10) Nicht mehr alle Beatles in der Band

Sie saßen in einer Art Katerstimmung am Frühstückstisch. Keiner von ihnen hatte gut geschlafen in dieser ersten Nacht im neuen Domizil. Zach hatte von reißzahnbewehrten Koffern geträumt, die nach seinen Ärmeln und Hosenaufschlägen schnappten und ihn in verschiedene Richtungen zu zerren versuchten.

Bevor sie in einen traumlosen Schlaf gesunken war, hatte Veronica stundenlang über der Frage gebrütet, wie man alltägliche Zufälle von absichtlich inszenierten Ereignissen unterscheiden könnte. „Cui bono,“ sagte sie in die Stille der Campbell‘schen Küche hinein.

„Wie bitte?“, erkundigte sich ihr Vater, dessen Blick aus weiter Ferne zurückkehrte.

„Wem nützt es – cui bono“, erklärte Veronica. „Alte lateinische Redewendung. Heute würde man sagen: Folge dem Geld. Für sich genommen ist ein starker finanzieller Anreiz natürlich kein Schuldbeweis, kann aber ein vielversprechender Ermittlungsansatz sein.“

„Gelegenheit und Fähigkeit zur Tat müssen ebenfalls gegeben sein, wenn man eine Jury überzeugen möchte“, ergänzte Zach. „Außerdem mag es andere Motive als Geld geben.“

Veronica nickte. „Und man müsste den Beweis antreten, dass der Verdächtigte es auch wirklich getan hat. Was uns auf seine Fährte helfen könnte, wäre ein Muster, ein wiederkehrendes Element.“

Zach runzelte die Stirn. „Du siehst hier einen Fall?“

„Du nicht? Onkel Paul wurde ermordet; ein potenziell brisantes Dokument aus seinem Besitz verschwand in derselben Nacht. Es geht wahrscheinlich um Millionen von Pfund. Selbstverständlich ist das ein Fall.“

„Um den sich die örtliche Polizei oder Scotland Yard kümmert.“

„Das mag stimmen. Ich wage jedoch zu bezweifeln, dass sie die unbestreitbaren Parallelen zum Fall Mal Evans berücksichtigen.“

„Der echt schräg aussieht, aber man kann nicht vollständig ausschließen, dass die meisten Widersprüche in der Berichterstattung über Evans auf Kommunikationsstörungen zurückzuführen sind. Zufälle soll es geben.“

„Wer sagt ständig: ‚Ein Mal ist Zufall, zwei Mal ist Dummheit und drei Mal ist Absicht‘?“

„Zachary Archibald Ziegler.“

Veronica nickte. „Ein kluger Mann. Möchtest du hören, was seine noch klügere Tochter denkt?“

„Klär mich auf.“

Veronica kicherte vergnügt.

„Was gibt es da zu lachen?“

„‚Tochter klärt Vater auf‘ – wäre das eine coole Schlagzeile für die Bild?“

„In Zeiten um sich greifender Gender-Verwirrung ist das kein Witz, sondern eine zu Tränen reizende Notwendigkeit. Ich läse daher lieber ‚Mann beißt Hund‘; das gäbe mir ein lang vermisstes Gefühl von Normalität wieder… Worauf willst du eigentlich hinaus, Liebes?“

„Weißt du, wie die Leute bei SETI außerirdische Signale von kosmischem Hintergrundrauschen zu unterscheiden versuchen?“, fragte Veronica zurück. Ohne eine Antwort abzuwarten erläuterte sie: „Kommunikation kann man immer daran erkennen, dass sie Muster im ‚Text‘ hinterlässt, die man mit statistischen Graphen oder arithmetischen Formeln entdecken beziehungsweise darstellen kann. Dabei ist es egal, ob es sich um ägyptische Steintafeln, viktorianische Romane, mongolische Radiosendungen, italienische Schnulzenfilme oder verschlüsselte KGB-Nachrichten handelt. Man muss die enthaltene Botschaft nicht verstehen können, um zu erkennen, dass höchstwahrscheinlich ein sinntragendes Signal vorliegt. Eine statistisch signifikante Häufung bestimmter Marker teilt uns mit, dass wir es mit mehr als dem reinen Zufall zu tun haben.“

