42) Auf sich allein gestellt

Desmond war ohne weiteren Kommentar durch die Tür nach draußen entschwunden. Sie hörte ihn die Treppe hinuntergehen. Veronica blieb sich selbst überlassen in dem Raum zurück. Das zur Decke führende Seil hielt ihre Arme nach oben ausgestreckt, so dass sie sich weder setzen noch hinlegen, sondern nur stehen oder hängen konnte. Stehfolter, dachte sie. Doch schlimmer als das Stehen empfand sie das Kribbeln in ihren Armen und Händen, gegen das sie nichts unternehmen konnte. Sie drehte sich um ihre eigene Achse, um den Raum in Augenschein zu nehmen. Der stechende Kopfschmerz hatte etwas nachgelassen und auch ihr Sehvermögen stabilisierte sich so langsam. Leider herrschte nun finstere Nacht. Ohne den Mond und ohne eine künstliche Beleuchtung in der Nähe spendete nur das Band der Milchstraße ein schwaches Licht, das die Gegenstände in ihrem Gefängnis als undeutliche Schemen, schwarz vor dunklerem Schwarz, erkennen ließ.

Es gab ein kleines quadratisches Tischchen oder Schränkchen unter dem rechten Fenster; sie sah nur die Deckplatte. Rechts daneben, in einer Ecke des Raums, zeichnete sich wegen der vermutlich weißen Laken etwas heller ein Bett ab. Unter dem anderen Fenster sah es so aus, als stünde dort ein Stuhl. Links an der einwärts führenden Wand sah sie die Umrisse des eisernen Leuchters, an dem ihr Seil befestigt war. Am anderen Ende der Wand hing ein weiterer, meinte sie zu erkennen. Es folgte die Zimmerecke, auf deren Existenz sie nur schließen konnte, denn die Innenwand lag vollständig im Schatten. Außer der mittig angebrachten Türöffnung, die sie gesehen hatte, als Desmond hindurchgegangen war, kannte sie keine Details ihrer Beschaffenheit.

Noch immer wusste sie nicht, wie spät es war. Als sie aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war, hatte sie gerade noch die letzten Augenblicke der Dämmerung erlebt. Wie lang hatte sie mit Wickens gesprochen? Es mochten fünfzehn oder zwanzig Minuten gewesen sein, plus die Zeit, die sie auf die Inspektion des Raums verwendet hatte. Sie schätzte, es musste nun halb acht Uhr sein. Sie drehte sich der Fensterseite zu. Ihr Blick wanderte hinaus zum Sternenhimmel. Die Stellung der Konstellationen über dem Horizont sagte ihr, dass ihre Schätzung gut getroffen war. Ab jetzt würde ihre innere Uhr mitlaufen, die sie zuletzt im Wallace-Schloss trainiert hatte. Das verschaffte ihr drei Annehmlichkeiten: Sie würde orientiert bleiben, sie wäre beschäftigt und es beruhigte die Nerven. Wenn sie eine Chance haben wollte, hier lebend und un… Sie schauderte, als Marias Beschreibung aus ihrer Erinnerung aufstieg, wie Kite mit Kirk umgesprungen war.

Wenn sie hier lebend herauskommen wollte, griff sie den Gedanken neu auf, musste sie voll konzentriert bleiben. Sie musste jeden noch so kleinen Vorteil mit maximaler Wirkung gegen ihre Entführer einsetzen. Einer dieser Vorteile bestand darin, dass man sie wahrscheinlich unterschätzte. Mit ihren fünf Fuß zehn war sie nicht übermäßig groß; sie war jung und hatte ein sanftes Gesicht, und sie hatte ihre Kenntnis verschiedener Kampfsportarten noch nicht in Liverpool anwenden müssen. Das Überraschungsmoment war auf ihrer Seite, aber natürlich nur ein einziges Mal. Sie würde Erfolg haben oder… Der Gedanke war müßig.


„Ist es möglich, dass der Polizist meinte, Desmond sei nur im Moment abwesend?“, fragte Maria Borghese.

Zach schüttelte energisch den Kopf. „Nein, er hat ausdrücklich gesagt, der Kommissar sei heute nicht im Dienst. Er war jedoch auf der Wache und hat diese laut Angaben des Jungspunds an der Rezeption zusammen mit Veronica verlassen. Wenn er nicht am Fall Senfkorn arbeitet, wo könnte er dann hingegangen sein?“

„Frag mich etwas Leichteres. Das einzige, das mir einfällt, ist unser Ferienhaus an der schottischen Grenze.“

„Du meinst, Kirk befindet sich dort und sie sind hingefahren? Gibt es ein Telefon im Haus?“

„Das Gebäude liegt dermaßen abseits, dass wir mehrere Kilometer Kabel aus eigener Tasche hätten bezahlen müssen. Das war es uns nicht wert, zumal man ja ein Mobiltelefon mitnehmen kann, wenn man erreichbar sein möchte. In der Regel wollten wir aber nur unsere Ruhe.“

Zach richtete sich plötzlich in seinem Sitz auf der Rückbank des Taxis auf, das sie ins Stadtzentrum trug. „Ha! Du bist ein Genie!“ Er drückte Maria einen Kuss auf die Wange.

„Ich weiß,“ sagte sie lächelnd, „ aber womit habe ich deine Lobpreisung verdient?“

„Mir hätte schon längst einfallen können, Kirk mittels Handy-Ortung aufzuspüren.“ Die restlichen Fahrminuten schwieg der Detektiv. Er rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her. Als sie endlich vor dem Laden angekommen waren, warf er eine Einhundert-Pfund-Note auf den Beifahrersitz und sprang ohne weiteres Aufhebens aus dem Wagen.

Maria bedankte sich beim Fahrer. „Behalten Sie den Rest“, sagte sie. Dann folgte sie Zach in den Laden. Als sie die Tür hinter sich schloss, war er schon nirgends mehr zu sehen.


Die Zeit verrann, ihre innere Uhr tickte mit. Veronica begann, sich Pläne für mehrere Szenarien zurechtzulegen. Als sie zufrieden war, dachte sie an ihren Vater. Er vermisste sie bestimmt schon seit der Mittagszeit. Was würde er unternommen haben, als klar war, dass sie sich wahrscheinlich in Schwierigkeiten befand? Bestimmt drehte er jeden Stein auf der Suche nach ihr um, doch ob er in der Lage war, ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort nicht nur in Erfahrung zu bringen, sondern auch rechtzeitig zu erreichen, musste sie bezweifeln. Also: keine Fehler! Sie war auf sich allein gestellt.

Die Detektivin überlegte gerade, ob sie ihren Geist und die Beine erfrischen sollte, indem sie zu schlafen versuchte, oder ob sie Hände und Arme noch etwas schonte, um sie gegebenenfalls gegen Kite einsetzen zu können. Alles hing davon ab, wie lange man sie noch in dieser quälenden Haltung stehen ließ. Ihre innere Uhr zeigte elf. Sie hörte draußen einen Käfermotor näherkommen. Das Geräusch war einfach mit nichts zu verwechseln. Das musste Kite sein. Man hatte ihr die Entscheidung abgenommen: Sie würde wach bleiben.

Das Knattern erstarb. Eine dünne Blechtür wurde zugeschlagen. Kurz darauf hörte sie den satten Ton der ins Schloss fallenden schweren Haustür. Ein kurzer unverständlicher Wortwechsel zwischen zwei Männern. Danach herrschte wieder Stille.


Der Laptop fuhr in nervenzerfetzend geringer Geschwindigkeit hoch. Kurz vor der Passworteingabe blieb er stecken. Zach fluchte und startete den Rechner neu. Maria legte eine Hand auf seinen Arm. „Vielleicht sollten wir Pauls Arbeitsrechner benutzen. Der läuft sehr viel schneller. Außerdem wird er besser gegen Schnüffelversuche abgesichert sein.“

„Ich brauche ein paar Spezialprogramme. Ohne die geht‘s nicht weiter.“ Zach presste die Lippen zusammen.

„Nimm den Laptop mit. Wir können ja parallel arbeiten“, erwiderte sie.

Maria fand tatsächlich einige nützliche Anwendungen auf Pauls Rechner, bevor es Zach gelang, den Laptop ans Laufen zu bringen. Der Detektiv hob eine Augenbraue, wunderte sich über die ungewöhnliche Ausstattung, stellte aber keine Fragen. Zu seiner Enttäuschung half ihnen das Ergebnis ihrer Recherche nicht weiter. Kirks Mobilnummer war seit einem Monat offline. Zuletzt war sie bei ihr zuhause registriert worden.


Eine halbe Stunde nach Eintreffen des Wagens hörte Veronica schwere Schritte auf der Treppe, dann auf den Holzdielen des Gangs. Vor ihrem Zimmer legte der Mann (?) eine Pause ein. Ein Schlüsselbund klackerte und klirrte, Metall schabte über das Holz der Tür. Mit einem Klicken öffnete sie sich. Licht fiel durch den schnell breiter werdenden Spalt. Es blendete sie, da ihre Augen auf die tiefe Dunkelheit des nächtlichen Raums eingestellt waren. Sie schloss die Lider gerade rechtzeitig, bevor grelle Wandlampen neben der Tür aufflammten. Die Gestalt, die sie kurz davor im Rahmen gesehen hatte, gehörte unverkennbar dem Schlossbesitzer mit seiner großen, kräftigen Figur. Sie hielt die Lider noch immer zugekniffen, als er sie ansprach.

„Welch seltenes Vögelchen hat sich da in meiner Falle gefangen? Hmhm!“, höhnte er im Tonfall eines Snobs. Als sie nicht reagierte, sagte er: „Du kannst die Augen wieder öffnen. Ich werde dich nicht fressen – jedenfalls nicht sofort.“ Wieder lachte er, doch diesmal ohne die geringste Spur von adligem Getue. Die Hyäne hatte die Oberhand gewonnen.

Vorsichtig linste Veronica aus zu schmalen Schlitzen verengten Lidern hervor. Das Licht blendete sie noch immer. Ihr Kopfschmerz flammte wieder auf, wenn auch ohne nennenswerten Biss. Gut. Zumindest würde sie sich konzentrieren können, wenn es die Situation erforderte. Hinter Kite, der sich direkt vor ihr aufgebaut hatte, sah sie Wickens im Türrahmen stehen. Ohne sich umzudrehen signalisierte der Hüne, der Polizist möge sie allein lassen. Desmond gehorchte. Die Tür fiel ins Schloss. Wie ihre Schwestern im Untergeschoss besaß auch sie keine Klinken, weder außen noch innen, bemerkte die junge Frau.

„Desmond hat mir berichtet, dass du die Kooperation verweigerst“, sagte Kite.

Veronica bemerkte die Klinge in seiner rechten Hand, einen zweischneidigen sehr kurzen Dolch. Ihr stockte der Atem. Sie hatte mit einer Pistole gerechnet und würde nun ihre Pläne buchstäblich aus dem Stand der neuen Situation anpassen müssen. Sie lachte unsicher.

„Das Lachen wird dir schon noch vergehen. Sieh, es ist nicht weiter schlimm. Im Grunde plagt mich nur die Neugier, wie weit ihr mit eurem albernen Detektivspiel gekommen seid. Ich glaube nicht, dass es euch gelungen ist, Beweise gegen mich zu sammeln. Falls doch – ich habe den guten Desmond Jones, der polizeiliche Ermittlungen stets von mir ablenkt.“ Der Dolch wanderte von der rechten in seine linke Hand, dann wieder zurück.

„Was haben Sie vor?“, fragte Veronica.

„Was ich vorhabe? Das liegt doch auf der Hand! Ich schaffe zuerst dich aus dem Weg, anschließend deinen Vater.“

„Das wird Ihnen überhaupt nichts bringen!“, rief sie. „Die gesamte ‚Familie‘ weiß bescheid. Wollen Sie die alle umbringen?“

„Das könnte ich natürlich. Es sind eh nur noch wenige übrig. PC31 habe ich als ersten erledigen lassen. Kirk hat meinen Dobermännern sehr gut geschmeckt, und gestern ist Mr Mustard zur Strafe für den Diebstahl über die Klinge gesprungen…“

Gegen den Entschluss, ihre Gefühle streng im Zaum zu halten, durchlief ein Schock Veronicas sämtliche Glieder. Ihre Lippen formten ein O. Sie wurde kreidebleich. Ohne das Seil, das sie in aufrechter Stellung hielt, hätte sie womöglich das Gleichgewicht verloren.

„…aber so weit brauche ich gar nicht zu gehen“, fuhr Kite fort. „Keine von diesen Memmen wird es wagen, einen Finger gegen mich zu erheben… Was ist? Wird dir übel? Soll ich den Onkel Doktor holen?“ Er verzog abschätzig den Mund. „Nein, den Anruf kann ich mir sparen. Bis er hier eintrifft, brauchen wir eher einen Bestatter.“ Er kicherte.

Veronica spuckte ihm ins Gesicht. Zum einen befriedigte sie damit ein tiefes Bedürfnis, zum anderen hoffte sie, ihn zu unbedachten Handlungen zu provozieren. Doch der Hüne wischte sich nur mit dem linken Ärmel den Speichel von der Wange. „Natürlich bist du sauer. Was habe ich erwartet?“ Dann setzte er wieder sein fieses Grinsen auf. „Du gefällst mir. Endlich eine, die Widerstand leistet. Ich liebe Herausforderungen.“ Seine Rechte fuhr nach vorn, dicht vor ihren Bauch, und ließ den Dolch in atemberaubender Geschwindigkeit zwischen Daumen und Zeigefinger kreiseln. Die junge Frau blieb unbewegt stehen. Sie starrte ihm feindselig in die Augen.

„Das Schicksal hat bestimmt, dass wir heute eine Neumondnacht haben;“ bemerkte Kite, „wie geschaffen für ein kleines Ritual. Hast du Lust?“

41) Selbstmord?

Die Stimme explodierte in Veronicas Gehörgängen wie ein brutal übersteuerter Konzertlautsprecher. Sie zog eine Grimasse. Langsam drehte sie sich auf die Seite und winkelte die Ellbogen an, um sich aufzurichten.

„Lass dir helfen“, sagte die Stimme. Es klang wie ein Brüllen. Hand über Hand zog der Polizist geschwind an dem Seil. Über ihr quietschte Metall. Dann spannte sich der Strick und riss die Arme unter ihr weg. Schmerzhaft klatschte sie mit Brust und Bauch auf den Boden, wurde aber sogleich an den Händen in die Höhe gerissen, wobei sich ihr Rücken bis zur Grenze des Erträglichen durchbog. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten entfuhr ihr ein Schrei. Der Strick schleifte sie ein Stück nach vorn, während er ihren Körper in aufrechte Stellung zog, zunächst auf die Knie, dann auf die Füße. Bei dem Versuch, Halt zu finden, spürte sie, dass auch diese gefesselt worden waren.

Sie stand nun, an den eigenen Armen hängend, zu fast voller Höhe aufgerichtet. Die Aufwärtsbewegung stoppte. Desmond war drei Schritte zurückgetreten. Er wickelte das Seil um die schmiedeeiserne Halterung einer klotzigen Wandlampe. Er kam wieder näher, umrundete ihre Gestalt. Mit kurzen Blicken prüfte er den Sitz der Lederstreifen um ihre Hand- und Fußgelenke. „So gefällst du mir besser“, sagte er. „Du hast wohl geglaubt, du kannst mich drankriegen, hm? Da musst du früher aufstehen.“

Veronica schwieg. Sie fühlte sich noch zu schwach, um auf eigenen Beinen zu stehen. Das Bild, das ihre Augen lieferten, wurde immer wieder unscharf. Der Polizist legte eine Hand auf ihre linke Hüfte und begann ihren wie ein Sack an dem Strick hängenden Körper erneut im Uhrzeigersinn zu umrunden, wobei er die Hand erst über ihren Bauch, dann die rechte Hüfte und schließlich ihr Kreuz gleiten ließ. Die Furcht, dass aus der Belästigung Missbrauch werden könnte, schoss weitere Nadeln in ihr Hirn, gab ihr aber gleichzeitig die Kraft, die Kontrolle über ihren Körper wieder zu erlangen. Sie drückte die Knie durch. Endlich stand sie auf ihren Fußsohlen. Um Desmond aus seinen Phantasien zu reißen, sprach sie ihn an: „Wo ist Kirk? Was haben Sie mit ihr gemacht?“

Der Polizist, der nun wieder links neben ihr stand, lachte, schüttelte den Kopf, lachte erneut. „Die gute Duchess feierte ein Wiedersehen mit ihrem Märchenprinz“, raunte er ihr ins Ohr. „Ich glaube, die beiden hatten eine ganze Menge besprechen.“ Seine Hand strich in einer illustrativen Geste über ihren Hintern.

„Ist sie hier?“, würgte Veronica hervor.

„Nie gewesen.“ Der Polizist überlegte. „Eines der Dinge, die wir von ihr in Erfahrung zu bringen versuchten, ist der Verbleib des Fotos. Weißt du zufällig, wer es gestohlen hat?“

„Ja…“, sagte Veronica, der ein Ausdruck von Ekel über die Gesichtszüge lief.

„Geht‘s auch ein bisschen konkreter oder muss ich es dir mit einem Angelhaken aus der Nase ziehen?“

„Sie selbst, Wickens. Sie haben das Bild aus den Polizeiarchiven gestohlen.“

Donald Wickens alias Desmond Jones verlor für einen Moment die Fassung. Mit hassverzerrter Grimasse spuckte er: „Das hat dir der Teufel verraten!“

Es war ihrer prekären Lage unangemessen, doch Veronica konnte das Lachen, das aus ihr hervorbrach, beim besten Willen nicht zurückhalten. Zu sehr erinnerte Desmonds Ausbruch an das Märchen vom Rumpelstilzchen. Es fehlte nur noch, dass er mit dem Fuß aufstampfte und im Boden versank. „Genau der ist es gewesen“, prustete sie.

