12) Koffer auf Abwegen

Sie räumten den Tisch ab und trugen das Geschirr in die Küche zurück. Veronica bestand darauf, dass ihr Vater abspülte, während sie einen Teil des Eintopfs in Portionen abpackte, die sie später einfrieren wollte. Zwanzig Minuten später betraten sie den mit Büchern tapezierten Raum, in dessen Mitte der Sci-Fi-Arbeitsplatz stand. Zach zeigte sich beeindruckt. Bevor er sich von den Bänden in den Regalen in andere Welten entführen ließ – sie kannte seine Schwäche für Gedrucktes nur zu gut – rückte Veronica einen zweiten Stuhl neben ihren Cockpitsessel und deutete an, er solle Platz nehmen.

„Ok, womit steigen wir ein?“, fragte Zach.

„Ich würde vorschlagen, ich spiele ein paar Stellen aus dem KSCN-Interview vom 29.11.‘75. Er redet mit Laura Gross über sein Leben, seine Karriere und natürlich die Beatles. Gross ist eine junge Journalistin und eine Freundin der Familie. Achte auf den Tonfall. Was er über seine Memoiren sagt, ist natürlich auch höchst interessant… Bist du bereit?“

„Kann‘s kaum erwarten!“

Veronica klickte das Lesezeichen an, unter dem der Audiomitschnitt des Interviews gespeichert war. Sie ließ es ein paar Minuten laufen, um ihrem Vater einen Eindruck vom Austausch der beiden Gesprächspartner zu vermitteln. Dann sprang sie zur Mitte der Aufnahme. Mal Evans betonte, dass er es geliebt habe, als Tourmanager der Beatles arbeiten zu dürfen. Er habe zwar drei Schwestern, aber keine leiblichen Brüder. Er bezeichnete den Sänger Harry Nilsson als seinen Blutsbruder, aber auch die vier Beatles. Dann drückte er seine Hoffnung aus, dass sie sein Buch, das bald herauskommen sollte, mögen würden. Sie hörten Laura Gross sagen: „Ich weiß, dass du niemals etwas schrecklich Negatives über sie schreiben würdest.“ Mal Evans antwortete: „Nun, das könnte ich. Ich sprach mit Ringo über das Buch. Ich sagte: ‚Ich würde dich nicht in ein schlechtes Licht rücken wollen.‘ Und er sagte: ‚Schau, wenn du nicht die Wahrheit erzählst, fang gar nicht erst damit an. Gerade du solltest es so erzählen, wie es war.‘ Und da gibt es ein paar Dinge, deretwegen sie bestimmt wütend auf mich sein werden.“ Er habe jedoch viel Spaß und eine gute Beziehung zu diesen Leuten gehabt. Daher könne er jetzt nicht etwas anderes behaupten. An was er sich erinnere, sei eine gute Zeit gehabt zu haben.

Veronica sprang zum Ende und ließ die letzten paar Minuten abspielen. Zach sagte: „Hmm, Das hört sich wirklich nicht so an, als habe er eine reißerische Publikation geplant, aber er war sich bewusst, dass es witzlos gewesen wäre, nur die angenehmen Momente zu beschreiben.“

„Ist dir aufgefallen, in welch zuversichtlicher Stimmung er sich befand?“

„Ja, der Mann hatte scheinbar mehr Pläne als Sorgen.“

„Dann schau dir mal an, was größere Veröffentlichungen über ihn schreiben.“ Veronica rief eine Textdatei auf, aus der sie vorzulesen begann: „Beatlechat bestätigt unseren Eindruck. Evans habe seine letzten beiden Lebensjahre hauptsächlich in den Staaten verbracht, wo er mit John, Ringo, Harry Nilsson, Keith Moon und anderen Musikern Partys feierte. Im September 1975 präsentierte er sich auf einem Beatles-Fantreffen in New York. Dann jedoch schwenkt der Bericht um und zeichnet ein ganz anderes Bild. Badfinger, eine erfolgreiche Band, die er entdeckt und produziert hatte, lösten sich im April auf – also lange vor dem Fantreffen –, weil der Sänger sich umgebracht hat. Evans arbeitete jedoch schon bald am Nachfolgeprojekt des Gitarristen. Angeblich – hier widerspricht sich der Bericht selbst, schwand auch der Kontakt zu den Ex-Beatles. Es ist aus anderen Quellen jedoch bekannt, dass dieser nie abgebrochen ist; er traf zum Beispiel McCartney in L.A., als der dort auftrat.“

Veronica scrollte weiter. „Hooks and Harmony sagt: ‚Die Abwärtsspirale setzte sich fort. Mal Evans trennte sich von seiner Frau Lily und zog nach Los Angeles, um Arbeit in der Musikindustrie zu suchen. Seine Frau reichte im Dezember 1975 die Scheidung ein.‘“ Sie schaute auf. „Die meisten Berichte über die Zeit zwischen der Auflösung der Beatles und Evans‘ Tod betonen die Misserfolge und spielen die glücklichen Momente des Mannes herunter, wenn sie sie überhaupt erwähnen. Oftmals bekomme ich den Eindruck, sie schreiben alle von einander ab. Und das fing unmittelbar nach dem tragischen Ereignis an. Angeblich sei er arbeitslos gewesen und habe Beziehungsprobleme mit seiner Freundin Fran gehabt. Laura Gross, die wie gesagt direkten Einblick in sein Privatleben hatte, bezeichnet diese Meldungen als ‚himmelschreiende Lügen‘.“

„Zeichnen sich hier die beiden Lager ab, auf die wir bei dem australischen Kofferfund gestoßen sind?“, überlegte Zach.

