19) Und täglich grüßt der Peppers-Code

Zach nahm das Sgt. Peppers-Album zur Hand, um es eingehend zu studieren, drehte es, um auch die andere Seite zu betrachten und nickte dann. Er reichte es an Veronica weiter. Auch diese konnte nicht umhin, den Beschreibungen Maria Borgheses zuzustimmen.

„Das ist aber noch längst nicht alles. Halten Sie sich fest: Eine DNA-Probe Sir Pauls, die wegen einer Vaterschaftsklage aus Deutschland genommen wurde, stimmte nicht mit einer Probe aus den frühen Sechzigern überein. Eine Handschriftenanalyse belegte, dass die Unterschriften aus den Sechzigern und den Achtzigern nicht von derselben Person stammen – die spätere hat ein Rechtshänder gezeichnet; Paul war jedoch Linkshänder. Eine Stimmanalyse kam zum gleichen Schluss: nicht derselbe Mann. Als Sir Paul 1980 in Japan wegen Drogendelikten festgenommen wurde, stellten die Beamten fest, dass seine Fingerabdrücke nicht denen entsprachen, die 1960 im Zusammenhang mit einer Anzeige wegen Brandstiftung in Hamburg genommen wurden.“

„Atemberaubend. Wieso befindet sich der Mann dann noch auf freiem Fuß?“

„Die Klage in Deutschland wurde als verjährt zurückgewiesen. In Japan hat die britische Regierung zu seinen Gunsten eingegriffen. Die unabhängigen Untersuchungen zu Stimme und Aussehen wurden von den sogenannten Qualitätsmedien nur punktuell aufgegriffen und schnell wieder fallengelassen. All jene, die trotz allem nicht locker lassen, erledigt in den Augen der Weltöffentlichkeit das Wörtchen ‚Verschwörungstheorie‘.“

„Mit dem sind wir spätestens seit 2020 bestens vertraut. Es ist infam, aber Sie haben recht“, stimmte Zach zu. „Es spielt keine Rolle mehr, was man belegen und beweisen kann. Sobald man der Mehrheit widerspricht – die unhinterfragt glaubt, was die Massenmedien ihnen erzählen – wird man als Spinner abgestempelt; als ob Wahrheit das Ergebnis von Volksabstimmungen wäre.“

Maria Borghese hatte den Detektiv aufmerksam angeblickt, während er sprach. Sie fragte: „Und Sie, Signore Ziegler? Auf welcher Seite stehen Sie? Schlägt Ihr Herz für die Mehrheit oder für die Minderheit? Stimmt die offizielle Story oder haben die Infokrieger mit ihrer alternativen Sicht auf die Dinge recht?“

„Ich habe keinen Einsatz in diesem Spiel. Mich interessiert die Wahrheit, egal wohin sie mich führt. Sie besitzt keine zwei Seiten, sie macht keine Kompromisse. Wir alle sehen die Wirklichkeit durch unsere persönliche Brille und kommunizieren das, was wir von ihr wahrnehmen, solange es unsere persönliche Agenda fördert. Es ist unvermeidlich, weil es menschlich ist. Daher kann die Verantwortung für meinen Geist – für Wahrnehmung, Verarbeitung, Erinnerung und Weitergabe sinnlicher Eindrücke – immer, ohne Ausnahme, nur bei mir selbst liegen. Mein Herz schlägt für die, die sich aufrichtig Mühe geben, nach dieser Einsicht zu leben. Der Rest kann mit seinen Glaubensbekenntnissen von mir aus zum Teufel gehen.“

„Genau das tut er, glauben Sie mir. Genau das tut er buchstäblich. Aber sparen wir uns das Gespräch für einen anderen Tag auf. Ich bin höchst erfreut, in Ihnen Geschwister im Geiste gefunden zu haben. Ich hege keine Zweifel, dass wir wunderbar zusammenarbeiten werden. Sie sind würdige Nachfolger Signore Campbells.“

„Danke Maria – ich darf Sie doch so nennen, oder?“, sagte Veronica. „Wir fühlen uns Ihnen ähnlich verbunden. Ich werde natürlich meine eigenen Nachforschungen anstellen müssen. Wenn es stimmt, was Sie uns eben mitgeteilt haben, ändert das alles. Die Antwort auf meine ursprünglichen Fragen steht jedoch noch offen.“

„Sicher – Veronica“, antwortete die Italienerin mit einem sanften Lächeln. „Sie möchten wissen, was der Code auf der Basstrommel besagt?“

„Ja. Und weshalb Onkel Paul ihn an die Wand gehängt hat.“

„Unter dem Porträt des jungen Paul McCartney, wohlgemerkt. ‚I ONEI X‘ steht für 11 IX, den elften September – ein wichtiges Datum in der freimaurerischen Numerologie. Zufälle kommen in den Kreisen nicht vor. Diese Leute planen für Jahrhunderte im Voraus. Ein Todesfall am 11.9. stellt eine rituelle Opferung dar. ‚HE ◊ DIE‘ erklärt sich selbst, ist jedoch leicht inkorrekt. Die Raute zeigt auf Billy Shears, den lebendigen McCartney-Darsteller, nicht auf den verstorbenen Paul McCartney – ganz im Gegensatz zu dem Arrangement Ihres Onkels.“ Sie deutete mit dem Daumen über die Schulter auf die Wand neben der Tür. „Signore Campbell arbeitete unter der Prämisse, dass der Peppers-Code die Wahrheit sagt. Das machte es einfacher, die ausgefallenen Wünsche seiner Kunden zu erfüllen, die fast alle der Überzeugung sind, dass Paul McCartney 1966 starb. Er hat mir nie gesagt, weshalb er das Bild aufgehängt hat, aber ich glaube, es sollte ihn täglich… zwicken.“

„Sie sagten doch, McCartney sei bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Wie passt ein Unfall zu einer geplanten Opferung?“, warf Zach ein.

„Als ich in Deutschland zur Schule ging, durchliefen wir ein Verkehrstraining für Fahrradfahrer. Ein paar Polizisten zeigten uns, wie man Unfälle vermeidet. Ich erinnere mich noch genau an den Titel einer Broschüre, die sie damals ausgeteilt haben: Unfall ist nie Zufall! Das gilt um so mehr, als der Fahrer des DB6 an sein schicksalhaftes Ende glaubte, und als seinem Schicksal möglicherweise nachgeholfen wurde, wie die Shears-Memoiren andeuten.“

Veronica schüttelte den Kopf. „Bei aller Liebe zur Wahrheit, ich glaube, wir haben heute Früh mehr erfahren, als wir in solch kurzer Zeit verarbeiten können. Ich habe tausend neue Fragen, aber mir platzt gleich die Schädeldecke weg. Lasst uns das Thema wechseln und eine Kleinigkeit essen.“

Der Detektiv und die Italienerin stimmten zu. Während die beiden über Einzelheiten der Zusammenarbeit diskutierten, holte Veronica Saft und Sandwiches aus der Küche. Als sie sich schließlich wieder gesetzt hatte, nahm sie sich lediglich eine kleine Käseecke, an der sie herumzuknabbern begann. Dem Gespräch folgte sie nur mit einem Ohr. Ihre Gedanken befanden sich hunderte Meilen entfernt, auf einer mondbeschienenen, von alten Bäumen gesäumten kurvigen Landstraße.


Kurz nach zehn Uhr desselben Montag Morgens schneite wie erwartet auch Thomas Henry Bishop alias Henry the Horse herein. Maria Borghese putzte gerade das Hinterzimmer. Der Boden des Ladens, den die Italienerin gewischt hatte, glänzte noch feucht. Henry nahm den Hut ab, grüßte die beiden Zieglers gut gelaunt und stellte fest: „Wie ich sehe, haben Sie eine Reinigungskraft gefunden.“

„Wir hatten Glück und konnten das Vertragsverhältnis mit Pauls Putzhilfe übernehmen“, erwiderte Zach.

„Oh, dann arbeitet Semolina also weiterhin hier? Ich freue mich sehr für sie. Sie werden sehen, die Frau ist ein Schatz!“

„Semolina? Wer ist Semolina?“, fragte Zach verwundert. „Nein, unsere Aushilfe heißt Maria Borghese.“

Henry lachte verlegen. „Entschuldigen Sie, dass ich Verwirrung stifte. Maria ist natürlich ein geschätztes Mitglied unserer Familie und führt als solches den Namen Semolina Pilchard. Sie haben sich noch gar nicht mit ihr über die Beatles unterhalten?“

„Sie haben keinen Ahnung… doch, vermutlich haben Sie mehr Ahnung als wir, schließlich haben Sie uns vor den dunklen Ecken der Bandhistorie gewarnt. Wir sind jedoch in der Kürze der Zeit noch nicht dazu gekommen, mit Maria über die Sammlerszene in Liverpool zu sprechen.“

„Tun Sie das, Zachary. Ich vertraue Semolinas Urteil uneingeschränkt. Da ich gerade hier bin, werde ich gerne auch selbst Auskunft erteilen.“

„Nun, wir hatten gestern Morgen das zweifelhafte Vergnügen, einer der Kreaturen von Mr Kite zu begegnen. Er lud uns für heute auf Kites Schloss ein.“

„Dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Ich komme gerade von meinem montäglichen Frühstück zurück und möchte Ihnen lediglich mitteilen, dass der Betrag für die Bänder angewiesen ist.“

„Sehr freundlich von Ihnen, danke!“, erwiderte Zach. „Konnten die Aufnahmen denn Ihre Erwartungen erfüllen?“

„Über die Maßen. Die Gespräche zwischen den Musikern fand ich äußerst kurzweilig. Sie arbeiteten tatsächlich an zwei unbekannten Stücken. Die Entscheidung, sie nicht auf das Album zu packen, war gerechtfertigt, aber wer weiß, was aus ihnen geworden wäre, wenn die Jungs noch ein wenig länger daran gefeilt hätten.“

„Die Beatles waren genial. Mir fällt kein anderes Wort dafür ein.“

„Die Musik ist zweifelsohne großartig, aber das Schreiben ist den Jungs nicht leicht gefallen. Es gibt genügend Hinweise, dass vieles aus der Feder von Ghostwritern stammt und ein guter Teil der Aufnahmen von Sessionmusikern eingespielt worden ist.“

Zach stöhnte. „Henry, nimm‘s mir nicht übel, aber wir haben von Maria – Semolina – heute eine volle Breitseite abbekommen. Veronica und ich werden das erst einmal verifizieren und verarbeiten müssen, bevor wir uns auf weitere Hiobsbotschaften einlassen können.“

„Selbstverständlich. Gut Ding will Weile haben, Zachary. Falls Sie den Fab Store weiterführen, bleibt Ihnen viel Zeit, die weniger erfreulichen Anblicke hinter der schönen Kulisse zu erkunden. Wie haben Sie sich denn nun entschieden? Werden Sie den Laden wieder aufmachen?“