Der Fausthieb, der sie in die Niere traf, kam unerwartet, und er trieb ihr alle Luft aus den Lungen. Ihre Beine gaben nach, sie baumelte erneut an ihren Handgelenken vom Kälberstrick. Wutentbrannt trat Desmond in ihr Sichtfeld. Es sah aus, als wolle er sie auch von vorn bearbeiten, doch er hatte sich schon wieder im Griff. „Halt dein loses Mundwerk im Zaum oder ich vergesse, dass du für den Chef reserviert bist“, zischte er. „Los, sag mir, was du und dein Alter herausgefunden habt. Vielleicht lässt Kite dann noch genug von dir übrig, dass du aus eigener Kraft von hier rauskriechen kannst.“

„Andernfalls passiert… was?“, wagte sie ihn herauszufordern, da er offenbar Befehl hatte, sie in Ruhe zu lassen. Vielleicht konnte sie ihm nützliche Informationen entlocken.

„Andernfalls kommst du auf einem Altar zu liegen. Oder Kite überlässt dich mir, wenn er mit dir durch ist. Es wird mir eine ganz besondere Freude sein, dich möglichst lange am Leben zu halten.“ Ein Grinsen mit weit aufgerissenen Augen und gebleckten Zähnen huschte über seine Visage. Die Dämonenfratze verschwand so schnell wieder, wie sie erschienen war. „Leider war mir mit deinem Onkel weniger Zeit vergönnt. Ich musste kurzen Prozess machen. Befehl ist Befehl.“

Veronica, die sich aufgerappelt hatte, öffnete den Mund. „Sie…?“

„Ja, ich. Kite trug mir auf, Paul anzurufen und ihm mitzuteilen, dass das Treffen verschoben sei. Aus irgend einem Grund schien der Penner ganz froh darüber zu sein. Nachts um halb vier ging ich dann zum Laden und klingelte ihn raus. Er machte auf und ich sagte, es gäbe etwas Wichtiges zu besprechen. Wie erwartet führte er mich nach hinten. Ich streckte ihn mit sechs Stichen in Kreuzform nieder, genau um 3:33 Uhr. Dann plünderte ich die Kasse, um eine falsche Spur zu legen, und ging zum Wagen zurück.“ Der Polizist schien mich seiner Leistung zufrieden zu sein.

An Veronicas staubverschmierten Wangen bahnten Tränen zwei Flüsse bis zum Kinn. „Warum?“, wimmerte sie, „Warum nur?“

„Na, du kannst Fragen stellen… Zur höheren Ehre Luzifers natürlich – und damit der blöde Sack das Maul darüber hält, was in dem Manuskript steht oder wer es jetzt besitzt.“

„Verdammte Schweine!“, presste die junge Frau zwischen zwei Schluchzern hervor.

„Sieht nicht so aus, als könnte ich dich überzeugen, mit mir auszugehen.“ Desmond kicherte. „Wie dem auch sei, ich habe Kite informiert. Er müsste bald eintreffen. Soll der entscheiden, wie es mit dir weitergeht. Ich denke, wir können noch mehrfach Nutzen aus dir ziehen, bevor wir dich entsorgen.“


Er hinterließ eine Notiz für Veronica an der Tür zum Hinterzimmer, dann verließ Zach den Laden. Ein Taxi wartete bereits vor dem Fab Store auf ihn. Innerhalb fünfundzwanzig Minuten erreichte das Fahrzeug die Straße, in der Mr Mustard wohnte. Polizeifahrzeuge blockierten die Zufahrt. Zach stieg aus und ging zur Barriere. Ein Beamter trat auf ihn zu. „Sie können hier nicht weitergehen,“ sagte er, „wir haben die Straße für Ermittlungszwecke gesperrt.“

Hielt der Mann ihn für blind? Am liebsten hätte er ihn einfach beiseite geschoben, aber das war natürlich nicht ratsam, wenn man an seiner Freiheit hing. Er versuche es stattdessen mit einem Trick: „Mein Name lautet Ziegler. Ich habe einen Termin bei Kommissar Wickens. Man sagte mir, er leite die Untersuchung hier.“

Das Gesicht des Uniformierten verwandelte sich plötzlich in eine steife Maske. „Papiere!“, herrschte er den Detektiv an. Zach reichte ihm seinen Ausweis. Der Polizist rief einen Kollegen herbei und zeigte ihm das Dokument. Die beiden flüsterten kurz miteinander, dann ging der Kollege mit dem Ausweis zu einem der Fahrzeuge hinüber. „Was wollen Sie von Kommissar Wickens?“, fragte der Polizist.

„Mit Verlaub, das geht nur ihn und mich etwas an.“

„Er ist heute nicht im Dienst. Wer hat Sie hierher geschickt?“

Was geht hier vor sich?, überlegte Zach. Ein Todesfall mit seltsamen Umständen, der Leiter der Mordkommission nicht im Dienst, und dann dieses Quasi-Verhör – hier stimmte entschieden ganz und gar nichts. Ohne mit der Wimper zu zucken sagte er: „Der junge Mann an der Rezeption des Reviers. Naja, wenn der Kommissar schon fort ist, kann man nichts machen. Wissen Sie zufällig, wo ich ihn finde?“

„Tut mir leid, darüber kann ich Ihnen gegenüber keine Angaben machen. Und nun verlassen Sie bitte den Ort. Es gibt hier nichts zu sehen!“

Fast hätte Zach laut aufgelacht. Das sah den Bullen wieder ähnlich. Ein Mann lag in seinem eigenen Blut, doch nein, es gab hier nichts zu sehen. „In Ordnung. Könnte ich bitte meinen Ausweis zurück haben? – Danke, Officer.“

Der Detektiv wanderte zur anderen Straßenseite, wo eine kleine Menschenmenge auf dem Gehweg stand. Einige diskutierten angeregt, die meisten anderen starrten neugierig herüber, in der Hoffnung, einen Blick auf die Geschehnisse am Tatort erhaschen konnten. Sein kleiner Wortwechsel mit dem Polizisten war eine willkommene Abwechslung gewesen, die die wahrscheinlich seit Stunden andauernde Ereignislosigkeit unterbrach. Routinemäßig prüfte er die Gesichter der Anwesenden, suchte nach besonderen Gefühlsregungen und speicherte seine Eindrücke in einer eigens dafür reservierten Ecke seines Gedächtnisses. Er entdeckte Maria Borghese etwas abseits der Menge. Sie unterhielt sich mit einer kleinen schmächtigen Frau gehobenen Alters. Beide sahen mitgenommen aus. Er trat hinzu und sagte: „Grüß dich, Maria.“

„Zach, was machst du denn hier?“ Sie umarmten einander kurz.

„Ich bin auf der Suche nach Veronica und Desmond, und dachte, ich versuche mein Glück einmal hier“, sagte der Detektiv, nachdem sie wieder auf Abstand gegangen waren.

„Es gibt keine Neuigkeiten. Sie lassen nichts heraus“, erwiderte die Italienerin. Mit gesenkter Stimme fuhr sie fort: „Ohne meine Freundin hier, eine von Mr Senfkorns Nachbarinnen, würde ich völlig im Dunkeln tappen.“ Sie stellte die beiden einander vor.

Die ältere Dame hieß Cilia Appleby. Sie trug eine dünnrandige Brille mit einer Silberkette um den Hals und machte einen aufgeweckten Eindruck. Ihr listiger Blick glitt schnell über die versammelten Menschen, wohl um sicherzustellen, dass niemand Interesse an ihnen zeigte. Die Erkundung schien zu ihrer Zufriedenheit ausgefallen zu sein, denn sie sagte leise: „Ich war eine der ersten, die den Leichnam gefunden hat. Mr Senfkorn lag in seinem Wohnzimmer in Hockstellung auf der Seite, ein kleines Loch im Nacken und ein weiteres im Hinterkopf. Das halbe Gesicht war weggesprengt…“ Sie schüttelte sich. „Da habe ich entschieden, dass ich nicht als Zeugin in Erscheinung treten werde. Das ist mir zu heiß. Wissen Sie, junger Mann, ich war früher Kriegsberichterstatterin für die Times. Ich erkenne eine Hinrichtung, wenn ich eine sehe, und ich habe kein Bedürfnis, den Leuten, die das verbrochen haben, im Wege zu stehen.“

„Eine weise Entscheidung. Ich habe mich vor etwa einer Stunde auf der Polizeiwache nach dem Fall erkundigt. Ein Beamter antwortete mir, dass er zu diesem Selbstmord nichts sagen könne.“ Er ließ die Brauen tanzen. Sowohl Maria als auch Cilia Appleby rissen die Augen auf. „Machen wir, dass wir hier weg kommen. Mein Taxi wartet an der nächsten Straßenecke.“

Maria drückte die alte Dame herzlich, dann verabschiedeten sie sich.

36) Revolver

„Angesichts Ihrer Erkenntnisse über den größeren Zusammenhang beschlossen Sie, dass Sie an den Kulissen der Unterhaltungsindustrie rütteln mussten. Wenn ich es recht verstehe, arbeiten Sie an einer Art Dokumentationsprojekt…“

„Nun, das ist die eine Hälfte der Unternehmung: interessierten Zeitgenossen Zugang zu authentischen Objekten zu verschaffen und eine halbwegs korrekte Geschichtsschreibung zu ermöglichen. Die andere Hälfte besteht in der juristischen Aufarbeitung. Ich sehe im Moment zwar keine Chance, ein unabhängiges Gericht zu finden, das gegen die Kontrolleure antreten würde, aber die Zeit wird kommen, und dann wollen wir vorbereitet sein.“

„Was hatten Sie sich diesbezüglich vom Familientreffen erhofft?“

„Wir dachten, wir könnten eine Gelegenheit herbeiführen, Mal Evans‘ Memoiren zu kopieren. Wir vermuten, dass seine Beschreibungen Hinweise auf weiterführende Spuren enthalten, etwa zur Frage, wie die Songs geschrieben und aufgenommen wurden oder wie Billy Shears Paul McCartney ersetzte.“

„Wer kam auf die Idee, ein minderjähriges Mädchen als Venus-Fliegenfalle zu benutzen?“

„Das Mädchen selbst. Unser Plan sah vor, Kite mit Alkohol oder Drogen auszuschalten. Kirk war der Ansicht, wir unterschätzten seine Intelligenz. Sie sollte recht behalten.“

„Wider Erwarten blieb PC31 jedoch an diesem Abend dem Treffen fern, und mit ihm das Manuskript. Weshalb machten Sie trotzdem weiter?“

„Kirk ließ sich durch nichts bremsen. Vielleicht ging es ihr mehr um den Sex als um das Beweisstück; vielleicht genoss sie den Kitzel der Gefahr; vielleicht wollte sie sich oder uns etwas beweisen. Ich weiß es nicht. Vom Augenblick ihres Eintreffens flirtete sie heftig drauf los. Ich habe ihr mehrmals signalisiert, dass sie es sein lassen soll, aber sie ignorierte mich einfach.“

„Also stieg sie schließlich mit Kite ins Bett. Was geschah dann?“

„Semolina schlich ihr hinterher. Irgendwann kehrte Sem in den Salon zurück, um uns zu holen. Sie hatte von Kirk ein Foto erhalten. Mustard, Robert und ich haben Aufnahmen gemacht. Dann gingen wir wieder hinunter, während Semolina das Foto zurückzugeben versuchte. Aber sie fand Kirk bewusstlos am Boden des Schlafzimmers liegend vor. Also hat sie mich geholt, um ihr zu helfen, sie aufs Bett zu legen.“

„Wie sah es im Schlafzimmer aus? Ist Ihnen etwas aufgefallen?“

„Völliges Durcheinander; Kleidungsstücke über den Boden verstreut. Kite lag im Tiefschlaf auf dem völlig zerwühlten Bett, Kirk daneben auf dem Boden. Sie sah übel zugerichtet aus – voller blaue Flecke, die Haare zerzaust. Wir hievten sie hoch, dann gingen wir.“

„Haben Sie das Foto irgendwo gesehen?“

„Es lag auf einem der Nachttischchen.“

„Und da lag es noch, nachdem Sie das Zimmer verlassen hatten?“

„Selbstverständlich! Wofür halten Sie mich?“

„Entschuldigen Sie, ich muss die Frage stellen. Das Bild fehlte am folgenden Tag.“

„Wie bitte?“

„Kite sagt, es sei ihm entwendet worden. Er hält es für einen Scherz, der zu weit getrieben wurde, und bat mich, Erkundigungen einzuholen. Hat er Sie nicht zu kontaktieren versucht?“

„Nein. Ich hatte auch keinen Kontakt zu den anderen.“

„Als Semolina und Sie in den Salon zurückgekehrt waren, sprachen Sie den anderen gegenüber davon, was Sie im Schlafzimmer gesehen haben?“

Rocky Raccoon überlegte. Zögernd sagte er: „Ja. Da Sie so fragen, erinnere ich mich, die Szene beschrieben zu haben.“

„Wer hat das Schloss als Letzter verlassen?“

„Ich. Gelegenheit ins Schlafzimmer zurückzugehen hätten aber alle gehabt. Der Ruf der Natur, Sie verstehen?“

„Was halten Sie für wahrscheinlicher: dass Kite lügt oder dass einer von Ihnen sich das Foto heimlich geschnappt und mitgenommen hat?“

„Ich glaube eher, dass Kite lügt, möchte jedoch grundsätzlich nichts ausschließen.“

„Wer von Ihnen, glauben Sie, käme am ehesten dafür infrage?“

„Robert oder Mustard.“

„Weshalb nicht Semolina?“

Rocky verzog den Mund. „Wenn Sie sie seit längerem kennen würden, hätten Sie sich die Frage geschenkt.“

„Was ist mit Kirk? Sie scheint gerade untergetaucht zu sein. Halten Sie es für möglich, dass sie mit dem Foto abgehauen ist?“

Der Ex-Manager zuckte die Schultern. „Sie müsste vor Kite aufgewacht und dann zu Fuß bis zur Hauptstraße zurückgegangen sein. Sie ist zierlich gebaut, daher vermute ich, die K.O.-Tropfen haben sie härter getroffen. Kite war bestimmt vor ihr wach.“

„Er dürfte über das Fehlen des Fotos wenig amüsiert gewesen sein.“

„Und sie über seine Reaktion.“


„Ich dachte, du und ich seien schon ziemlich weit in den Dschungel vorgedrungen“, bemerkte Zach, während seine Tochter, die von der Minibar aus dem Gespräch gelauscht hatte, die Backen blähte.

„Vielleicht ein bisschen zu weit, um den Überblick zu bewahren“, erwiderte sie.

„Ja. Mr Raccoon hat aus den einzelnen Bäumen einen Wald geformt.“

„Raccoon hat geholfen, aus den vielen Bäumen einen Wald zu formen. Ohne die Einsichten, die Henry und Maria mit uns geteilt haben, wäre ich sehr viel skeptischer, was den Wahrheitsgehalt des eben Gehörten angeht.“

„Es geht mir ähnlich. Was hältst du von seiner Aussage zum Familientreffen?“

„Er bestätigt, was die anderen erzählt haben. Alle einschließlich Kite halten Maria für eine ehrliche, integre Frau. Sie ihrerseits vertraut Henry und sie würde auch nicht zugelassen haben, dass Rocky das Foto einfach einsteckte. Es bleiben tatsächlich nur der Bildersammler Dr Robert und der geheimnisvolle Mr Mustard als Verdächtige übrig – vorausgesetzt, Kite behauptet den Diebstahl nicht lediglich. Miller scheint mir vertrauenswürdig. Mustard… nun, seine Geschichte werden wir heute Nachmittag hören.“


Würden sie nicht. Aaron Senfkorn, Nachfahre deutsch-jüdischer Holocaust-Überlebender, in Sammlerkreisen unter dem Pseudonym Mr Mustard bekannt, rief kurz vor ein Uhr am Nachmittag an, um das Treffen mit Zach abzusagen. Er machte einen kurzfristigen unaufschiebbaren Termin geltend, wirkte dabei jedoch über die Maßen verlegen. Zach ahnte, dass der Sammler ihm auszuweichen versuchte, denn der Vorschlag, das Gespräch am Montag nachzuholen, erntete ebenfalls Ausflüchte.

„Ich könnte auch bei Ihnen vorbeikommen, wenn Ihnen das lieber ist“, bot Zach an. „Mals Koffer enthielt eine nette Sammlung signierter Autogrammkarten, die ich Ihnen gern zeigen möchte.“

„Nein!“, plärrte es schnell aus der Hörmuschel. Dann, wesentlich sanfter, wie um dem Eindruck entgegenzuwirken, dass er etwas zu verbergen hatte, sagte Mustard: „Nein, äh, danke, das wird nicht nötig sein. Ich werde die, äh, erste Gelegenheit nutzen, Sie in der, hm, kommenden Woche aufzusuchen.“

Mustards Antwort war ein deutlich hörbares Klicken vorausgegangen, das im Grunde der Schalter eines beliebigen Geräts verursacht haben konnte. Die Haare, die sich in Zachs Nacken aufstellten, gaben konkretere Auskunft. Er konnte nicht sagen, weshalb, aber er wusste einfach, dass es sich um den Hahn eines Revolvers handelte. Der Detektiv schüttelte die Intuition als irrational ab. Er wurde langsam paranoid, schalt er sich. Zu Mustard sagte er: „Schön, kommen Sie bitte im Lauf der Woche in den Laden. Warten Sie nicht zu lang. Es gibt einige wichtige Entwicklungen zu besprechen. Und natürlich möchte ich Sie unbedingt kennenlernen.“

„Hm, ja, sicher. Leben Sie wohl.“

„Auf bald“, erwiderte Zach.