„Jetzt wo du‘s sagst… Die Partei, die Mal Evans in ein ungünstiges Licht rückte, bekam die weitaus größere Aufmerksamkeit, so wie dreißig Jahre später die Fraktion, die den australischen Koffer als ‚fake‘ abstempelte.“

„Hast du weitere Audios oder Videos oder war‘s das?“

Veronica holte einen anderen Tab ihres Browsers in den Vordergrund. „Das hier…“, sie zeigte auf den Bildschirm, „… ist eine Diskussion mehrerer Beatles-Koryphäen, darunter Ken Womack. der Mann, der an der ultimativen Mal-Evans-Biografie schreibt. Du erinnerst dich?“

„Den Namen habe ich mir gemerkt. Ich würde dem Mann wirklich zu gern einmal in die Karten schauen.“

„Rate mal wer noch. Die Aufnahme stammt vom August 2022, anlässlich eines Beatles-Kongresses in Chicago. Die Hintergrundgeräusche waren teils recht laut, aber man versteht gut genug, was die Leute sagen.“ Sie klickte auf den Abspielknopf und dann lauschten sie, bis eine Stunde später wieder Stille in Pauls Arbeitszimmer einkehrte.

Zach ächzte. „Faszinierend. Warum fühle ich mich dennoch um wertvolle Lebenszeit betrogen?“

„Vielleicht liegt es daran, dass er lediglich das offizielle Narrativ vom tragischen Hans im Glück bedient. Er lässt gerade so viel durchblicken, dass man an seinen Lippen hängen bleibt, aber eigentlich sagt er nur: ‚Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen‘.“

„Richtig. Dieselbe Masche wie bei Beatlechat: Er gibt zu, es gab ein paar Glanzlichter – Evans bezog auch nach dem Beatles-Split Gehalt von der Band, arbeitete für deren Soloprojekte, hatte Produktionsaufträge, traf McCartney in L.A., telefonierte ständig mit Lennon und Harrison, dinierte mit Ringo Starr zu Weihnachten, hatte seine fast fertigen Memoiren in der Tasche und über den 12. Januar hinaus Zeit, an ihnen zu feilen. Der Verlag zahlte Vorschuss und das Projekt war von allen vier Beatles abgesegnet. Kein Wunder klang er bei seinem Interview mit Laura Gross so glücklich“, zählte Zach auf, was er aus dem Podcast aufgeschnappt hatte. Sarkastisch: „Grund genug, sich mit Alkohol und Valium zu bedröhnen, seine Freunde vollzuheulen und ohne Anlass mit einer Knarre herumzufuchteln, bis man erschossen wird.“

„Ich sehe zwei mögliche Erklärungen für dieses widersprüchliche Verhalten: Mal Evans ‚hat sein Leben schön säuberlich in Schubladen gepackt, denen er getrennt begegnete,‘ wie Womack es einschätzt. Oder die Story, dass er psychisch zerrüttet, mit Drogen vollgepumpt und einer Waffe in der Hand sein Ende quasi provozierte, stimmt nicht.“

„Was wäre, wenn er ohne sein Wissen mit Drogen vollgepumpt wurde?“, spekulierte Zach.

Veronica grübelte. „Da wir dank Pauls Erbe wissen, dass das Manuskript sein Gewicht in Gold wert ist, können wir ein Interesse unterstellen, seine Veröffentlichung zu verhindern. Wir sind jedoch noch immer nicht in der Lage, die Darstellungen von Evans‘ Ende zu bestätigen oder zu widerlegen.“

„Was hatte die Polizei im Haus zu suchen? Wer hat die denn bestellt?“

„Seine Freundin Fran Hughes soll über seine Niedergeschlagenheit so besorgt gewesen sein, dass sie seinen Ghostwriter John Hoernie angerufen haben soll. Der berichtete, er habe Evans ‚mit Drogen vollgepumpt und benommen‘ vorgefunden. Evans habe Hoernie gebeten, sicherzustellen, dass die Memoiren auch wirklich veröffentlicht werden. Es sei dann zu einer verbalen Auseinandersetzung gekommen, bei der Evans eine Schusswaffe zur Hand nahm. Der Ghostwriter soll vergeblich versucht haben, sie ihm zu entwinden. Die Freundin rief daraufhin die Polizei an. Evans habe sich auch der Aufforderung der Polizisten verweigert, seine Waffe niederzulegen, also erschossen sie ihn.“

