Zach nahm das Sgt. Peppers-Album zur Hand, um es eingehend zu studieren, drehte es, um auch die andere Seite zu betrachten und nickte dann. Er reichte es an Veronica weiter. Auch diese konnte nicht umhin, den Beschreibungen Maria Borgheses zuzustimmen.
„Das ist aber noch längst nicht alles. Halten Sie sich fest: Eine DNA-Probe Sir Pauls, die wegen einer Vaterschaftsklage aus Deutschland genommen wurde, stimmte nicht mit einer Probe aus den frühen Sechzigern überein. Eine Handschriftenanalyse belegte, dass die Unterschriften aus den Sechzigern und den Achtzigern nicht von derselben Person stammen – die spätere hat ein Rechtshänder gezeichnet; Paul war jedoch Linkshänder. Eine Stimmanalyse kam zum gleichen Schluss: nicht derselbe Mann. Als Sir Paul 1980 in Japan wegen Drogendelikten festgenommen wurde, stellten die Beamten fest, dass seine Fingerabdrücke nicht denen entsprachen, die 1960 im Zusammenhang mit einer Anzeige wegen Brandstiftung in Hamburg genommen wurden.“
„Atemberaubend. Wieso befindet sich der Mann dann noch auf freiem Fuß?“
„Die Klage in Deutschland wurde als verjährt zurückgewiesen. In Japan hat die britische Regierung zu seinen Gunsten eingegriffen. Die unabhängigen Untersuchungen zu Stimme und Aussehen wurden von den sogenannten Qualitätsmedien nur punktuell aufgegriffen und schnell wieder fallengelassen. All jene, die trotz allem nicht locker lassen, erledigt in den Augen der Weltöffentlichkeit das Wörtchen ‚Verschwörungstheorie‘.“
„Mit dem sind wir spätestens seit 2020 bestens vertraut. Es ist infam, aber Sie haben recht“, stimmte Zach zu. „Es spielt keine Rolle mehr, was man belegen und beweisen kann. Sobald man der Mehrheit widerspricht – die unhinterfragt glaubt, was die Massenmedien ihnen erzählen – wird man als Spinner abgestempelt; als ob Wahrheit das Ergebnis von Volksabstimmungen wäre.“
Maria Borghese hatte den Detektiv aufmerksam angeblickt, während er sprach. Sie fragte: „Und Sie, Signore Ziegler? Auf welcher Seite stehen Sie? Schlägt Ihr Herz für die Mehrheit oder für die Minderheit? Stimmt die offizielle Story oder haben die Infokrieger mit ihrer alternativen Sicht auf die Dinge recht?“
„Ich habe keinen Einsatz in diesem Spiel. Mich interessiert die Wahrheit, egal wohin sie mich führt. Sie besitzt keine zwei Seiten, sie macht keine Kompromisse. Wir alle sehen die Wirklichkeit durch unsere persönliche Brille und kommunizieren das, was wir von ihr wahrnehmen, solange es unsere persönliche Agenda fördert. Es ist unvermeidlich, weil es menschlich ist. Daher kann die Verantwortung für meinen Geist – für Wahrnehmung, Verarbeitung, Erinnerung und Weitergabe sinnlicher Eindrücke – immer, ohne Ausnahme, nur bei mir selbst liegen. Mein Herz schlägt für die, die sich aufrichtig Mühe geben, nach dieser Einsicht zu leben. Der Rest kann mit seinen Glaubensbekenntnissen von mir aus zum Teufel gehen.“
„Genau das tut er, glauben Sie mir. Genau das tut er buchstäblich. Aber sparen wir uns das Gespräch für einen anderen Tag auf. Ich bin höchst erfreut, in Ihnen Geschwister im Geiste gefunden zu haben. Ich hege keine Zweifel, dass wir wunderbar zusammenarbeiten werden. Sie sind würdige Nachfolger Signore Campbells.“