„Ja, wir werden mit Semolinas Hilfe und dank Pauls Grundstock an Waren und Ersparnissen in der Lage sein, den Versuch zu wagen. Immerhin sind wir schon drei Mitgliedern der Familie begegnet, und morgen lernen wir das vierte kennen.“

„Ach morgen erst? Ich dachte, Sie wurden für heute eingeladen. Wann werden Sie denn in Wallace Castle erwartet?“

„Ich habe den Termin auf morgen um elf Uhr verschoben.“

Henry zeigte ein beeindrucktes Gesicht. „Sie sind äußerst couragiert, Zachary. Das gefällt mir. Strapazieren Sie die Geduld des Maestro jedoch nicht zu sehr. Er besitzt nur einen begrenzten Sinn für Humor.“

„Maestro? Wohl eher Zirkusdirektor, dem Clown nach zu urteilen, den er vorgeschickt hat.“

„Wie ich bereits andeutete, verfügt Kite über familiäre Verbindungen und finanzielle Mittel, die es angeraten sein lassen, ihn nicht unnötig zu reizen. Behalten Sie im Auge, dass er mit seinen Aufträgen wohl den größten Teil von Pauls Umsatz generiert hat. Und er greift anderen Sammlern gelegentlich unter die Arme, was Ihnen letztlich ebenfalls zugute kommt.“

„Schon gut. Ich kann es lediglich nicht leiden, wenn man mich einschüchtern und herumkommandieren will.“

„Hat der Bote Ihnen mitgeteilt, worin der Grund oder Anlass der Einladung besteht?“

„Nein. Wir können jedoch sicher sein, dass er über das Manuskript reden will.“

„Er wird auch wissen wollen, wie es mit dem Fab Store weitergeht. An seiner Stelle würde ich vorzufühlen versuchen, mit wem ich es künftig zu tun habe.“

„Würden Sie. So so…“ Zach zwinkerte. Sein rechter Zeigefinger richtete sich auf den älteren Mann, der Daumen fuhr herab wie der gespannte Hahn eines Revolvers.

Bishops Augen weiteten sich. „Erwischt. Zugegebenermaßen bin ich Kite ausnahmsweise eine Nasenlänge voraus.“

„Und Sie stellen sich etwas geschickter an. Wissen Sie, Henry, ich habe kein Problem damit, schlauen Menschen die Früchte ihrer Bemühungen zu überlassen. Es geht mir jedoch entschieden gegen den Strich, wenn jemand eine Agent-Smith-Nummer abzieht.“

18) Die Tür zum ersten Kreis der Hölle

Die Worte der Italienerin hatten Veronica in jenen verwirrten Zustand zurückgeworfen, in der sie sich bei der Entdeckung des Peppers-Codes am frühen Morgen befunden hatte. Die Kakophonie der Stimmen in ihrem Kopf betäubte sie und hinderte sie daran, einen klaren Gedanken zu fassen. Wie in Trance packte sie die Schallplatte, den kleinen runden Rahmen und den Taschenspiegel zusammen und folgte ihrem Vater und Maria nach hinten in den Raum, in dem ihr Onkel ermordet worden war. Sie schloss die Tür. Ein runder Fleck auf der Tapete daneben markierte die Stelle, an der der runde Rahmen gehangen hatte. Einen Moment lang war ihr Geist völlig leer. Dann schaute sie auf ihre Hände hinab. Sie sah das kleine Bild… Und jetzt?… Sie hängte es an seinen Platz zurück. Ihre Augen lasen den Schriftzug: „I ONEI X HE ◊ DIE“, lasen ihn erneut: „I ONEI X HE ◊ DIE“, erneut: „I ONEI X HE ◊ DIE“, erneut. „I ONEI X HE ◊ DIE.“

Sie drehte sich um. Maria Borghese setzte sich gerade in den Sessel. Ihr Vater ließ sich auf das Sofa nieder. Seine freudige Stimmung war innerhalb von Sekunden völlig verflogen. Sein Gesicht wirkte aschfahl. Veronica glaubte zu wissen, was in ihm vorging. Sie standen wieder an jenem finsteren Abgrund, von dem Henry gesprochen hatte, und ihm graute davor, was sie darin entdecken mochten.

„Signorina, Signore Ziegler,“ begann die Italienerin zu sprechen, „ich bin ein Mensch, der sich bemüht, die Dinge realistisch zu betrachten. Ich enthalte mich übertriebener Darstellungen. Davon hängt der Erfolg meiner Arbeit ab. Verstehen Sie daher, was ich nun zu sagen habe, nicht als aufgeblasene Wichtigtuerei. Dies sind Tatsachen von höchster Brisanz. Wenn Sie sie in ihrer vollen Bedeutung erfasst haben, werden Sie die Welt nie wieder so sehen können, wie weit über neunzig Prozent der Leute da draußen.“

Betretene Stille.

„Ich hätte mir gewünscht, unseren ersten Tag der Zusammenarbeit leichtherziger zu verbringen. Welch ein Unglück, mit der Tür derart ins Haus fallen zu müssen. Vielleicht ist es aber so am besten, denn Sie werden von nun an ohnehin fast täglich damit befasst sein.“ Maria Borghese legte wieder eine Pause ein. Schließlich beugte sie sich vor. Von einem zur anderen schauend fragte sie: „Haben Sie je das Gerücht gehört, dass Paul McCartney tot sein soll?“

Veronica stöhnte leise. „Ich habe es geahnt!“

Zachs Kopf hüpfte mehrfach auf und ab. „Erst vorgestern hat mich der Chef der Mordkommission mit der Nase darauf gestoßen. Ich bin mir fast sicher, es schon vor Jahrzehnten gehört aber nicht ernst genommen zu haben.“

„Hat er das?“, fragte Maria erstaunt.

„Ja. Er tat den Gedanken als Revolvergeschichte ab.“

„Der gute Desmond gehört zu jenen, die es besser wissen müssten. Ich behaupte darüber hinaus, dass er es tatsächlich besser weiß.“

„Moment mal, Sie wollen sagen, dass hinter den Gerüchten mehr steckt als Sensationsgier?“ Veronica.

Statt einer Antwort schloss die Italienerin langsam die Augen und öffnete sie dann ebenso langsam wieder.

„Aber… wie geht das? Wir haben mit dieser Idee gespielt, weil ihre Enthüllung natürlich den besten Grund abgegeben hätte, Mal Evans und andere Plappermäuler aus dem Verkehr zu ziehen. Wenn ich überlege, wie das praktisch vonstatten gehen soll, einen globalen Superstar durch ein Double zu ersetzen, versagt jedoch meine Vorstellungskraft. Milliarden Menschen richteten täglich ihre Augen auf diese Person. Irgendwer hätte Alarm geschlagen.“

„Milliarden Menschen richteten ihre Augen auf mediale Bilder, unter denen ‚Paul McCartney‘ geschrieben stand. Sie sahen, was man ihnen zu sehen aufgetragen hatte. Obgleich man verschiedene Bilder von Beatle Paul nebeneinander legen kann, die belegen, dass im Lauf der Jahre mehrere Doubles eingesetzt wurden, sehen die Leute bis heute, was sie zu sehen erwarten. Die Verwendung von Doppelgängern ist in Politik und Unterhaltung seit langem gängige Praxis. Stalin und Saddam dürften die bekanntesten Beispiele hierfür darstellen. Auch gefälschte Film- und Fotoaufnahmen sind weder eine Selten- noch eine Besonderheit. Denken Sie an all die Prominenten, die in echt ganz anders aussehen als auf den Hochglanzseiten der Modemagazine. In Zeiten von Photoshop und Deep Fakes geraten authentische Bilddokumente langsam in die Minderheit. Der leiblichen Person kommen dagegen nur sehr, sehr wenige Leute nahe genug, um Unterschiede wahrnehmen zu können.“

„Okay, aber weshalb spielen eben jene wenigen alle mit? Weshalb sagt niemand: ‚Das ist nicht unser Vater‘? ‚Das ist nicht mein alter Freund‘?“

„Die Antwort hierauf mag für verschiedene Zeugen verschieden lauten. Evans‘ Schicksal ist vielleicht die extremste Variante. Man muss bedenken, dass einflussreiche Menschen es häufig vorziehen, unter ihresgleichen zu bleiben, in einer Art geschlossenem Club, in dem jeder weiß, wann er dichtzuhalten hat. Kontrolle über die Presse kann verhindern, dass unliebsame Nachrichten die Runde machen. Familienmitglieder werden das Andenken ihres Verwandten nicht durch Skandale beschmutzen wollen. Geschäftspartner haben Verluste zu befürchten, wenn bekannt wird, dass die Gans, die goldene Eier für sie legte, gestorben ist. Die Regierung könnte Unruhen und Selbstmordwellen befürchten. Gründe mitzuspielen gibt es also genug. Viel faszinierender finde ich, dass sowohl die Band als auch ihr nahe stehende Personen unzählige dezente Hinweise gegeben haben – wie das Cover des Sgt. Peppers Albums –, die entweder nie vom Mainstream aufgegriffen worden sind oder einfach als Unsinn abgestempelt wurden.“

Zach richtete sich auf. „Das ist ein Punkt, der mir widersprüchlich vorkommt. Es erscheint mir unlogisch, dass man einerseits im Geheimen einen fliegenden Wechsel hinlegt, möglicherweise inklusive der Beseitigung unliebsamer Zeugen, und gleichzeitig, buchstäblich mit Pauken und Trompeten, die Neuigkeiten bekannt macht.“

„Auch hierfür mag es verschiedene Gründe geben“, erläuterte Maria Borghese. „Man mag gehofft haben, dass man die Öffentlichkeit langsam auf die schlechten Nachrichten vorbereiten kann. Oder es könnte sich um ein Katz- und Mausspiel handeln, bei dem unter Beweis gestellt werden sollte, was unter der Nase der Öffentlichkeit alles möglich ist. Die Band wird zur Verschwiegenheit verpflichtet worden sein, nutzte jedoch jede Möglichkeit, die Wahrheit unter dem Deckmantel der Fiktion hinauszuposaunen. Und vielleicht spielte auch die Eitelkeit des Ersatzmannes eine Rolle, der der Nachwelt zur Kenntnis geben wollte, wer in Wirklichkeit hinter der genialen Musik der Spätphase der Beatles steckte.“

„All diese vielen ‚Vielleichts‘,“ beschwerte sich Veronica. „Weiß man denn nichts Konkretes? Wann und wie soll McCartney gestorben sein? Wer ist der Mann, der ihn ersetzt haben soll?“

„Nun, was man konkret weiß, können Sie in allen gängigen Biografien nachlesen. Die Beatles legten am 29. August 1966 das letzte Konzert ihrer Geschichte im Candlestick Park in San Francisco hin und kehrten am folgenden Tag nach London zurück. Sie ließen verlauten, dass sie nicht mehr live auftreten wollten. Die vier Musiker widmeten sich sofort unterschiedlichen Projekten. Bis zur Veröffentlichung des Sgt.-Peppers-Albums im Mai 1967 gaben sie nur sehr wenige Interviews und traten so selten im Fernsehen auf, dass ein Gerücht die Runde machte, die Beatles hätten sich aufgelöst. Das Fanmagazin The Beatles Book Monthly reagierte im Februar 1967 auf ein weiteres Gerücht: Dass Paul McCartney am 7. Januar bei einem Unfall auf der vereisten Autobahn M1 ums Leben gekommen sein soll, sei völlig unwahr, schrieben sie. Der Beatles-Pressesprecher habe bekannt gegeben, dass er den Musiker am Telefon gesprochen habe. Paul habe mitgeteilt, dass sein schwarzer Mini-Cooper heil in der Garage stehe.“

„Und das war gelogen“, warf Zach halb fragend, halb feststellend ein.

