kunden zu identifizieren, die ihre Bestellungen noch nicht abgeholt haben.“

„Schon unterwegs.“

Als Veronica nach einer halben Minute wieder ins Hinterzimmer zurückgekehrt war, standen Henry und Zach vor dem geöffneten Safe. Sie reichte ihrem Vater das Buch. Die beiden Männer gingen die Einträge einen nach dem anderen durch und verglichen sie mit den Objekten im Safe. Ihr Vater zückte einen kleinen Zettelblock und einen Kugelschreiber, die er stets in seiner Hemdtasche mitführte. Er schrieb die Klarnamen auf, die Henry ihm nannte. Daneben notierte er weitere Angaben, die ihm wichtig schienen. Als sie die Inventur abgeschlossen hatten, war die Spannung im Gesicht des Detektivs einer gewissen Zufriedenheit gewichen. Veronica konnte sich vorstellen, weshalb. Sie würden nicht auf der Ware sitzen bleiben, sondern sie zu Geld machen können – eine Sorge weniger auf ihrer Liste der zu erledigenden Dinge. Sie hatten einen kleinen Erfolg erzielt und ein bisschen mehr Klarsicht bezüglich des Milieus gewonnen, in das sie unversehens eingetaucht waren.

Der Ältere zeigte nun auf ein flaches, ungefähr dreißig Zentimeter messendes quadratisches Gehäuse aus grauem PVC. „Das dürfte für mich hinterlegt sein“, meinte er.

Zach nahm die Plastikkassette aus dem Regal. Auf einer der Schmalseiten stand in schwarzem Filzstift:‚Abbey Road – nicht zur Veröffentlichung‘ geschrieben. Er öffnete den Verschluss und schaute hinein. Wie erwartet enthielt das Gehäuse eine Tonbandspule. „Wie viel Spielzeit ist das – vier Stunden?“

„Viereinhalb“, antwortete Henry, „Die Rolle stammt aus dem August 1969, von einem der letzten Studiotermine der Beatles, und ich habe keinen Zweifel, dass darauf nie gehörte Musik und Gespräche verewigt wurden.“

„Was macht Sie so sicher?“, wollte Veronica wissen.

„Weil die ‚Experten‘ das Evans-Manuskript verschwiegen haben, das nun einmal mit im Koffer lag. Sie haben den Fund zum Schund deklariert, um Fragen nach den gefährlichen Erinnerungen eines Mannes zu verhindern, die den Beatles-Mythos als Schneewittchen-Story entlarvt hätten.“

„Eine steile These. Darauf verwetten sie wie viele Britische Pfund?“

„Einhundertachtzigtausend, wie mit Ihrem Onkel ausgemacht.“

Veronica pfiff durch die Zähne. „Wollen Sie nicht wenigstens einmal hineinhören, bevor Sie so viel Geld ausgeben, Henry? Unter der Verkaufstheke steht ein Tonbandgerät.“

„Das ist unnötig, danke. Als Freund und als Ehrenmann stehe ich zu meinem Wort – selbst wenn das Band leer wäre.“

„Ich hätte nichts dagegen, ein Ohr zu riskieren“, schaltete sich Zach ein.

„Lassen Sie mich einen anderen Vorschlag anbringen“, wehrte Henry ab. „Was halten Sie von der Einladung zu unserer nächsten Feier, auf der ich die interessantesten Stellen zum ersten Mal der Familie zu Gehör bringen werde? Es wäre gleichzeitig eine gute Gelegenheit, Ihre künftigen Kunden kennenlernen und sich in Liverpools Gesellschaft einzuführen.“

Weder Zach noch Veronica zeigten sich begeistert. Sie mussten jedoch zugeben, dass ein Mann, der so viel Geld für etwas ausgab, das Recht hatte, sich das gute Stück zuerst einmal ganz allein zu Gemüte zu führen. Bishop begleitete die beiden Zieglers zur Registrierkasse, wo er ihnen erläuterte, wie Paul das Geschäft üblicherweise zum Abschluss gebracht hatte.