„Okay… der Mann hat die Kontrolle über seine Gefühle verloren – dumm gelaufen. Seine Freundin ruft die Polizei und begeht damit den Fehler ihres Lebens – steckst du nicht drin; dumm gelaufen. Die Beamten verschlampen Beweismaterial – kann passieren; dumm gelaufen. Der Nachlass verschwindet auf dem Postweg nach England – dumm gelaufen. Der Ghostwriter erfüllt den letzten Willen des Verstorbenen nicht – weil er entweder keine Kopie des Manuskripts aufbewahrt hat oder es rechtliche Hürden gab – auch dumm gelaufen. Der Verlag mottet Evans‘ Tagebuch ein und vergisst es für zehn Jahre im Keller – welch ein Zufall, dumm gelaufen. Als es zusammen mit anderen Papieren wieder auftaucht, wird nicht seine Frau informiert sondern Yoko Ono – Verfahrensfehler; dumm gelaufen. Erst 35 Jahre nach der Wiederentdeckung gibt Lily Evans zu, die Erinnerungen ihres Mannes zu besitzen. Zumindest in diesem einen Fall würde ich auf Vorsatz plädieren“, resümierte Zach. „Für sich genommen kann jeder dieser Vorgänge auf simples menschliches Versagen zurückzuführen sein, aber in der Gesamtschau halte ich so viele Irrtümer für höchst unwahrscheinlich. Falls Mal Evans vorsätzlich ausgeschaltet wurde, steht Fran Hughes zuoberst auf meiner Liste der möglichen Helfer, dann der Ghostwriter. Wer hat den Haushalt aufgelöst, ebenfalls die Freundin?“

„Nein, sein Freund, der Sänger Harry Nilsson. Er war derjenige, der die Urne und den Nachlass nach England geschickt hat.“

„Ich mag seine Musik,“ sagte Zach.

„Eine interessante Notiz am Rande: Mama Cass von The Mamas & The Papas ist 1974 tot in Nilssons Londoner Wohnung aufgefunden worden. 1978 fand man Keith Moon von The Who in exakt demselben Zimmer, in demselben Bett sogar. Beide waren zweiunddreißig Jahre alt. Die Leichenschau wurde vom selben Doktor durchgeführt. Zufälle gibt‘s…“

„Dann muss Nilsson mit auf die Liste.“

„Wenn‘s hilft. Ich sehe keine aktuellen Verbindungen dieser Leute nach Liverpool.“

„Die brauchen sie auch nicht. Uns interessiert der Auftraggeber, wenn es ihn gibt, denn das wäre wohl der, der auch hinter Pauls Tod steckt. Es müsste jemand sein der die finanziellen Mittel und personellen Verbindungen besitzt, Pauls Transaktionen zu verfolgen, und der Entsprechendes vor fast fünfzig Jahren schon leisten konnte.“

„Und der ein Interesse daran hatte und immer noch hat“, ergänzte Veronica.

„Versteht sich von selbst. Aber es grenzt den Personenkreis stark ein: zwei noch lebende Beatles, eine Beatles-Witwe, und eventuell enge Freunde der Band wie beispielsweise Donovan oder die Stones; obwohl ich es für eher unwahrscheinlich halte, dass die wussten, was in dem Manuskript stand. Die ex-Beatles hingegen hatten laut Womack die Veröffentlichung genehmigt – sicher nicht ohne die Katze im Sack gesehen zu haben.“

„Weshalb sollte man jemand eine Genehmigung erteilen und ihn dann umbringen; speziell einen engen Vertrauten und treuen Diener, mit dem man bestimmt hätte verhandeln können? Man hätte auch einfach ein Verbot aussprechen können, entweder persönlich oder auf gerichtlichem Weg; gegen die Bandkollegen ging das doch auch.“

„Weil der Mann mit seinem immensen Insiderwissen womöglich eine wandelnde Zeitbombe war. Und um den Verdacht von sich abzulenken.“

„Fein. Wir befinden uns noch immer tief im Land der Spekulation über Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten, aber das Bild gewinnt zumindest an Schärfe.“

„Findest du? Wir tappen durch einen Wald voll widersprüchlicher Informationen. Was haben wir denn als Grundlage für weitere Ermittlungen in der Hand außer diffusen Verdachtsmomenten?“, beschwerte sich ihr Vater.

„Mehr als die Polizei mit ihren unbrauchbaren Videos und geistigen Scheuklappen. Wir haben zumindest eine Ermittlungshypothese.“

„Ich habe einen Kopf, der gleich explodiert. Und ich weiß nicht, ob mir die Richtung gefällt, in die das geht. Hast du dir überlegt, was geschehen soll, falls wir einem Beatle etwas nachweisen können?“

„Die Antwort auf diese Frage hat Zeit, bis es so weit ist, aber willst du denn nicht wissen…“ Veronica stockte, setzte neu an: „Willst du denn nicht die Wahrheit kennen?“

Zach holte tief Luft. Mit zitternder Stimme antwortete er: „Ich fürchte den Abgrund, der sich vor uns auftut.“

11) Die Willfährigkeit des Hundes gegenüber dem Herrn

Er wusste nicht, was ihn mehr ärgerte: dass er sich lächerlich hatte machen lassen oder dass dieser unglaublich von sich selbst überzeugte Mensch nicht einmal erwägt hatte, die Indizien anzuschauen, sondern sie stattdessen einfach in eine Kiste mit der Aufschrift „dummes Zeug“ steckte, zusammen mit all den anderen Dingen, von denen „jeder weiß“, dass sie nicht sein können. Die Mehrzahl der Leute ging blind durch die Welt, weil sie glaubten, was sie sahen erkläre sich von selbst. Dabei wurde das, was sie sahen, ihnen gezeigt und erklärt – von Medien, die ganz anderen Absichten dienten, als die Wahrheit zu berichten. Als wäre es so abwegig, dass jene, die reich und mächtig waren, das gerne weiterhin bleiben würden. „Hätte ich Milliarden mit Lug, Betrug und Mord gemacht, würde ich ebenfalls alles Notwendige veranlassen, dass die Leute meine harmlosen Erklärungen hören, nicht das Gezeter der Betroffenen oder die Berichte der Aufklärer“, murrte Zach in seinen Drei-Tage-Bart.