„Aber nein, die Meldung, dass die Gerüchte falsch waren, entsprach der Wahrheit. Sie ist ein Paradebeispiel der Irreführung durch falsche Fährten, eine Nebelkerze, wie sie im Buche steht. Es geschah nicht am 7. Januar 1967, sondern am 11. September 1966, weniger als zwei Wochen nach der Rückkehr aus den USA. Paul McCartney besaß keinen schwarzen sondern einen lindgrünen Austin Mini, des weiteren einen silberblauen Aston Martin DB5 und einen dunkelgrünen Aston Martin DB6 – den Unfallwagen. Er verunglückte nicht auf der M1, sondern auf der Dewsbury Road, einer kurvigen Landstraße. Das Gerücht über Pauls Tod am 7.1.67 auf der M1 in einem schwarzen Mini Cooper ist tatsächlich völlig aus der Luft gegriffen.“

Der Detektiv schnaubte. „Brillant formuliert, man muss es eingestehen. Was macht Sie nun so sicher, dass Ihre Version der Geschichte die richtige ist?“

„Wir haben den Mann, der den Toten ersetzte.“

„Jetzt wird‘s spannend“, sagte Zach. „Wie heißt er denn?“

Die Italienerin grinste. „Er nennt sich Sir Paul McCartney.“

Zach stieß ein bellendes Lachen aus. Veronica kicherte. „Kein Scheiß!“, witzelte sie.

Maria Borghese fiel in ihr Lachen mit ein. Dann fuhr sie fort: „Das Titelstück des Sgt.-Peppers-Albums nennt uns seinen Namen: Billy Shears. Zumindest ist das einer seiner Namen. Er ist nicht nur ‚der Mann mit den tausend Stimmen‘, wie wir vom Song The Fool On The Hill erfahren, ein großartiger Stimmimitator, sondern auch ein Mensch mit zahlreichen Namen, darunter William Wallace Campbell, William Shepherd, Billy Pepper, Apollo Wermouth, Vivian Stanshall und Phil Ackrill. Später kamen neben der Persona McCartney weitere hinzu, beispielsweise Percy ‚Thrills‘ Thrillington. Im Film Magical Mystery Tour verrät er uns, dass er 1937 geboren wurde und somit fünf Jahre älter ist als der echte Paul. Billy macht gelinde gesagt wenig Hehl daraus, dass er für einen toten Mann eingesprungen ist. Das fängt bei der Begräbnisszene auf dem Peppers-Album an, das unter seiner Regie entstanden ist – den Code mit dem Todesdatum haben Sie ja schon entdeckt, Signorina –, zieht sich ab diesem Zeitpunkt wie ein roter Faden durch hunderte von Textstellen in Songs, kommt ständig in zweideutigen Interviewäußerungen zum Vorschein und findet seinen Höhepunkt in einer fast siebenhundert-seitigen Autobiografie, die an Offenheit kaum zu überbieten ist.“

„Sie machen Witze!“, staunte Veronica. „Einer der bekanntesten Männer der Welt schreibt seine Memoiren, aber niemand nimmt das Geständnis zur Kenntnis, dass Sir Paul eigentlich Billy Shears – oder wie auch immer – heißt?“

„Signorina Veronica, er verkauft das Buch natürlich nicht unter seinem Beatles-Namen. Das würde ihm mit Sicherheit große rechtliche Schwierigkeiten eintragen, wie er im Text betont. Der Titel lautet The Memoirs of Billy Shears, wurde von einem gewissen Thomas E. Uharriet ‚kodiert‘, und behauptet im Impressum, ein fiktiver historischer Roman zu sein. Im Text dagegen bezieht er sich immer wieder auf ‚diesen sogenannten Roman‘, eine Literaturform, die er habe wählen müssen, um Tacheles reden zu können. Dank dieser Konstruktion kann er jederzeit glaubhaft behaupten, es sei alles nur fiktiv – eine reine Erfindung.“

„Nun, vielleicht ist es das. Woher wissen wir, dass die Memoirs keine Erfindung dieses sogenannten Kodierers sind?“, hakte Zach nach.

„Das Buch erschien seit 2009 in vier Auflagen. Es trägt das Bild McCartneys auf dem Umschlag, legt dem Musiker Worte in den Mund, unterstellt ihm Mitwisserschaft an einem Verbrechen und zitiert mehr als zulässig aus den Texten seiner Kompositionen. In vierzehn Jahren hat Sir Paul nie rechtliche Schritte dagegen eingeleitet. Der Verlag heißt Peppers Press. Mit ein bisschen Recherche erfährt man schnell, dass es sich um eines der vielen Tochterunternehmen von Macca Corp. handelt, dem Konzern, der Sir Pauls Aktivitäten den Rahmen gibt. Der Kodierer ist Geschäftsführer des Verlages. Das Buch erschien am selben Tag wie die Neuauflage der Beatles-Remasters und wird zusammen mit Sir Pauls offiziellem Buch The Lyrics promotet, das vor zwei Jahren veröffentlicht wurde.“

„Okay, starke Indikatoren für die Annahme, dass es sich bei Sir Paul und Billy Shears um dieselbe Person handelt“, gestand Veronica zu. „Was ist mit handfesten Beweisen?“

„McCartneys Gesichtsgeometrie hat sich von Mitte 1966 bis Anfang 1967 stark verändert. Manches kann auf Operationen und Implantate zurückgeführt werden, manches andere aber auch nicht. Sein Gesicht ist länger geworden, die Ohren ebenfalls; sie stehen nun weniger ab, sind am unteren Ende nicht mehr mit der Wange verbunden und unterscheiden sich in weiteren Details, die man nicht umoperieren kann. Seine Gesamtgröße ist um etliche Zoll länger geworden. Die Augen seiner Freundin Jane Asher befanden sich vorher über der Höhe seines Mundes, später auf Kinnhöhe. Im Vergleich zu Mal Evans war er ursprünglich einen halben Kopf kleiner als der Roadie, später fehlte wenig und er wäre ihm ebenbürtig gewesen. Als die Beatles noch zusammen auftraten, waren George, Paul und John ungefähr gleich groß. Spätere Fotos und Filme zeigen deutliche Größenunterschiede zwischen dem falschen Paul und den anderen. Das fängt schon bei Front und Rückseite des Peppers-Covers an. Überzeugen Sie sich selbst!“

17) Damenbesuch

Zach schneite um sieben in die Küche, in der es angenehm nach einer warmen Morgenmahlzeit roch. Entgegen seiner üblichen Stimmung um diese Uhrzeit grüßte er Veronica fröhlich. „Na, schon wieder die Erste? Hast du nicht gut geschlafen?“, fragte er.

„Vielleicht ein bisschen zu lang,“ entgegnete sie, „aber sonst ganz okay. Wie steht‘s mit dir? Warum bist du so aufgekratzt? Du hast doch den Clown noch gar nicht gefrühstückt, den ich dir servieren wollte.“

„Ich? Aufgekratzt? Dummes Zeug. Ich kann es bloß kaum erwarten, mich in diese aufgabenreiche Woche zu stürzen.“

„Die zufällig mit gut aussehendem Damenbesuch beginnt.“

„Nonsens!“, polterte er.

„Süß, wie er sich windet.“ Sie zwinkerte. Zach zog eine Grimasse und stieß einen Laut aus, der wie „Hrmpf“ klang. Dann ließen sie das Thema ruhen und setzten sich. Veronica erläuterte die Fragen, die sie ihrer Meinung nach Maria Borghese stellen sollten. Es war ihr daran gelegen, einige Zusammenhänge zu klären, die zu beunruhigenden Folgerungen führen konnten. Wenn Maria ihre Arbeit für den Fab Store wahrheitsgemäß geschildert hatte, musste sie irgendwann auf dieselben irritierenden Tatsachen gestoßen sein. Sie sollte zumindest wissen, welchen Fäden zu folgen die Zieglers der Lösung des Geheimnisses um das verschwundene Manuskript und den Tod Paul Campbells näher bringen konnte. Zach erklärte sich einverstanden.

Gegen acht Uhr stiegen sie die Treppen hinab. Das Licht im Hinterzimmer brannte noch und die Tür zum Verkaufsraum, der ebenfalls hell erleuchtet war, stand offen. Ihr frühmorgendliches Selbst hatte beim Rückzug aus dem Gedankensturm wenig Sinn fürs Detail walten lassen, gestand Veronica sich ein. Sogar die Schallplatte, der Taschenspiegel und das kleine rund gerahmte Bild lagen noch dort, wo sie sie zuletzt betrachtet hatte. Der Seitenblick und das spöttische „Tsk tsk!“ ihres Vaters ärgerten sie. Sie war stolz auf ihren kühlen Kopf, den sie normalerweise selbst in emotional anstrengenden Phasen ihrer detektivischen Arbeit zu bewahren verstand. Den Schock, den sie angesichts des Peppers-Codes und seiner Implikationen empfunden hatte, betrachtete sie als Blöße. Sie würde alles daran setzen, die Scharte auszuwetzen.

Maria stand bereits vor der Tür. Sie unterhielt sich mit einer anderen Frau. Als die Türglocke klingelte, unterbrachen die Frauen ihr Gespräch und schauten herüber.

„Bongiorno, Signore Ziegler!“, grüßte Maria Borghese mit typisch italienischer Melodik.

„Guten Morgen“, sagte auch die andere Frau, eine vielleicht Vierzigjährige, deren Stimme und Gebaren an ein kleines Vögelchen erinnerte.

„Guten Morgen, die Damen!“, grüßte Zach gut gelaunt zurück. „Endlich haben wir ordentliches britisches Wetter“, fuhr er nach einem kurzen Fingerzeig auf die trübe Suppe über ihren Köpfen fort. „Der ewige Sonnenschein ging mir schon langsam auf die Nerven.“

Die Frauen lachten heiter und nickten.