Das Krematorium Springwood war ein moderner Zweckbau mit klaren Konturen aus Glas, Stahl und Beton. Der Leichenwagen mit dem ihm folgenden Konvoi der Gäste hielt unter einem Vordach, das etwas mehr Platz bot als sein Gegenstück in Wallace Castle. Miller hatte sechs Träger bestellt, die den offenen Kiefernholzsarg aus dem Fahrzeug zogen und auf ihren Schultern in das Gebäude hineintrugen. Am anderen Ende der kleinen Halle, die sie betraten – dem Aussegnungsraum – befand sich eine Bühne, die rechts und links von roten Vorhängen flankiert wurde. Der linke Vorhang war geöffnet. Dahinter erstreckte sich ein drei auf drei Schritte messender Raum, der bis auf Brusthöhe mit einem Marmorpodest gefüllt war. Auf der Bühne stand mittig ein Rednerpult, davor ein langer niedriger Tisch, auf dem die Träger den Sarg abstellten.

Während aus den Lautsprechern leise die letzten Takte des Beatles-Stücks Long, Long, Long ausklangen, schaute Zach in die Runde. Von den anwesenden Personen kannte er nur etwa die Hälfte: seine Tochter, Miller, Maria, Mr und Mrs Wickens, Bishop und Rocky Raccoon. Fünf weitere Gesichter hatte er noch nie gesehen. Doch, einen Augenblick: Der älteren Dame mit den schulterlangen blonden Locken war er bereits einmal auf der Straße begegnet. Sie gehörte zum Laden gegenüber des Fab Stores, wenn er sich nicht irrte. Müsste er einen Tipp abgeben, waren auch die anderen Trauergäste Nachbarn aus dem Cavern-Viertel.

Der Notar betrat nun die Bühne. Er stellte sich hinter dem Rednerpult auf und blickte geduldig in den Raum. Es verging noch etwa eine Minute, bis auch der Letzte sich gesetzt und alle Gespräche eingestellt hatte. Dann begrüßte Jules Robert Miller die Anwesenden und gab mit gestelzten Worten, denen es jedoch nicht an mitfühlender Wärme fehlte, eine kurze Zusammenfassung von Pauls Leben. Bis auf das Wenige, das er in den vergangenen zwei Wochen über seinen Halbbruder in Erfahrung hatte bringen können, handelte es sich um die Biografie eines für Zach völlig fremden Menschen. Er schaute zum Sarg hinüber, dessen Rand um nur wenige Zentimeter vom Leichnam überragt wurde. Auch die Perspektive war ungünstig. Sein Blick fiel auf die Unterseite von Kinn, Nase und Augenlidern. Ob im Kiefernholzsarg tatsächlich sein Stiefbruder Paul lag – zumal um zwanzig Jahre gealtert, von einem brutalen Mord gezeichnet und vom Tod bereits verfremdet – hätte er nicht zu sagen vermocht. Zachs Gedanken schweiften zurück zu dem Paul, den er um die Jahrtausendwende gekannt hatte, und dann noch weiter zurück zu dem Kinderfreund, den er vor fast fünfzig Jahren dank der zweiten Ehe seines Vaters kennengelernt hatte. Das Ende von Millers Rede ging im Rauschen seiner Erinnerungen unter. Aus den Winkeln seiner nun von Tränen verschleierten Augen bemerkte der Detektiv eine Bewegung. Der Notar trat an den Sarg, legte dem Toten für einige Momente still die linke Hand auf die Schulter und platzierte dann eine Nelke auf dessen Brust. Dann nickte er Henry zu und setzte sich auf einen der Sitzplätze in der vorderen Reihe. Thomas Henry Bishop stand auf. Er ging zum Pult und erzählte einige fröhliche Anekdoten, die die vielen Talente des Ladenbesitzers Paulus Campbell würdigten. Anschließend nahm er eine der Nelken, die in einem Korb nahe der Bühne bereit lagen und gesellte sie der Blume bei, die der Notar auf Pauls Brust hinterlassen hatte. Die anderen Gäste taten es ihm einer nach dem anderen gleich.

Zach saß wie gelähmt auf seinem Platz. Jemand legte ihm eine Hand auf die Schulter. Zögernd drehte er den Kopf, folgte mit Blicken dem Arm nach oben, bis er ein Gesicht ausmachen konnte. Er kannte diese Züge. Er überlegte. Es war…, es war… wer? Henry schaute freundlich auf ihn herab. „Magst du ein paar Worte sprechen?“, fragte er. Der Klang seiner Stimme erschütterte Zach. Nein, wollte er nicht. Doch ohne wahrzunehmen, wie er auf die Bühne gelangt war, hielt er sich nun mit beiden Händen am Pult fest, sein Verstand gleichzeitig leer und zum Platzen gefüllt mit unzähligen Gedanken. Er öffnete den Mund. Die Augen der Trauergemeinde in den Stuhlreihen vor ihm war erwartungsvoll auf ihn gerichtet. Er sprach, ohne zu begreifen, was er da sagte. Zwei Sätze, drei vielleicht; Worte des Dankes an die Ersatzfamilie, die fremde Menschen seinem Stiefbruder in der zweiten Hälfte seines Lebens gewesen waren, würde ihm Veronica später berichten. Dann stieg er herab auf den roten Teppich, mit dem die Halle ausgelegt war, nahm im Vorbeigehen eine Nelke aus dem Korb, trat an den Sarg und starrte dem Toten lange Zeit ins Gesicht. Schließlich legte er seufzend die Blume auf die Brust seines Stiefbruders. Er wandte sich ab. Im Vorbeigehen bemerkte er die nackten Füße, die aus dem schwarzen Anzug des Verstorbenen ragten, ganz wie es Sitte auf den Inseln war. „Abbey Road“, schoss ihm ein skurriler Gedanke durch den Kopf, und: „Paul ist tot.“

‚Golden Slumbers‘ begann von der Musikanlage zu spielen. Bevor Zach in hysterisches Gelächter ausbrechen konnte, näherten sich die Sargträger mit dem Deckel. Er trat beiseite, um ihnen Platz zu machen. Nun erhoben sich auch die anderen Gäste. Als das Holzbehältnis verschlossen war, kamen sie herbei und gruppierten sich um ihn. ‚Golden Slumbers‘ wurde gefolgt von ‚Good Night‘. Die Träger bewegten den Sarg zu der Öffnung links von der Bühne, stellten ihn auf dem Granitpodest ab und traten zurück. Als die Musik verklang, schloss sich der rote Vorhang. Einige der Nachbarn bekreuzigten sich, bis auf Maria jedoch niemand aus der ‚Familie‘. Dann drehten sich die ersten um und verließen die Halle.

Zach, noch immer den Blick auf den Vorhang gerichtet, spürte, wie eine warme Hand sanft die seine ergriff. Es war Maria, die ihn traurig ansah. Er wandte sich ihr zu. Im nächsten Moment lagen sie sich in den Armen, schluchzend, zitternd, weinend.

20) Der letzte Beatle

Nachdem die Italienerin das Hinterzimmer gereinigt hatte, stieg sie die Treppen hinauf, um die Wohnung zu putzen. In der Küche traf sie Veronica, die mit einer Tasse Tee am Tisch saß. Sie entschuldigte sich für die Störung und teilte ihr mit, dass sie ihre Arbeit in den anderen Zimmern fortsetzen würde. Veronica schüttelte jedoch den Kopf und lud sie ein, sich zu ihr zu setzen. „Möchten Sie auch einen Darjeeling?“, fragte sie. Sie machte Anstalten, sich zu erheben, um eine Tasse aus dem Schrank zu nehmen.

„Bleiben Sie sitzen, Veronica.“ Maria öffnete das Fach mit den Gläsern und Tassen und nahm einen der Humpen heraus. Der zeigte eine Karikatur von Ringo; darunter stand: ‚Der letzte Beatle.‘ „Meine“, sagte sie, und als die Detektivin sie erstaunt ansah, ergänzte sie: „Ihr Onkel und ich verstanden uns sehr gut…“ Sie schien die Worte im Geiste auf ihre Wirkung zu prüfen. „Ich war jeden Tag zum Putzen hier. Wir diskutierten manchmal stundenlang über mögliche Suchwege, um ein Objekt wiederzufinden – oft genug genau hier, an diesem Tisch.“

Ein mitfühlender Ausdruck legte sich auf Veronicas Gesicht. „Die eigene Tasse am Arbeitsplatz aufzubewahren stellt kein Verbrechen dar.“ Sie schenkte Tee in den Ringo-Humpen. „Sie vermissen ihn, hm?“

Maria Borghese schloss ihre Finger um das sich erhitzende Gefäß. Sie nickte, sagte jedoch nichts weiter. Die beiden Frauen nippten eine Weile still an ihren Tassen. Schließlich begann die Italienerin: „Ich war ungefähr in Ihrem Alter, Anfang zwanzig. Ich hatte eine Tochter, gerade ein Jahr, und einen Freund, den ich heiraten wollte. Er stammte von der Alb. Wir studierten in Tübingen, er Medizin, ich Bibliothekswesen. Seine Familie gab mir ständig das Gefühl, dass ich als Katholikin und Gastarbeiterkind nicht dazugehörte. Die Leute beschweren sich, dass die Katholische Kirche fürchterlich altmodisch sei, und da ist ja auch etwas dran; aber im Vergleich zur Engstirnigkeit vieler Protestanten in Deutschland verhalten sich italienische Katholiken geradezu liberal. Ich hielt es nur mit Mühe aus und wollte fort, aber ich blieb, um mein Studium abzuschließen, und natürlich meinem Freund zuliebe. Mit der Zeit wurde mir klar, dass er es vermied, über unsere gemeinsame Zukunft zu sprechen. Er wich ganz besonders der Erörterung unserer Hochzeit aus. Irgendwann stellte ich ihn zur Rede. Er gestand mir, dass seine Eltern gegen mich eingestellt waren und dass er einfach unsere formlose Freundschaft weiterführen wollte. Ich sagte, dass ich das unserer Tochter gegenüber nicht fair fand. Ich hatte eine Stelle bei einem Dokumentationsprojekt in Liverpool in Aussicht; also schlug ich vor, wir könnten nach England gehen, er könnte sein Studium dort abschließen, und dann könnten wir heiraten.“

Die Italienerin betrachtete eine Weile ihr schaukelndes Spiegelbild im Tee. Dann schaute sie auf. „Er weigerte sich. Also habe ich einfach meine Sachen gepackt und bin abgereist. Ich nahm die Stelle bei dem Projekt an; sie stellten ein Buch zur Geschichte populärer Musik in Liverpool zusammen. Ich war verantwortlich für die Bibliografie. Ich produzierte eine Liste von Zeitschriftenartikeln für sie, die, glaube ich, ihresgleichen suchte, doch leider zerstritten sich die Projektleiter, bevor das Werk veröffentlicht werden konnte. Eines Tages erhielt ich den Kündigungsbrief, aber der Beatles-Virus hatte mich längst befallen. Die Widersprüche in der offiziellen Story faszinierten mich über alle Maßen, also begann ich, mich tiefer in die Bandgeschichte einzulesen. Die meisten Buchautoren schwelgten in kritikloser Heldenverehrung. Das Internet befand sich gerade erst im Entstehen. Da war ebenfalls nur wenig zu finden – oftmals von mehr Enthusiasmus als von Sachkenntnis getragen. Also suchte ich nach Zeitzeugen.“

Maria nahm einen Schluck aus ihrer Tasse, hob den Blick zur Decke. Sie fort: „Auch da stieß ich überwiegend auf Menschen, die die Beatles auf ein Podest stellten oder gar zu Göttern der Rockmusik erhoben, aber es gab ein paar, deren Erinnerungen mir reflektierter schienen. Langsam formte sich ein Bild, das die Sechzigerjahre in einem weniger verklärten Licht zeichnete. Ich begann zu verstehen, dass Musik auf dieselbe Weise zum Showbiz gehört wie die Schauspielerei. Das gilt bis heute. Es kommt auf die vermittelte Attitüde an. Die weit überwiegende Zahl der Gruppen und Solomusiker erhielten ihre Verträge mit den Labels für ihr Aussehen und ihr Auftreten, nicht für ihre Qualitäten als Songschreiber oder Künstler. Die Firmen heuerten damals professionelle Songschreiber und Sessionmusiker an, um Platten aufzunehmen. Alle Profis aus der Zeit bestätigten, dass die wenigsten Major-Bands auf ihren eigenen Alben spielten. Hinter den meisten großen Namen der Sechziger und Siebziger standen Studioorchester wie die Wrecking Crew oder Mietmusiker wie der Trommler Bernard Purdie, der behauptet, auf über 20 Stücken der Beatles zu spielen. Ringo Starr sei an den ersten Alben der Band überhaupt nicht beteiligt gewesen.“

„Sie meinen, die Beatles waren vom ersten Tag an fake?“

„Ein hartes Wort. Innerhalb der Szene war das Musikdarstellertum keine Schande sondern der Normalfall. Die Masse der Konsumenten verlangte nach dem schönen Schein, nach Vielfalt der Stile und Ausdrucksformen. Sie identifizierten sich mit Elvis, Fats Domino, den Beatles oder Aretha Franklin, aber letztlich hörten sie immer wieder dieselben Musiker in stets neuer Verpackung. Die Hülle einer Schallplatte erfüllt genau die Funktion, die das Wort ‚Cover‘ benennt: Sie verdeckt den realen Produktionsprozess und bemäntelt ihn mit einem ‚Image‘, einer Scheinwirklichkeit.“

Veronica seufzte. „Das hat also funktioniert wie in der Politik. Wer blühende Landschaften verspricht, wird gewählt. Wer wahrheitsgemäß berichtet, wie‘s aussieht, landet im Abseits.“

„Der Sturz der Monkees war für die gesamte Szene eine Warnung, den Schein des begnadeten Talents unter allen Umständen zu wahren. Purdie erwähnte, dass er nicht nur für seine handwerklichen Dienste fürstlich entlohnt worden sei sondern auch für sein Schweigen.“

„Okay, aber was die Beatles von den anderen unterschied, war vor allem ihre Fähigkeit, tolle Songs zu schreiben, die selbst fünfzig bis sechzig Jahren später noch die Menschen begeistern. Bis heute sagen viele Bands, dass die Pilzköpfe sie am meisten beeinflusst hätten.“

„Als Ihr Onkel Paul Anfang der 2000er in Liverpool ankam und seinen Laden eröffnete, freundete ich mich sofort mit ihm an. Im Gegensatz zu diesen ganzen Andenkenläden und Rockschuppen im Cavern-Viertel, die die Idolverehrung ihrer touristischen Kundschaft bedienen, folgte er einem völlig anderen Konzept. Er wollte wissen, was damals wirklich geschah, denn das eröffnete ihm neue Fährten, die verloren geglaubte Unikate wieder zutage fördern halfen. Die Pädophilie-Affäre in der BBC hatte seinen Blick für die dunklen Ecken der Musikindustrie geschärft. An der Behauptung, jemand könne ein ganzes Album mit über einem Dutzend Stücken in ein paar Stunden rundfunkreif einspielen, hegte er schon immer seine Zweifel. Er wusste, wie viel Arbeit es kostete, professionell klingende Arrangements zu erzeugen. Den Nachweis, dass es sich bei der offiziellen Story von den angeblich genialen Beatles nur um eine Schneewittchengeschichte handelt, lieferten jedoch andere, und erst sehr viel später. Ein gewisser Mike Williams nahm die Chronologie der Aufnahmen für das Album Rubber Soul auseinander. Die Behauptung, die Beatles hätten sechzehn Songs in 30 Tagen geschrieben, eingeübt, eingespielt, gemischt und produziert, ist seiner Erfahrung als Musiker zufolge völlig unglaubwürdig. Technisch unmöglich wird die Geschichte, wenn man bedenkt, dass für die Veröffentlichung lediglich drei weitere Wochen zur Verfügung standen. Das war nur machbar, wenn außer dem Pressen und Verpacken der Vinylscheiben nichts mehr zu tun blieb. Das hieß, die Labels und das Cover mussten fertig gedruckt sein, und das setzte voraus, dass die Titel der Songs, ihre Spiellänge und Anordnung bekannt waren – Wochen oder Monate bevor die Beatles, angeblich mit leeren Händen, ins Studio gingen.“

„Häh?“ Veronica schüttelte den Kopf. „Wer spielt dann auf dem Album? Und wenn alles Fake ist, wieso überhaupt ins Studio gehen? Warum gibt man nicht von vorn herein eine glaubwürdigere Chronologie an?“

„Die Beatles nahmen 1965 das Album Help! auf, gingen auf Tour, und standen für einen Film vor der Kamera. Der Öffentlichkeit war bekannt, wo sie sich zu jeder beliebigen Zeit aufhielten. Fürs Songschreiben und Aufnehmen blieb ihnen nach ihrer Ochsentour keine Zeit, denn zu Weihnachten musste eine weitere Scheibe, Rubber Soul, in den Läden stehen, um das Produkt The Beatles kommerziell maximal auszuschlachten. Sie selbst sagten, sie seien ausgebrannt gewesen und hätten keine Songs in Reserve gehabt, die sie hätten einbringen können. Der Weihnachtstermin ließ sich nur halten, wenn die Stücke fertig geschrieben und die Instrumente weitgehend eingespielt waren, als die Beatles ins Studio gingen. Sehr wahrscheinlich haben sie dort kaum mehr getan, als die Gesänge beigesteuert. Ihnen blieben pro Stück gerade einmal ein oder zwei Tage Zeit, es perfekt hinzubekommen.“

„Was ist mit den Credits? Lennon-McCartney?“

„Lassen Sie mich aus einem Mersey Beat-Artikel zitieren, der kurz vor den Aufnahmen zu ihrem ersten Album im September 1962 erschien: ‚Die Beatles werden nach London fliegen, um in den EMI-Studios aufzunehmen. Sie werden Stücke einspielen, die sie von ihrem Aufnahmeleiter George Martin erhalten haben und die eigens für die Gruppe geschrieben worden sind.‘ Der selbe George Martin erzählte später in Interviews, dass er in der Band weder die künstlerischen noch die handwerklichen Fähigkeiten gegeben sah, die es seiner Ansicht nach für einen Erfolg gebraucht hätte.“

Veronica stand der Mund offen.