Weil die meisten Menschen die Wirklichkeit nicht von der medienproduzierten Theaterkulisse unterscheiden konnten, war es Tony Blair gelungen, Großbritannien in einen Krieg gegen den Irak zu hetzen. Junge Soldaten hatten ihr Leben weggeworfen, als sie nach Massenvernichtungswaffen suchen halfen, die frei erfunden waren… um nur ein belegbares Beispiel der jüngeren Zeit zu nennen, bei dem etablierte Medien in ihrer Gesamtheit willfährig eine falsche Realität zeichneten. Keine Ausnahme, sondern der Regelfall. Es gab größere Verbrechen – sogar von atemberaubenden Dimensionen –, die sich genau hier und jetzt vor aller Augen abspielten, aber man durfte die nackten Tatsachen weder nüchtern noch im Scherz erwähnen, wenn man Einkommen, Wohnung, Freundschaften, Freiheit und Gesundheit behalten wollte. Als Privatermittler wusste er nur zu gut, wie das lief. Das schlimmste Unrecht geschah mit Wissen und Duldung, oft sogar unter Beteiligung der Behörden, gedeckt von ‚Journalisten‘, die wussten, wann sie wegschauen und wen sie vorführen mussten. Darum wunderte es ihn keineswegs, dass mindestens eine der beiden Personengruppen – die Bestätiger beziehungsweise die Leugner der Echtheit des Evans-Koffers – sich hatte benutzen lassen, einen bestimmten Eindruck zu vermitteln. Eigeninitiative wurde bestraft, Willfährigkeit des Hundes gegenüber dem Herrn machte sich bezahlt. Und der Herr wünschte die einhellige Zurschaustellung fachlicher oder administrativer Autorität. Wenn alle sagten: „Hören Sie auf die Experten; es gibt hier nichts weiter zu sehen!“, trauten sich nur die Wenigsten, einen zweiten Blick zu riskieren. Gruppendruck war ein effektives Mittel, frei grasende Schäfchen wieder in die Herde zurückzuholen.

Zachary Ziegler verdankte seinen Erfolg als Detektiv der Tatsache, dass er solchem Druck nicht nachgab, wenn es um die Wahrheit ging. Niemand war gefeit vor Täuschung, aber man musste sich die Freiheit bewahren, seine Fehler bewusst wahrzunehmen und einzugestehen. Wer aus Bequemlichkeit, Furcht vor dem Herausragen aus der Menge oder des Wohlgefühls wegen im Theatersessel kleben blieb – sei es ein Stuhl im Parkett, sei es ein Logenplatz – würde nie erfahren, wer diese Leute auf der Bühne wirklich waren oder was sie hinter den Kulissen trieben. Er lebte in einer aufwändig konstruierten Scheinwelt. Nach einiger Zeit vergaß er, dass sie künstlich war; sie wurde zu der Welt schlechthin, egal wie absurd sie sein mochte. Darum waren solche Leute wie Kommissar Wickens Zach zuwider. Sie spielten sich als Türsteher auf, die anderen vorgaben, in welchen Räumen sie sich geistig bewegen durften, was sie bei Strafe sozialer Ächtung zu tun oder zu lassen, zu denken oder zu ignorieren hatten.

Für jemand wie Zach warfen die von Leuten wie Wickens postulierten Tabus Fragen auf. Der Detektiv hatte befürchtet, mehr preisgegeben als erfahren zu haben, bis der Kommissar ihn quasi mit der Nase auf etwas gestoßen hatte: Das Motiv für die beiden gewaltsamen Tode im Zusammenhang mit den Evans-Erinnerungen – und für das Verschwinden des Manuskripts – könnte die drohende Entlarvung eines Hochstaplers in den Reihen der erfolgreichsten Band der Welt gewesen sein. Wenn Zweitligisten wie die Monkees oder Milli Vanilli bereits mit kommerzieller Vernichtung bestraft wurden, weil sie lediglich vorgetäuscht hatten, Musiker zu sein, würde derselbe Vorwurf im Fall der Beatles zu einem Erdbeben führen. Es würde die lieb gewonnenen Erinnerungen von ungezählten Millionen Musikhörern überschatten, die Glaubwürdigkeit von international bedeutenden Persönlichkeiten untergraben und das Image eines Landes und einer Industrie ruinieren. Nicht zuletzt ging es um Milliarden Britischer Pfund. Was waren dagegen eine lumpige Million für das vergilbte Manuskript oder die Leben zweier kleiner Lichter, die ihren Unterhalt aus den Abfällen dieser Beatles-Maschinerie bestritten hatten?

