Hecken und niedrige Natursteinmauern behinderten die Sicht. Der Weg führte mehrere Kilometer lang einspurig über holprige Traktorpfade. Im tief liegenden GT war von der Landschaft wenig zu sehen. Er rollte wegen seiner zu geringen Bodenfreiheit außerdem lediglich in Fahrradgeschwindigkeit seinem Ziel entgegen. Wer hier draußen lebte, sollte besser in keine Situation geraten, die schnelle Hilfe von außen erforderte, dachte Veronica. Bis Krankenwagen, Polizei oder Feuerwehr einträfen, hätte sich das Problem von selbst erledigt, wenn auch nicht notwendigerweise zum Guten. Doch schließlich deutete Desmond auf eine Öffnung in dem Wall, dem sie seit einigen Minuten schon gefolgt waren. Sie bog ab, und da war es: das Ferienhaus der ‚Familie‘.
Seine Form lies auf ein historisches Bauernhaus schließen, dessen Erbauer wohlhabend gewesen sein mussten, denn es besaß sowohl einen großzügigen Grundriss als auch ein zweites Stockwerk. Es war gut in Schuss gehalten worden; der Dachstuhl hing nicht durch, die Schindeln glänzten im Sonnenlicht, die Wände standen gerade und waren sauber verputzt. Doch das Gebäude sah verlassen aus. Die Holzläden an den Fenstern des Erdgeschosses waren sämtlich geschlossen. Keine Wäsche hing zum Trocknen auf der Leine, kein Fahrzeug stand im Hof.
Das Gefühl von weiträumiger Einsamkeit war mit Händen zu greifen. Wenn man ein bisschen Abstand zur Zivilisation brauchte, konnte dieser Ort Balsam für die geschundene Seele bieten. Doch sie suchten ja nicht das Alleinsein, sondern eine junge Menschin, die seit einem Monat aus Liverpool verschwunden war. Wenn sie sich hier draußen befand, verheimlichte sie ihre Anwesenheit sogar vor jenen, die sich zufällig in diese gottverlassene Gegend verirrten. Und wer an einem ohnehin versteckt liegenden Ort seine Spuren verwischte, hatte Grund zur Furcht. Veronica spürte Kribbeln im Bauch, das Kitzeln einer Intuition, die wenig Gutes verhieß. Es gelang ihr auf den wenigen Metern, die der GT brauchte, um auszurollen und stehen zu bleiben, jedoch nicht, eine Ursache dafür zu ergründen. Sie stellte den Motor ab.
Sie öffneten die Fahrzeugtüren nicht sofort aus, sondern blieben einen Augenblick sitzen. und lauschten den Geräuschen, die durch die heruntergekurbelten Seitenfenster hereindrangen. Abgesehen vom Knacken des Motors, der abzukühlen begann, hörten sie lediglich einige Singvögel und das Säuseln eines leichten Windes. Ihre Augen suchten die Hausfront und die nähere Umgebung ab, doch an dem Eindruck von Verlassenheit änderte sich nichts. Veronica sah Desmond fragend an. Er schaute zurück, dann deutete er durch eine Kopfbewegung an, sie sollten zur Haustür gehen. Also stiegen sie aus. Veronica zog das halblange schwarze Kleid glatt, das vom Sitzen zerknittert war.
Langsam näherten sie sich der Eingangstür, die die Längsseite mittig in zwei gleich große Hälften teilte. Dem wuchtigen Rahmen und der groben Machart der Tür nach zu urteilen musste sie dem Ansturm eines Rammbocks standhalten können. Der Polizist griff in eine der Taschen seiner ärmellosen Strickjacke. Ein Sicherheitsschlüssel kam zum Vorschein. Er steckte ihn ins Schloss und drehte zwei Mal. Ein leises Klickern verkündete, dass der Mechanismus den Weg freigeben würde. Das Türblatt gab dem Druck der Schultern des Mannes sofort nach. Es schwang ohne Geräusch nach innen und zeigte sich im Profil genau so kräftig, wie Veronica vermutet hatte. Desmond trat ein; die Detektivin folgte ihm dichtauf. Er schloss die Tür sofort wieder. Sie rastete mit sattem Ton ein.
Sie befanden sich in einem Gang, der, wie es für sie aussah, durch das ganze Haus bis zur rückwärtigen Außenmauer verlief, wo eine weitere massive Tür wieder nach draußen führte. Rechts und links gingen je zwei Türen ab. Zwischen ihnen sah Veronica auf der linken Seite eine Treppe nach oben und direkt gegenüber eine eben solche nach unten führen. Eine dünne Staubschicht bedeckte den Boden. Nichts wies darauf hin, dass das Haus derzeit eine Bewohnerin hatte. Sie wollte sich eben zu Desmond umdrehen, um ihn zu fragen, weshalb keine der Türen eine Klinke besaß, da traf sie ein harter Schlag an der linken Schläfe. Sie rollte die Augen nach oben und fiel bewusstlos zu Boden.