„In einem der Fächer auf der linken Seite liegt ein Block mit Vertragsformularen. Den brauchen wir.“

Veronica stöberte in den dunklen Ablagen unter der Theke. Sie förderte den Block zutage. Die obersten Exemplare waren bereits ausgefüllt, wie sie beim Durchblättern feststellte. Auf dem dritten Blatt fand sie den gesuchten Namen, Thomas Henry Bishop. Als Vertragsgegenstand hatte Paul ‚1 Tonbandspule Abbey Road aus Evans-Archiv‘ eingetragen und als Kaufpreis standen tatsächlich einhundertachtzigtausend Pfund im entsprechenden Formularfeld. Käufer und Verkäufer hatten durch ihre Unterschrift den Vertrag zur Beschaffung des Objekts geschlossen. Zwei weitere Unterschriften standen noch aus: ‚Ware erhalten‘ und ‚Betrag erhalten‘.

Henry bestätigte den Erhalt der Ware. „Den Betrag werde ich Ihnen binnen eines Monats auf Pauls Geschäftskonto überweisen. Ich hoffe doch, Sie können bereits darüber verfügen.“

„Der Notar hat alles in die nötigen Bahnen gelenkt. Ich hatte bisher nur keine Gelegenheit, bei der Bank vorstellig zu werden. Das sollte natürlich nicht Ihr Problem sein, Henry. Wir sind Ihnen für Ihre Hilfe zu Dank verpflichtet.“

Der Ältere deutete eine Verbeugung an, reichte Vater und Tochter die Hand zum Abschied und setzte seinen Hut auf. Zach schloss ihm die Tür auf. Henry the Horse trat auf die Rainford Gardens hinaus, ein Tonband für einhundertachtzigtausend Pfund unter den Arm geklemmt, und entschwand in den Sonnenschein eines inzwischen weit fortgeschrittenen Morgens.


Der Besucher hatte ihre Planung ebenso wie ihre Konzentration über die Maßen beeinträchtigt. Zach beschloss daher, sich ein wenig die Beine zu vertreten, um den Kopf frei zu bekommen. Als er gegangen war, überlegte Veronica, ob sie einen der Punkte von ihrer Liste in Angriff nehmen könnte, fand jedoch keine rechte Lust dazu. Stattdessen stieg sie die Treppe hinauf in die Wohnung, um sich in Ruhe umzusehen. Es war still hier oben. Vom Betrieb auf den Straßen vor und hinter dem Haus war fast nichts zu hören. Falls sie hier einzogen, würden sie störungsfrei arbeiten und entspannen können. Es gab zwei mit Doppelbetten möblierte Schlafzimmer. Sie öffnete jenes, das sie aufgrund der persönlichen Gegenstände darin als Pauls Raum identifiziert hatte. Die Bettwäsche schien sauber, zeigte jedoch subtile Zeichen der Benutzung. Veronica prüfte die Schränke. Auf der Suche nach frischen Laken und Bezügen ließ sie ihre Finger über Pauls Kleidung wandern: Unterwäsche, Socken, Krawatten, Hemden, Hosen, Anzüge – alles wirkte elegant, wenn auch ein wenig altmodisch. Der Blick auf einige Etiketten bestätigte ihre Einschätzung, dass der Verstorbene dieselbe Größe getragen hatte wie ihr Vater.

Der Brustbereich einer der Mäntel war ausgebeult. Sie steckte ihre Hand in die Innentasche und zog einen langen prall gefüllten Geldbeutel heraus, wie ihn Markthändler normalerweise verwenden. Sie zögerte. War es indiskret von ihr, derart in die Privatsphäre eines ihr unbekannten Mannes einzudringen? Unsinn, schalt die Detektivin in ihr wirsch. Ihr Onkel war tot und ihr Vater hatte den Haushalt, der ihm rein rechtlich nun gehörte, noch nicht wirklich in Besitz genommen. Einen Augenblick stand sie unentschlossen vor dem offenen Kleiderschrank, dann siegte die gute Kinderstube. Ihr Vater hatte sie die Goldene Regel gelehrt, nach der sie so gut es in dieser verrückten Gesellschaft ging lebten. Sie behandelten andere, wie sie selbst behandelt werden wollten, und sie unterließen alles, was sie nicht ihrerseits durch die Hand eines Anderen erleiden wollten. Damit waren sie bisher ganz gut gefahren. Man wurde so nicht reich, aber man konnte jeden Tag reinen Gewissens schlafen gehen.