Maria Borghese lächelte. „Natürlich sind das alles keine gerichtsfesten Beweise, aber starke Indizien. Die hochtrabenden Behauptungen der offiziellen Story hingegen sind durch überhaupt nichts belegt. Niemand hat bezeugt, die Jungs Stücke schreiben zu sehen. Von den Aufnahmeterminen gibt es kein Filmmaterial. Die wenigen Fotos sehen gestellt aus. Von den einhundert Songs, die sie angeblich bis zu ihrer ersten Scheibe geschrieben haben sollen, finden offiziell nur eine Hand voll Verwendung; vom Rest sind nicht einmal die Titel bekannt. Fast die Hälfte des Materials, das sie live und auf Schallplatten zum besten geben, besteht aus Coverstücken, und das bleibt so bis zum letzten Konzert 1966. Es ändert sich erst, als mit Billy Shears ein ausgebildeter, erfahrener Studiomusiker McCartneys Platz einnimmt. Darum hatte Signore Campbell die Peppers-Skulptur und das Rubber Soul-Bild im Schaufenster angebracht. Sie symbolisieren die beiden großen Lügen um diese Band: dass sie Ausnahmetalente gewesen seien, die Hits auf Kommando ausspucken konnten, und dass sie von Anfang bis Ende die selben vier Freunde geblieben seien. Die Beatles waren das Produkt einer Industrie, die massenkompatible Illusionen verkaufte.“

„Es gab also ein virtuelles Fließband, das Hits nach Plan produzierte, und die Verkaufsfronten waren die Bands“, spann Veronica den Faden weiter.

„Nicht gab – gibt!“, erwiderte die Italienerin. Wenn sich junge Musiker heute wundern, weshalb sie trotz unbestreitbarer Fähigkeiten nicht weiterkommen, liegt es daran, dass es für die Labels in der Regel teurer wird, wenn sie wilde Talente fördern, als wenn sie den Nachwuchs selbst züchten. Die einen sind schwer zu kontrollieren, denn sie besitzen Kreativität und einen eigenen Willen, diese zu entwickeln; die anderen sind willenlose, abhängige Werkzeuge in den Händen einer Maschinerie, die sie in vorgefertigte Formen pressen und mit einem konstruierten Image versehen kann.“

Veronica zog ein säuerliches Gesicht. „Mir haben die Sechziger, die ich aus dem Fernsehen kenne, besser gefallen.“ Sie leerte ihre Tasse, schaute das Bild McCartneys darauf an und sagte angeekelt: „Bäääh!“

„Bä-ä-äh!“, korrigierte Maria sie im Tonfall eines blökenden Schafs.

Die beiden Frauen sahen sich gegenseitig an, dann begannen sie zu lachen.

„Wirklich? Bä-ä-äh? Was macht Sie so sicher?“

„Ich habe die Tasse für Paul anfertigen lassen. Sie war mein letztes Geburtstagsgeschenk an ihn…“ Maria seufzte. „Sie kennen die dargestellte Szene nicht?“

„Würde ich sonst fragen?“

„Sir Paul stellte sich bei einer Veranstaltung in Moskau den Fragen einiger Reporter. Jemand wollte wissen, ob er echt oder ein Double sei. Er antwortete, das könne er nicht sagen, es sei ein Geheimnis. Als er kurz darauf den Platz verließ, drehte er sich nochmals um und meckerte ziemlich überzeugend ins Mikrofon.“

„Bizarr! Und was sollte das?“

„Manche meinen, es sei eine herablassende Geste gegenüber den ‚sheeple‘, den Schafmenschen gewesen, die sich von den Massenmedien einseifen lassen, aber das ergibt keinen Sinn. Wenn man weiß, dass einer der Namen des Doubles William Shepherd, also Schäfer, lautet, bekommt man auf die Frage des Reporters eine klare Antwort.“

Veronica schaute noch immer zweifelnd drein. „Maria, wenn ich Ihnen zuhöre, komme ich mir dumm vor, diese Dinge nicht selbst schon längst entdeckt zu haben. Mein Vater und ich haben vor ein paar Tagen versucht, mehr über Mal Evans‘ Archiv herauszufinden, und sind dabei auf ähnlich skandalöse Zustände gestoßen. Einerseits sieht es nach einer regelrechten Desinformationskampagne aus, andererseits könnte der Anschein auf eine Reihe von Missverständnissen, Missinterpretationen und ungeschickten Äußerungen zurückzuführen sein. Die Sache ist wirklich riesig, wenn man die ganzen Implikationen bedenkt. Verstehen Sie, was ich meine?“

„Wie viele Aussagen wie die in Moskau brauchen Sie, bevor Sie zu der Ansicht gelangen, dass er sich nicht lediglich ungeschickt verhalten hat? Drei? Sechs? Zehn? Ich kann Ihnen wenigstens ein Dutzend davon zeigen. Sir Paul ist oft zur Doppelgängertheorie befragt worden. Jedes Mal antwortet er zweideutig, statt sich klar von der Behauptung zu distanzieren. Es gibt fast eben so viele belegte Äußerungen von engen Freunden und Kollegen, die ihn mit ‚Billy‘ oder ‚William‘ anreden oder von McCartney in der Vergangenheitsform sprechen. Er hier –“ sie zeigte auf die Ringo-Karikatur auf ihrer Tasse, „behauptet von sich, der letzte lebende Beatle zu sein. McCartneys Bruder Mike sagte einmal, er habe Paul zuletzt auf dessen Beerdigung gesehen. Ab wann werden aus vermeintlichen Missverständnissen Einsichten? Ich verstehe Ihre Befürchtungen nur zu gut, Signorina. Es geht nicht um die John White Band aus Chickenham, sondern um die größte und bis heute einflussreichste Musikgruppe der Geschichte. Es handelt sich ‚bloß‘ um Unterhaltung, doch wenn hier unter den Augen der interessierten Weltöffentlichkeit solche Stunts abgezogen werden konnten, was geschieht dann an weniger beachteten Stellen, die wirklich von Bedeutung sind? Die Antwort auf diese Frage erschüttert das gesamte Bild, das man sich von der Welt gemacht hat. Es hat mein Weltbild erschüttert. Es schmerzt; glauben Sie mir, ich weiß das. Aber sie müssen sich entscheiden, was Ihnen wichtiger ist: die hübsche Fassade Ihres Denkgebäudes oder die Integrität seiner Substanz.“

17) Damenbesuch

Zach schneite um sieben in die Küche, in der es angenehm nach einer warmen Morgenmahlzeit roch. Entgegen seiner üblichen Stimmung um diese Uhrzeit grüßte er Veronica fröhlich. „Na, schon wieder die Erste? Hast du nicht gut geschlafen?“, fragte er.

„Vielleicht ein bisschen zu lang,“ entgegnete sie, „aber sonst ganz okay. Wie steht‘s mit dir? Warum bist du so aufgekratzt? Du hast doch den Clown noch gar nicht gefrühstückt, den ich dir servieren wollte.“

„Ich? Aufgekratzt? Dummes Zeug. Ich kann es bloß kaum erwarten, mich in diese aufgabenreiche Woche zu stürzen.“

„Die zufällig mit gut aussehendem Damenbesuch beginnt.“

„Nonsens!“, polterte er.

„Süß, wie er sich windet.“ Sie zwinkerte. Zach zog eine Grimasse und stieß einen Laut aus, der wie „Hrmpf“ klang. Dann ließen sie das Thema ruhen und setzten sich. Veronica erläuterte die Fragen, die sie ihrer Meinung nach Maria Borghese stellen sollten. Es war ihr daran gelegen, einige Zusammenhänge zu klären, die zu beunruhigenden Folgerungen führen konnten. Wenn Maria ihre Arbeit für den Fab Store wahrheitsgemäß geschildert hatte, musste sie irgendwann auf dieselben irritierenden Tatsachen gestoßen sein. Sie sollte zumindest wissen, welchen Fäden zu folgen die Zieglers der Lösung des Geheimnisses um das verschwundene Manuskript und den Tod Paul Campbells näher bringen konnte. Zach erklärte sich einverstanden.

Gegen acht Uhr stiegen sie die Treppen hinab. Das Licht im Hinterzimmer brannte noch und die Tür zum Verkaufsraum, der ebenfalls hell erleuchtet war, stand offen. Ihr frühmorgendliches Selbst hatte beim Rückzug aus dem Gedankensturm wenig Sinn fürs Detail walten lassen, gestand Veronica sich ein. Sogar die Schallplatte, der Taschenspiegel und das kleine rund gerahmte Bild lagen noch dort, wo sie sie zuletzt betrachtet hatte. Der Seitenblick und das spöttische „Tsk tsk!“ ihres Vaters ärgerten sie. Sie war stolz auf ihren kühlen Kopf, den sie normalerweise selbst in emotional anstrengenden Phasen ihrer detektivischen Arbeit zu bewahren verstand. Den Schock, den sie angesichts des Peppers-Codes und seiner Implikationen empfunden hatte, betrachtete sie als Blöße. Sie würde alles daran setzen, die Scharte auszuwetzen.

Maria stand bereits vor der Tür. Sie unterhielt sich mit einer anderen Frau. Als die Türglocke klingelte, unterbrachen die Frauen ihr Gespräch und schauten herüber.

„Bongiorno, Signore Ziegler!“, grüßte Maria Borghese mit typisch italienischer Melodik.

„Guten Morgen“, sagte auch die andere Frau, eine vielleicht Vierzigjährige, deren Stimme und Gebaren an ein kleines Vögelchen erinnerte.

„Guten Morgen, die Damen!“, grüßte Zach gut gelaunt zurück. „Endlich haben wir ordentliches britisches Wetter“, fuhr er nach einem kurzen Fingerzeig auf die trübe Suppe über ihren Köpfen fort. „Der ewige Sonnenschein ging mir schon langsam auf die Nerven.“

Die Frauen lachten heiter und nickten.

„Lassen Sie sich nicht stören. Ich möchte nur mitteilen, dass wir nun bereit sind. Sie dürfen jederzeit hereinkommen, Mrs Borghese.“

„Grazie. Es gibt nichts Wichtiges. Wir sind uns nur zufällig begegnet und haben ein paar Worte gewechselt. Ich bin sofort bei Ihnen.“

Die Frauen verabschiedeten sich mit Wangenküsschen, dann nahm die Italienerin die drei Stufen zum Laden im Eilschritt. Drinnen angekommen grüßte sie die beiden Zieglers erneut. Sie gab zunächst Zach, dann Veronica die Hand. „Signore Ziegler, wie schön, Sie wiederzusehen.“

„Die Freude ist ganz meinerseits, Mrs Borghese. Die Käse-Spaghetti schmeckten ausgezeichnet. Doch wer hätte gedacht, dass Sie zu so viel mehr fähig sind?“

„Obwohl ich dem Koch ein paar Rezepte geschenkt habe, trage ich keine Verantwortung für die Qualität der Speisen im Restaurant. Wenn ich darf, werde ich hier eines Abends original schwäbisches Essen für Sie beide kochen.“

„Wir werden Sie beim Wort nehmen,“ kündigte Zach an, „doch lassen Sie uns zunächst über Geschäftliches reden. Falls Sie als Putzhilfe bei uns anfangen möchten, können sie sofort zu denselben Bedingungen beginnen wie bei Mr Campbell – oder möchten Sie nachverhandeln?“

„Sehr freundlich Signore Ziegler. Ich bin mit dem alten Vertrag zufrieden. Signore Campbell hat die Bezahlung ein Mal im Jahr an die Inflation angepasst. Ich werde täglich den Boden des Ladens wischen, bei Bedarf das Schaufenster putzen und die Einrichtung abstauben. Montags reinige ich das Hinterzimmer und die Wohnung.“

„Ganz wunderbar, Mrs Borghese. Haben Sie zufällig eine Kopie des Vertrags dabei? Ich werde ihn auf meinen Namen neu aufsetzen.“

Die Italienerin öffnete ihre Handtasche, zog einen doppelt zusammengefalteten Briefbogen heraus und reichte ihn dem Detektiv. Zach bemerkte die präzisen, eleganten Bewegungen ihrer Hände. Er nahm das Papier entgegen und gab es ohne hineinzuschauen an seine Tochter weiter. „Kümmerst du dich bitte drum?“

„Klar.“ Veronica zwinkerte der neuen alten Angestellten zu. Maria Borghese erwiderte die Geste mit einem warmen Lächeln.

„Frau Borghese,“ fuhr Zach fort, „Veronica erzählte mir, dass Sie erwähnt hätten, Sie seien mit den Stammkunden des Fab Store vertraut und an den Recherchen zur Beschaffung von Memorabilien beteiligt gewesen. Haben wir Sie da richtig verstanden?“

„Si, Signore Ziegler. Ich habe für Signore Campbell die Abrechnungen geschrieben und seine Unterlagen in Ordnung gehalten. Außerdem bin ich seinen Kundinnen und Kunden allen persönlich begegnet. Manchmal nehmen sie meine Recherchedienste in Anspruch. Ich werde zu Sammlertreffen eingeladen. Daher kenne ich die Gewohnheiten, die Interessen und die Zuverlässigkeit der Leute sehr genau.“

„Wie lief das ab, wenn Sie Mr Campbell halfen, ein Objekt aufzutreiben? Wie darf ich mir das praktisch vorstellen?“

„Ein Kunde oder Signore Campbell kamen mit einer Idee zu mir und fragten mich um Rat. Meistens konnte ich ihnen etwas zu den Erfolgsaussichten oder auch zu einem möglichen Suchweg sagen. Wenn sie Schwierigkeiten hatten, das Objekt zu lokalisieren, setzte ich mich mit Signore Campbell an den Computer im Studierzimmer. Wir ergänzten uns sehr gut dabei, weitere Informationen darüber aufzutreiben. Manchmal musste ich eine Bibliothek oder ein Archiv aufsuchen. Sobald wir dicht genug herangekommen waren, hat Signore Campbell Kontakt zum Eigentümer aufgenommen oder seine Beziehungen spielen lassen, um ihn zu erreichen. Nicht jeder ist offen für solche Anfragen, müssen Sie wissen.“

„Was sprang für Sie dabei heraus?“, wollte Zach wissen.

„Ich bekam fünf Prozent vom Gewinn, und er verschaffte mir Zugang zu jeder Informationsquelle, die ich haben wollte.“

„Das scheint mir wenig, wenn man Ihren Anteil am Erfolg berücksichtigt.“

„Er hat mir mehr angeboten, aber ich wollte das nicht.“

„Sie wollten das nicht???“, mischte sich Veronica ein, der das Erstaunen ins Gesicht geschrieben stand. „Sie haben zwei kleine Jobs, die kaum das Nötigste abwerfen, und sie schlagen die Gelegenheit aus, Ihre Sorgen loszuwerden?“

„Welche Sorgen? Ich rauche nicht, ich trinke nicht, ich habe keine teuren Hobbys. Für die wenigen Verpflichtungen, denen ich nicht ausweichen kann, reicht das Geld allemal. Mehr davon verdirbt nur den Charakter. Ich habe mein Leben so eingerichtet, dass sowohl der Körper als auch der Geist und die Seele zufrieden sein können. Wer glücklich sein möchte, sollte wissen, wann genug genug ist.“

„Verzeihen Sie meine ungläubige Frage. Man trifft Menschen wie Sie nur sehr selten. Wie ich Ihnen gestern erzählt habe, lebten mein Vater und ich bisher ähnlich bescheiden. Wir werden uns bestens verstehen, glaube ich.“

„Das glaube ich auch, Signorina. Man merkt den Menschen an, wie sie zum Materiellen stehen. Deshalb waren Sie mir sofort sympathisch, als Sie ins Restaurant gekommen sind.“

„Das beruht auf Gegenseitigkeit, wie Sie sicher wissen“, warf Zach ein, und Veronica nickte bestätigend.

„Würden Sie sagen, Sie kennen sich mit der Musikszene, speziell den Beatles, besonders gut aus? Oder beruht Ihr Erfolg eher auf Ihrer Recherchemethodik?“

„Beides trifft zu. Das Thema interessiert mich mehr als jedes andere. Die meisten Tatsachen über die Gruppe liegen noch immer in einem fast undurchdringlichen Nebel aus Halbwahrheiten, Schweigen und Mythen verborgen, aber das macht es besonders reizvoll für mich, darin herumzustochern. Ich habe wahrscheinlich jedes Buch, jede Webseite und jeden Artikel gelesen, die es auf Englisch, Italienisch oder Deutsch gibt – und ich vergesse nichts, das ich einmal gelesen habe. Deswegen kann ich übrigens auch Kundenfragen beantworten – zum Beispiel solche wie die da.“ Sie zeigte auf die von Veronica zurückgelassenen Gegenstände neben der Registrierkasse.

