Veronica begann den Morgen mit einer kleinen Recherche. Molly Jones hatte am Vortag sehr seltsam reagiert, als Zach gescherzt hatte, der Koffer eigne sich fast für die Aufnahme eines Menschen. Die Sekretärin hatte das Album ‚Yesterday and Today‘ erwähnt und sich geschüttelt. Veronica kannte den Titel nicht, ging aber wie selbstverständlich davon aus, dass es sich um ein Beatles-Werk handelte. Sie blätterte durch die LP-Sortierkästen des Ladens. Sie fand drei Exemplare des Albums. Eines zeigte drei der Pilzköpfe um einen auf seiner kleinsten Seitenfläche stehenden Kistenkoffer geschart. Der Deckel war geöffnet und im Inneren saß Paul McCartney. Obwohl die Gesichter der vier Musiker keine Trauer ausdrückten, stellte Veronicas Imagination die Verbindung zu einem Sarg oder dem Verscharren eines Leichnams her. Sie suchte auf der Rückseite des Covers nach dem Copyright-Datum. Da, 1966. ‚Yesterday and Today‘ musste eine der letzten Veröffentlichungen gewesen sein, an denen der biologische Paul McCartney mitgewirkt hatte. Im Gegensatz zu Molly Jones war sie nicht der Meinung, dass der dort abgebildete Koffer dem von Jane Asher glich, verstand jedoch ihre instinktive Reaktion auf den Scherz ihres Vaters.
Die Hüllen der beiden anderen LPs zeigten ein völlig anderes Bild: Die Beatles trugen weiße Arbeitskittel. Man hatte sie mit etwas garniert, das auf den ersten Blick wie Leichenteile aussah. Bei näherer Betrachtung erkannte sie, dass es sich um Körperteile aus der Tierschlachtung sowie lebensgroße nackte Baby-Plastikpuppen handelte, deren Köpfe nicht mehr auf den Rümpfen saßen. Die vier Musiker schienen die Metzgerszene zu genießen. Sie strahlten und grinsten, als habe ihnen jemand einen guten Witz erzählt. McCartney saß genau im Zentrum. Das Motiv stach schockierend aus der ihr bekannten Parade biederer Sechzigerjahre-Produktionen heraus. Das Spiel mit Ekel und Gewalt als Verkaufsargument trieben eigentlich Punk- und Metal-Bands, zehn beziehungsweise zwanzig Jahre später. Nicht einmal die Stones hatten Vergleichbares gewagt.
Veronica stellte fest, dass Onkel Paul die Scheibe mit dem Kofferbild für vergleichsweise kleines Geld verkaufte, für das Metzger-Ding hingegen Mondpreise im fünfstelligen Bereich aufrief. Sie leitete daraus ab, dass der Koffer die reguläre Version schmückte, die Schlachter-Clique eine limitierte, zensierte oder nur regional verkäufliche, jedenfalls rare Version. Sie wunderte sich erneut über die bizarren Dinge, die allenthalben zum Vorschein kamen, wenn man ein wenig am glänzenden Lack der Fab Four kratzte.
Ein Geräusch an der Ladentür ließ Veronica herumfahren. Ihr Nervenkostüm hatte gelitten, seit sie in Liverpool angekommen waren, stellte sie fest. Sie sah Maria, die den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte und gerade im Begriff stand, sich selbst einzulassen. Veronica winkte ihr, während sie sich in Bewegung setzte, um ihr zu öffnen. Die Italienerin zog den Schlüssel wieder ab. „Guten Morgen, Signorina Veronica“, sagte sie dankbar.