„Verstehe. Und das willst du nun auf Ereignisse übertragen?“

„Wie kommen die Ermittler der Mordkommission zu dem Schluss, es mit einem Serientäter zu tun zu haben?“

„Anhand identischer Spuren an verschiedenen Tatorten.“

„Exakt. Ein einzelner Mord stellt keine Serie dar. Ein erster weiterer Mord mit identischen Spuren sieht vielleicht nur zufällig so aus, als gehöre er zu einer Serie. Je mehr solcher Fälle man jedoch vorliegen hat, desto eindeutiger tritt die Absicht hinter ihnen zutage. Was wir brauchen, sind mehr Daten!“

„Ich hatte eigentlich vor, der Polizeiwache erst nächste Woche einen Besuch abzustatten…“

Veronica setzte ihr bezauberndstes Lächeln auf und klimperte mit den Wimpern. Zach brummte, dann griff er nach einer weißen Serviette und schwenkte sie über seinem Kopf.


Zach lenkte den GT aus der Tiefgarage in den morgendlichen Berufsverkehr. Die Parkgebühren für zwei Tage hatten bereits ein kleines Vermögen gekostet. Zum Glück musste er sich darüber keine Gedanken mehr machen. Dank der Erbschaft würde er das jahrelang durchhalten. Doch falls sie hier blieben, würde er einen festen Platz kaufen; oder den Mini Cooper verkaufen, um den Opel an seiner Statt abzustellen.

Da es noch recht früh war, beschloss er, zunächst zum Hotel zu fahren, um das Zimmer zu kündigen und ihre Sachen in die Rainford Gardens zu bringen. Danach, gegen zehn Uhr, betrat er die Polizeiwache, wo er verlangte, den Leiter der Ermittlungen im Mordfall Campbell zu sprechen. Man führte ihn zu einer Bürotür und bat ihn, auf einem der Stühle davor Platz zu nehmen. Drinnen hörte er einen Mann telefonieren. Er konnte sich zwar auf den Inhalt des Gesprächs keinen Reim machen, aber diese Stimme fand er beeindruckend kräftig. Einige Minuten später fiel ein Hörer auf die Gabel, und kurz darauf näherten sich Schritte. Die Tür wurde aufgerissen.

„Mr Ziegler? Guten Tag. Kommen Sie herein.“

Zach war ein klein wenig enttäuscht von der Entdeckung, dass die Bärenstimme einem Mann von durchschnittlicher Größe, mittlerer Körperfülle und unauffälligen Gesichtszügen gehörte. Er nahm sich jedoch vor, ihn nicht zu unterschätzen. Der bleigraue Bürstenhaarschnitt vermittelte den Eindruck eines starken Willens. Er musterte das Namensschild, dem zufolge er mit D. Wickens sprach. „Guten Tag, Sir. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit nehmen, mir die Umstände des Todes meines Stiefbruders zu erläutern.“

„Ich bitte Sie! Als Angehöriger haben Sie ein berechtigtes Interesse an diesen Informationen. Soweit es die Ermittlungen zulassen, will ich Ihnen gern Auskunft geben… Setzen Sie sich doch.“ Er deutete auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Ehrlich gesagt hoffe ich auch, dass Ihnen etwas ein- oder aufgefallen ist, das uns weiterhelfen könnte.“

„Ich befürchte, dass ich Sie enttäuschen muss. Mein Stiefbruder und ich haben uns Jahrzehnte nicht gesehen oder gesprochen. Weder bin ich mit seiner Lebenswirklichkeit noch mit seinen Einstellungen, Gewohnheiten oder persönlichen Beziehungen vertraut. Außer dass er sich anscheinend zu einer der führenden Kapazitäten in Sachen The Beatles entwickelt hat, weiß ich praktisch überhaupt nichts über den Mann, der er zuletzt gewesen ist.“

„Das ist bedauerlich. Dennoch – falls Sie unter den Hinterlassenschaften Mr Campbells etwas finden, das eventuell einen Hinweis auf den Mord liefern könnte, rufen Sie mich jederzeit an.“ Er schob Zach eine Visitenkarte zu.