„Lassen Sie sich nicht stören. Ich möchte nur mitteilen, dass wir nun bereit sind. Sie dürfen jederzeit hereinkommen, Mrs Borghese.“

„Grazie. Es gibt nichts Wichtiges. Wir sind uns nur zufällig begegnet und haben ein paar Worte gewechselt. Ich bin sofort bei Ihnen.“

Die Frauen verabschiedeten sich mit Wangenküsschen, dann nahm die Italienerin die drei Stufen zum Laden im Eilschritt. Drinnen angekommen grüßte sie die beiden Zieglers erneut. Sie gab zunächst Zach, dann Veronica die Hand. „Signore Ziegler, wie schön, Sie wiederzusehen.“

„Die Freude ist ganz meinerseits, Mrs Borghese. Die Käse-Spaghetti schmeckten ausgezeichnet. Doch wer hätte gedacht, dass Sie zu so viel mehr fähig sind?“

„Obwohl ich dem Koch ein paar Rezepte geschenkt habe, trage ich keine Verantwortung für die Qualität der Speisen im Restaurant. Wenn ich darf, werde ich hier eines Abends original schwäbisches Essen für Sie beide kochen.“

„Wir werden Sie beim Wort nehmen,“ kündigte Zach an, „doch lassen Sie uns zunächst über Geschäftliches reden. Falls Sie als Putzhilfe bei uns anfangen möchten, können sie sofort zu denselben Bedingungen beginnen wie bei Mr Campbell – oder möchten Sie nachverhandeln?“

„Sehr freundlich Signore Ziegler. Ich bin mit dem alten Vertrag zufrieden. Signore Campbell hat die Bezahlung ein Mal im Jahr an die Inflation angepasst. Ich werde täglich den Boden des Ladens wischen, bei Bedarf das Schaufenster putzen und die Einrichtung abstauben. Montags reinige ich das Hinterzimmer und die Wohnung.“

„Ganz wunderbar, Mrs Borghese. Haben Sie zufällig eine Kopie des Vertrags dabei? Ich werde ihn auf meinen Namen neu aufsetzen.“

Die Italienerin öffnete ihre Handtasche, zog einen doppelt zusammengefalteten Briefbogen heraus und reichte ihn dem Detektiv. Zach bemerkte die präzisen, eleganten Bewegungen ihrer Hände. Er nahm das Papier entgegen und gab es ohne hineinzuschauen an seine Tochter weiter. „Kümmerst du dich bitte drum?“

„Klar.“ Veronica zwinkerte der neuen alten Angestellten zu. Maria Borghese erwiderte die Geste mit einem warmen Lächeln.

„Frau Borghese,“ fuhr Zach fort, „Veronica erzählte mir, dass Sie erwähnt hätten, Sie seien mit den Stammkunden des Fab Store vertraut und an den Recherchen zur Beschaffung von Memorabilien beteiligt gewesen. Haben wir Sie da richtig verstanden?“

„Si, Signore Ziegler. Ich habe für Signore Campbell die Abrechnungen geschrieben und seine Unterlagen in Ordnung gehalten. Außerdem bin ich seinen Kundinnen und Kunden allen persönlich begegnet. Manchmal nehmen sie meine Recherchedienste in Anspruch. Ich werde zu Sammlertreffen eingeladen. Daher kenne ich die Gewohnheiten, die Interessen und die Zuverlässigkeit der Leute sehr genau.“

„Wie lief das ab, wenn Sie Mr Campbell halfen, ein Objekt aufzutreiben? Wie darf ich mir das praktisch vorstellen?“

„Ein Kunde oder Signore Campbell kamen mit einer Idee zu mir und fragten mich um Rat. Meistens konnte ich ihnen etwas zu den Erfolgsaussichten oder auch zu einem möglichen Suchweg sagen. Wenn sie Schwierigkeiten hatten, das Objekt zu lokalisieren, setzte ich mich mit Signore Campbell an den Computer im Studierzimmer. Wir ergänzten uns sehr gut dabei, weitere Informationen darüber aufzutreiben. Manchmal musste ich eine Bibliothek oder ein Archiv aufsuchen. Sobald wir dicht genug herangekommen waren, hat Signore Campbell Kontakt zum Eigentümer aufgenommen oder seine Beziehungen spielen lassen, um ihn zu erreichen. Nicht jeder ist offen für solche Anfragen, müssen Sie wissen.“

„Was sprang für Sie dabei heraus?“, wollte Zach wissen.

„Ich bekam fünf Prozent vom Gewinn, und er verschaffte mir Zugang zu jeder Informationsquelle, die ich haben wollte.“

„Das scheint mir wenig, wenn man Ihren Anteil am Erfolg berücksichtigt.“

„Er hat mir mehr angeboten, aber ich wollte das nicht.“

„Sie wollten das nicht???“, mischte sich Veronica ein, der das Erstaunen ins Gesicht geschrieben stand. „Sie haben zwei kleine Jobs, die kaum das Nötigste abwerfen, und sie schlagen die Gelegenheit aus, Ihre Sorgen loszuwerden?“

„Welche Sorgen? Ich rauche nicht, ich trinke nicht, ich habe keine teuren Hobbys. Für die wenigen Verpflichtungen, denen ich nicht ausweichen kann, reicht das Geld allemal. Mehr davon verdirbt nur den Charakter. Ich habe mein Leben so eingerichtet, dass sowohl der Körper als auch der Geist und die Seele zufrieden sein können. Wer glücklich sein möchte, sollte wissen, wann genug genug ist.“

„Verzeihen Sie meine ungläubige Frage. Man trifft Menschen wie Sie nur sehr selten. Wie ich Ihnen gestern erzählt habe, lebten mein Vater und ich bisher ähnlich bescheiden. Wir werden uns bestens verstehen, glaube ich.“

„Das glaube ich auch, Signorina. Man merkt den Menschen an, wie sie zum Materiellen stehen. Deshalb waren Sie mir sofort sympathisch, als Sie ins Restaurant gekommen sind.“

„Das beruht auf Gegenseitigkeit, wie Sie sicher wissen“, warf Zach ein, und Veronica nickte bestätigend.

„Würden Sie sagen, Sie kennen sich mit der Musikszene, speziell den Beatles, besonders gut aus? Oder beruht Ihr Erfolg eher auf Ihrer Recherchemethodik?“

„Beides trifft zu. Das Thema interessiert mich mehr als jedes andere. Die meisten Tatsachen über die Gruppe liegen noch immer in einem fast undurchdringlichen Nebel aus Halbwahrheiten, Schweigen und Mythen verborgen, aber das macht es besonders reizvoll für mich, darin herumzustochern. Ich habe wahrscheinlich jedes Buch, jede Webseite und jeden Artikel gelesen, die es auf Englisch, Italienisch oder Deutsch gibt – und ich vergesse nichts, das ich einmal gelesen habe. Deswegen kann ich übrigens auch Kundenfragen beantworten – zum Beispiel solche wie die da.“ Sie zeigte auf die von Veronica zurückgelassenen Gegenstände neben der Registrierkasse.

Das Gesicht der jungen Frau rötete sich. Einerseits ärgerte sie sich erneut über ihren Mangel an Vorsicht, andererseits empfand sie die Schärfe von Marias Verstand als furchterregend. Da sie sich jedoch ohnehin vorgenommen hatte, den Peppers-Code zum Prüfstein für die Fähigkeiten der Italienerin zu machen, nutzte sie nun die Steilvorlage, um mehr über seine Bedeutung zu erfahren. „Ich habe zwei Fragen,“ sagte sie. „Was besagt der Schriftzug im Spiegel, und weshalb hatte Onkel Paul ihn an der Wand hängen?“

Maria Borghese schwieg eine gefühlte Ewigkeit, während der sie Veronicas Gesicht studierte. Der Detektivin lag es fern, diesem Blick auszuweichen. Nach einer Woche, in der ihre Nachforschungen eine Ungereimtheit um die andere zutage gefördert hatte, wollte sie Antworten haben. Die Spannung im Raum wurde beinahe greifbar. Als die Italienerin schließlich zu sprechen begann, ertönte ihre Stimme ernst und ungewöhnlich tief: „Wir sind gerade dabei, die Türen zum ersten Kreis der Hölle zu öffnen. Ich schlage daher vor, wir gehen nach hinten und setzen uns.“

16) Das Bild im Spiegel

Sie gingen zuerst in das von Veronica in Besitz genommene Gästezimmer, da ihnen der kleinere Buchbestand trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit bewältigbar schien.

„Hast du schon in die Fächer des Sekretärs geschaut?“, fragte der Detektiv.

„Nicht in alle. Soll ich ihn mir vornehmen?“

„Unbedingt.“ Er trat an eines der maßgeschneiderten Regale und legte den Kopf schief, um die Titel auf den Buchrücken zu lesen. Allein in diesem Zimmer mochten an die zweitausend Bände stehen. Im Raumschiffleitstand, wie er Pauls Studierzimmer bei sich nannte, mochten drei bis vier Mal mehr untergebracht sein. Veronica hatte recht. Die Aufgabe, Pauls Leben in allen Einzelheiten zu untersuchen, wäre eine angemessene Strafe für jenen Verbrecher, der ihn ermordet hatte. Diese Sache besaß das Potenzial, sie auf Jahre hinaus mit nichtigen Details zu beschäftigen. Im Moment interessierten sie sich jedoch nur für die groben Züge, und sie waren auf der Suche nach Auffälligkeiten. Er wollte den Mann kennenlernen, dem er seinen unverdienten Wohlstand verdankte, nicht nur dessen Nutznießer sein. Da war es wieder, dieses Wort. Es trug den Beigeschmack des Parasitären. Wer hatte es sich auf die Fahnen geschrieben? Zach schob den Gedanken an den Rand seines Bewusstseins und konzentrierte sich wieder auf die Bücherwand vor ihm. Er mochte den literarischen Geschmack, der sich hier manifestierte. Paul hatte seinen Gästen eine große Bandbreite von Klassikern zur Verfügung gestellt, dazwischen einige wenig bekannte Perlen wie John Christophers ‚Leere Welt‘ oder Daniel Quinns ‚Ismael.‘

Veronica sprach ihn an. Sie hatte die Inspektion des Sekretärs zügig beendet und meldete nun, dass sie außer mit Rosenwasser parfümiertem Briefpaper und einigen Haarbändern nichts gefunden hatte, das der Erwähnung wert wäre. Sie vermute, dass sich weibliche Gäste hier aufgehalten hatten. Zach brummte. Veronica ging zum Bett, setzte sich auf die Kante, schaute sich um.