„Guten Morgen, Maria. Überpünktlich wie immer.“
„Störe ich?“
„Im Gegenteil. Ich kann Gesellschaft heute ganz gut gebrauchen.“
„Haben Sie schlecht geträumt?“
„Danke der Nachfrage. Ich hätte Anlass dazu gehabt.“
Maria sah die Schallplatten, die die Detektivin auf den Sortierkisten liegen gelassen hatte. „Na, da kann einem aber auch schlecht werden, wenn man den Tag mit solchen Szenen beginnt.“
Veronica schnaubte. „Können Sie mir erklären, weshalb eine angeblich für Frieden und Liebe stehende Band sich in einer derart morbiden Aufmachung fotografieren lässt?“
„Von wegen, morbide – Avant-Garde! So lautet zumindest die gängige Erklärung.“
„Morbide und geschmacklos. Wie lautet die zweitgängigste Erklärung?“
Maria warf ihr einen listigen Blick zu und fragte zurück: „Wie kommen Sie darauf, dass es die gibt?“
„Weil das, was in den Zeitschriften und Büchern über die Beatles steht, mehr Löcher enthält als ein Schweizer Käse, mehr Widersprüche aufweist als ein falsches Geständnis, und weil ich bisher für jede solche Story eine besser zu den Tatsachen passende gefunden habe.“
„Schön beobachtet. Wie wär‘s dann hiermit: Die Beatles hatten die Nase voll davon, dass ihre Alben für US-Veröffentlichungen von der Plattenfirma verhackstückt wurden. Capitol Records hat sie gekürzt, umgestellt und mit anderen ihrer Werke kombiniert. In diesem Fall hat das Label einige Songs vom noch nicht erschienenen ‚Revolver‘-Album mit Stücken von den beiden Vorgängern auf ‚Yesterday and Today‘ gepresst. Das ‚Butcher-Cover‘, wie es von Kennern genannt wird, sollte ein visueller Protest werden. Der Schuss ging nach hinten los; die schon ausgelieferten Chargen mussten nach massiven Beschwerden von Händlern und Kunden zurückgerufen und neu verpackt werden. Die Band hat aber zumindest erreicht, dass ‚Yesterday and Today‘ das letzte solche Produkt blieb.“
„Grimms Märchen, die Zweite. Als ob die PR-Leute des Labels keine Ahnung hatten, welch eklatanten Tabubruch sie begingen! Waren sie auf Schockwirkung aus? Schließlich ist auch schlechte Presse gute Werbung.“
Maria wiegte den Kopf. „Es gibt hier zwei sehr interessante Umstände, die gegen eine simple PR-Aktion sprechen – und für eine tiefer gehende Manipulation. Ad 1: Yesterday and Today wurde am 15.6.‘66 veröffentlicht. Nehmen wir eine einfache numerologische Operation vor: Eins plus fünf ergibt sechs, für all jene, denen die drei weiteren Sechsen nicht genügen. Vier mal sechs ergibt 24. Zwei plus vier ergibt wieder…“
„Sechs! Hol‘s der Teufel.“
„Nur eins von vielen Beispielen, in denen die Veröffentlichung an Daten mit esoterischer Bedeutung stattfand. Ad 2: Im August, vier Tage vor Beginn der US-Tour erschienen drüben sowohl das Album ‚Revolver‘ als auch die Single-Auskopplung ‚Eleanor Rigby / Yellow Submarine‘. Von den insgesamt vierzehn Songs spielten sie wie viele live? Was glauben Sie?“
„Die Bands, auf deren Konzerten ich war, haben stets mehr als die Hälfte, manchmal sogar alle Lieder von ihrer neuesten Scheibe gespielt.“