Zach wollte sehen, ob ihn die Spur, von der Wickens ihn hatte abbringen wollen, vielleicht weiterführte.


Als er zurückgekehrt war, fand er das Erdgeschoss leer vor. Ein appetitanregender Geruch nach Gemüse und Gewürzen hing am Fuß der Treppe in der Luft. Zach stieg hinauf. In der Küche stöberte er Veronica auf, die gerade einen Kessel voll Eintopf vom Gasherd nahm.

„Oh, wie schön. Du kommst genau zur rechten Zeit. Das Essen ist fertig.“

„Himmel, Veronica, wie viele Besucher erwartest du denn?“

„Dich. Heute irgendwann. Scharf gewürzten Eintopf kann man problemlos ein paar Tage aufbewahren und er ist bei Bedarf in wenigen Minuten wieder heiß.“

„Ich habe jedenfalls ungeheuren Hunger und ich liebe Eintopf! Der erste Teller geht auf ex.“

„Untersteh dich! Wir setzen uns jetzt schön gemütlich hin und du erzählst mir, wie‘s bei der Polizei gelaufen ist. Danach würde ich gern deine Meinung zu ein paar weiteren Widersprüchen hören, die mir im Zusammenhang mit dem Evans-Archiv aufgefallen sind.“

Zach trug den Kessel zum Esstisch, Veronica legte zwei Gedecke auf. Sie schlürften in aller Ruhe die ersten drei Portionen, bevor der Detektiv begann, von seiner Begegnung mit Kommissar Wickens zu berichten.

„Viel Neues ist das wirklich nicht“, bemerkte Veronica, als ihr Vater sich wieder dem Essen zuwandte. „Seltsam finde ich, dass er einerseits solches Interesse an Henry zeigte, dann aber direkt abwiegelte, als es um das Manuskript ging“.

„Ja, das war echt auffällig. Ich möchte es fast als die dritte Instanz bezeichnen, in der das Buch als Informationsquelle sozusagen aus dem Weg geräumt wurde, wenn auch nur verbal.“

„Ich würde nicht so weit gehen, ihm Absicht zu unterstellen. Dafür haben wir keine Beweise. Er könnte auf deine Andeutung vielleicht sogar völlig frei von Hintergedanken so herablassend reagiert haben. Wenn das einen weiteren Bildpunkt zu unserem Muster beiträgt, dann einen ziemlich schwachen.“

„Zugegeben. Ich werde das berücksichtigen.“ Er löffelte schweigend seinen Eintopf. Dann sagte er: „Die Beatles waren meine ganze Jugend hindurch dauernd mit irgendwas in den Schlagzeilen: George auf Tour, Ringo macht Fotos, ein neues McCartney-Album, John wird erschossen… ich erinnere mich an diese Dinge eher nebelhaft. Und dann die ewigen Gerüchte über das geheime Leben der Stars – die Medien schienen einen Wettbewerb um die groteskesten Nachrichten zu führen. Ich könnte schwören, nie von der Doppelgängertheorie gehört zu haben, aber das ist ziemlich unwahrscheinlich. Viel eher habe ich sie einfach als Zeitungsente abgetan und direkt ins Gedächtnisloch verbannt. Elvis lebt, Paul ist tot und die Erde ist eine Scheibe, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Ja klar. Da ging es dir genau wie diesem Kommissar, wie hieß er gleich?“

„Wickens. Ich kann ihn ja verstehen. Ohne strenge Geisteshygiene verkäme unser jeweiliges Bild von der Wirklichkeit zu einer schlimmeren Karikatur, als es eh schon ist. Man sollte jedoch für neue Informationen offen sein, um fehlerhafte Ansichten korrigieren zu können; zumindest würde ich das von einem Ermittler erwarten. Täuschungen auseinanderzunehmen ist unser Geschäft.“

Veronica zuckte mit den Schultern. „Wir alle haben blinde Flecken.“

„Mit einem ermordeten Stiefbruder und einer gestohlenen Million am Bein will ich mir diesen blinden Fleck nicht leisten. Netterweise hat Wickens das Manuskript in einen neuen Kontext gerückt, der erklären könnte, worin das Tatmotiv bestand. Angenommen, die dreckige Wäsche der Beatles beinhaltet einen Doppelgänger, einen Hochstapler, der weder singen noch komponieren noch spielen konnte; angenommen, dieser Evans hat eine Skandalstory geschrieben, um noch einmal ordentlich Reibach zu machen, nachdem klar war, dass die Band sich unwiederbringlich aufgelöst hatte – der Schaden hätte so hoch sein können, dass nicht einmal ein Konzern, geschweige denn ein einzelner Mensch ihn auszugleichen in der Lage gewesen wäre. Will sagen: Der Rechtsweg hätte in diesem Fall weniger Erfolg versprochen, als … ein beherztes Einschreiten der betroffenen Parteien.“

„Darauf könntest du deinen Hintern verwetten. Bevor ich dir das gestatte, müssen wir jedoch die Annahme in eine Gewissheit verwandeln.“

„Schwierig. Wir müssten das Manuskript lesen, um zu verstehen, ob beziehungsweise warum es aus dem Verkehr gezogen wurde.“

„Nicht notwendigerweise“, widersprach Veronica. „Es genügt, dass die Hintermänner der Tat – wenn es eine Tat gegeben hat – wussten oder glaubten, Mal Evans tanze aus der Reihe. Das impliziert, dass sie Grund zur Sorge hatten – Dreck am Stecken.“

„Weiß nicht… üble Nachrede kann den selben Effekt haben wie echte Skandale aufzudecken. Sofern wir nichts Konkreteres herausfinden, stecken wir erst einmal fest.“

Wieder senkte sich für einige Minuten Schweigen über den Tisch.