Gegen halb zwei verließen Henry und Maria den Laden. Beide umarmten Zach noch einmal und sprachen ihm Mut zu. Der Detektiv brütete weitere zwanzig Minuten über der Geschichte von Mustards Tod, bevor ihm einfiel, dass Veronica aufs Polizeirevier gefahren war. Sie sollte eigentlich längst zurückgekehrt sein. Da er es nicht länger allein aushielt, schnappte er eine Jacke und ging zu Fuß zur Wache. So würde er nebenbei vielleicht Gelegenheit erhalten, ein paar Worte mit Wickens zu wechseln, der ihm, wenn er darüber sprechen durfte, bestimmt mehr über Mustards Tod erzählen konnte als das Lokalradio. Doch an der Rezeption teilte ihm ein junger Polizist mit, dass der Kommissar und Veronica bereits am frühen Morgen das Haus mit unbekanntem Ziel verlassen hatten. Über den Stand der Ermittlungen zum Selbstmord des reichen Sammlers dürfe er nichts sagen. Es werde aber nach Rückkehr des Kommissars eine offizielle Verlautbarung geben.
„Sagten Sie ‚Selbstmord‘?“ fragte Zach verdutzt.
„Tut mir leid, ich darf Ihnen wirklich keine weiteren Auskünfte erteilen.“
Zach schaute den jungen Uniformierten zweifelnd an, dann machte er kehrt, um nach Hause zurück zu gehen. Ein Gefühl der Beklemmung nistete sich in seinem Geist ein. Wo befanden sich Wickens und Veronica? Redeten sie noch immer miteinander? Er glaubte eher, dass sie schon getrennter Wege gingen. Wickens mochte sich zwecks Ermittlungen am Tatort befinden; Veronica wollte ein paar Besorgungen erledigen. Sie bummelt womöglich gerade durch die Innenstadt und konnte jederzeit wieder im Laden eintreffen. Er beschleunigte seine Schritte. Doch als er den Fab Store in den Rainford Gardens betrat, fand er das Gebäude verlassen vor. Zach beschloss, noch ein wenig zu warten. Er setzte zwei Tassen Kaffee auf, die er, als die Brühe durchgezogen war, umgehend hinunterstürzte. Er ging zum Telefon neben der Registrierkasse, nahm den Hörer ab und rief Molly Jones, Wickens‘ Frau, an ihrem Arbeitsplatz bei Notar Miller an.
„Mrs Wickens, guten Tag. Hier spricht Zachary Ziegler.“
„Good day, Mr Ziegler“, flötete die Sekretärin. „Was können wir für Sie tun?“
„Mrs Wickens, entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich suche nach Ihrem Mann. Auf der Wache teile man mir mit, er habe das Gebäude in der Frühe verlassen. Wissen Sie zufällig, wohin er gegangen ist?“
„Nein, da kann ich Ihnen leider nicht helfen. Er sagt mir selten, was er tagsüber unternimmt. Das bringt sein Beruf so mit sich, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sie hatten doch einen Termin mit ihm. Ist er nicht erschienen?“
„Eine andere Verpflichtung kam mir dazwischen. Veronica ging an meiner statt zum Gespräch. Seither sind die beiden verschwunden.“
„Ach, die werden schon wieder auftauchen. Machen Sie sich keine Sorgen“, erwiderte die Sekretärin gut gelaunt.
„Wahrscheinlich haben Sie recht“, erwiderte Zach. „Haben Sie übrigens heute die Lokalnachrichten gehört?“
„Dazu hatte ich keine Zeit. Es war viel Betrieb bei uns. Wie hoch hat der FC Liverpool gewonnen?“
„Keine Ahnung. Ich meinte die Meldung über Mr Mustard.“
„Mustard? Hält er wieder peinliche Reden über Corbyns angeblichen Antisemitismus?“
„Kaum. Er wurde gestern Nacht erschossen.“
„Erschossen?“, quiekste es aus dem Schellack-Hörer.