„Die Beatles spielten keinen einzigen aktuellen Song, nur zwei vom Vorgänger ‚Rubber Soul‘, und neun alte Kamellen, darunter zwei Coverstücke.“
Veronica runzelte die Stirn. „Ich bin zwar keine PR-Spezialistin; vielleicht hat man den Zweck von Öffentlichkeitsarbeit in den Sechzigern auch anders verstanden als heute, aber aus meiner Sicht wurde bei der Vermarktung von ‚Revolver‘ Murks gebaut. ‚Yesterday and Today‘ fraß Aufmerksamkeit und Kaufkraft auf. Gleichzeitig sorgte das Butcher-Cover für einen Skandal, der bestimmt manche von ihrer Beatlemania kurierte. Und zu guter Letzt wird das neue Material überhaupt nicht live gespielt? Was sollte die Tour überhaupt bringen?“
„Wie ich schon sagte, es sieht mehr nach Massenmanipulation aus. Die Beatles wurden über Monate ins Bewusstsein der Konsumenten gepresst. Ein Compilation-Album, eine Single, eine neue LP, Interviews, Zeitungsberichte, Skandalnachrichten, Tour… Die simplen Melodien und albernen Teenie-Liebestexte der frühen Alben gingen gut ins Ohr; ‚Revolver‘ klang weniger gefällig, die neuen Stücke waren wesentlich komplexer. Also hat man sie weggelassen, um die Stimmung bis zum 29. August, dem Tag des allerletzten Konzerts vor einem Massenpublikum, nochmals richtig aufzuheizen. Dreizehn Tage später stirbt McCartney; eine neue Ära beginnt, in der die Band Psychedelic-Musik schreibt, deren Texte fast ausschließlich aus unterschwelligen Botschaften bestanden, und in der ihre Mitglieder offen den Gebrauch von Hasch und LSD befürworten.“
„Verstehe,“ sagte Veronica, „Die Fans und die Radio hörende Bevölkerung vollzogen die Lockerung der Moralvorstellungen mit, denn wenn‘s ihre Lieblinge, die vier netten Jungs aus Liverpool, gut fanden, musste es cool sein. Dann folgte der Sommer der Liebe, Flower Power, Vietnam-Proteste, New Age – was gibt es daran auszusetzen? War das nicht eine Verbesserung gegenüber dem verkrusteten, verklemmten Zustand vorher?“
„Relativ gesehen schon, aber es geht den Olympiern nicht um Reformen. Billy Shears schreibt in seinen Memoiren, dass es ihr Ziel sei, die alte Ordnung komplett zu zerstören, um ihre neue Weltordnung wie Phoenix aus der Asche daraus erstehen zu lassen. Institutionen, Traditionen, Religionen, Nationen und so weiter – Konzepte, die dem Leben einen Halt und einen Rahmen geben – sollen ihrer Grundlagen beraubt und aufgelöst werden. Dann folgt ‚der Große Neustart‘. Die Unterhaltungsindustrie spielt eine wesentliche Rolle im Zerstörungswerk, weil sie zum einen für harmlos gehalten wird, zum anderen jedoch ihre Inhalte tief ins Unterbewusste des Menschen einpflanzt. Gerade junge Menschen, die sowohl formbar sind als auch gern gegen die herkömmlichen Normen rebellieren, können auf diesem Weg leicht für die Sache der Olympier eingespannt werden. Billy schreibt, die Beatles und die Rolling Stones seien gezielt aufgebaut und eingesetzt worden, um Barrieren zu brechen.“
„Wer sind diese Olympier? Halten die sich für Götter? Was wollen sie von uns?“, wunderte sich Veronica.