Der Detektiv nickte und steckte die Karte nach flüchtiger Betrachtung in eine Jackentasche. „Wären Sie so freundlich, die letzten Stunden in Mr Campbells Leben zu beschreiben, soweit Sie diese rekonstruieren konnten?“

„Viel zu erzählen gibt es nicht. Laut Zeugenaussagen einer Nachbarin verließ kurz vor acht Uhr abends ein letzter Kunde den Laden. Mr Campbell schloss die Tür von innen ab und knipste das Licht aus. Er hat eine Mahlzeit eingenommen. Gegen elf Uhr gingen auch in der Wohnung die Lichter aus. Um 3:05 Uhr in der Frühe registrierte die Außenkamera eine Gestalt, die im Eingang verschwand. Die Qualität der Aufnahmen lässt keinerlei Einzelheiten erkennen. Das Ladenlicht ging nicht an. Um 3:40 Uhr tritt die Gestalt wieder auf die Straße heraus und wendet sich in Richtung Whitechapel. Der Autopsiebefund besagt, dass Mr Campbell zwischen drei und vier Uhr verstorben ist. Ursache waren sechs Messerstiche im Brustbereich. Einer traf die Halsschlagader, ein weiterer das Herz. Wenn dieser Sache etwas Positives abzugewinnen ist, dann lediglich, dass Ihr Verwandter nicht gelitten hat.“

„Gab es Hinweise auf einen Kampf? Hat niemand etwas gehört?“, hakte Zach nach.

„Keine Hinweise, und alle schliefen fest – behaupten sie zumindest.“

„Wie stellt sich die Tat für die Polizei dar? Haben Sie Anhaltspunkte für ein Motiv? In welche Richtung ermitteln Sie?“

„Obwohl wir das Türschloss unbeschädigt fanden, glauben wir dennoch, dass es sich um einen Einbruch handelt. Mr Campbell hat die Person wohl überrascht und ist von ihr in einer Art Panikreaktion angegriffen worden.“

„Das schließen Sie woraus?“

„Dass der Täter Geld aus dem Laden entwendet hat, jedoch kaum Wertgegenstände.“

„Mit ‚Wertgegenstände‘ meinen Sie sicher das Evans-Manuskript. Fehlte sonst noch etwas?“

Wickens lächelte dem Detektiv freundlich zu. „Sehen Sie? Sie wissen tatsächlich etwas, das wir noch nicht wussten.“

„Ich dachte, das Fehlen des Manuskripts wäre Ihnen bekannt.“

„Ja, es steht schließlich im Warenbuch verzeichnet. Leider nennt der Eintrag nicht den Verfasser des Dokuments. Woher kennen Sie seinen Namen?“

„Gestern kam ein Kunde in den Laden, der erklärte, das Manuskript sei Teil einer Sammelbestellung, die er mit anderen Beatles-Freunden in Auftrag gegeben habe. Es handle sich um Mal Evans‘ Erinnerungen.“

Der Kommissar stutzte. „Wie heißt dieser Mann? Haben Sie sich den Namen gemerkt?“

Zach war sich nicht sicher, ob er Bishops Identität preisgeben sollte. Es könnte dem Mann, der sein erster Freund in Liverpool geworden war, eine Menge Schwierigkeiten bereiten. Er beschloss, darüber nachzudenken und Wickens eventuell später mehr zu erzählen. Er überlegte. Was konnte er dem Kommissar sagen? „Ich erinnere mich an seinen Vornamen. Er heißt Henry.“

Wickens‘ Gesicht verriet, dass er eine Spur witterte. „Henry? Sind Sie ganz sicher? Irgendwas vom Nachnamen – Angangsbuchstabe, Länge, Nationalität – im Gedächtnis hängen geblieben?“

Zach schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Im Moment geht alles drunter und drüber. Ich muss an hundert Dinge gleichzeitig denken. Es war ein englischer Name, wenn ich mich recht erinnere.“

„Wie sah er aus? Können Sie ihn beschreiben?“ Wickens schien aufgeregt.