„Gibt es denn nirgends irgendwelche Kopien, ausschnittweise Vorabveröffentlichungen oder jemand, der das Original gelesen hat? Was hat Mal Evans selbst darüber gesagt? Du erwähntest gestern, er habe sein Buch über Rundfunk beworben.“

„Ich habe keine Zitate aus den Memoiren gefunden. 2005 sind in der Sunday Times ein paar harmlose Einträge aus seinem Tagebuch erschienen, die seine Witwe Lily freigegeben hatte. Die Familie schien chronisch an knappem Geld zu leiden. Evans verdiente wenig und war selten zuhause. Lily ließ durchscheinen, dass sie dies bis heute belastet und dass sie findet, die Band habe Mal schlecht behandelt. Er selbst, das zeigen die Zitate deutlich, hatte weniger Probleme damit. Er verstand sich bis zum Schluss als enger Freund der vier Musiker und blieb ein Fan der Gruppe. Dass er mit seinem Insiderwissen einmal richtig Kasse machen wollte, passt nicht recht ins Bild, das ich von ihm gewonnen habe. Du solltest dir die Interviews von Ende 1975 anhören. Er hat keinen Versuch unternommen, Skandale anzupreisen oder Sensationsgier zu wecken. Über die Beatles redete er ausschließlich in respektvollem Ton – und sie über ihn: Sie nannten ihn den ‚sanften Riesen‘.“

„Zwischen den Reden und den Taten liegen oft Welten“, warf Zach ein.

„Bei manchen Leuten mehr, bei anderen weniger. Ich würde diesen Mann zu letzteren zählen. Er hat sein ganzes Leben als Enthusiast gehandelt. Aber wie gesagt, mach dir selbst ein Bild.“

„Noch heute. Deine Schilderung klingt danach, als führe diese Fährte in eine Sackgasse oder auf einen Holzweg. Dem harmlosen Image stehen jedoch der gewaltsame Tod des Mannes und die vielen Ungereimtheiten um seine Hinterlassenschaften gegenüber. Legen wir gleich los? Bei der Gelegenheit kannst du mich endlich in die Mysterien von Pauls Studierzimmer einweihen.“

8) Tonbandspulen

Jemand rief ihren Namen.

„Veronica? Erde an Mars, bitte kommen!“ Ihr Vater.

Sie schüttelte den Kopf. „Entschuldige. Ich war gerade in Gedanken.“

„Würde es dir etwas ausmachen, das Warenbuch hereinzuholen? Henry wird uns helfen, die Kunden zu identifizieren, die ihre Bestellungen noch nicht abgeholt haben.“

„Schon unterwegs.“

Als Veronica nach einer halben Minute wieder ins Hinterzimmer zurückgekehrt war, standen Henry und Zach vor dem geöffneten Safe. Sie reichte ihrem Vater das Buch. Die beiden Männer gingen die Einträge einen nach dem anderen durch und verglichen sie mit den Objekten im Safe. Ihr Vater zückte einen kleinen Zettelblock und einen Kugelschreiber, die er stets in seiner Hemdtasche mitführte. Er schrieb die Klarnamen auf, die Henry ihm nannte. Daneben notierte er weitere Angaben, die ihm wichtig schienen. Als sie die Inventur abgeschlossen hatten, war die Spannung im Gesicht des Detektivs einer gewissen Zufriedenheit gewichen. Veronica konnte sich vorstellen, weshalb. Sie würden nicht auf der Ware sitzen bleiben, sondern sie zu Geld machen können – eine Sorge weniger auf ihrer Liste der zu erledigenden Dinge. Sie hatten einen kleinen Erfolg erzielt und ein bisschen mehr Klarsicht bezüglich des Milieus gewonnen, in das sie unversehens eingetaucht waren.

Der Ältere zeigte nun auf ein flaches, ungefähr dreißig Zentimeter messendes quadratisches Gehäuse aus grauem PVC. „Das dürfte für mich hinterlegt sein“, meinte er.

Zach nahm die Plastikkassette aus dem Regal. Auf einer der Schmalseiten stand in schwarzem Filzstift:‚Abbey Road – nicht zur Veröffentlichung‘ geschrieben. Er öffnete den Verschluss und schaute hinein. Wie erwartet enthielt das Gehäuse eine Tonbandspule. „Wie viel Spielzeit ist das – vier Stunden?“

„Viereinhalb“, antwortete Henry, „Die Rolle stammt aus dem August 1969, von einem der letzten Studiotermine der Beatles, und ich habe keinen Zweifel, dass darauf nie gehörte Musik und Gespräche verewigt wurden.“

„Was macht Sie so sicher?“, wollte Veronica wissen.