Zach nahm die Begutachtung der Büchersammlung wieder dort auf, wo er unterbrochen worden war. ‚Die drei Sonnen‘ von Cixin Liu; Simmels ‚Bis zur bitteren Neige‘, B. Travens ‚Das Totenschiff‘. Er zog den Band heraus. Eine Postkarte steckte als Lesezeichen darin; das Motiv zeigte den Hafen von Lissabon, die Nachricht auf der Rückseite war schwer zu entziffern. Er legte die Karte wieder ins Buch und stellte dieses an seinen Platz im Regal. Weitere Buchrücken, und noch weitere. Er zog einen dicken Schinken heraus. Ein Spalt im oberen Schnitt ließ erkennen, dass etwas in ihm steckte. ‚Die Brüder Karamasow‘ las er auf dem Einband. Er schlug das Buch auf. Ein Foto, das ihm bekannt vorkam. Zuerst begriff er nicht. Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schock: Das waren er und sein Stiefbruder, vor genau zweiundzwanzig Jahren. Sie standen vor der Kirche, Paul hielt Veronica, sein Patenkind, auf dem Arm, kurz nach der Taufe.

Zach drehte sich zu der jungen Frau um, die sie heute war. „Schau, das ist Paul…“

Sie lag auf dem Bett, die Augen geschlossen, die Füße noch immer auf dem Boden stehend. Ihr Atem ging ruhig. Ihr Vater betrachtete sie; ein sanfter Ausdruck legte sich auf seine Züge. Er holte tief Luft, schlug einen Zipfel der Tagesdecke über sie und stellte das Bild so auf den Sekretär, dass sie es beim Aufwachen sehen musste. Dann las er die Stelle, an der er es gefunden hatte. Sie schien ihm nichtssagend. Also schlug er das Buch zu, stellte es wieder ins Regal und verließ das Zimmer. Leise schloss er die Tür hinter sich.


Veronica erwachte irgendwann in der Nacht. Ihre Augen öffneten sich zuckend. Es war stockfinster. Sie fühlte sich, als schmerze jeder einzelne Wirbel. Vorsichtig stützte sie sich zunächst auf ihre Ellbogen, dann richtete sie sich vorsichtig in sitzende Position auf. Wo war sie? Schwaches Licht drang durch zwei Fenster. Ein kleiner Raum. Nachdem sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, schälten sich die groben Umrisse der Einrichtung schattenhaft heraus. Regale. Bücher. Ein Schränkchen… ein Sekretär! Ach ja, das Gästezimmer… nein, ihr Zimmer im neuen Zuhause, korrigierte sie sich. Die Erinnerung an den frühen Abend kehrte zurück. Sie war eingeschlafen, einfach so. Zu viel Information, zu viel Gefühlsachterbahn. „Bäääh!“, blökte ein Schaf in einem Winkel ihres Geistes. Veronica musste unwillkürlich lachen. „Danke fürs Wecken“, sagte sie. Sie rieb sich die Augen, dann tastete sie sich zur Tür und dem Lichtschalter daneben. Als das Licht aufflammte, kniff sie die Lider fest zusammen. Mann, war das grell. Durch enge Schlitze schaute sie zum Sekretär hinüber, auf dem ein Taschenwecker stand. Fast zwölf Uhr! Den Sonntag hatte sie also mit Bravour in süßem Nichtstun vergeudet. „Gut gemacht, Veronica!“, schalt sie sich. „Weit hast du‘s gebracht mit deinen Recherchen.“

Sie fühlte sich gleichzeitig wach und antriebslos und setzte sich daher auf den Boden, den Rücken ans Bett gelehnt. Was jetzt? Duschen? Dann wäre an Schlaf wohl nicht mehr zu denken; es würde ein langer, langer Tag werden, dieser Montag. Ihre Augen schweiften über die unteren Fächer des gegenüberliegenden Regals, ohne zu begreifen, was sie sah. „Bha-ga-vad-gi-ta“, buchstabierte sie träge den Titel eines dicken Buches. „Christian Rosenkreutz“ las sie auf dem nächsten Buchrücken. Darauf folgten „Das Ägyptische Totenbuch“, einige Bände aus der Hand Aleister Crowleys, drei Bände der „Geheimlehre“ von Helena Blavatsky, „Die Lehren des Hermes Trismegistus“, „Kybalion“, „Kabbala für Fortgeschrittene“ und dieser seltsame Band mit den ihr unbekannten Symbolen auf dem Rücken. Sie zog ihn heraus und öffnete ihn wahllos: das Faksimile einer alten Handschrift, Bilder von ihr unbekannten Pflanzen und Tieren, eingerahmt von schwer leserlichem Kauderwelsch, den sie nicht entziffern konnte. Schön aber schräg, dachte sie und stellte ihn zurück. Eine „Einführung in die Numerologie“ stand rechts daneben. Bedeutungsschwer, stellte sie fest, ungeeignet für diesen Moment. Sie würde Maria fragen, ob sie wusste, was es damit auf sich hatte. Die Müdigkeit drohte sie wieder zu übermannen. Um nicht erneut in zerknitterten Klamotten aufwachen zu müssen, zog sie sich aus, ließ alles einfach zu Boden gleiten, schlüpfte unter die Decke und war im Nu eingeschlafen.


Sechs Uhr früh. Erneut war sie die erste, die den beginnenden Tag begrüßte. Das wurde langsam zur Marotte. Draußen herrschte nebliges Grau, das jede Regung, das warme Bett zu verlassen, absurd erscheinen ließ. „Bleib doch noch ein wenig liegen,“ suggerierte es, „schließ die Augen und genieß das zwielichtige Reich des Halbschlafs.“ Doch Maria Borghese würde heute erneut vorsprechen. Veronica wollte besser darauf vorbereitet sein als tags zuvor, als das plötzliche Wiedersehen mit der sympathischen Bedienung aus dem italienischen Restaurant sie völlig überrumpelt hatte. Die Offenbarung, dass sich mit Maria eine Gelegenheit eröffnete, Onkel Pauls Werk fortzuführen, statt bei Null beginnen zu müssen oder den Laden einfach zu schließen, hatte sie ebenso unverhofft getroffen. Sie überlegte, wie sie Marias Talente auf die Probe stellen konnte. Ein, zwei vage Ideen begannen Form anzunehmen, während die junge Detektivin die Bettdecke beiseite schlug, die Füße auf den weichen Teppichboden stellte und sich auf den Weg zur Dusche machte.

Erfrischt und wesentlich erfolgreicher als bei ihrem nächtlichen Versuch, ihr Wachbewusstsein wieder herzustellen, schnappte sie zehn Minuten später einen Taschenspiegel von einer Ablage im Badezimmer. Sie eilte die Treppen hinunter, wo wie einen Blick auf das runde Bild unter McCartneys jugendlichem Gesicht warf. Spontan nahm sie es von der Wand, dann öffnete sie die Tür zum Verkaufsraum, schaltete das Licht ein und suchte nach der Stelle, an der Henry das Album aus den LP-Sortierkästen gezogen hatte. Sie blätterte durch fast zwei Dutzend Beatles-Scheiben, bevor sie fand, was sie seit Tagen unterschwellig beschäftigt hatte: Das Cover zeigte zahlreiche bekannte Gesichter – von Cassius Clay über Lorenz von Arabien und die Monroe bis zu Karl Marx – vor einem blauen Hintergrund. Dessen farbliche Intensität wurde nur durch die vier Gestalten im Vordergrund des bunten Haufens in seiner Dominanz angegriffen. Die Blasinstrumente, die sie in Händen hielten und ihre pseudomilitärischen Karnevalsuniformen wiesen sie als Marschkapelle aus. Ihre schnurrbärtigen Gesichter schauten selbstbewusst in die Kamera – ganz im Gegensatz zu den vier kindlichen dunkel gekleideten Pilzköpfen neben ihnen, die einen frisch aufgeworfenen Erdhügel am unteren Bildrand anstarrten. Auf ihm formten rote Blumen das Wort „Beatles“. Darüber, genau im Zentrum des Covers, zu Füßen der Marschkapelle, nahm das auffälligste Element der ganzen Szenerie den Blick der Betrachterin gefangen. Die große Basstrommel trug die Aufschrift „SGT.PEPPERS LONELY HEARTS CLUB BAND“.

„Da laus mich doch der Affe!“, dachte Veronica, die das Cover natürlich schon unzählige Male in ihrem Leben gesehen hatte, zuletzt mehrfach bei ihrem Gang durch Liverpools Cavern-Viertel – nur eben nie mit den Augen einer Detektivin, die ein Geheimnis aufzuklären versuchte. Es war so offensichtlich. Trotzdem war ihr früher nie der Gedanke gekommen, dass es sich um eine Begräbnisszene handeln könnte. Die kräftigen Farben und die vielen zuversichtlichen, teils lachenden Gesichter der versammelten Prominenz hatten sie glauben lassen, es handle sich um einen fröhlichen Anlass, an dem alle für ein Foto posierten. Doch der Spielmannszug hieß nicht „The Beatles“; diese lagen unter einer Blumenrabatte begraben. An ihre Stelle war Sergeant Peppers Klub der einsamen Herzen getreten, ein neuer Stern am britischen Rockmusikhimmel.

Veronica ging zum Tresen, legte die Schallplatte darauf und das runde Bild direkt daneben. Sie zückte den Taschenspiegel und hielt ihn waagerecht genau mittig über den Schriftzug „LONELY HEARTS”, so dass er den oberen Teil der Basstrommel spiegelte. Sie hatte halb gehofft, dass Onkel Pauls mysteriöse Wanddekoration lediglich ein schrulliges Stück bildender Kunst darstellte, bei dem der Urheber die Wirklichkeit ein wenig zurechtgezupft hatte, um sich interessant zu machen. Doch was ihr Spiegel zeigte, war mit dem Bild im schwarzen runden Rahmen völlig identisch. Statt „LONELY HEARTS“ las sie nun:

I ONEI X HE DIE

„Oh shit!“, zischte sie leise. Sie hatte keinen blassen Schimmer, was die linke Hälfte des kryptischen Schriftzugs zu bedeuten hatte. Es musste sich um eine Art Code handeln. Dafür schien die Aussage der rechten um so klarer. Die kleine Raute entpuppte sich als Pfeil. Was man auf dem Bild ihres Onkels nicht sehen konnte: Sie zeigte auf den Mann in der leuchtend blauen Uniform. Sie zeigte auf McCartney – Paul McCartney.