„Danke Maria – ich darf Sie doch so nennen, oder?“, sagte Veronica. „Wir fühlen uns Ihnen ähnlich verbunden. Ich werde natürlich meine eigenen Nachforschungen anstellen müssen. Wenn es stimmt, was Sie uns eben mitgeteilt haben, ändert das alles. Die Antwort auf meine ursprünglichen Fragen steht jedoch noch offen.“
„Sicher – Veronica“, antwortete die Italienerin mit einem sanften Lächeln. „Sie möchten wissen, was der Code auf der Basstrommel besagt?“
„Ja. Und weshalb Onkel Paul ihn an die Wand gehängt hat.“
„Unter dem Porträt des jungen Paul McCartney, wohlgemerkt. ‚I ONEI X‘ steht für 11 IX, den elften September – ein wichtiges Datum in der freimaurerischen Numerologie. Zufälle kommen in den Kreisen nicht vor. Diese Leute planen für Jahrhunderte im Voraus. Ein Todesfall am 11.9. stellt eine rituelle Opferung dar. ‚HE ◊ DIE‘ erklärt sich selbst, ist jedoch leicht inkorrekt. Die Raute zeigt auf Billy Shears, den lebendigen McCartney-Darsteller, nicht auf den verstorbenen Paul McCartney – ganz im Gegensatz zu dem Arrangement Ihres Onkels.“ Sie deutete mit dem Daumen über die Schulter auf die Wand neben der Tür. „Signore Campbell arbeitete unter der Prämisse, dass der Peppers-Code die Wahrheit sagt. Das machte es einfacher, die ausgefallenen Wünsche seiner Kunden zu erfüllen, die fast alle der Überzeugung sind, dass Paul McCartney 1966 starb. Er hat mir nie gesagt, weshalb er das Bild aufgehängt hat, aber ich glaube, es sollte ihn täglich… zwicken.“
„Sie sagten doch, McCartney sei bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Wie passt ein Unfall zu einer geplanten Opferung?“, warf Zach ein.
„Als ich in Deutschland zur Schule ging, durchliefen wir ein Verkehrstraining für Fahrradfahrer. Ein paar Polizisten zeigten uns, wie man Unfälle vermeidet. Ich erinnere mich noch genau an den Titel einer Broschüre, die sie damals ausgeteilt haben: Unfall ist nie Zufall! Das gilt um so mehr, als der Fahrer des DB6 an sein schicksalhaftes Ende glaubte, und als seinem Schicksal möglicherweise nachgeholfen wurde, wie die Shears-Memoiren andeuten.“
Veronica schüttelte den Kopf. „Bei aller Liebe zur Wahrheit, ich glaube, wir haben heute Früh mehr erfahren, als wir in solch kurzer Zeit verarbeiten können. Ich habe tausend neue Fragen, aber mir platzt gleich die Schädeldecke weg. Lasst uns das Thema wechseln und eine Kleinigkeit essen.“
Der Detektiv und die Italienerin stimmten zu. Während die beiden über Einzelheiten der Zusammenarbeit diskutierten, holte Veronica Saft und Sandwiches aus der Küche. Als sie sich schließlich wieder gesetzt hatte, nahm sie sich lediglich eine kleine Käseecke, an der sie herumzuknabbern begann. Dem Gespräch folgte sie nur mit einem Ohr. Ihre Gedanken befanden sich hunderte Meilen entfernt, auf einer mondbeschienenen, von alten Bäumen gesäumten kurvigen Landstraße.
Kurz nach zehn Uhr desselben Montag Morgens schneite wie erwartet auch Thomas Henry Bishop alias Henry the Horse herein. Maria Borghese putzte gerade das Hinterzimmer. Der Boden des Ladens, den die Italienerin gewischt hatte, glänzte noch feucht. Henry nahm den Hut ab, grüßte die beiden Zieglers gut gelaunt und stellte fest: „Wie ich sehe, haben Sie eine Reinigungskraft gefunden.“
„Wir hatten Glück und konnten das Vertragsverhältnis mit Pauls Putzhilfe übernehmen“, erwiderte Zach.