„Die Kontrolleure nennen sich so. Sie entstammen uralten Blutlinien, Dynastien, die Jahrtausende in die Vergangenheit zurückreichen, vielleicht sogar bis zum Beginn der Zivilisation. Sie bedienen sich der Illuminati, diese bedienen sich der Freimaurer, und letztere bedienen sich der gesellschaftlichen Hierarchien, um die gewöhnliche Bevölkerung zu lenken. Letztlich geht es um die Schaffung eines neuen Menschen, einer künstlichen Spezies – unsterblich, allwissend, allmächtig –, die den Göttern, der Natur, ja dem gesamten Universum trotzen kann.“
„Größenwahn, wie er im Lehrbuch steht.“
„Psychopathen und Soziopathen, Signorina, wenn man es in psychologischen Begriffen ausdrücken will; Satanisten, wenn man es aus religiöser Sicht betrachtet. Falls es stimmt, was Billy Shears schreibt, sind nicht nur die oberen Ränge der Freimaurer und die Illuminaten Satanisten. Die Olympier selbst glauben, dass Luzifer die Welt regiert.“
„Jetzt verstehe ich so langsam, weshalb Mr Kite sagte, McCartney habe es verdient, Luzifer übergeben zu werden. Er meinte buchstäblich eine Opferung, richtig?“
„Si. Ich deutete es vor ein paar Tagen schon einmal an.“
„John Lennons Spruch, er habe seine Seele an den Teufel verkauft, muss man dann ebenfalls wörtlich nehmen, oder?“
„So ist es. Manche glauben, es geschah am 27. Dezember 1960, als das erste Mal ein Beatlemania-ähnlicher hysterischer Ausbruch auf einem ihrer Konzerte entstand; Billy nennt den 24. Oktober 1963. Es spielt keine Rolle. Paul und John, und vielleicht auch George, sagten Dinge, deren Tragweite sie in ihrem jugendlichen Leichtsinn kaum abschätzen konnten. Geld, Mädchen, Ruhm, Einfluss – der Teufel gibt dir alles, wenn du ihm im Gegenzug deinen größten Schatz versprichst: deine unsterbliche Seele.“
„Ich mag das Wort ‚Gott‘ nicht; es ist überfrachtet mit Vorstellungen, die ich nicht teile“, sagte Veronica, „aber ich glaube, es gibt etwas Höheres, eine ordnende Kraft, die das Leben liebt. Die Seele ist es, die uns lebendig macht, oder?“
Maria nickte.
„Ich glaube aber nicht an den Teufel. Der wurde doch nur erfunden, um den Menschen Gehorsam beizubringen.“
Die Italienerin lachte trocken. „Ich würde mich hüten, ihn zu unterschätzen. Erstens besitzt das Böse eine eigene Dynamik, eine Kraft, die dem Guten, dem Göttlichen, entgegen gerichtet ist. So wie Christus das Fleisch gewordene Gute darstellt, personifiziert der Teufel das Böse. Sie können sich die beiden Seiten in ganz verschiedenen Worten, Bildern und Konzepten zurechtlegen, aber ihre Existenz als solche bleibt davon unberührt.“
„Verstehe. Jede Kultur formt ihre eigenen Mythen, um die Kräfte zu erklären, die ihr Dasein beeinflussen.“
„Si, Signorina Veronica. Deshalb spielt es – zweitens – keine Rolle, ob Sie den Teufel, Satan oder Luzifer für real halten oder nicht. Was zählt ist vielmehr, dass die Olympier und ihre Untergebenen an ihn glauben, denn es hat Auswirkungen auf alles, was sie tun. Paul McCartney mag den Teufel für einen Witz gehalten haben, fiel aber dennoch dem Silberhammer der Satansdiener zum Opfer. Da sie global alle Machtstrukturen kontrollieren, stimmt Billys Aussage, dass Luzifer die Welt beherrscht; ob im übertragenen oder wörtlichen Sinn, bleibt sich gleich.“
Im Gesicht der jungen Detektivin zeigte sich Betroffenheit.
„Es gibt hierbei noch einen dritten Aspekt, der genau wie die beiden anderen von der Mehrzahl unserer Zeitgenossen abgestritten und daher überhaupt nicht beachtet wird. Die Riten, Opfer und Beschwörungsformeln des religiösen Satanismus sind nicht der Kern seiner Lehre. Das sind sie bei keiner Religion. Der Lohn des Satanisten sind weltliche Güter. Mit anderen Worten: Er glaubt an den radikalen Materialismus und verankert den Menschen daher in der rein physisch-rationalen Ebene, die seinem niederen Ego-Bewusstsein entspricht. Wenn wir bedenken, wie die Wirklichkeit in den Medien gezeichnet wird, wie Geld alle Bereiche der Gesellschaft dominiert, was die Leute allgemein für erstrebenswert halten und wer in ihrem Leben die Hauptrolle spielt – nämlich nur sie selbst –, dann können wir ohne Einschränkung festhalten, dass die Mehrzahl der Menschen Materialisten und Egoisten sind. De facto handeln sie wie Satanisten.“