Halt, unterbrach Veronica sich selbst. Der Zusammenhang war auch im Hinterzimmer hergestellt. Es war das Porträt des jugendlichen Paul McCartney, das oberhalb des kleinen runden Rahmens hing. In ihrem Kopf brach ein Sturm zahlreicher Stimmen los, die alle gleichzeitig um Aufmerksamkeit buhlten: Was sollte das? Wollte die Band mitteilen, dass der Musiker gestorben war? Verschlüsselte der kryptische Teil des Codes den Hergang, das Datum oder den Grund? Wer spielte nun an Pauls Stelle?, ratterten manche ihren langen Fragenkatalog herunter, während andere, ohne eine schlüssige Antwort zu geben, jeden Zweifel an der Kontinuität der Bandgeschichte als Quatsch deklassierten; das Spiegelbild musste durch reinen Zufall entstanden sein, behaupteten sie. Es sei ein technisches Artefakt, in das Unsinn hineininterpretiert wurde.

„Aber weshalb hat Onkel Paul dieses Artefakt an die Wand gehängt?“, quengelten weitere Stimmen. „Doch bestimmt nicht, weil er es für Unsinn hielt. Und falls jener andere, jener bekanntere Paul verstorben ist, spielte das eine Rolle beim Mord an dem Ladenbesitzer desselben Vornamens?“

Veronica hatte den Eindruck, einer Pressekonferenz oder einer heftigen Parlamentsdebatte beizuwohnen, die durch eine provokante Äußerung des Redners in einen Hexenkessel erhitzter Gemüter verwandelt worden war – nur dass sich die „Debatte“, wenn man das erregte Geschrei so bezeichnen wollte, in ihrem Geist abspielte. Sie rieb sich die Schläfen, atmete tief durch. Das kakophone Geschnatter und Geratter wurde leiser und verstummte nach einer Minute regelmäßiger Atemzüge schließlich ganz. Sie würde dem nachgehen – aber nicht jetzt. Jetzt würde sie das Frühstück für ihren Vater und sich selbst auftischen, danach einen Imbiss für drei zubereiten.

7) Henry the Horse

„Dürfte ich Ihnen eine letzte Frage stellen – als Kunde?“, erkundigte sich Thomas Henry Bishop.

„Um was geht es?“, fragte Zach zurück.

„Einen Tag vor seinem Ableben erhielt ich einen Anruf von Mr Campbell, bezüglich einer Bestellung, die ich… die wir in Auftrag gegeben hatten. Er teilte mir mit, dass die Gegenstände eingetroffen seien.“

„Welche Gegenstände hatten Sie bestellt?“

„Wir – einige andere Sammler und ich – hatten nach einem Koffer mit einer Anzahl verschiedener Objekte darin suchen lassen. Ich interessiere mich dabei für die Tonbandspulen.“

„Ich habe welche im Lager gesehen. Lassen Sie mich das Warenbuch checken.“ Zach ging hinter den Tresen, zog das Buch heraus und fuhr mit dem Finger über die letzten Einträge. „Die einzigen Bänder, die hier verzeichnet sind, wurden auf den Namen ‚Horse‘ bestellt – Horse wie Pferd. Keine Einträge für Bishop. Ist Mr Horse einer Ihrer Kollegen?“

„Nein, das bin ich. Paul hat mich so genannt.“

„Wie originell. Bishop, der Läufer, Horse, der Springer – spielen Sie Schach?“

Thomas Henry Bishop kicherte vergnügt. „Mr Kite hat mir den Spitznamen ans Revers geheftet. Benötigen Sie einen weiteren Hinweis oder genügt das bereits?“

Zach starrte den Älteren ratlos an. Bishop schnaubte.

and of course Henry the Horse dances the waltz…“, sang er mit brüchiger Stimme. Und als sich bei Zach noch immer kein Verständnis regte, ergänzte er: „‚Being For The Benefit Of Mr Kite!‘, einer meiner persönlichen Favoriten, was Beatles-Songs angeht.“ Er trat an einen der Sortierkästen heran, aus dem er nach weniger als drei Sekunden des Suchens eine in transparentes Plastik gehüllte Schallplatte herauszog. „Voilà – Sgt. Pepper. Ich nehme an, das sagt Ihnen etwas.“ Auf eine bestätigende Geste Zachs drehte er die Scheibe um, tippte mit dem Zeigefinger genau auf die Mitte der knallroten textbedeckten Fläche und reichte sie Zach.

Der Detektiv schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. „Aber natürlich! In der Familie haben alle ein Pseudonym angenommen. Man hat mich gewarnt.“

Bishop alias Horse nickte, sagte jedoch kein Wort. Er legte den Kopf leicht schief, wie ein Lehrer, der auf weitere Erläuterungen des Schülers wartete.

„Sie sind also das Walzer tanzende Zirkuspferd…,“ stellte Zach fest. Er überlegte einen Moment. Dabei ließ er die Augen durch den Raum wandern. Plötzlich richtete er sie wieder auf sein Gegenüber. „Wer ist Mr Kite?“, stieß er hervor.

„Sehr gut! Sie stellen genau die richtige Frage. Wer ist dieser Mr Kite, zu dessen Gunsten wir hier sind? Es ist genau, wie ich sagte: Im Grunde besitzen Sie die nötigen Voraussetzungen zur Führung dieses Ladens bereits.“

„Nun, wer ist also Mr Kite?“

„So nennt sich der Besitzer der bedeutendsten und teuersten Sammlung von Beatles-Memorabilien im Königreich – wenn man von den Erzeugern dieser Objekte einmal absieht.“

„Mit Erzeugern meinen sie die Bandmitglieder selbst, nehme ich an.“

„Richtig. Und der einzige noch lebende und im Land ansässige Beatle – abgesehen von Pete Best, der nicht wirklich zählt – hört auf den Namen Sir James Paul McCartney. Stellen Sie sich vor, sie wären mit ihm verwandt; ob das wohl Spuren in Ihrer Sammlung hinterließe?“

„Wollen Sie damit andeuten, Mr Kite – oder wie auch immer er mit bürgerlichem Namen heißen mag –“

„Mr Kite besitzt im eigentlichen Sinn keinen bürgerlichen Namen,“ unterbrach ihn Bishop, „aber selbstverständlich benutzt er einen Klarnamen… den zu enthüllen ich ihm selbst überlassen möchte. Sie werden ihn früh genug kennenlernen. Kite war einer der Beteiligten an unserer kleinen Bestellung. Er hat das bedeutendste Objekt aus dem Koffer für sich reserviert.“

„Nun machen Sie mich neugierig. Was hat es mit diesem Koffer auf sich?“, erkundigte sich Zach.

„Lassen Sie uns nach hinten gehen. Es ist eine lange Geschichte, und ich muss mich setzen; meine Beine sind nicht mehr die Jüngsten.“

„In Ordnung. Ich schließe nur eben den Laden ab.“

Zach schritt zur Eingangstür, verriegelte sie, hängte das ‚Geschlossen‘-Schild, das auf den Boden gefallen war, wieder an den Haken am Fenster und führte Bishop zum Durchgang nach hinten. Als er eben nach der Klinke greifen wollte, ging die Tür auf und Veronica, die es scheinbar eilig hatte, in den Laden zu gelangen, prallte gegen seine Brust. Sie quiekte erschreckt, er gab ein atemloses „Uff!“ von sich.

„Wohin so eilig, junge Dame?“, fragte Zach.

„Wohin so eilig, mein Herr?“, fragte sie zurück. Sie musterte ihren Vater von oben bis unten; dann bemerkte sie den älteren Mann, der hinter ihm stand. Sie nickte ihm grüßend zu. Wieder an ihren Vater gewandt deutete sie auf die Schallplatte, die dieser noch immer in der Hand hielt. „Woher wusstest du, dass ich genau das hier suchte?“


Zach stellte Veronica und Bishop einander vor. Der Sammler erläuterte auch ihr sein Anliegen und erklärte, er sei bereit, den Zieglers bei der Abwicklung von Pauls letztem Auftrag behilflich zu sein. Er kenne die betreffenden Kunden.

„Möchten Sie etwas trinken? Tee, Kaffee, Cola, Wasser? Saft ist leider keiner mehr im Haus“, sagte Veronica.

„Einen Milchkaffee, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Miss Veronica. Ich darf Sie doch so nennen?“

„Kein Problem, Mr Bishop.“

„Henry. Ich bestehe darauf.“

„Einverstanden. Dad, möchtest du auch einen Kaffee?“

Zach, dem erst jetzt bewusst wurde, dass er ihren Gast in den Raum geführt hatte, der vom Blut seines Bruders gezeichnet war, nickte abwesend. Seine Augen suchten die Stelle am Boden. Voll Erleichterung nahm er zur Kenntnis, dass Veronica in der kurzen Zeit gute Arbeit geleistet hatte. Ein Fußabstreifer lag auf der ersten Treppenstufe, ein kleiner Teppich davor. Von der weiß nachgezeichneten Kontur der Leiche war nichts mehr zu sehen.

Henry – the Horse, schoss Zach erneut durch den Kopf – schien unbekümmert. Er ließ sich in den Sessel sinken, den Veronica ihm angeboten hatte. Die junge Frau begab sich an den Bartresen, setzte die Kaffeemaschine in Gang und ließ sich dann neben ihrem Vater aufs Sofa nieder.

„Verstehe ich das richtig?“, erkundigte sich der Detektiv. „Sie und einige andere Personen haben meinen Stiefbruder auf die Suche nach einem Koffer geschickt, der diverse Objekte Ihres Interesses enthielt.“

„Korrekt, Mr Ziegler… Zachary.“

„Sie möchten diese getrennt erwerben. Ihr Anteil daran sind die Tonbänder, die ich im Safe gesehen habe, ja? Dieser Mr Kite ist mit von der Partie und –“ Er überflog den Songtext. „Die Hendersons? Wer noch?“

„Nicht die Hendersons. Mr Kite und Mr Mustard werden die Manuskripte übernehmen, Molly Jones möchte den Koffer als solchen erwerben. Zusätzlich zu seiner Vergütung hätte Paul alle weiteren Inhalte behalten dürfen. Wir wissen nicht, worin diese genau bestehen. Es war von hunderten signierter Autogrammkarten die Rede, dazu Photographien, Konzertprogramme und Schallplatten.“

„Was hat es mit diesem Koffer auf sich? Wer hat ihn gepackt und wo ging er verloren?“

Bishop atmete ein Mal tief durch, überlegte kurz, dann begann er zu erzählen: „Im Juli 2004 ging eine Meldung durch die Presse, nach fast dreißig Jahren sei das sogenannte ‚Mal-Evans-Archiv‘ wieder aufgetaucht. Ein englischer Tourist habe auf einem australischen Flohmarkt für kleines Geld einen alten Koffer mitgenommen. Beim Öffnen habe sich herausgestellt, dass sich Beatles-Raritäten darin befanden, unter anderem Mitschnitte von Aufnahme-Sessions nie veröffentlichter Songs. Papiere, die man außerdem enthalten fand, legten nahe, dass der Koffer Mal Evans, dem Road Manager und engen Vertrauten der Beatles, gehört haben musste. Mehrere Experten äußerten sich sofort zuversichtlich, dass es sich um authentische Memorabilien handelte, doch schon Tage später widerriefen alle diese Einschätzung wieder. Sie gaben Erklärungen ab, lediglich ein Sammelsurium wertloser Kopien habe sich in dem Koffer befunden; bei den Tonaufnahmen habe es sich um gängige Bootlegs gehandelt. Sie verweigerten weitere Interviews. Auch der englische Tourist ist nie wieder in Erscheinung getreten. Über den weiteren Verbleib des Koffers beziehungsweise seines Inhalts gab es keine Erkenntnisse.“

Veronica, die zwischenzeitlich aufgestanden war, kam mit einer Kanne Kaffee und drei Tassen zurück. „Leider haben wir keine frische Milch im Haus. Möchten Sie Milchpulver oder trinken Sie ihn lieber schwarz, Henry?“

„Schwarz bitte.“

Nachdem Veronica eingegossen hatte, rührte er gedankenverloren etwas Zucker in die dampfende Brühe. Daher entging ihm sowohl die rasche Bewegung, mit der Zach seine Tasse entleerte, als auch Veronicas beherztes Zugreifen, das verhinderte, dass das Porzellan anschließend auf den Tisch gehämmert wurde.