„Oh, dann arbeitet Semolina also weiterhin hier? Ich freue mich sehr für sie. Sie werden sehen, die Frau ist ein Schatz!“
„Semolina? Wer ist Semolina?“, fragte Zach verwundert. „Nein, unsere Aushilfe heißt Maria Borghese.“
Henry lachte verlegen. „Entschuldigen Sie, dass ich Verwirrung stifte. Maria ist natürlich ein geschätztes Mitglied unserer Familie und führt als solches den Namen Semolina Pilchard. Sie haben sich noch gar nicht mit ihr über die Beatles unterhalten?“
„Sie haben keinen Ahnung… doch, vermutlich haben Sie mehr Ahnung als wir, schließlich haben Sie uns vor den dunklen Ecken der Bandhistorie gewarnt. Wir sind jedoch in der Kürze der Zeit noch nicht dazu gekommen, mit Maria über die Sammlerszene in Liverpool zu sprechen.“
„Tun Sie das, Zachary. Ich vertraue Semolinas Urteil uneingeschränkt. Da ich gerade hier bin, werde ich gerne auch selbst Auskunft erteilen.“
„Nun, wir hatten gestern Morgen das zweifelhafte Vergnügen, einer der Kreaturen von Mr Kite zu begegnen. Er lud uns für heute auf Kites Schloss ein.“
„Dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Ich komme gerade von meinem montäglichen Frühstück zurück und möchte Ihnen lediglich mitteilen, dass der Betrag für die Bänder angewiesen ist.“
„Sehr freundlich von Ihnen, danke!“, erwiderte Zach. „Konnten die Aufnahmen denn Ihre Erwartungen erfüllen?“
„Über die Maßen. Die Gespräche zwischen den Musikern fand ich äußerst kurzweilig. Sie arbeiteten tatsächlich an zwei unbekannten Stücken. Die Entscheidung, sie nicht auf das Album zu packen, war gerechtfertigt, aber wer weiß, was aus ihnen geworden wäre, wenn die Jungs noch ein wenig länger daran gefeilt hätten.“
„Die Beatles waren genial. Mir fällt kein anderes Wort dafür ein.“
„Die Musik ist zweifelsohne großartig, aber das Schreiben ist den Jungs nicht leicht gefallen. Es gibt genügend Hinweise, dass vieles aus der Feder von Ghostwritern stammt und ein guter Teil der Aufnahmen von Sessionmusikern eingespielt worden ist.“
Zach stöhnte. „Henry, nimm‘s mir nicht übel, aber wir haben von Maria – Semolina – heute eine volle Breitseite abbekommen. Veronica und ich werden das erst einmal verifizieren und verarbeiten müssen, bevor wir uns auf weitere Hiobsbotschaften einlassen können.“
„Selbstverständlich. Gut Ding will Weile haben, Zachary. Falls Sie den Fab Store weiterführen, bleibt Ihnen viel Zeit, die weniger erfreulichen Anblicke hinter der schönen Kulisse zu erkunden. Wie haben Sie sich denn nun entschieden? Werden Sie den Laden wieder aufmachen?“
„Ja, wir werden mit Semolinas Hilfe und dank Pauls Grundstock an Waren und Ersparnissen in der Lage sein, den Versuch zu wagen. Immerhin sind wir schon drei Mitgliedern der Familie begegnet, und morgen lernen wir das vierte kennen.“
„Ach morgen erst? Ich dachte, Sie wurden für heute eingeladen. Wann werden Sie denn in Wallace Castle erwartet?“
„Ich habe den Termin auf morgen um elf Uhr verschoben.“
Henry zeigte ein beeindrucktes Gesicht. „Sie sind äußerst couragiert, Zachary. Das gefällt mir. Strapazieren Sie die Geduld des Maestro jedoch nicht zu sehr. Er besitzt nur einen begrenzten Sinn für Humor.“
„Maestro? Wohl eher Zirkusdirektor, dem Clown nach zu urteilen, den er vorgeschickt hat.“
„Wie ich bereits andeutete, verfügt Kite über familiäre Verbindungen und finanzielle Mittel, die es angeraten sein lassen, ihn nicht unnötig zu reizen. Behalten Sie im Auge, dass er mit seinen Aufträgen wohl den größten Teil von Pauls Umsatz generiert hat. Und er greift anderen Sammlern gelegentlich unter die Arme, was Ihnen letztlich ebenfalls zugute kommt.“
„Schon gut. Ich kann es lediglich nicht leiden, wenn man mich einschüchtern und herumkommandieren will.“
„Hat der Bote Ihnen mitgeteilt, worin der Grund oder Anlass der Einladung besteht?“
„Nein. Wir können jedoch sicher sein, dass er über das Manuskript reden will.“
„Er wird auch wissen wollen, wie es mit dem Fab Store weitergeht. An seiner Stelle würde ich vorzufühlen versuchen, mit wem ich es künftig zu tun habe.“
„Würden Sie. So so…“ Zach zwinkerte. Sein rechter Zeigefinger richtete sich auf den älteren Mann, der Daumen fuhr herab wie der gespannte Hahn eines Revolvers.
Bishops Augen weiteten sich. „Erwischt. Zugegebenermaßen bin ich Kite ausnahmsweise eine Nasenlänge voraus.“
„Und Sie stellen sich etwas geschickter an. Wissen Sie, Henry, ich habe kein Problem damit, schlauen Menschen die Früchte ihrer Bemühungen zu überlassen. Es geht mir jedoch entschieden gegen den Strich, wenn jemand eine Agent-Smith-Nummer abzieht.“