„Er sah ein bisschen aus wie dieser berühmte Produzent aus den 1960ern… Wie hieß er gleich?“

„Phil Spector? Quincy Jones? George Martin?…“

„George Martin, genau. Sehr gepflegt, vielleicht gerade im Pensionsalter. Hilft Ihnen das weiter?“

Der Kommissar hatte sich wieder unter Kontrolle. Sein Gesichtsausdruck war nun verschlossen. „Man wird sehen. Natürlich darf ich Ihnen zu Details der Ermittlungen nichts sagen. Ich persönlich glaube aber, dass diesem Manuskript keine besondere Rolle zukommt.“

„Falls doch, ist mein Stiefbruder mindestens das zweite Mordopfer im Zusammenhang mit dem Ding.“

„Sie spielen auf diese Verschwörungstheorie an, nach der die L.A. Police auf Mr Evans gehetzt worden sei, um McCartneys Doppelgänger vor Entlarvung zu schützen?“ Wickens begann herzhaft zu lachen. „Vergessen sie‘s. Die Leute, die so etwas behaupten, haben nicht mehr alle Beatles in der Band.“ Er lachte erneut. „Überlegen Sie nur mal, wie viele Menschen Sir Paul persönlich kennen; er hat Familie hier in Liverpool. Was glauben Sie, wäre da los, wenn plötzlich ein fremder Mann vor der Tür stünde und sagte: ‚Hey, hier bin ich‘?“ Er musste gesehen haben, dass Zach diese Reaktion sauer aufstieß. Er lenkte ein: „Nichts für ungut, aber manchen ist die aufregendste Band der Welt, scheint es, nicht aufregend genug. Von diesen Revolvergeschichten sind so viele in Umlauf, dass keiner sie mehr ernst nimmt.“

„Mag sein“, knurrte Zach, dem die kräftige Stimme des Beamten inzwischen zuwider geworden war. Er wollte nur schnell hier weg. So stellte er seine letzte drängende Frage: „Kann ich meinen Verwandten in der Pathologie sehen?“

„Der Leichnam wird in Kürze an einen von Mr Campbells Anwalt beauftragten Bestatter übergeben. Danach sollte es möglich sein.“

Zach erhob sich unsicher aus seinem Stuhl. Er schüttelte Kommissar Wickens die Hand und versprach, sich melden zu wollen, falls ihm noch etwas einfallen sollte. Der Polizist versicherte, er werde Zach bei neuen Erkenntnissen auf dem Laufenden halten. Dieser verließ das Zimmer und steuerte zielstrebig auf den Kaffeeautomaten im Gang zu. Ein Pappbecher gefärbten Wassers verschwand in Sekundenschnelle in seinem Hals. Zach feuerte den leeren Behälter in den neben der Maschine stehenden Eimer. Diese Plörre rechtfertigte keinen weiteren Besuch, entschied er.

3) Tiefgarage

„Zwick mich!“, sagte Veronica, als sie wieder im Wagen saßen, die Yewtree Road verließen und nach Süden zu ihrem Hotel steuerten. „Autsch!“, kreischte sie. Der GT vollführte einen kleinen Schlenker. Ein entgegenkommendes Auto blendete die Scheinwerfer auf. „Das ist ja ganz und gar unglaublich.“

„Bis letzte Woche bist du in ausgelatschten Tennisschuhen herumgerannt, und plötzlich kannst du dir so viele Stöckels leisten wie einst Imelda Marcos,“ lachte Zach.