„An dieser Geschichte kam uns manches spanisch vor,“ führte der Sammler weiter aus, „insbesondere die schnelle Vorabbestätigung des Fundes durch Menschen, die einen Ruf zu verlieren hatten. Das ist unüblich – gerade angesichts der späteren Meldung, dass sich kein bisher unveröffentlichtes Material darunter befunden habe. Was genau begeisterte die sogenannten Experten an den ersten Kostproben so dermaßen, dass sie ihr Berufsethos vergaßen?“

„Das finde auch ich dubios“, warf Zach ein. „Da Sie den Koffer durch Paul aufspüren haben lassen, nehme ich an, dass Sie im Gegensatz zu den Experten von seiner Echtheit ausgehen. Wenn diese ihr Fach verstanden, müssen sie also mit ihrem abschließenden Urteil gelogen haben. Warum?“

„Es sieht für uns danach aus, als seien sie zurückgepfiffen worden. Über die Gründe kann man lange spekulieren, aber wir vermuten, dass die Bestätigung der Authentizität der Tonbänder die unangenehme Frage aufgeworfen hätte, weshalb zu keinem Zeitpunkt die eigentliche Sensation, das Manuskript von Mal Evans‘ Memoiren, erwähnt wurde.“

„Moment, Moment, Moment!“ rief Veronica dazwischen. „Das geht mir etwas zu schnell. Wie kommen plötzlich diese Memoiren ins Spiel?“

„Evans war ein Beatles-Fan der ersten Stunde. Nachdem er die Band live gesehen hatte, arbeitete er für sie zunächst als Türsteher. Er machte sich schon bald als Laufbursche, Roadie und Mädchen-für-alles unentbehrlich. Da er sehr viel Zeit mit den vier Jungs verbrachte, die alle wesentlich jünger als er waren, wurde er darüber hinaus zu einem engen Freund, dem sie ihre Sorgen anvertrauten. Das gestattete ihm Einblicke, die außer ihm nur wenigen anderen Personen vergönnt waren. Das enge Verhältnis dauerte bis weit über die Auflösung der Band hinaus an.“

Zach wiegte den Kopf. „Der Mann hatte also Dinge zu erzählen, die man in keiner anderen Beatles-Biographie lesen kann. Ist sein Buch eigentlich veröffentlicht worden oder haben ihn die Jungs verklagt?“

„Weder das eine noch das andere. Malcolm Frederick Evans ist am 5.1.1976 in seiner eigenen Wohnung in L.A. von der Polizei erschossen worden – kurz bevor er das Manuskript seiner Memoiren beim Verlag abliefern sollte. In dem nachfolgenden Chaos von Ermittlungen, Bestattungsvorbereitungen und Haushaltsauflösung ging nicht nur ein Koffer voller Beatles-Erinnerungsstücke verloren sondern auch das Manuskript. Sogar seine Asche verschwand während der Überführung nach England vorübergehend. Die näheren Umstände dieser tragischen Geschichte erweisen sich auch hier als dubios. Verschiedene Berichte enthalten kleine aber entscheidende Widersprüche zum Hergang. Ob das Manuskript sich in dem verschollenen Koffer befand, blieb ungeklärt, lag aber nahe. Der Zeitpunkt des Vorfalls erregte jedenfalls den Verdacht, dass zwischen der bevorstehenden Fertigstellung der Memoiren, dem gewaltsamen Tod des Autors und dem Verschwinden des Manuskripts ein finsterer Zusammenhang bestand.“

Stille herrschte im Hinterzimmer von Campbell‘s Fab Store. Für einige Augenblicke rührte sich niemand. Vater und Tochter schauten einander verblüfft an. Bishop nippte an seiner Kaffeetasse. Das leise Schlürfen schallte wie Motorenknattern durch den Raum. Zach räusperte sich. „Ich muss schon sagen… An Dramatik mangelt es Ihrer Geschichte nicht im Mindesten. Für mich waren die Beatles bisher lediglich vier geniale Musiker. Wer hätte gedacht, dass nach über einem halben Jahrhundert Geheimnisse zu lüften bleiben? So langsam verstehe ich Ihre Faszination für diese Band.“

Henry the Horse ließ sein Gebiss aufblitzen. „Ich möchte Sie nicht entmutigen, sich mit dem Gedanken an den Weiterbetrieb des Ladens anzufreunden, aber lassen Sie mich Ihnen sagen, dass diese Story weder den Anfang noch das Ende der zahllosen Ungereimtheiten im Umfeld der Gruppe darstellt. Wenn Sie ein wenig länger in diesen Abgrund starren, Zachary, wird schon bald etwas Ihren Blick erwidern.“

Veronicas Nackenhaare stellten sich auf. Die kryptische Inschrift, die sie studiert hatte, bevor die beiden Männer hereingekommen waren, stieg wieder in ihr Bewusstsein auf; ihre Augen suchten den kleinen kreisrunden Rahmen neben der Tür, dann schweiften sie zu Paul McCartney‘s jugendlichem Konterfei darüber. Unwillkürlich musste sie an das denken, was Ihr Vater über den anderen Paul, ihren Onkel, und die Gründe für dessen Verschwinden aus London gesagt hatte. War er wirklich nur unglücklichen Umständen zum Opfer gefallen oder gab es einen finsteren Zusammenhang?

6) I ONEI X HE ◊DIE

Sie hatten beschlossen, dass sie in der Frage, ob sie Pauls Wohnung und Laden behalten wollten – oder auch nur die Wohnung –, ein Gefühl dafür bekommen mussten, was das in der Praxis bedeutete, und dass sie daher mehr Zeit dort verbringen sollten. Sie würden den Warenbestand sichten, ein wenig im Hinterzimmer abhängen, irgendwann ein paar Nächte im Oberstock schlafen. Daher fuhren sie kurz nach acht Uhr in der Frühe ins Zentrum. Es war relativ still in den Gassen des Cavern-Viertels. Die Mathew Street verbreitete das Feeling einer Konzertfläche am Morgen ‚danach.‘ Ein Reinigungstrupp fegte Glasscherben, Papierknäuel, Servietten und Zigarettenstummel zusammen. Die Rainford Gardens lag ähnlich entvölkert. Sie öffneten die Ladentür, knipsten das Licht an und warfen die Mäntel über den Tresen.

Veronica schaute sich um. „Wo fangen wir an?“

„Das Unangenehme zuerst. Mir graust ein wenig vor dem Fleck am Boden, aber wenn wir hier mehr Zeit verbringen wollen, entfernen wir ihn am besten so früh wie möglich.“

Veronica nickte. „Ob Onkel Paul die Reinigung wohl selbst getätigt hat?“ Sie entnahm ihrer Jackentasche ein Notizbuch, zog die oberste Schublade am Tresen auf, kramte darin herum und entnahm ihr dann einen Bleistift. Während sie schrieb, proklamierte sie: „Ad 1: Putzhilfe…“ Sie überlegte. „Wo wir gerade über Personal nachdenken – Ad 2: Verkaufshilfe?“

„Ganz wichtig: Wie bekommen wir Kontakt zu Pauls Stammkundschaft?“, ergänzte Zach.

„Notiert. Während du darüber nachdenkst, inspiziere ich kurz die Küchen- und Badezimmerschränke. Vielleicht finde ich Reinigungsmittel.“

Es dauerte tatsächlich nicht lange. Ein Spind im Hinterzimmer enthielt alles Nötige. Statt ihren Vater zu rufen, begab Veronica sich selbst an die Arbeit. Der Kreideumriss wich ihrem Angriff sofort. Mit ihm verging auch das seltsame Gefühl, dass sich außer ihr noch jemand im Raum befand. Der Drang, über die Schulter zu blicken, ließ nach. Der Blutfleck wehrte sich natürlich hartnäckiger. Nach einer knappen Viertelstunde hatte er jedoch das meiste von seiner Intensität verloren. Nur ein unscharfer dunkler Schemen deutete an, wo Paulus Campbell gelegen hatte. Sie verdeckte ihn mit Auslegeware.

Veronica deponierte Bürsten, Eimer und Fleckenmittel wieder im Spind. Sie entnahm dem Kühlfach der Bar eine Cola. Der Fruchtsaft war leider schon verdorben. Sie stellte die halb leere Flasche mit ihrem schimmligen Inhalt in den Papierkorb, ging dann zum Sofa und ließ sich hineinfallen. Sie schaute sich um. Alles wirkte normal. Es gab keine Kampfspuren, keine zerbrochenen Gegenstände, keine verformten Geländer oder ähnliches. Alles musste sehr schnell vonstatten gegangen sein… oder das Opfer hatte seinen Mörder gekannt und war nichts ahnend auf ihn zugegangen oder hatte ihm arglos den Rücken zugedreht. Ging es um Geld? Wertgegenstände? Oder hatte es Streit gegeben… worüber? Sie schüttelte den Kopf. Alles Spekulationen. Sie wusste zu wenig, um den Tathergang nachvollziehen zu können.