Das Gesicht der jungen Frau rötete sich. Einerseits ärgerte sie sich erneut über ihren Mangel an Vorsicht, andererseits empfand sie die Schärfe von Marias Verstand als furchterregend. Da sie sich jedoch ohnehin vorgenommen hatte, den Peppers-Code zum Prüfstein für die Fähigkeiten der Italienerin zu machen, nutzte sie nun die Steilvorlage, um mehr über seine Bedeutung zu erfahren. „Ich habe zwei Fragen,“ sagte sie. „Was besagt der Schriftzug im Spiegel, und weshalb hatte Onkel Paul ihn an der Wand hängen?“

Maria Borghese schwieg eine gefühlte Ewigkeit, während der sie Veronicas Gesicht studierte. Der Detektivin lag es fern, diesem Blick auszuweichen. Nach einer Woche, in der ihre Nachforschungen eine Ungereimtheit um die andere zutage gefördert hatte, wollte sie Antworten haben. Die Spannung im Raum wurde beinahe greifbar. Als die Italienerin schließlich zu sprechen begann, ertönte ihre Stimme ernst und ungewöhnlich tief: „Wir sind gerade dabei, die Türen zum ersten Kreis der Hölle zu öffnen. Ich schlage daher vor, wir gehen nach hinten und setzen uns.“

16) Das Bild im Spiegel

Sie gingen zuerst in das von Veronica in Besitz genommene Gästezimmer, da ihnen der kleinere Buchbestand trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit bewältigbar schien.

„Hast du schon in die Fächer des Sekretärs geschaut?“, fragte der Detektiv.

„Nicht in alle. Soll ich ihn mir vornehmen?“

„Unbedingt.“ Er trat an eines der maßgeschneiderten Regale und legte den Kopf schief, um die Titel auf den Buchrücken zu lesen. Allein in diesem Zimmer mochten an die zweitausend Bände stehen. Im Raumschiffleitstand, wie er Pauls Studierzimmer bei sich nannte, mochten drei bis vier Mal mehr untergebracht sein. Veronica hatte recht. Die Aufgabe, Pauls Leben in allen Einzelheiten zu untersuchen, wäre eine angemessene Strafe für jenen Verbrecher, der ihn ermordet hatte. Diese Sache besaß das Potenzial, sie auf Jahre hinaus mit nichtigen Details zu beschäftigen. Im Moment interessierten sie sich jedoch nur für die groben Züge, und sie waren auf der Suche nach Auffälligkeiten. Er wollte den Mann kennenlernen, dem er seinen unverdienten Wohlstand verdankte, nicht nur dessen Nutznießer sein. Da war es wieder, dieses Wort. Es trug den Beigeschmack des Parasitären. Wer hatte es sich auf die Fahnen geschrieben? Zach schob den Gedanken an den Rand seines Bewusstseins und konzentrierte sich wieder auf die Bücherwand vor ihm. Er mochte den literarischen Geschmack, der sich hier manifestierte. Paul hatte seinen Gästen eine große Bandbreite von Klassikern zur Verfügung gestellt, dazwischen einige wenig bekannte Perlen wie John Christophers ‚Leere Welt‘ oder Daniel Quinns ‚Ismael.‘

Veronica sprach ihn an. Sie hatte die Inspektion des Sekretärs zügig beendet und meldete nun, dass sie außer mit Rosenwasser parfümiertem Briefpaper und einigen Haarbändern nichts gefunden hatte, das der Erwähnung wert wäre. Sie vermute, dass sich weibliche Gäste hier aufgehalten hatten. Zach brummte. Veronica ging zum Bett, setzte sich auf die Kante, schaute sich um.

Zach nahm die Begutachtung der Büchersammlung wieder dort auf, wo er unterbrochen worden war. ‚Die drei Sonnen‘ von Cixin Liu; Simmels ‚Bis zur bitteren Neige‘, B. Travens ‚Das Totenschiff‘. Er zog den Band heraus. Eine Postkarte steckte als Lesezeichen darin; das Motiv zeigte den Hafen von Lissabon, die Nachricht auf der Rückseite war schwer zu entziffern. Er legte die Karte wieder ins Buch und stellte dieses an seinen Platz im Regal. Weitere Buchrücken, und noch weitere. Er zog einen dicken Schinken heraus. Ein Spalt im oberen Schnitt ließ erkennen, dass etwas in ihm steckte. ‚Die Brüder Karamasow‘ las er auf dem Einband. Er schlug das Buch auf. Ein Foto, das ihm bekannt vorkam. Zuerst begriff er nicht. Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schock: Das waren er und sein Stiefbruder, vor genau zweiundzwanzig Jahren. Sie standen vor der Kirche, Paul hielt Veronica, sein Patenkind, auf dem Arm, kurz nach der Taufe.

Zach drehte sich zu der jungen Frau um, die sie heute war. „Schau, das ist Paul…“

Sie lag auf dem Bett, die Augen geschlossen, die Füße noch immer auf dem Boden stehend. Ihr Atem ging ruhig. Ihr Vater betrachtete sie; ein sanfter Ausdruck legte sich auf seine Züge. Er holte tief Luft, schlug einen Zipfel der Tagesdecke über sie und stellte das Bild so auf den Sekretär, dass sie es beim Aufwachen sehen musste. Dann las er die Stelle, an der er es gefunden hatte. Sie schien ihm nichtssagend. Also schlug er das Buch zu, stellte es wieder ins Regal und verließ das Zimmer. Leise schloss er die Tür hinter sich.


Veronica erwachte irgendwann in der Nacht. Ihre Augen öffneten sich zuckend. Es war stockfinster. Sie fühlte sich, als schmerze jeder einzelne Wirbel. Vorsichtig stützte sie sich zunächst auf ihre Ellbogen, dann richtete sie sich vorsichtig in sitzende Position auf. Wo war sie? Schwaches Licht drang durch zwei Fenster. Ein kleiner Raum. Nachdem sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, schälten sich die groben Umrisse der Einrichtung schattenhaft heraus. Regale. Bücher. Ein Schränkchen… ein Sekretär! Ach ja, das Gästezimmer… nein, ihr Zimmer im neuen Zuhause, korrigierte sie sich. Die Erinnerung an den frühen Abend kehrte zurück. Sie war eingeschlafen, einfach so. Zu viel Information, zu viel Gefühlsachterbahn. „Bäääh!“, blökte ein Schaf in einem Winkel ihres Geistes. Veronica musste unwillkürlich lachen. „Danke fürs Wecken“, sagte sie. Sie rieb sich die Augen, dann tastete sie sich zur Tür und dem Lichtschalter daneben. Als das Licht aufflammte, kniff sie die Lider fest zusammen. Mann, war das grell. Durch enge Schlitze schaute sie zum Sekretär hinüber, auf dem ein Taschenwecker stand. Fast zwölf Uhr! Den Sonntag hatte sie also mit Bravour in süßem Nichtstun vergeudet. „Gut gemacht, Veronica!“, schalt sie sich. „Weit hast du‘s gebracht mit deinen Recherchen.“

Sie fühlte sich gleichzeitig wach und antriebslos und setzte sich daher auf den Boden, den Rücken ans Bett gelehnt. Was jetzt? Duschen? Dann wäre an Schlaf wohl nicht mehr zu denken; es würde ein langer, langer Tag werden, dieser Montag. Ihre Augen schweiften über die unteren Fächer des gegenüberliegenden Regals, ohne zu begreifen, was sie sah. „Bha-ga-vad-gi-ta“, buchstabierte sie träge den Titel eines dicken Buches. „Christian Rosenkreutz“ las sie auf dem nächsten Buchrücken. Darauf folgten „Das Ägyptische Totenbuch“, einige Bände aus der Hand Aleister Crowleys, drei Bände der „Geheimlehre“ von Helena Blavatsky, „Die Lehren des Hermes Trismegistus“, „Kybalion“, „Kabbala für Fortgeschrittene“ und dieser seltsame Band mit den ihr unbekannten Symbolen auf dem Rücken. Sie zog ihn heraus und öffnete ihn wahllos: das Faksimile einer alten Handschrift, Bilder von ihr unbekannten Pflanzen und Tieren, eingerahmt von schwer leserlichem Kauderwelsch, den sie nicht entziffern konnte. Schön aber schräg, dachte sie und stellte ihn zurück. Eine „Einführung in die Numerologie“ stand rechts daneben. Bedeutungsschwer, stellte sie fest, ungeeignet für diesen Moment. Sie würde Maria fragen, ob sie wusste, was es damit auf sich hatte. Die Müdigkeit drohte sie wieder zu übermannen. Um nicht erneut in zerknitterten Klamotten aufwachen zu müssen, zog sie sich aus, ließ alles einfach zu Boden gleiten, schlüpfte unter die Decke und war im Nu eingeschlafen.


Sechs Uhr früh. Erneut war sie die erste, die den beginnenden Tag begrüßte. Das wurde langsam zur Marotte. Draußen herrschte nebliges Grau, das jede Regung, das warme Bett zu verlassen, absurd erscheinen ließ. „Bleib doch noch ein wenig liegen,“ suggerierte es, „schließ die Augen und genieß das zwielichtige Reich des Halbschlafs.“ Doch Maria Borghese würde heute erneut vorsprechen. Veronica wollte besser darauf vorbereitet sein als tags zuvor, als das plötzliche Wiedersehen mit der sympathischen Bedienung aus dem italienischen Restaurant sie völlig überrumpelt hatte. Die Offenbarung, dass sich mit Maria eine Gelegenheit eröffnete, Onkel Pauls Werk fortzuführen, statt bei Null beginnen zu müssen oder den Laden einfach zu schließen, hatte sie ebenso unverhofft getroffen. Sie überlegte, wie sie Marias Talente auf die Probe stellen konnte. Ein, zwei vage Ideen begannen Form anzunehmen, während die junge Detektivin die Bettdecke beiseite schlug, die Füße auf den weichen Teppichboden stellte und sich auf den Weg zur Dusche machte.

Erfrischt und wesentlich erfolgreicher als bei ihrem nächtlichen Versuch, ihr Wachbewusstsein wieder herzustellen, schnappte sie zehn Minuten später einen Taschenspiegel von einer Ablage im Badezimmer. Sie eilte die Treppen hinunter, wo wie einen Blick auf das runde Bild unter McCartneys jugendlichem Gesicht warf. Spontan nahm sie es von der Wand, dann öffnete sie die Tür zum Verkaufsraum, schaltete das Licht ein und suchte nach der Stelle, an der Henry das Album aus den LP-Sortierkästen gezogen hatte. Sie blätterte durch fast zwei Dutzend Beatles-Scheiben, bevor sie fand, was sie seit Tagen unterschwellig beschäftigt hatte: Das Cover zeigte zahlreiche bekannte Gesichter – von Cassius Clay über Lorenz von Arabien und die Monroe bis zu Karl Marx – vor einem blauen Hintergrund. Dessen farbliche Intensität wurde nur durch die vier Gestalten im Vordergrund des bunten Haufens in seiner Dominanz angegriffen. Die Blasinstrumente, die sie in Händen hielten und ihre pseudomilitärischen Karnevalsuniformen wiesen sie als Marschkapelle aus. Ihre schnurrbärtigen Gesichter schauten selbstbewusst in die Kamera – ganz im Gegensatz zu den vier kindlichen dunkel gekleideten Pilzköpfen neben ihnen, die einen frisch aufgeworfenen Erdhügel am unteren Bildrand anstarrten. Auf ihm formten rote Blumen das Wort „Beatles“. Darüber, genau im Zentrum des Covers, zu Füßen der Marschkapelle, nahm das auffälligste Element der ganzen Szenerie den Blick der Betrachterin gefangen. Die große Basstrommel trug die Aufschrift „SGT.PEPPERS LONELY HEARTS CLUB BAND“.

„Da laus mich doch der Affe!“, dachte Veronica, die das Cover natürlich schon unzählige Male in ihrem Leben gesehen hatte, zuletzt mehrfach bei ihrem Gang durch Liverpools Cavern-Viertel – nur eben nie mit den Augen einer Detektivin, die ein Geheimnis aufzuklären versuchte. Es war so offensichtlich. Trotzdem war ihr früher nie der Gedanke gekommen, dass es sich um eine Begräbnisszene handeln könnte. Die kräftigen Farben und die vielen zuversichtlichen, teils lachenden Gesichter der versammelten Prominenz hatten sie glauben lassen, es handle sich um einen fröhlichen Anlass, an dem alle für ein Foto posierten. Doch der Spielmannszug hieß nicht „The Beatles“; diese lagen unter einer Blumenrabatte begraben. An ihre Stelle war Sergeant Peppers Klub der einsamen Herzen getreten, ein neuer Stern am britischen Rockmusikhimmel.

Veronica ging zum Tresen, legte die Schallplatte darauf und das runde Bild direkt daneben. Sie zückte den Taschenspiegel und hielt ihn waagerecht genau mittig über den Schriftzug „LONELY HEARTS”, so dass er den oberen Teil der Basstrommel spiegelte. Sie hatte halb gehofft, dass Onkel Pauls mysteriöse Wanddekoration lediglich ein schrulliges Stück bildender Kunst darstellte, bei dem der Urheber die Wirklichkeit ein wenig zurechtgezupft hatte, um sich interessant zu machen. Doch was ihr Spiegel zeigte, war mit dem Bild im schwarzen runden Rahmen völlig identisch. Statt „LONELY HEARTS“ las sie nun:

I ONEI X HE DIE

„Oh shit!“, zischte sie leise. Sie hatte keinen blassen Schimmer, was die linke Hälfte des kryptischen Schriftzugs zu bedeuten hatte. Es musste sich um eine Art Code handeln. Dafür schien die Aussage der rechten um so klarer. Die kleine Raute entpuppte sich als Pfeil. Was man auf dem Bild ihres Onkels nicht sehen konnte: Sie zeigte auf den Mann in der leuchtend blauen Uniform. Sie zeigte auf McCartney – Paul McCartney.

Halt, unterbrach Veronica sich selbst. Der Zusammenhang war auch im Hinterzimmer hergestellt. Es war das Porträt des jugendlichen Paul McCartney, das oberhalb des kleinen runden Rahmens hing. In ihrem Kopf brach ein Sturm zahlreicher Stimmen los, die alle gleichzeitig um Aufmerksamkeit buhlten: Was sollte das? Wollte die Band mitteilen, dass der Musiker gestorben war? Verschlüsselte der kryptische Teil des Codes den Hergang, das Datum oder den Grund? Wer spielte nun an Pauls Stelle?, ratterten manche ihren langen Fragenkatalog herunter, während andere, ohne eine schlüssige Antwort zu geben, jeden Zweifel an der Kontinuität der Bandgeschichte als Quatsch deklassierten; das Spiegelbild musste durch reinen Zufall entstanden sein, behaupteten sie. Es sei ein technisches Artefakt, in das Unsinn hineininterpretiert wurde.

„Aber weshalb hat Onkel Paul dieses Artefakt an die Wand gehängt?“, quengelten weitere Stimmen. „Doch bestimmt nicht, weil er es für Unsinn hielt. Und falls jener andere, jener bekanntere Paul verstorben ist, spielte das eine Rolle beim Mord an dem Ladenbesitzer desselben Vornamens?“

Veronica hatte den Eindruck, einer Pressekonferenz oder einer heftigen Parlamentsdebatte beizuwohnen, die durch eine provokante Äußerung des Redners in einen Hexenkessel erhitzter Gemüter verwandelt worden war – nur dass sich die „Debatte“, wenn man das erregte Geschrei so bezeichnen wollte, in ihrem Geist abspielte. Sie rieb sich die Schläfen, atmete tief durch. Das kakophone Geschnatter und Geratter wurde leiser und verstummte nach einer Minute regelmäßiger Atemzüge schließlich ganz. Sie würde dem nachgehen – aber nicht jetzt. Jetzt würde sie das Frühstück für ihren Vater und sich selbst auftischen, danach einen Imbiss für drei zubereiten.

15) Eine wichtige Botschaft

„Ich suche Sie im Auftrag von Mr Kite auf. Er ist Stammkunde in Campbell‘s Fab Store und…“

„Ich weiß, wer Mr Kite ist, –“ schnauzte Zach, wenngleich weniger druckvoll, als er beabsichtigt hatte. Sein Ärger über die Störung begann sich bereits aufzulösen. Als Vollblutddetektiv plagte ihn permanent die Neugier. So auch jetzt. Welch kauziger Auftritt dieses Typen, der keinen eigenen Namen nannte, sondern sich als Besitz eines wesentlich bedeutsameren Befehlsgebers zu verstehen schien – formell gekleidet, aber eben lediglich der Hund eines Herrchens, unter dem er sich zweifelsohne eine Ehrfurcht gebietende Präsenz vorzustellen hatte. Seit Paul ihm gezeigt hatte, wie man die unbesiegbare Aura der scheinbar Allmächtigen brach, beeindruckten ihn Äußerlichkeiten wie Kleidung, Posen oder Wortgewalt jedoch überhaupt nicht mehr. Er würde diesem Wauwau die Hausregeln erklären und ihm dann freundlicherweise erlauben, den Wunsch seines Herrn vorzutragen. „– aber am siebten Tage ruhte selbst Gott, der Herr,” fuhr er fort, “und ich habe nicht vor, daran etwas zu ändern. Sonntags bleibt dieses Geschäft geschlossen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag.“

Er tat so, als wolle er der Melone die Tür vor der Nase zuschlagen. Diese öffnete und schloss ihren Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen, hob schnell die Hand und würgte ein krächzendes „Aber…!“ hervor.

„Ist noch was?“, fragte Zach.

Melone fasste sich mit der Rechten ins Revers, tastete eine gefühlte Ewigkeit darin herum und produzierte schließlich eine Visitenkarte, die er dem Detektiv wortlos entgegenstreckte. Zach musterte den Mann von oben bis unten, bevor er sie annahm. Lässig drehte er sie zwischen den Fingern, dann schaute er nach unten. Er las:

‚M. Kite, Nutznießer. The Wallace Castle Liverpool, Scotland Road,‘ und eine Telefonnummer.