A propos schlafen gehen. Sie steckte den Geldbeutel ohne hineinzusehen in die Innentasche des Mantels zurück. Dann schnappte sie sich zwei Garnituren frischer Bettwäsche und tauschte die alten aus. Dasselbe wiederholte sie im Gästezimmer. Wo in Pauls Raum eine Schrankwand die Szene beherrschte, erstreckte sich hier ein maßgeschreinertes Regal, das fast zur Gänze mit Büchern gefüllt war. Zahlreiche Paperback-Romane mit allerlei Klassikern von Asimov bis Zola machten den Hauptbestand aus. Daneben standen ledergebundene und kartonierte Hardcover. Sie erkannte die Britannica und andere Nachschlagewerke. Einige Bände behandelten religionswissenschaftliche Themen. Manche sehr alt wirkende Schinken trugen lateinische Titel oder kryptische Symbole. Und natürlich gab es eine ganze Abteilung mit Musikbezug. Sie würde sich die Sammlung genauer ansehen, sobald sie etwas mehr zur Ruhe gekommen sein würde. Zwischen den beiden Fenstern, die warmes Licht durch die vordere Außenwand des Gebäudes ins Zimmer strömen ließen, stand ein schlichter Sekretär, den Veronica sofort mochte. Die vielen Schubladen, Türchen und Sortierfächer des Möbelstücks übten eine magische Anziehung auf sie aus. Sie hatte sich entschlossen: Sie würde ihrem Vater vorschlagen, vom Hotel in die Innenstadt zu ziehen, und sie würde ihn bitten, ihr diesen Raum zu überlassen.

Das Sahnehäubchen wäre allerdings ein Internet-Anschluss, dachte sie sich. Ihr Onkel mochte ein weit reichendes Netzwerk persönlicher Beziehungen besessen haben. Dass das allein gereicht hatte, um jene Wunder zu wirken, die man ihm nachsagte, bezweifelte sie. Hatten sie überhaupt einen Computer gesehen, als Miller, der Notar, sie durch die Wohnung führte? Es war erst gestern gewesen, aber sie hatten in den letzten Tagen so viele aufregende Informationen absorbieren müssen, dass die Erinnerung an ihre Tour wie durch ein gemustertes Chiffontuch betrachtet wirkte.

Direkt gegenüber wurde sie fündig. Ein großer Raum, dessen Wände auf allen Seiten vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen bedeckt waren, musste wohl das Studierzimmer gewesen sein. In der Mitte der schmaleren Seite gab es ein Fenster, vor dem ein moderner Liegesessel stand. Ein riesiger Schreibtisch beherrschte das Zentrum des Raums. Füße und Rahmen bestanden aus kräftig rotem Holz, die Tischplatte bestand aus milchig weißem Glas, in das auf der linken Seite ein versenkbarer 28-Zoll-Flachbildschirm eingelassen war. Zum zweiten Mal an diesem Tag stieß Veronica einen leisen Pfiff aus.

Sie setzte sich in den Science-Fiction-artigen Drehstuhl vor den Bildschirm und unterzog den Arbeitsplatz einer näheren Betrachtung. Sie sah keinen Rechner. Es mochte ein Kompaktgerät sein, das im Bildschirm oder auf dessen Rückseite installiert sein konnte; oder der Computer stand in einem anderen Zimmer. Praktischerweise sollte man ihn hier, von diesem Platz aus, einschalten können. Wo war der Knopf? Sie ließ ihre Finger über das Holz gleiten. Auf der Unterseite der Tischplatte spürte sie zwei kleine Erhebungen. Sie beugte sich hinunter und sah, wonach sie gesucht hatte. Sie drückte den rechten der beiden Knöpfe. Licht flammte unter dem milchweißen Glas der Oberfläche auf. Aha, dachte sie. Onkel Paul hat wohl des öfteren Baupläne, Dias oder ähnliches angeschaut. Dieses Möbel wäre dabei sicherlich eine große Hilfe gewesen.

Der andere Knopf musste den Computer hochfahren, vermutete sie.