„Und genauso unverdient. Bis letzte Woche kannte ich keinen Onkel Paul; du hast dich im Streit von ihm getrennt, ihn seit zwanzig Jahren nicht gesehen, weißt weder, wie er gestorben ist noch wo er begraben liegt, aber von einem Tag auf den anderen macht er dich zum Millionär. Das ist ein kleines bisschen beunruhigend, oder?“

„Nur so lange, bis diese Fragen geklärt sind. Dr. Miller wird uns schon morgen alles erzählen, und dann…“

„Und dann was?“, bohrte Veronica. „Hängst du unsere Detektei an den Nagel, um alte Autogrammkarten berühmter Musiker an Touristen in Hawaii-Hemden zu verkaufen?“

„Wohl kaum. Dafür fehlt mir die Geduld. Andererseits…“ Er überlegte. „Paul wird sein Vermögen sicher nicht mit Kleinkram gemacht haben. Die Immobilie mitten im Stadtzentrum war sicher enorm teuer. Ihr Kauf hätte sich nur gelohnt, wenn der Laden auch in großem Maßstab Gewinn abzuwerfen versprach. Er wird Raritäten und Unikate gehandelt haben: Cobains letzte Gitarre, die Kulissen vom Pepper-Album der Beatles oder irgendwelche Beethoven-Manuskripte. Dafür spricht auch, dass sich der geschätzte Verkaufswert der noch vorhandenen Waren auf über drei Millionen Pfund beläuft.“

„Man muss sich in der Materie gut auskennen, um aus altem Schrott Geld herauszuschlagen,“ wandte Veronica ein. „Im Gegensatz zu Briefmarken gibt es für seltene Memorabilien bestimmt keine Kataloge oder Preislisten. Du brauchst eine gute Nase, um geeignetes Material aufzuspüren und musst Kontakte zu Sammlern pflegen, um abschätzen zu können, was man an wen für wie viel Kohle weiterverscherbeln kann. Onkel Paul hatte von seiner Zeit beim Sender her bestimmt erstklassige Verbindungen in die Szene. Wir hingegen werden jemand damit beauftragen müssen, den Laden weiterzuführen oder abzuwickeln, sonst verwandelt sich diese Goldgrube in ein schwarzes Loch.“

Zach nickte. „Da hast du wahrscheinlich recht. Aber schauen wir uns die Sache doch erst einmal an, ehe wir voreilige Schlüsse ziehen.“

„Yep. Ich bin dafür, dass wir an der nächsten Pizzeria halten und ordentlich Ballast aufnehmen. Ich komme mir vor, als schwebte ich einige Zentimeter über dem Boden. Mir schwirrt der Kopf.“

„Rate mal, wem noch,“ grunzte Zach.


Am nächsten Morgen schliefen die beiden aus. Sie ließen das Hotelfrühstück sausen – zur Enttäuschung all jener, die gehofft hatten, einen weiteren Auftritt Ludwig Lederrachens erleben zu dürfen – und suchten stattdessen einen Pub auf, der Brunch servierte. Nachdem sie ausgiebig gespeist hatten, steuerte Veronica den Wagen wieder in die Yewtree Road. Mrs Jones ließ sie ein und übergab ihnen einen Ordner mit Unterlagen sowie ein Inventarverzeichnis mit der Aufschrift ‚Campbell‘s Fab Store‘. „Nehmen Sie doch einen Augenblick Platz.“ Sie deutete auf den Eingang zum Wartezimmer. „Dr. Miller wird in wenigen Minuten mit den Haustürschlüsseln eintreffen.“

Zach legte die Papiere auf einen Stuhl neben Veronica, die sich gesetzt hatte. Wieder packte ihn eine seltsame Unruhe. Er begann, wie bereits am Vortag, die Fotos zu inspizieren, die in solch scharfem atmosphärischen Kontrast zu den heiteren Gemälden über ihnen standen: Eines zeigte die vier Pilzköpfe in schwarze Kutten gekleidet, die Gesichter weitgehend im Schatten der Kapuzen verborgen. Auf dem nächsten sah man einen Mann, dessen Gesicht von Bandagen verdeckt war, vor einer Kulisse mit exotischen Pflanzen stehen, zusammen mit einer Person, die eine Hornbrille trug und ihn um fast einen Kopf überragte. Auf einem weiteren Foto präsentierte ein formell gekleideter älterer Herr eine auf ein Samtkissen gebettete historische Waffe, vielleicht eine Streitaxt oder ein Kriegshammer. Ihm gegenüber stand John Lennon mit hängenden Schultern, sichtlich übernächtigt.