„Mr Kite, ja. So weit waren wir schon.“

Erneut hatte er Melone auf dem falschen Fuß erwischt. Die Augen weiteten sich, der Mund formte ein O, durch das Luft hörbar nach innen strömte. Einen Moment schien es, als wolle er zu weinen anfangen, doch dann begann der Mann, seine Fassung wiederzugewinnen. Er räusperte sich und sagte: „Mr… hrm… Kite wünscht mit Ihnen zu sprechen und schlägt ein Treffen auf seinem Schloss vor. Er lässt fragen, ob es Ihnen gleich morgen recht wäre.“

Zach ging im Geist ihre Vorhaben für den kommenden Tag durch. „Nein,“ erwiderte er. Sie würden ausgiebig mit Maria Borghese sprechen. Eventuell würde auch Henry hereinschauen; wer konnte sagen, wie viel Zeit sie danach brauchten, alles zu verarbeiten, oder welche Erledigungen umgehend zu tätigen sein würden. „Morgen bleibt keine Zeit für zusätzliche Termine,“ fuhr er fort. „Was, meinen Sie, wird Mr Kite von dem Vorschlag halten, das Treffen um einen oder zwei Tage zu verschieben?“

Der Mann zog ein Taschentuch heraus, nahm seine Melone ab und tupfte sich die Stirn. Dieses Gespräch schien seinem Handlungsspielraum das letzte abzuverlangen. Zach hegte fast so etwas wie Mitgefühl für ihn, doch so leid es ihm tat – man musste seine Pflöcke früh genug einschlagen, sonst wurde man gnadenlos überfahren. Er hatte nicht vor, den Laufburschen für die örtliche Schickeria zu spielen, und er würde es sie von der ersten Sekunde an wissen lassen.

Melone hatte sich endlich zu einer Antwort durchgerungen. Er sagte: „Ich… äh, betrachten Sie Dienstag als bestätigt. Bitte finden Sie sich pünktlich um 11 Uhr mittags in Wallace Castle ein. Auch Ihre Begleiterin ist willkommen.“ Er tupfte erneut Schweiß von der Stirn.

Zach nickte ihm zu. „Einverstanden. Richten Sie Mr Kite meinen Dank für seine Einladung aus. Ich freue mich, mit ihm plaudern zu können.“ Er griff in die Gesäßtasche seiner Hose, holte eine Zehn-Pfund-Note heraus und steckte sie der Melone in die Brusttasche. Er lächelte dem Mann freundlich zu, dann drehte er sich um, ging in den Laden zurück und schloss die Tür. Ohne sich noch einmal umzusehen strebte er der hell erleuchteten Tür des Hinterzimmers zu, diesmal sorgfältig darauf achtend, nicht mit Hindernissen zusammenzustoßen. Auf dem Weg nach hinten entgleisten ihm sämtliche Gesichtszüge; er zwang sich zu einem ruhigen aber zügigen Schritt. Doch sobald er die Tür hinter sich zugeworfen hatte, platzte es aus ihm heraus. Er begann lauthals zu lachen. Veronica, die die seltsame Unterhaltung verfolgt hatte, stimmte sofort mit ein. Sie prusteten und keuchten und krümmten sich mehrere Minuten lang. Jedes Mal, wenn einer der beiden sich etwas beruhigen wollte, überwältigte sie eine erneute Lachsalve. Tränen rannen ihnen an den Wangen herab. Sie klopften sich gegenseitig auf den Rücken, stampften mit den Füßen und ließen sich etliches später endlich halb entkräftet auf ihre Sitze fallen.

„Hätte ich ihn fragen müssen, ob wir etwas aus der Pommesbude zu essen mitbringen sollen?“, setzte Zach erneut an. Die Frage löste eine weitere Runde vergnügten Gackerns aus.

„Schluss jetzt, ich kann nicht mehr!“, japste Veronica.

„Schmeiß den Film wieder an,“ krakeelte ihr Vater, „ich sehne mich nach echten Menschen.“

„Und ich nach authentischen Außerirdischen“, ergänzte sie.


Der Film lenkte sie für ein Stündchen von der Begegnung ab, und von all dem, was mit dem Mord an dem armen Onkel Paul zusammenhing. Weder Zach noch Veronica war wohl zumute, wenn sie daran dachten, welche Umstände sie nach Liverpool in dieses Haus geführt hatten. Ihre flippigen Unterhaltungen, durch die sie ein Stück ihrer Londoner Normalität in diese unbekannte Stadt importierten, und das hysterische Gelächter von gerade eben, das ihrem irrationalen Spiel mit schwer einzuschätzenden Gefahrenquellen geschuldet war, lagen wie ein dünner Firnis über dem tief sitzenden Gefühl von Bedrohung, das sie beschlichen hatte. Erst vor fünf Tagen waren sie hier eingetroffen, aber Thomas Henry Bishops Warnung, dass der Abgrund, in den sie gerade blickten, zu ihnen zurückschauen könnte, verfolgte sie bis in die unruhigen Träume des langen Mittagsschlafs, den sie sich heute gönnten. Als sie gegen drei Uhr nachmittags erwachten – mit Schmerzen im Hintern, gebrochenem Kreuz und zerknittertem Gesicht – hatte sich ihre Stimmung ins Gegenteil dessen verwandelt, was sie am Morgen gewesen war. Veronica setzte eine neue Kanne Kaffee auf, dann machten die beiden es sich in einer Art Katzenjammer am Küchentisch bequem.

„Was mich seit Tagen irritiert,“ begann Zach, „ist diese seltsame Leere an der Stelle, an der Paul einen Platz in meinem Herz haben müsste. Er war mein bester Freund, als wir zur Schule gingen, und eine große Stütze zu der Zeit, als du zur Welt gekommen bist. Er verdiente ein Dankeschön und eine Entschuldigung, doch er ließ sie mich nie aussprechen. Zwanzig Jahre lang hielt er sich vor mir versteckt, und dann plötzlich dieser gewaltsame Tod, der endgültig alle Brücken zwischen uns einreißt. Diese Erkenntnis der unwiderruflichen Trennung war es, die mich im ersten Moment schockierte. Ich sollte traurig sein oder auf eine egozentrische Weise verärgert, weil er mir jede Gelegenheit genommen hat, unser geknicktes Verhältnis wieder zu kitten. Aber: nichts. Da ist nichts. Ich fühle – nichts! Er ist als ein unbekannt Gewordener gestorben, als Kondensationskern einer Gemeinschaft schattenhafter Fremder, als Kenner einer untergegangenen Kultur, der es zu Reichtum gebracht hat, indem er deren Artefakte aus dem Dunkel der Zeit ins Licht der Gegenwart zerrte. Weder zu dem Mann noch zu dem, was er uns hinterlassen hat, kann ich eine Beziehung herstellen… verstehst du, was ich sagen will?“

Veronica, über ihren Humpen gebeugt, den sie mit beiden Händen festhielt, hob den Blick, um ihrem Vater direkt in die Augen zu schauen. „Ich kann nur vermuten, was du fühlst – oder eher, was du nicht fühlst“, antwortete sie langsam. „Vielleicht ist es schwieriger für dich als für mich, weil du ihn einmal gekannt hast. Für mich besitzt er kaum mehr Substanz als der König aus einem Märchen oder irgendein Fremder, über den die Zeitungen berichten. Ich fühle keine Trauer, weil Onkel Paul nie einen Raum hier drin“ – sie klopfte sich auf die Brust – „eingenommen hat.“ Veronica überlegte kurz. „Total abgefahren! Ich meine, von einem Moment auf den anderen tritt jemand in mein Leben, der die Macht hat, es völlig auf den Kopf zu stellen, und ich weiß nicht einmal, wie er aussieht… aussah. Ich lerne ihn kennen, indem ich seine Überreste vom Boden kratze, seine Wohnung benutze, mit seinen Geschäftspartnern den Faden wieder aufnehme und mich für die Dinge zu interessieren beginne, die für ihn eine Bedeutung hatten. All das scheint mir mehr abenteuerlich als traurig.“

„Bäääh!“ – das Meckern eines Schafs.

Veronica sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. „Womit habe ich diesen Kommentar verdient, Herr Ziegler? Gerade noch wähne ich mich in einem ernsthaften Gespräch, und plötzlich reden Sie in Zungen.“

„Dank deiner Erläuterungen kam mir gerade der Gedanke, dass Paul hier“ – er drehte seine Tasse so, dass seine Tochter das Foto McCartneys sehen konnte und tippte mit dem Zeigefinger darauf – „nicht etwa seine Meinung zur Qualität des Tasseninhalts abgibt, sondern eine wichtige Botschaft für uns hat.“

Veronica schüttelte irritiert den Kopf. „Die da lautet?“

„Steht doch da.“

„Bäääh!? Das ist mir zu hoch.“

Zach stieß ein bellendes Lachen aus. „Wenn wir den wahren Paul erkennen wollen, müssen wir ihn völlig neu sehen lernen“, sagte er. „Nicht so, wie andere ihn für uns zeichnen – den netten Mann, der stets etwas Schönes für die Leute aus dem Hut zauberte –, aber auch nicht so, wie er sich selbst verstand: als Schäfer einer Herde, die zu dumm ist, seine wahre Funktion zu erkennen.“

„Okaay…“, sagte Veronica gedehnt. „Und wie stellen wir das an?“

„Indem wir ihn beobachten, ihn regelrecht ausspionieren – so, wie wir es bei einem Auftrag normalerweise tun. Wir lesen seine Emails, scannen seine Festplatte, prüfen seine Kontobewegungen, schauen in seine Manteltaschen,“ – Veronica schluckte; – „durchsuchen seine Möbel, leuchten in die staubigen Ecken seiner Wohnung, suchen nach verborgenen Hohlräumen, vollziehen seine Tagesaktivitäten nach. Was wir finden, vergleichen wir mit dem, was er über sich selbst erzählt hat und was andere über ihn sagen.“

„Arbeit für eine, die Vater und Mutter erschlagen hat… Na gut. Da passt ja unser Vorhaben, die Hausbibliotheken zu inspizieren, perfekt ins Programm. Suchen wir nach etwas Bestimmtem oder wollen wir uns zunächst ein allgemeines Bild von der Sammlung machen?“

„Lass uns schauen, womit er sich beschäftigt hat, welche Fächer und Themen ihn interessierten. Vielleicht fällt uns dabei schon etwas auf, dem man weiter nachgehen kann: viel benutzte Bücher mit Markierungen, Widmungen oder Randnotizen; Briefe und Fotos, die als Lesezeichen eingelegt wurden – derlei.“

10) Nicht mehr alle Beatles in der Band

Sie saßen in einer Art Katerstimmung am Frühstückstisch. Keiner von ihnen hatte gut geschlafen in dieser ersten Nacht im neuen Domizil. Zach hatte von reißzahnbewehrten Koffern geträumt, die nach seinen Ärmeln und Hosenaufschlägen schnappten und ihn in verschiedene Richtungen zu zerren versuchten.

Bevor sie in einen traumlosen Schlaf gesunken war, hatte Veronica stundenlang über der Frage gebrütet, wie man alltägliche Zufälle von absichtlich inszenierten Ereignissen unterscheiden könnte. „Cui bono,“ sagte sie in die Stille der Campbell‘schen Küche hinein.

„Wie bitte?“, erkundigte sich ihr Vater, dessen Blick aus weiter Ferne zurückkehrte.

„Wem nützt es – cui bono“, erklärte Veronica. „Alte lateinische Redewendung. Heute würde man sagen: Folge dem Geld. Für sich genommen ist ein starker finanzieller Anreiz natürlich kein Schuldbeweis, kann aber ein vielversprechender Ermittlungsansatz sein.“

„Gelegenheit und Fähigkeit zur Tat müssen ebenfalls gegeben sein, wenn man eine Jury überzeugen möchte“, ergänzte Zach. „Außerdem mag es andere Motive als Geld geben.“

Veronica nickte. „Und man müsste den Beweis antreten, dass der Verdächtigte es auch wirklich getan hat. Was uns auf seine Fährte helfen könnte, wäre ein Muster, ein wiederkehrendes Element.“

Zach runzelte die Stirn. „Du siehst hier einen Fall?“

„Du nicht? Onkel Paul wurde ermordet; ein potenziell brisantes Dokument aus seinem Besitz verschwand in derselben Nacht. Es geht wahrscheinlich um Millionen von Pfund. Selbstverständlich ist das ein Fall.“

„Um den sich die örtliche Polizei oder Scotland Yard kümmert.“

„Das mag stimmen. Ich wage jedoch zu bezweifeln, dass sie die unbestreitbaren Parallelen zum Fall Mal Evans berücksichtigen.“

„Der echt schräg aussieht, aber man kann nicht vollständig ausschließen, dass die meisten Widersprüche in der Berichterstattung über Evans auf Kommunikationsstörungen zurückzuführen sind. Zufälle soll es geben.“

„Wer sagt ständig: ‚Ein Mal ist Zufall, zwei Mal ist Dummheit und drei Mal ist Absicht‘?“

„Zachary Archibald Ziegler.“

Veronica nickte. „Ein kluger Mann. Möchtest du hören, was seine noch klügere Tochter denkt?“

„Klär mich auf.“

Veronica kicherte vergnügt.

„Was gibt es da zu lachen?“

„‚Tochter klärt Vater auf‘ – wäre das eine coole Schlagzeile für die Bild?“

„In Zeiten um sich greifender Gender-Verwirrung ist das kein Witz, sondern eine zu Tränen reizende Notwendigkeit. Ich läse daher lieber ‚Mann beißt Hund‘; das gäbe mir ein lang vermisstes Gefühl von Normalität wieder… Worauf willst du eigentlich hinaus, Liebes?“

„Weißt du, wie die Leute bei SETI außerirdische Signale von kosmischem Hintergrundrauschen zu unterscheiden versuchen?“, fragte Veronica zurück. Ohne eine Antwort abzuwarten erläuterte sie: „Kommunikation kann man immer daran erkennen, dass sie Muster im ‚Text‘ hinterlässt, die man mit statistischen Graphen oder arithmetischen Formeln entdecken beziehungsweise darstellen kann. Dabei ist es egal, ob es sich um ägyptische Steintafeln, viktorianische Romane, mongolische Radiosendungen, italienische Schnulzenfilme oder verschlüsselte KGB-Nachrichten handelt. Man muss die enthaltene Botschaft nicht verstehen können, um zu erkennen, dass höchstwahrscheinlich ein sinntragendes Signal vorliegt. Eine statistisch signifikante Häufung bestimmter Marker teilt uns mit, dass wir es mit mehr als dem reinen Zufall zu tun haben.“

„Verstehe. Und das willst du nun auf Ereignisse übertragen?“

„Wie kommen die Ermittler der Mordkommission zu dem Schluss, es mit einem Serientäter zu tun zu haben?“

„Anhand identischer Spuren an verschiedenen Tatorten.“

„Exakt. Ein einzelner Mord stellt keine Serie dar. Ein erster weiterer Mord mit identischen Spuren sieht vielleicht nur zufällig so aus, als gehöre er zu einer Serie. Je mehr solcher Fälle man jedoch vorliegen hat, desto eindeutiger tritt die Absicht hinter ihnen zutage. Was wir brauchen, sind mehr Daten!“

„Ich hatte eigentlich vor, der Polizeiwache erst nächste Woche einen Besuch abzustatten…“

Veronica setzte ihr bezauberndstes Lächeln auf und klimperte mit den Wimpern. Zach brummte, dann griff er nach einer weißen Serviette und schwenkte sie über seinem Kopf.


Zach lenkte den GT aus der Tiefgarage in den morgendlichen Berufsverkehr. Die Parkgebühren für zwei Tage hatten bereits ein kleines Vermögen gekostet. Zum Glück musste er sich darüber keine Gedanken mehr machen. Dank der Erbschaft würde er das jahrelang durchhalten. Doch falls sie hier blieben, würde er einen festen Platz kaufen; oder den Mini Cooper verkaufen, um den Opel an seiner Statt abzustellen.

Da es noch recht früh war, beschloss er, zunächst zum Hotel zu fahren, um das Zimmer zu kündigen und ihre Sachen in die Rainford Gardens zu bringen. Danach, gegen zehn Uhr, betrat er die Polizeiwache, wo er verlangte, den Leiter der Ermittlungen im Mordfall Campbell zu sprechen. Man führte ihn zu einer Bürotür und bat ihn, auf einem der Stühle davor Platz zu nehmen. Drinnen hörte er einen Mann telefonieren. Er konnte sich zwar auf den Inhalt des Gesprächs keinen Reim machen, aber diese Stimme fand er beeindruckend kräftig. Einige Minuten später fiel ein Hörer auf die Gabel, und kurz darauf näherten sich Schritte. Die Tür wurde aufgerissen.

„Mr Ziegler? Guten Tag. Kommen Sie herein.“

Zach war ein klein wenig enttäuscht von der Entdeckung, dass die Bärenstimme einem Mann von durchschnittlicher Größe, mittlerer Körperfülle und unauffälligen Gesichtszügen gehörte. Er nahm sich jedoch vor, ihn nicht zu unterschätzen. Der bleigraue Bürstenhaarschnitt vermittelte den Eindruck eines starken Willens. Er musterte das Namensschild, dem zufolge er mit D. Wickens sprach. „Guten Tag, Sir. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit nehmen, mir die Umstände des Todes meines Stiefbruders zu erläutern.“

„Ich bitte Sie! Als Angehöriger haben Sie ein berechtigtes Interesse an diesen Informationen. Soweit es die Ermittlungen zulassen, will ich Ihnen gern Auskunft geben… Setzen Sie sich doch.“ Er deutete auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Ehrlich gesagt hoffe ich auch, dass Ihnen etwas ein- oder aufgefallen ist, das uns weiterhelfen könnte.“

„Ich befürchte, dass ich Sie enttäuschen muss. Mein Stiefbruder und ich haben uns Jahrzehnte nicht gesehen oder gesprochen. Weder bin ich mit seiner Lebenswirklichkeit noch mit seinen Einstellungen, Gewohnheiten oder persönlichen Beziehungen vertraut. Außer dass er sich anscheinend zu einer der führenden Kapazitäten in Sachen The Beatles entwickelt hat, weiß ich praktisch überhaupt nichts über den Mann, der er zuletzt gewesen ist.“

„Das ist bedauerlich. Dennoch – falls Sie unter den Hinterlassenschaften Mr Campbells etwas finden, das eventuell einen Hinweis auf den Mord liefern könnte, rufen Sie mich jederzeit an.“ Er schob Zach eine Visitenkarte zu.