„Weil die ‚Experten‘ das Evans-Manuskript verschwiegen haben, das nun einmal mit im Koffer lag. Sie haben den Fund zum Schund deklariert, um Fragen nach den gefährlichen Erinnerungen eines Mannes zu verhindern, die den Beatles-Mythos als Schneewittchen-Story entlarvt hätten.“

„Eine steile These. Darauf verwetten sie wie viele Britische Pfund?“

„Einhundertachtzigtausend, wie mit Ihrem Onkel ausgemacht.“

Veronica pfiff durch die Zähne. „Wollen Sie nicht wenigstens einmal hineinhören, bevor Sie so viel Geld ausgeben, Henry? Unter der Verkaufstheke steht ein Tonbandgerät.“

„Das ist unnötig, danke. Als Freund und als Ehrenmann stehe ich zu meinem Wort – selbst wenn das Band leer wäre.“

„Ich hätte nichts dagegen, ein Ohr zu riskieren“, schaltete sich Zach ein.

„Lassen Sie mich einen anderen Vorschlag anbringen“, wehrte Henry ab. „Was halten Sie von der Einladung zu unserer nächsten Feier, auf der ich die interessantesten Stellen zum ersten Mal der Familie zu Gehör bringen werde? Es wäre gleichzeitig eine gute Gelegenheit, Ihre künftigen Kunden kennenlernen und sich in Liverpools Gesellschaft einzuführen.“

Weder Zach noch Veronica zeigten sich begeistert. Sie mussten jedoch zugeben, dass ein Mann, der so viel Geld für etwas ausgab, das Recht hatte, sich das gute Stück zuerst einmal ganz allein zu Gemüte zu führen. Bishop begleitete die beiden Zieglers zur Registrierkasse, wo er ihnen erläuterte, wie Paul das Geschäft üblicherweise zum Abschluss gebracht hatte.

„In einem der Fächer auf der linken Seite liegt ein Block mit Vertragsformularen. Den brauchen wir.“

Veronica stöberte in den dunklen Ablagen unter der Theke. Sie förderte den Block zutage. Die obersten Exemplare waren bereits ausgefüllt, wie sie beim Durchblättern feststellte. Auf dem dritten Blatt fand sie den gesuchten Namen, Thomas Henry Bishop. Als Vertragsgegenstand hatte Paul ‚1 Tonbandspule Abbey Road aus Evans-Archiv‘ eingetragen und als Kaufpreis standen tatsächlich einhundertachtzigtausend Pfund im entsprechenden Formularfeld. Käufer und Verkäufer hatten durch ihre Unterschrift den Vertrag zur Beschaffung des Objekts geschlossen. Zwei weitere Unterschriften standen noch aus: ‚Ware erhalten‘ und ‚Betrag erhalten‘.

Henry bestätigte den Erhalt der Ware. „Den Betrag werde ich Ihnen binnen eines Monats auf Pauls Geschäftskonto überweisen. Ich hoffe doch, Sie können bereits darüber verfügen.“

„Der Notar hat alles in die nötigen Bahnen gelenkt. Ich hatte bisher nur keine Gelegenheit, bei der Bank vorstellig zu werden. Das sollte natürlich nicht Ihr Problem sein, Henry. Wir sind Ihnen für Ihre Hilfe zu Dank verpflichtet.“

Der Ältere deutete eine Verbeugung an, reichte Vater und Tochter die Hand zum Abschied und setzte seinen Hut auf. Zach schloss ihm die Tür auf. Henry the Horse trat auf die Rainford Gardens hinaus, ein Tonband für einhundertachtzigtausend Pfund unter den Arm geklemmt, und entschwand in den Sonnenschein eines inzwischen weit fortgeschrittenen Morgens.


Der Besucher hatte ihre Planung ebenso wie ihre Konzentration über die Maßen beeinträchtigt. Zach beschloss daher, sich ein wenig die Beine zu vertreten, um den Kopf frei zu bekommen. Als er gegangen war, überlegte Veronica, ob sie einen der Punkte von ihrer Liste in Angriff nehmen könnte, fand jedoch keine rechte Lust dazu. Stattdessen stieg sie die Treppe hinauf in die Wohnung, um sich in Ruhe umzusehen. Es war still hier oben. Vom Betrieb auf den Straßen vor und hinter dem Haus war fast nichts zu hören. Falls sie hier einzogen, würden sie störungsfrei arbeiten und entspannen können. Es gab zwei mit Doppelbetten möblierte Schlafzimmer. Sie öffnete jenes, das sie aufgrund der persönlichen Gegenstände darin als Pauls Raum identifiziert hatte. Die Bettwäsche schien sauber, zeigte jedoch subtile Zeichen der Benutzung. Veronica prüfte die Schränke. Auf der Suche nach frischen Laken und Bezügen ließ sie ihre Finger über Pauls Kleidung wandern: Unterwäsche, Socken, Krawatten, Hemden, Hosen, Anzüge – alles wirkte elegant, wenn auch ein wenig altmodisch. Der Blick auf einige Etiketten bestätigte ihre Einschätzung, dass der Verstorbene dieselbe Größe getragen hatte wie ihr Vater.