Zach nickte. Dann fiel ihm ein, dass sie es nicht sehen konnte. Er sagte: „Ja. Es kam kurz nach zehn Uhr im Radio. Wissen Sie, ob er sich Feinde gemacht hat?“
„Zeigen Sie mir einen Juden, der keine Feinde hat. Aber gleich erschießen? Wer macht den so etwas?“
„Wir werden es früh genug erfahren, hoffe ich. Schalten Sie das Radio ein. Die Polizei will bald eine Stellungnahme abgeben.“
„Mache ich. Mr Ziegler, ich muss nun leider das Gespräch beenden. Soeben sind Kunden eingetreten. Richten Sie Veronica Grüße von mir aus, wenn sie zurückkehrt. Auf Wiedersehen!“
„Auf Wiedersehen, Mrs Wickens.“ Er legte auf.
Zach knirschte mit den Zähnen. „Verdammt!“, knurrte er. Seine beiden aussichtsreichsten Versuche, etwas über Veronicas Verbleib und den Mustard-Fall herauszufinden, waren ohne Ergebnis geblieben. Was nun?
Ein stechender Schmerz in ihrem Kopf war das erste, was sie bei der Wiederkehr ihres Bewusstseins begrüßte. Ihre Augenlider fühlten sich geschwollen an, daher entschied sie, dass sie diese erst einmal geschlossen halten würde. Sie prüfte den Zustand ihres Körpers, indem sie ihre Aufmerksamkeit von der pochenden Schläfe abwandte und langsam der Wirbelsäule entlang nach unten schickte. Sie lag auf der Seite, unter ihr eine Strohmatte. Gesicht und Hals meldeten keine Probleme. Die rechte Schulter fühlte sich an, als habe sie einen Boxhieb erhalten, schien abgesehen davon jedoch okay zu sein. Als ihr geistiges Auge bei den Handgelenken ankam, bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Sie… war gefesselt! Ein Alarmsignal raste durch die Arme ins Gehirn. Die junge Frau erwachte schockartig aus ihrer Benommenheit. Sie riss die Lider auf und betrachtete ihre Hände, die durch einen kräftigen Lederstreifen in Gebetsstellung zusammengebunden waren. Ein dort angeknoteter Kälberstrick wand sich von ihr fort über den Boden, um in etwa einem Meter Entfernung wie eine Kobra in die Höhe zu steigen. Mehr konnte sie aus ihrer Position nicht erkennen.
Es herrschte schummriges Zwielicht in dem Raum, dessen holzvertäfelten Wände nur wenige Meter entfernt aufragten. Wie spät mochte es sein? Veronica versuchte die Lichtquelle auszumachen. Langsam drehte sie sich auf den Rücken. Sie stöhnte laut. Ihr Kopf drohte zu explodieren. Als der sternenbesetzte Himmel vor ihren Augen sich wieder auflöste, folgte ihr Blick dem Seil nach oben. Was war das? Sie sah, dass es um mehrere Rollen geschlungen war, die an einem Haken von der Balkendecke herabhingen. Jenseits davon fiel es wieder dem Boden entgegen. Die Auflösung des Bildrätsels lag gefühlt in Griffweite, aber verborgen durch einen Nebel aus Kopfschmerzen und Desorientiertheit.
Die Lichtquelle! Sie hatte doch herausfinden wollen, woher das Licht kam, in der Hoffnung, die Tageszeit abschätzen zu können. Unter Vermeidung jeglicher anderer Bewegungen lies sie langsam den Blick kreisen. Es gab zwei Fenster auf der einen Seite des Raums. Die Dämmerung war schon weit fortgeschritten, doch die Reste von Tageslicht am schwarzblauen Himmel und tauchten alles in geisterhaftes Grau. Dann hatte sie also den ganzen Tag bewusstlos dagelegen… „Desmond!“, war ihr nächster Gedanke. Er hatte sie in diese Einöde gelockt und dann niedergeschlagen. Warum? Wollte er sie umbringen, weil sie ihm auf die Spur gekommen war? Panik flammte auf und ließ sogleich wieder nach. Das hätte er längst erledigen können. Er wollte etwas von ihr, brauchte sie noch für etwas, das zu ergründen im Moment zu viel Geisteskraft von ihr erfordert hätte. Sie ließ den Gedanken fahren und wandte sich erneut dem Problem ihrer gefesselten Hände zu. Als sie diese vor ihr Gesicht hob, bemerkte sie dahinter eine Gestalt an der Stelle, wo das Seil von den mysteriösen Rollen bis zum Boden hing. Ihre Umrisse glichen jenen des Polizisten.
Bis jetzt hatte er reglos außerhalb des Gesichtskreises der jungen Frau gestanden und still beobachtet, wie sie langsam wieder zu Bewusstsein gelangte. Als deutlich wurde, dass sie ihn bemerkt hatte, erhob er seine Stimme.„Ah, Miss Schlaumeier ist aufgewacht. Ich habe mich schon gesorgt, dass der Schlag ein wenig zu hart gewesen sein könnte“, sagte er höhnisch.