Der Detektiv nickte und steckte die Karte nach flüchtiger Betrachtung in eine Jackentasche. „Wären Sie so freundlich, die letzten Stunden in Mr Campbells Leben zu beschreiben, soweit Sie diese rekonstruieren konnten?“

„Viel zu erzählen gibt es nicht. Laut Zeugenaussagen einer Nachbarin verließ kurz vor acht Uhr abends ein letzter Kunde den Laden. Mr Campbell schloss die Tür von innen ab und knipste das Licht aus. Er hat eine Mahlzeit eingenommen. Gegen elf Uhr gingen auch in der Wohnung die Lichter aus. Um 3:05 Uhr in der Frühe registrierte die Außenkamera eine Gestalt, die im Eingang verschwand. Die Qualität der Aufnahmen lässt keinerlei Einzelheiten erkennen. Das Ladenlicht ging nicht an. Um 3:40 Uhr tritt die Gestalt wieder auf die Straße heraus und wendet sich in Richtung Whitechapel. Der Autopsiebefund besagt, dass Mr Campbell zwischen drei und vier Uhr verstorben ist. Ursache waren sechs Messerstiche im Brustbereich. Einer traf die Halsschlagader, ein weiterer das Herz. Wenn dieser Sache etwas Positives abzugewinnen ist, dann lediglich, dass Ihr Verwandter nicht gelitten hat.“

„Gab es Hinweise auf einen Kampf? Hat niemand etwas gehört?“, hakte Zach nach.

„Keine Hinweise, und alle schliefen fest – behaupten sie zumindest.“

„Wie stellt sich die Tat für die Polizei dar? Haben Sie Anhaltspunkte für ein Motiv? In welche Richtung ermitteln Sie?“

„Obwohl wir das Türschloss unbeschädigt fanden, glauben wir dennoch, dass es sich um einen Einbruch handelt. Mr Campbell hat die Person wohl überrascht und ist von ihr in einer Art Panikreaktion angegriffen worden.“

„Das schließen Sie woraus?“

„Dass der Täter Geld aus dem Laden entwendet hat, jedoch kaum Wertgegenstände.“

„Mit ‚Wertgegenstände‘ meinen Sie sicher das Evans-Manuskript. Fehlte sonst noch etwas?“

Wickens lächelte dem Detektiv freundlich zu. „Sehen Sie? Sie wissen tatsächlich etwas, das wir noch nicht wussten.“

„Ich dachte, das Fehlen des Manuskripts wäre Ihnen bekannt.“

„Ja, es steht schließlich im Warenbuch verzeichnet. Leider nennt der Eintrag nicht den Verfasser des Dokuments. Woher kennen Sie seinen Namen?“

„Gestern kam ein Kunde in den Laden, der erklärte, das Manuskript sei Teil einer Sammelbestellung, die er mit anderen Beatles-Freunden in Auftrag gegeben habe. Es handle sich um Mal Evans‘ Erinnerungen.“

Der Kommissar stutzte. „Wie heißt dieser Mann? Haben Sie sich den Namen gemerkt?“

Zach war sich nicht sicher, ob er Bishops Identität preisgeben sollte. Es könnte dem Mann, der sein erster Freund in Liverpool geworden war, eine Menge Schwierigkeiten bereiten. Er beschloss, darüber nachzudenken und Wickens eventuell später mehr zu erzählen. Er überlegte. Was konnte er dem Kommissar sagen? „Ich erinnere mich an seinen Vornamen. Er heißt Henry.“

Wickens‘ Gesicht verriet, dass er eine Spur witterte. „Henry? Sind Sie ganz sicher? Irgendwas vom Nachnamen – Angangsbuchstabe, Länge, Nationalität – im Gedächtnis hängen geblieben?“

Zach schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Im Moment geht alles drunter und drüber. Ich muss an hundert Dinge gleichzeitig denken. Es war ein englischer Name, wenn ich mich recht erinnere.“

„Wie sah er aus? Können Sie ihn beschreiben?“ Wickens schien aufgeregt.

„Er sah ein bisschen aus wie dieser berühmte Produzent aus den 1960ern… Wie hieß er gleich?“

„Phil Spector? Quincy Jones? George Martin?…“

„George Martin, genau. Sehr gepflegt, vielleicht gerade im Pensionsalter. Hilft Ihnen das weiter?“

Der Kommissar hatte sich wieder unter Kontrolle. Sein Gesichtsausdruck war nun verschlossen. „Man wird sehen. Natürlich darf ich Ihnen zu Details der Ermittlungen nichts sagen. Ich persönlich glaube aber, dass diesem Manuskript keine besondere Rolle zukommt.“

„Falls doch, ist mein Stiefbruder mindestens das zweite Mordopfer im Zusammenhang mit dem Ding.“

„Sie spielen auf diese Verschwörungstheorie an, nach der die L.A. Police auf Mr Evans gehetzt worden sei, um McCartneys Doppelgänger vor Entlarvung zu schützen?“ Wickens begann herzhaft zu lachen. „Vergessen sie‘s. Die Leute, die so etwas behaupten, haben nicht mehr alle Beatles in der Band.“ Er lachte erneut. „Überlegen Sie nur mal, wie viele Menschen Sir Paul persönlich kennen; er hat Familie hier in Liverpool. Was glauben Sie, wäre da los, wenn plötzlich ein fremder Mann vor der Tür stünde und sagte: ‚Hey, hier bin ich‘?“ Er musste gesehen haben, dass Zach diese Reaktion sauer aufstieß. Er lenkte ein: „Nichts für ungut, aber manchen ist die aufregendste Band der Welt, scheint es, nicht aufregend genug. Von diesen Revolvergeschichten sind so viele in Umlauf, dass keiner sie mehr ernst nimmt.“

„Mag sein“, knurrte Zach, dem die kräftige Stimme des Beamten inzwischen zuwider geworden war. Er wollte nur schnell hier weg. So stellte er seine letzte drängende Frage: „Kann ich meinen Verwandten in der Pathologie sehen?“

„Der Leichnam wird in Kürze an einen von Mr Campbells Anwalt beauftragten Bestatter übergeben. Danach sollte es möglich sein.“

Zach erhob sich unsicher aus seinem Stuhl. Er schüttelte Kommissar Wickens die Hand und versprach, sich melden zu wollen, falls ihm noch etwas einfallen sollte. Der Polizist versicherte, er werde Zach bei neuen Erkenntnissen auf dem Laufenden halten. Dieser verließ das Zimmer und steuerte zielstrebig auf den Kaffeeautomaten im Gang zu. Ein Pappbecher gefärbten Wassers verschwand in Sekundenschnelle in seinem Hals. Zach feuerte den leeren Behälter in den neben der Maschine stehenden Eimer. Diese Plörre rechtfertigte keinen weiteren Besuch, entschied er.

3) Tiefgarage

„Zwick mich!“, sagte Veronica, als sie wieder im Wagen saßen, die Yewtree Road verließen und nach Süden zu ihrem Hotel steuerten. „Autsch!“, kreischte sie. Der GT vollführte einen kleinen Schlenker. Ein entgegenkommendes Auto blendete die Scheinwerfer auf. „Das ist ja ganz und gar unglaublich.“

„Bis letzte Woche bist du in ausgelatschten Tennisschuhen herumgerannt, und plötzlich kannst du dir so viele Stöckels leisten wie einst Imelda Marcos,“ lachte Zach.

„Und genauso unverdient. Bis letzte Woche kannte ich keinen Onkel Paul; du hast dich im Streit von ihm getrennt, ihn seit zwanzig Jahren nicht gesehen, weißt weder, wie er gestorben ist noch wo er begraben liegt, aber von einem Tag auf den anderen macht er dich zum Millionär. Das ist ein kleines bisschen beunruhigend, oder?“

„Nur so lange, bis diese Fragen geklärt sind. Dr. Miller wird uns schon morgen alles erzählen, und dann…“

„Und dann was?“, bohrte Veronica. „Hängst du unsere Detektei an den Nagel, um alte Autogrammkarten berühmter Musiker an Touristen in Hawaii-Hemden zu verkaufen?“

„Wohl kaum. Dafür fehlt mir die Geduld. Andererseits…“ Er überlegte. „Paul wird sein Vermögen sicher nicht mit Kleinkram gemacht haben. Die Immobilie mitten im Stadtzentrum war sicher enorm teuer. Ihr Kauf hätte sich nur gelohnt, wenn der Laden auch in großem Maßstab Gewinn abzuwerfen versprach. Er wird Raritäten und Unikate gehandelt haben: Cobains letzte Gitarre, die Kulissen vom Pepper-Album der Beatles oder irgendwelche Beethoven-Manuskripte. Dafür spricht auch, dass sich der geschätzte Verkaufswert der noch vorhandenen Waren auf über drei Millionen Pfund beläuft.“

„Man muss sich in der Materie gut auskennen, um aus altem Schrott Geld herauszuschlagen,“ wandte Veronica ein. „Im Gegensatz zu Briefmarken gibt es für seltene Memorabilien bestimmt keine Kataloge oder Preislisten. Du brauchst eine gute Nase, um geeignetes Material aufzuspüren und musst Kontakte zu Sammlern pflegen, um abschätzen zu können, was man an wen für wie viel Kohle weiterverscherbeln kann. Onkel Paul hatte von seiner Zeit beim Sender her bestimmt erstklassige Verbindungen in die Szene. Wir hingegen werden jemand damit beauftragen müssen, den Laden weiterzuführen oder abzuwickeln, sonst verwandelt sich diese Goldgrube in ein schwarzes Loch.“

Zach nickte. „Da hast du wahrscheinlich recht. Aber schauen wir uns die Sache doch erst einmal an, ehe wir voreilige Schlüsse ziehen.“

„Yep. Ich bin dafür, dass wir an der nächsten Pizzeria halten und ordentlich Ballast aufnehmen. Ich komme mir vor, als schwebte ich einige Zentimeter über dem Boden. Mir schwirrt der Kopf.“

„Rate mal, wem noch,“ grunzte Zach.


Am nächsten Morgen schliefen die beiden aus. Sie ließen das Hotelfrühstück sausen – zur Enttäuschung all jener, die gehofft hatten, einen weiteren Auftritt Ludwig Lederrachens erleben zu dürfen – und suchten stattdessen einen Pub auf, der Brunch servierte. Nachdem sie ausgiebig gespeist hatten, steuerte Veronica den Wagen wieder in die Yewtree Road. Mrs Jones ließ sie ein und übergab ihnen einen Ordner mit Unterlagen sowie ein Inventarverzeichnis mit der Aufschrift ‚Campbell‘s Fab Store‘. „Nehmen Sie doch einen Augenblick Platz.“ Sie deutete auf den Eingang zum Wartezimmer. „Dr. Miller wird in wenigen Minuten mit den Haustürschlüsseln eintreffen.“

Zach legte die Papiere auf einen Stuhl neben Veronica, die sich gesetzt hatte. Wieder packte ihn eine seltsame Unruhe. Er begann, wie bereits am Vortag, die Fotos zu inspizieren, die in solch scharfem atmosphärischen Kontrast zu den heiteren Gemälden über ihnen standen: Eines zeigte die vier Pilzköpfe in schwarze Kutten gekleidet, die Gesichter weitgehend im Schatten der Kapuzen verborgen. Auf dem nächsten sah man einen Mann, dessen Gesicht von Bandagen verdeckt war, vor einer Kulisse mit exotischen Pflanzen stehen, zusammen mit einer Person, die eine Hornbrille trug und ihn um fast einen Kopf überragte. Auf einem weiteren Foto präsentierte ein formell gekleideter älterer Herr eine auf ein Samtkissen gebettete historische Waffe, vielleicht eine Streitaxt oder ein Kriegshammer. Ihm gegenüber stand John Lennon mit hängenden Schultern, sichtlich übernächtigt.

Zach wollte seine Tochter fragen, was sie über die Szenen dachte, wurde aber, genau wie am Vortag, unterbrochen – diesmal von Veronica selbst, die das Inventarbuch studiert hatte. „Phantastisch!, Du wirst staunen, was Onkel Paul alles in seinem Laden angeboten hat,“ sagte sie aufgeregt. „Die Trümmer der Gitarre, die Jimi Hendrix auf dem Isle of Man-Festival gespielt hat; ein Zombie-Kostüm namens Eddie, mit dem jemand auf Iron Maidens Killers-Tour über die Bühne wankte; eine Perücke von Tina Turner aus der Zeit mit Ike. Und ja, tausende von Autogrammkarten, alte Ausgaben von Musikzeitschriften, signierte Plektren, Vinylscheiben und anderer Klimbim, aber die wertvollsten Stücke stammen fast alle von den Beatles. Er hat sie auf Bestellung beschafft. Hier, das sind die Namen der Käufer, dahinter der vereinbarte Preis. Wären wir nicht solche Intelligenzbestien würde ich sagen, wir haben mehr Glück als Verstand.“ Sie grinste. Dann bemerkte sie seine Miene. „Was ist?“

Die Tür ging auf, Dr. Miller trat ein.


Sie folgten dem SUV des Notars in die Innenstadt von Liverpool. Die Straßen waren um diese Zeit nur mäßig befahren, so dass sie es in einer Dreiviertelstunde schafften. Statt ihnen einfach nur die Schlüssel zu Laden, Wohnung und Fahrzeug zu überreichen, hatte Dr. Miller angeboten, die Räumlichkeiten für sie zu öffnen. Es gebe einiges zu beachten, sagte er, das er ihnen vor Ort zeigen werde, und er wolle auch seinem Versprechen nachkommen, etwas über die Umstände von Mr Campbells Tod zu erzählen. Und so bogen sie schließlich in die Victoria Street ein, rollten über eine steile Rampe in eine Tiefgarage und fädelten in die ziemlich engen Nischen ein. Es gab nur wenige freie Plätze, so dass die beiden Fahrzeuge in einiger Distanz zu einander standen. Parkplätze, erklärte Dr. Miller, nachdem sie schließlich gemeinsam über eine Treppe auf Straßenniveau zurückgekehrt waren, seien Mangelware so nahe am Touristenzentrum. Es gebe jedoch reservierte Buchten für die Anwohner. Auf einer solchen stehe auch Mr Campbells Wagen. Ob sie ihn gleich sehen wollten?

„Ist es weit?“, fragte Veronica.

„Nein, er befindet sich auf dem Weg zum Laden,“ erwiderte der Notar.

„Dann zeigen Sie uns den Weg,“ meinte Zach.

Über den unscheinbaren Nebeneingang eines Restaurants betraten sie ein Treppenhaus, das sie wieder unter die Erde führte. Durch eine Stahltür gelangten sie auf ein weiteres Parkdeck – ausschließlich für Anlieger –, in dessen entlegenstem Eck sie eine verschlossene Garage erwartete.

Zach sah Miller fragend an. „Ist das nicht ein bisschen übertrieben für einen alten Wagen?“

Miller lachte. „Nicht irgendeinen alten Wagen – einen der Austin Mini Cooper S, die Epstein 1965 für die Beatles besorgt hat! Das Fahrzeug wurde von Harold Radford den Sonderwünschen des Käufers angepasst und wäre schon allein deshalb kein Besitz, den man unbeaufsichtigt am Straßenrand stehen lässt.“ Er zückte einen Schlüsselbund, öffnete das Garagenschloss, drehte am Knauf und riss das Rolltor auf. Ohne nennenswertes Geräusch glitt es nach oben, bis es in eine Haltestellung geriet. Hinter der Öffnung war automatisch eine Serie von Wandlampen angegangen. Sie tauchten einen kastenförmigen Kleinwagen, dessen salbeigrünes Heck ihnen zugewandt war, in warmes Licht. Der cremefarbene Lack des Dachs glänzte wie neu.

„Nett,“ ließ Zach mit einer Stimme vernehmen, der man eine gewisse Enttäuschung anmerken konnte. „Hat im Inventar nicht ‚Aston‘ gestanden?“

Miller lachte erneut. „Nein, Austin. Sie haben einen Aston Martin erwartet, einen DB5, wie James Bond ihn in ‚Goldfinger‘ fuhr, nur silberblau? McCartneys Aston Martin?“

„So ungefähr,“ gab Zach zurück.

„Der würde mir auch gefallen. Er ist leider in festen Händen, seit er vor vier, fünf Jahren für fast anderthalb Millionen Pfund in einer Auktion den Besitzer wechselte. Ich gebe zu, der würde zu Ihnen passen – und zu dem Sportwagen, den Ihre Tochter fährt.“ Wieder warf der Notar Veronica diesen eindringlichen Blick zu. Veronica starrte zurück.

„Wissen Sie, welchem der Beatles der Mini gehört hat?“, unterbrach Zach das Augenduell.

Miller musterte ihn für ein paar Sekunden, ohne eine Miene zu verziehen. „In Sammlerkreisen“ – er betonte das Wort auf eine Weise, die eine viel kleinere Personengruppe andeutete, als es normalerweise bezeichnete – „steht die Nummer ‚LGF 696D‘ für einen Wagen, der vor vielen Jahren spurlos von der Bildfläche verschwunden ist; nun, nicht ganz spurlos. Mr Campbell hat seine Beziehungen spielen lassen und ihn vor drei Jahren wieder aufgetrieben. Er steht mit einem Schätzwert von 183.000 Pfund im Inventar – angelehnt an den Erlös der Auktion, in der McCartneys Exemplar im September 2018 unter den Hammer kam. Aber Mr Campbell war weder dumm noch ungeduldig. Er konnte warten…“

„Warten? Worauf?“, warf Veronica ein.