Der Brustbereich einer der Mäntel war ausgebeult. Sie steckte ihre Hand in die Innentasche und zog einen langen prall gefüllten Geldbeutel heraus, wie ihn Markthändler normalerweise verwenden. Sie zögerte. War es indiskret von ihr, derart in die Privatsphäre eines ihr unbekannten Mannes einzudringen? Unsinn, schalt die Detektivin in ihr wirsch. Ihr Onkel war tot und ihr Vater hatte den Haushalt, der ihm rein rechtlich nun gehörte, noch nicht wirklich in Besitz genommen. Einen Augenblick stand sie unentschlossen vor dem offenen Kleiderschrank, dann siegte die gute Kinderstube. Ihr Vater hatte sie die Goldene Regel gelehrt, nach der sie so gut es in dieser verrückten Gesellschaft ging lebten. Sie behandelten andere, wie sie selbst behandelt werden wollten, und sie unterließen alles, was sie nicht ihrerseits durch die Hand eines Anderen erleiden wollten. Damit waren sie bisher ganz gut gefahren. Man wurde so nicht reich, aber man konnte jeden Tag reinen Gewissens schlafen gehen.

A propos schlafen gehen. Sie steckte den Geldbeutel ohne hineinzusehen in die Innentasche des Mantels zurück. Dann schnappte sie sich zwei Garnituren frischer Bettwäsche und tauschte die alten aus. Dasselbe wiederholte sie im Gästezimmer. Wo in Pauls Raum eine Schrankwand die Szene beherrschte, erstreckte sich hier ein maßgeschreinertes Regal, das fast zur Gänze mit Büchern gefüllt war. Zahlreiche Paperback-Romane mit allerlei Klassikern von Asimov bis Zola machten den Hauptbestand aus. Daneben standen ledergebundene und kartonierte Hardcover. Sie erkannte die Britannica und andere Nachschlagewerke. Einige Bände behandelten religionswissenschaftliche Themen. Manche sehr alt wirkende Schinken trugen lateinische Titel oder kryptische Symbole. Und natürlich gab es eine ganze Abteilung mit Musikbezug. Sie würde sich die Sammlung genauer ansehen, sobald sie etwas mehr zur Ruhe gekommen sein würde. Zwischen den beiden Fenstern, die warmes Licht durch die vordere Außenwand des Gebäudes ins Zimmer strömen ließen, stand ein schlichter Sekretär, den Veronica sofort mochte. Die vielen Schubladen, Türchen und Sortierfächer des Möbelstücks übten eine magische Anziehung auf sie aus. Sie hatte sich entschlossen: Sie würde ihrem Vater vorschlagen, vom Hotel in die Innenstadt zu ziehen, und sie würde ihn bitten, ihr diesen Raum zu überlassen.

Das Sahnehäubchen wäre allerdings ein Internet-Anschluss, dachte sie sich. Ihr Onkel mochte ein weit reichendes Netzwerk persönlicher Beziehungen besessen haben. Dass das allein gereicht hatte, um jene Wunder zu wirken, die man ihm nachsagte, bezweifelte sie. Hatten sie überhaupt einen Computer gesehen, als Miller, der Notar, sie durch die Wohnung führte? Es war erst gestern gewesen, aber sie hatten in den letzten Tagen so viele aufregende Informationen absorbieren müssen, dass die Erinnerung an ihre Tour wie durch ein gemustertes Chiffontuch betrachtet wirkte.

Direkt gegenüber wurde sie fündig. Ein großer Raum, dessen Wände auf allen Seiten vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen bedeckt waren, musste wohl das Studierzimmer gewesen sein. In der Mitte der schmaleren Seite gab es ein Fenster, vor dem ein moderner Liegesessel stand. Ein riesiger Schreibtisch beherrschte das Zentrum des Raums. Füße und Rahmen bestanden aus kräftig rotem Holz, die Tischplatte bestand aus milchig weißem Glas, in das auf der linken Seite ein versenkbarer 28-Zoll-Flachbildschirm eingelassen war. Zum zweiten Mal an diesem Tag stieß Veronica einen leisen Pfiff aus.

Sie setzte sich in den Science-Fiction-artigen Drehstuhl vor den Bildschirm und unterzog den Arbeitsplatz einer näheren Betrachtung. Sie sah keinen Rechner. Es mochte ein Kompaktgerät sein, das im Bildschirm oder auf dessen Rückseite installiert sein konnte; oder der Computer stand in einem anderen Zimmer. Praktischerweise sollte man ihn hier, von diesem Platz aus, einschalten können. Wo war der Knopf? Sie ließ ihre Finger über das Holz gleiten. Auf der Unterseite der Tischplatte spürte sie zwei kleine Erhebungen. Sie beugte sich hinunter und sah, wonach sie gesucht hatte. Sie drückte den rechten der beiden Knöpfe. Licht flammte unter dem milchweißen Glas der Oberfläche auf. Aha, dachte sie. Onkel Paul hat wohl des öfteren Baupläne, Dias oder ähnliches angeschaut. Dieses Möbel wäre dabei sicherlich eine große Hilfe gewesen.

Der andere Knopf musste den Computer hochfahren, vermutete sie.