Ihr Blick fiel auf einen kleines kreisrundes schwarz gerahmtes Bild neben der Tür zum Verkaufsraum, direkt unterhalb einer handsignierten Porträtaufnahme des jungen Paul McCartney. Es mochte vielleicht 15 bis 20 Zentimeter Durchmesser besitzen. Das Motiv kam ihr bekannt vor. Ein Schriftzug, der dem oberen Kreisbogen folgte, besagte „Sgt. Pepper‘s“. Aha, dachte sie. Ein Ausschnitt von einem Album-Cover der Beatles. Natürlich kannte sie die LP aus dem Plattenschrank ihres Vaters. Hier in Liverpool war ihr Anblick allgegenwärtig. Der Rest des Bildes ergab jedoch keinen Sinn für sie. Der Schriftzug wiederholte sich spiegelbildlich am unteren Rand. Dazwischen, an der breitesten Stelle, eingerahmt von Ornamenten, stand:

I ONEI X HE DIE

Was sollte das denn? Sie sprang vom Sofa auf und trat nah an das Bild heran. Nein, sie hatte sich nicht verlesen. Sie war sich gleichzeitig sicher, dass die Zeile so nicht auf dem Cover abgedruckt war. Wie aber lautete der Originaltext? Sie konnte sich nur undeutlich erinnern. Veronica kniff die Augen zusammen. Eine haarfeine Linie teilte die Inschrift waagerecht genau in der Mitte. Die untere Hälfte des Bildes sah leicht verschwommen aus. Also handelte es sich tatsächlich um das Foto einer Spiegelung. Wie seltsam. Sie konnte sich keinen Reim auf die Sache machen. ‚HE DIE‘ – er stirbt… oder starb – klang irgendwie bedrohlich. Das spitze Symbol zwischen den beiden Wörtern schien wie ein Pfeil nach oben zu zeigen, wo ein leicht pausbäckiger Paul von dem wesentlich größeren Foto auf sie herunterlächelte.

„Du musst damals ungefähr in meinem Alter gewesen sein, höchstens ein oder zwei Jahre älter“, dachte sie. „Gut, dass du nicht gestorben bist, Herzchen“ murmelte sie, „sonst wären der Welt viele großartige Songs entgangen.“ Auch ihr Onkel hieß Paul, erinnerte sie sich. Nur wenige trauerten um ihn. Die Welt war ungerecht – aber sie war voll guter Musik.

Veronica löste sich von McCartney‘s Gesicht, dann öffnete sie die Tür zum Verkaufsraum, um nach einem Sgt.-Pepper-Album suchen zu gehen. Sie wollte wissen, was die von der Spiegelung verdeckte Hälfte des Originalbilds zeigte.


Nachdem seine Tochter die Tür hinter sich geschlossen hatte, versuchte Zach den Raum durch die Augen eines Geschäftsmanns zu betrachten. Was war das Konzept hier? Bezüge zur Musik der 1960er und den Beatles stachen erwartungsgemäß überdeutlich hervor. Ein Großteil der Aktivitäten im Herzen Liverpools, zuvorderst Themenkneipen, Kitschbuden und Retro-Klamottenläden, verdienten so ihr Geld. Skulpturen von John Lennon, Brian Epstein, Cilla Black und selbst der fiktiven Eleanor Rigby aus dem gleichnamigen Beatles-Song verwandelten die Fußgängerzone in einen Themenpark, in den sich Campbell‘s Fab Store hervorragend einfügte. Die Backsteinfassade mit ihrer in Holz gefassten Ladenfront verlieh dem Laden jene historisch korrekte Ausstrahlung, die gleichermaßen zu dessen Inhalt wie auch zu dessen weiterer Nachbarschaft passte. Als Andenkenladen für die durch die Straßen ziehenden Beatles-Fans wirkte er jedoch zu farblos und bieder, als Antiquitätengeschäft wiederum zeigte er zu wenige großformatige Stücke. Zach kannte einschlägige Geschäfte, etwa den London Beatles Store in der Baker Street; einige weitere hatte er in der unmittelbaren Nähe des Fab Stores entdeckt. Sie überfrachteten ihre Schaufenster mit kleinteiligem Kitsch, während es im Inneren kaum Platz genug gab, zwischen den mit Waren dicht beladenen Ständern, Tischen und Regalen hindurchzugehen.

Pauls Schaufenster präsentierte sich dagegen schlicht. Links stand lediglich eine lebensgroße Holzstatue McCartneys in seiner Peppers-Uniform, befremdlicherweise mit dem Rücken zur Straße; in der rechten unteren Ecke der Glasfront hatte Paul die leicht verzerrten Konterfeis der Fab-Four vom Rubber Soul-Album angebracht. Das war alles. Passanten konnten daher ohne Mühe das Ladeninnere sehen – den ganzen, sehr aufgeräumt wirkenden Laden. Sicher, das hatte Klasse, aber der Mangel an Glitzer würde einem Mangel an hereingespültem Kleingeld entsprochen haben, rechnete er sich aus. Paul musste also, genau wie der Notar beschrieben hatte, seinen Unterhalt mit Stammkundschaft bestritten haben. Der Eindruck von Seriosität konnte da nur nützlich sein. Kleinkram wie die Autogrammkarten, Gitarrensaiten („wie George Harrison sie verwendete“) oder Broschüren zur Musikgeschichte der Stadt dienten wohl eher dazu, irrtümlich hereingeschneiten Andenkensuchenden einem Alibikauf anzubieten, der ihnen den ehrenhaften Rückzug gestattete.

Zachs Gedankengang wurde vom Bimmeln der Türglocke unterbrochen. Ein älterer Herr trat ein. Er trug einen langen grauen Filzmantel, dunkle Hosen mit Bügelfalten, schwarz glänzende Lackschuhe und einen breitkrempigen Hut, den er schon beim Durchschreiten der Tür abnahm. Darunter zeigte sich schütteres graues zur Seite gekämmtes Haar.

„Einen schönen guten Morgen, Sir!“, grüßte der Mann. Zach schätzte ihn auf Anfang sechzig, wohl situiert, gebildet. Ihm fiel auf, dass der Neuankömmling sich nicht umschaute, sondern seine Neugier direkt auf ihn richtete. Kein Andenkenjäger, vermutete er.

„Guten Morgen“, grüßte er freundlich zurück. „So früh schon unterwegs? Es hat doch noch kaum ein Geschäft geöffnet.“

„Ja, bedauerlicherweise hat die Rockdiskothek geschlossen“, erwiderte der Mann lächelnd, „Um so erfreulicher, diesen fabelhaften Laden wieder von Licht erhellt zu sehen. Ich hatte schon befürchtet, er gehöre der Geschichte an.“

„Nun, eigentlich ist er im Moment tatsächlich zu. Wir führen lediglich eine erste Bestandsaufnahme durch.“

„Darf ich nach Ihrem werten Namen fragen, Sir?“

„Zachary Ziegler“, erwiderte Zach. „Und Sie sind…?“

„Oh, verzeihen Sie. Wie unhöflich von mir. Mein Name ist Bishop. Thomas Henry Bishop. Mr Campbells Laden gehörte seit dem Augenblick seiner Eröffnung zu meinem festen Programm, wenn ich in die Innenstadt kam. Paul – Mr Campbell – war ein Meister darin, verschollene Perlen wiederzubeschaffen. Es gab nur wenige Wünsche, die er mir nicht erfüllen konnte. Ich schätzte ihn auch als feinen, intelligenten Menschen, der stets für eine tiefsinnige Konversation zu haben war. Welch ein Verlust…“

„Mein Beileid, Mr Bishop“, sagte Zach seiner eigenen gemischten Gefühle wegen unbeholfen.

„Papperlapapp!“, fuhr Bishop auf. „Es ist an mir, Ihnen mein Bedauern auszusprechen. Schließlich ist… war er Ihr Bruder, Mr Ziegler. Er hat manchmal von Ihnen erzählt. Nur Gutes, natürlich.“

„Das fände ich erstaunlich. Es ist viel Wasser die Themse hinunter geflossen, seit wir zuletzt miteinander gesprochen haben. Dennoch…“

„Wenn Sie einem Fremden gestatten, Ihnen einen Rat zu erteilen: Grämen Sie sich nicht. Die Gründe für sein Untertauchen lagen mehr in seinen eigenen Versäumnissen begründet als in einem vermeintlichen Verschulden Ihrerseits.“ Bishop schaute ihm ernst aber freundlich ins Gesicht. „Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, Mr Ziegler?“, fragte er und fuhr ohne auf eine Antwort zu warten fort: „Kommen Sie erst einmal zu sich, finden Sie sich in Ihrer neuen Umgebung zurecht und lassen Sie uns zu gegebener Zeit bei einer Tasse Tee über den lieben Paul sprechen.“

„Besten Dank, Mr Bishop. Sie sind der zweite Freund meines Bruders, der mir begegnet – und der zweite, der das anbietet.“

Der Ältere lächelte wieder. „Da sich ihm so viele verbunden und auch verpflichtet gefühlt haben, werde ich vermutlich nicht der letzte bleiben. Aber bitte: Nehmen Sie mein Angebot an. Es wäre mir eine Freude!“

Ein Impuls drängte Zach, Bishop die Hand zu reichen, und dieser ergriff sie. „Es wäre auch mir eine Freude. Ich komme mit Sicherheit darauf zurück. Sind Sie bald wieder in der Stadt, Mr Bishop?“

„Nennen Sie mich bitte Henry.“

„Einverstanden. Ich bin Zachary.“

Sie schüttelten einander erneut die Hände.

„Freut mich, Zachary. Was Ihre Frage angeht: Ja, recht häufig sogar. Ich nehme jeden Montag mein Frühstück im Bistro dort drüben am Eck ein.”

„Was führte Sie dann heute hierher?“

„Wie angedeutet liegt mir der Laden sehr am Herzen. Ein weiterer… Freund hat mich auf Ihr Eintreffen aufmerksam gemacht. Da wollte ich die Gelegenheit ergreifen, ein paar Worte mit Ihnen zu wechseln.“

„Das sprach sich ja schnell herum. Ich hatte den Eindruck, Liverpool sei etwas größer als ein Dorf.“

Der Ältere schmunzelte. „Eine Großstadt, ohne Frage, wenn auch weit abgeschlagen im Vergleich zu London. Die Sammlerszene ähnelt allerdings einer Familie.“

„Verstehe. Ich kann der Familie leider nicht versprechen, dass der Fab Store weiter bestehen bleibt. Wie gesagt fangen meine Tochter und ich gerade erst an, die Lage zu erfassen. Ich muss Ihnen zudem gestehen, dass wir zwar durchaus Freunde der analogen Technik sind, das Metier meines Bruders jedoch kaum kennen. Wir sind Privatermittler, keine Musikexperten oder Kaufleute. Wir wären auf fachmännische Hilfe angewiesen.“

„Man könnte auch Paul ohne Einschränkung als eine Art Privatermittler bezeichnen. Statt Personen hat er eben Dinge aufgespürt. Wenn Sie Ihre eigene Detektei betreiben, besitzen Sie genug kaufmännisches Wissen, um eine saubere Abrechnung zu erstellen. Und was die fachliche Expertise betrifft: Es gibt keinen besseren Ort, an solche heranzukommen. Vielleicht kann ich helfen. Erwähnte ich schon, dass Ihr Bruder Freunde hatte?“

„Am Rande. Lassen Sie mich darüber nachdenken. In ein paar Tagen sehe ich die Dinge bestimmt klarer.“