„Darauf, dass der richtige Mann in sein Leben trat,“ erläuterte Miller. Er seufzte. „Die Welt ist so kurzatmig geworden. Für einen schnellen Riss verwerfen die Leute oft ihre gesamte Zukunft. Und wenn sie den kleinen Vorteil, den sie auf Kosten langfristigem Wohlstand einheimsen konnten, verspielt haben, stehen sie allein und mit leeren Händen da. Paulus Campbell war nicht so. Er war Teil von etwas Größerem, und er handelte vorausschauend. Und er wusste, man muss nur lange genug warten, bis der richtige Sammler zum richtigen Zeitpunkt erscheint – jemand, der ein Medienereignis oder einen Jahrestag zum Anlass nimmt, um sich John Lennons Mini Cooper zum gleichen Preis zu leisten, wie andere für Paul McCartneys Aston Martin DB5 bezahlt haben.“

„Das ist nicht Ihr Ernst?“ Zach hob skeptisch eine Braue.

„Es war Mr Campbells Erfolgsgeheimnis. Es funktionierte bei jedem einzelnen Stück, das er aufspürte, um es weiterzuverkaufen.“

„Nur, dass er dieses Mal zu lang gewartet hat.“

„Nun, er konnte ja nicht wissen, dass er so schnell aus dem Leben gerissen würde. Und hätte er gewusst, dass man ihn ermordet, hätte ihm der Erlös aus einem schnellen Verkauf auch nichts genützt.“

„Da haben sie natürlich re… Wie bitte? Sagten Sie gerade ‚ermordet‘?“

„Mein Beileid, Herr Ziegler, das ist leider das Schicksal, das der Herr Ihrem Stiefbruder zugemessen hat.“

2) Jules R. Miller, Notar

Sie erreichten das von ihnen gebuchte Hotel am Stadtrand von Liverpool kurz vor acht Uhr abends. Müde von der langen Fahrt begaben sie sich ohne Umschweife ins Bett. Der Schlaf wollte sie jedoch nicht sofort einholen. In den Ohren tönte noch das Brausen des GT-Motors, in ihren Gedanken spukten die Geister der Vergangenheit.

Am nächsten Morgen weckte strahlender Sonnenschein sie. Veronica hüpfte als Erste in das winzige Badezimmer, nahm eine schnelle Dusche, schrubbte die Zähne und zog ein bequemes dunkles Kleid an. Als sie ins Zimmer zurückkehrte, lag Zach mit hinter dem Kopf verschränkten Händen im Bett. Er sah besser aus als Tags zuvor. „Das Badezimmer gehört dir,“ rief sie ihm zu. „Beeil dich. Ich gehe gleich runter und sichere uns ein Frühstück. Ich sterbe vor Hunger!“

„Bloß nicht!“, brummte er, als sie bereits zur Tür hinaus war. „Ein Toter reicht mir vollauf.“

Der Frühstücksraum war tatsächlich recht voll, als Zach endlich eintraf: geduscht, rasiert, gekämmt und in einen frischen dunklen Anzug gekleidet. Veronica hatte ihnen einen Platz am Tresen gesichert, damit der Kaffee unterwegs möglichst wenig Temperatur verlor. Die Gastwirtin, eine Frau in den Fünfzigern, strahlte ihn an. „Guten Morgen, Mr Ziegler. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.“

„Bestens,“ antwortete er. „Wie auf Wolken.“

Sie lächelte. „Was hätten Sie gern? Kaffee? Tee? Kakao? Saft?“

„Kaffee, bitte. Schwarz.“

„Kommt sofort.“ Sie drehte sich zu einer altmodischen Kaffeemaschine um, die gerade die letzten Tropfen heißen Wassers röchelnd in einen Filter spuckte, der tiefschwarzen Sud in eine unter ihm stehende Glaskanne entließ. Die Wirtin entnahm die Kanne, wandte sich wieder Zach zu und befüllte eine vor ihm stehende – nach seinen Maßstäben recht kleine – weiße Tasse. Der Detektiv zögerte keine Sekunde, führte sie zum Mund und leerte sie schnell mit in den Nacken gelegtem Kopf. Dann knallte er sie wie ein Schnapsglas auf den Tresen. „Rah,“ prustete er zufrieden. „Noch einen!“

Die Wirtin stand mit offenem Mund vor ihnen. Veronica brauchte nicht hinzuschauen. Sie wusste auch so, dass einige der Gäste die Szene zufällig beobachtet hatten, nun ihre Nachbarn anstießen und mit dem Finger auf Zach zeigten. Im Raum wurde es stiller. Sie kannte das schon. In aller Gemütsruhe löffelte sie ihren Joghurt, während ihr Vater der Wirtin die Tasse entgegenschob. „Nun?“, sagte er.

Verdattert füllte sie sie erneut. Wieder stürzte Zach den dampfenden Inhalt auf einen Schlag hinunter, wieder hämmerte er die Tasse aufs Holz. Kollektives Keuchen füllte die Luft. Niemand sprach ein Wort. Nach einigen Sekunden drehte ihr Vater sich dem Raum voller Menschen zu, die ihn mit aufgerissenen Augen und Mündern anstarrten, grinste schief und sagte: „Gestatten? Ludwig Lederrachen, Feuerschlucker und Schwertspucker.“

Das brach den Bann. Alle begannen gleichzeitig zu schnattern, manche lachten, einige johlten. Zach zwinkerte ihnen zu, dann wandte er sich wieder an die Wirtin. „Was gibt‘s zu essen?“


„Du kannst es wirklich nicht lassen,“ beschwerte sich Veronica, während ihr Vater herzhaft in eine Scheibe Bauernbrot biss. „Kaum sind wir angekommen, machst du uns zum Stadtgespräch.“

„Ach tu nicht so empfindlich, du genießt die Aufmerksamkeit doch auch.“

„Ich bin mir nicht sicher, dass sich Prominenz mit unserer Tätigkeit als Privatdetektive verträgt.“

„Die größten Geheimnisse und die persönlichsten Dinge versteckt man am sichersten auf einem Präsentierteller,“ entgegnete Zach. „Savile hat seine Opfer live im Fernsehen zugeführt bekommen, unter den Augen der ganzen Nation. Wer hätte vermuten wollen…“

„Ja klar. Da steht meiner Zweitkarriere als Model also nichts mehr im Weg.“ Veronica schüttelte affektiert ihr schulterlanges blondes Haar, setzte ihr süßestes Lächeln auf und klimperte mit den Augendeckeln.

Zach lachte auf. „Du lernst schnell. Der Catwalk muss allerdings warten, bis wir die Sache mit Paul hinter uns gebracht haben. Außerdem würde ich gern irgendwann einen Enkel oder zwei zu Gesicht bekommen. Ich bitte das in deine Lebensplanung einfließen zu lassen.“

Veronica hieb ihm mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. „Du hast sie wohl nicht mehr alle!“, rief sie in gespielter Entrüstung. „Hör auf zu quatschen und iss den Teller leer. In weniger als einer Stunde müssen wir in der Yewtree Road beim Notar sein.“

„Yes, Ma‘am.“


Wie sich herausstellte, hätte keine Eile bestanden. Dr. Jules R. Miller, der Notar, war länger als erwartet von einer anderen Angelegenheit in Beschlag genommen. Seine Sekretärin leitete Zach und Veronica in ein geschmackvoll dekoriertes Wartezimmer mit Blick auf den Calderstones Park. Sie hatten den Raum für sich. Außer ihnen befand sich niemand darin. An den Wänden hingen zwei Reihen gerahmter Bilder. Die obere bestand aus Aquarellen, die bekannten Fotos der Beatles nachempfunden waren: die Fab-Four mit Regenschirmen, das Cover des Albums Beatles For Sale, die Band beim Überqueren eines Zebrastreifens, oder auch John Lennon und Paul McCartney gemeinsam am Mikrofon. Die Gemälde trugen unten links jeweils den Schriftzug ‚Donna.‘ Die Künstlerin hatte die Charaktere der Musiker ziemlich gut getroffen. Die frischen, gefühlvoll auf einander abgestimmten Farben gaben dem Wartezimmer eine fröhliche Note – bis man sich näher mit der unteren Bildreihe beschäftigte. Es handelte sich um Schwarz-Weiß-Fotografien wesentlich kleineren Formats. Sie hingen direkt auf Augenhöhe. Um seine Nervosität zu dämpfen, schritt Zach der Wand entlang, von einer Aufnahme zur nächsten. Für Kunst hatte er wenig übrig. aber die Fotos faszinierten ihn. Er war mit der Musik dieser Gruppe aufgewachsen, da seine Mutter sie gern gehört hatte. Die Beatles hatten sich im Jahr vor seiner Geburt aufgelöst, waren aber nie ganz aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Die Zeitungen berichteten gelegentlich von neuen Enthüllungen oder druckten Berichte über verschollene Tonbänder; das Fernsehen zeigte bei jeder sich bietenden Gelegenheit Retrospektiven: gefüllte Stadien, schreiende Fans, winkende Pilzköpfe. Die Szenen auf den Fotos waren jedoch ganz anderer Art als die Gemälde oder die Zeitungsillustrationen. Eine düstere Aura ging von ihnen aus: Paul, der mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis bildete, die restlichen Finger abgespreizt; Stuart Sutcliffe in einem Sessel sitzend, die Merkel-Raute zeigend; Ringo, der sich ein Auge zuhielt; John, der hinter Pauls Kopf die ‚Pommesgabel‘ präsentierte; George Harrison, neben einem anonymen Grab stehend. So ging es weiter, Bild um Bild um Bild. Es handelte sich durchgehend um hochwertig aufgenommene ästhetische Motive, trotzdem war Zach sich sicher, keines von ihnen je gesehen zu haben.

Er wollte gerade Veronica darauf aufmerksam machen, als sich die Tür öffnete. Dr. Millers Sekretärin stand im Rahmen und bat sie, ihr zu folgen. Sie führte sie durch einen kurzen Gang in ein weiteres Zimmer, wo der Notar, ein schlanker älterer Herr, ihnen mit ausgestrecktem Arm entgegen schritt. Er hatte halblanges graues, leicht gewelltes Haar und trug eine Brille mit kleinen runden Gläsern auf der leicht gebogenen Nase. Mit ein bisschen Phantasie konnte man sich einem sechzigjährigen Lennon gegenüber wähnen. Miller schüttelte Zachs Hand und sagte in perfektem Oxford-Englisch: „Freut mich, Sie zu sehen, Mr Ziegler. Seien Sie meines tiefen Beileids über Ihren Verlust versichert. Ihr Stiefbruder war mehr als nur ein Mandant, er war auch mein Freund. Ich werde mein Möglichstes tun, Ihnen bei der Erledigung der Formalitäten zu helfen und meinen Beitrag zu einem angenehmen Aufenthalt in Liverpool zu leisten.“

„Vielen Dank, Dr. Miller. Dies hier“ – Zach zeigte auf Veronica, die hinter ihm in den Raum getreten war – „ist Mr Campbells Patenkind, meine Tochter Veronica.“

„Ms Ziegler, es ist mir eine Ehre.“ Der Notar deutete einen Handkuss an. Erst nach einem längeren prüfenden Blick in ihre Augen gab er die Hand wieder frei. „Setzen Sie sich doch.“

Er deutete auf zwei Stühle vor seinem ausladenden Schreibtisch und begab sich gegenüber zu einem hohen Drehsessel mit grünem Lederbezug. Vater und Tochter setzten sich, dann auch der Notar.

„Werden wir auf die Anderen warten müssen oder möchten sie nicht an der Testamentseröffnung teilnehmen?“, erkundigte sich Zach.

Die Sekretärin kam erneut herein. Sie hielt ein Tablett, auf dem sich eine Teekanne, drei Tassen und etwas Gebäck befanden. Sie setzte das Tablett auf einem Beistelltischchen ab, verteilte die Gedecke und füllte Ceylon-Tee ein. Dann verließ sie das Zimmer. Veronica warf Zach, der sich anschickte, nach seiner Tasse zu greifen, einen mahnenden Blick zu. Der Notar lehnte sich zurück. „Mr Ziegler, Sie sind der einzige Anverwandte und auch der Alleinerbe des Verstorbenen. Ich werde daher nicht viel mehr zu tun haben, als Mr Campbells letzten Willen zu verlesen und Ihre Entscheidung über Annahme oder Ausschlagung des Erbes zu beglaubigen.“

„Oh,“ sagte Zach. Er nippte etwas Tee, dann stellte er die Tasse zurück und knabberte an einem Gebäckstück.

Miller entnahm einer dünnen dunkelgrauen Kladde, die er vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte, einige zusammengeheftete Seiten, die ein notarielles Siegel trugen, und begann mit der Verlesung:

Letzter Wille und Testament

Ich, Paulus Martin Campbell, geboren am 8.April 1970 in Liverpool, erkläre hiermit im Vollbesitz meiner geistigen Fähigkeiten, meinen letzten Willen. Ich handle weder unter Druck noch Zwang und bin mir des Charakters und Umfangs meines Eigentums bewusst.

Ich verfüge, dass mein Stiefbruder, Zachary Archibald Ziegler, geboren am 23. Februar 1971 in Stuttgart, derzeitiger Wohnort London, der alleinige Nutznießer meiner Hinterlassenschaften sein soll. Diese bestehen in einem Ladengeschäft samt Einrichtung und Waren in Liverpool, meiner Wohnung samt Inhalt, meinem Wagen und meinen Bankkonten samt Inhalt.

Das Dokument bestimmte des weiteren Dr. Miller zum Vollstrecker des Testaments, erklärte, dass weder Schulden noch Außenstände vorhanden wären, und nannte eine Reihe rechtlicher Vorbehalte. Pauls Unterschrift war gefolgt von den Signaturen zweier Zeugen und der des Notars.

Als Miller zu Ende gelesen hatte, legte er das Dokument beiseite, öffnete die Kladde erneut, zog ein Papier heraus und reichte es Zach. Es handelte sich um eine Aufstellung der Vermögenswerte und sonstigen Gegenstände aus Pauls Besitz. Bei dem im Testament erwähnten Laden handelte es sich um ein Musikantiquitätengeschäft auf der Rainford Gardens. Pauls Wohnung befand sich in den beiden darüber liegenden Stockwerken. Sein Wagen war ein Austin, Baujahr 65. Auf den Konten lagen 2,4 Millionen Britische Pfund. Alles in allem war das Erbe laut amtlicher Schätzung über sieben Millionen Pfund wert.

„Heiliger Strohsack!“, stieß Zach hervor.

„Jeeesus!“, hauchte Veronica, die mitgelesen hatte.

„Die Waren und Einrichtungsgegenstände des Ladens sind im Inventarverzeichnis aufgeführt,“ erklärte der Notar. „Möchten Sie einen Blick hineinwerfen?“

„Danke, nein. Rainford Gardens hört sich idyllisch an. Ist das eine gute Lage?“, wollte ihr Vater wissen.

„Die beste; Cavern-Viertel; eine kurze Seitenstraße der Whitechapel, die in die Mathew Street mündet. Es gibt da keinen einzigen Grashalm, dafür jede Menge Sehenswürdigkeiten, Pubs und Läden in der Nachbarschaft. Wie Sie vielleicht wissen, gehört die Mathew Street zum Pflichtprogramm eines jeden Besuchers unserer Stadt.“

„Das Beatles-Museum!“, warf Veronica begeistert ein.

Miller lächelte. „Und der Cavern-Club, wo alles begonnen hat.“ Er räusperte sich. „Ich muss Sie nun fragen, ob Sie das Erbe Ihres Stiefbruders annehmen möchten, Mr Ziegler.“

„Wer könnte da nein sagen? Ich nehme es selbstverständlich an.“

„Dann unterschreiben Sie bitte diese Erklärung – ja, dort auf der Linie.“ Als Zach seinen Krakel daraufgesetzt hatte, nahm der Notar das Blatt an sich, signierte es schwungvoll und drückte sein Siegel auf. Er räumte alle Papiere wieder in die Kladde. „Ich bin sicher, Sie haben viele Fragen,“ sagte er.

„Mein Bruder und ich haben uns seit zwanzig Jahren nicht gesehen. Ich habe keine Ahnung, was er seither getan oder wie er gelebt hat. Ich weiß nicht einmal, wie er gestorben ist.“

„Ich würde mich gern mit Ihnen über Paul Campbell unterhalten. Wir standen uns wie gesagt recht nahe. Leider erwarten mich nun andere Verpflichtungen. Bitte kommen Sie morgen gegen ein Uhr noch einmal hierher. Ich händige ihnen dann sämtliche Unterlagen aus. Anschließend fahren wir in die Rainford Gardens, zur Übergabe von Laden, Wohnung und Fahrzeug.“ Er betätigte einen Knopf auf seiner Sprechanlage: „Mrs Jones.“

Er erhob sich aus dem Sessel. Vor der Tür ertönten Schritte, dann trat die Sekretärin ein. „Ja bitte?“

Miller überreichte ihr die Kladde. „Bitte führen Sie die Gäste hinaus und machen Sie die Campbell-Unterlagen bis morgen Mittag fertig.“

„Jawohl, Sir.“ Sie nickte Vater und Tochter zu, dann setzte sie sich in Richtung Tür in Bewegung.

Zach schüttelte dem Notar die Hand. „Besten Dank, Dr. Miller. Bis morgen Nachmittag!“

Miller nickte kurz. „Junge Dame,“ sagte er an Veronica gewandt, „auf hoffentlich baldiges Wiedersehen.“

Erneut dieser durchdringende Blick. Veronica schaute uneingeschüchtert zurück, lächelte, drückte fest zu und versprach: „Morgen Nachmittag.“