Zach wollte seine Tochter fragen, was sie über die Szenen dachte, wurde aber, genau wie am Vortag, unterbrochen – diesmal von Veronica selbst, die das Inventarbuch studiert hatte. „Phantastisch!, Du wirst staunen, was Onkel Paul alles in seinem Laden angeboten hat,“ sagte sie aufgeregt. „Die Trümmer der Gitarre, die Jimi Hendrix auf dem Isle of Man-Festival gespielt hat; ein Zombie-Kostüm namens Eddie, mit dem jemand auf Iron Maidens Killers-Tour über die Bühne wankte; eine Perücke von Tina Turner aus der Zeit mit Ike. Und ja, tausende von Autogrammkarten, alte Ausgaben von Musikzeitschriften, signierte Plektren, Vinylscheiben und anderer Klimbim, aber die wertvollsten Stücke stammen fast alle von den Beatles. Er hat sie auf Bestellung beschafft. Hier, das sind die Namen der Käufer, dahinter der vereinbarte Preis. Wären wir nicht solche Intelligenzbestien würde ich sagen, wir haben mehr Glück als Verstand.“ Sie grinste. Dann bemerkte sie seine Miene. „Was ist?“

Die Tür ging auf, Dr. Miller trat ein.


Sie folgten dem SUV des Notars in die Innenstadt von Liverpool. Die Straßen waren um diese Zeit nur mäßig befahren, so dass sie es in einer Dreiviertelstunde schafften. Statt ihnen einfach nur die Schlüssel zu Laden, Wohnung und Fahrzeug zu überreichen, hatte Dr. Miller angeboten, die Räumlichkeiten für sie zu öffnen. Es gebe einiges zu beachten, sagte er, das er ihnen vor Ort zeigen werde, und er wolle auch seinem Versprechen nachkommen, etwas über die Umstände von Mr Campbells Tod zu erzählen. Und so bogen sie schließlich in die Victoria Street ein, rollten über eine steile Rampe in eine Tiefgarage und fädelten in die ziemlich engen Nischen ein. Es gab nur wenige freie Plätze, so dass die beiden Fahrzeuge in einiger Distanz zu einander standen. Parkplätze, erklärte Dr. Miller, nachdem sie schließlich gemeinsam über eine Treppe auf Straßenniveau zurückgekehrt waren, seien Mangelware so nahe am Touristenzentrum. Es gebe jedoch reservierte Buchten für die Anwohner. Auf einer solchen stehe auch Mr Campbells Wagen. Ob sie ihn gleich sehen wollten?

„Ist es weit?“, fragte Veronica.

„Nein, er befindet sich auf dem Weg zum Laden,“ erwiderte der Notar.

„Dann zeigen Sie uns den Weg,“ meinte Zach.

Über den unscheinbaren Nebeneingang eines Restaurants betraten sie ein Treppenhaus, das sie wieder unter die Erde führte. Durch eine Stahltür gelangten sie auf ein weiteres Parkdeck – ausschließlich für Anlieger –, in dessen entlegenstem Eck sie eine verschlossene Garage erwartete.

Zach sah Miller fragend an. „Ist das nicht ein bisschen übertrieben für einen alten Wagen?“

Miller lachte. „Nicht irgendeinen alten Wagen – einen der Austin Mini Cooper S, die Epstein 1965 für die Beatles besorgt hat! Das Fahrzeug wurde von Harold Radford den Sonderwünschen des Käufers angepasst und wäre schon allein deshalb kein Besitz, den man unbeaufsichtigt am Straßenrand stehen lässt.“ Er zückte einen Schlüsselbund, öffnete das Garagenschloss, drehte am Knauf und riss das Rolltor auf. Ohne nennenswertes Geräusch glitt es nach oben, bis es in eine Haltestellung geriet. Hinter der Öffnung war automatisch eine Serie von Wandlampen angegangen. Sie tauchten einen kastenförmigen Kleinwagen, dessen salbeigrünes Heck ihnen zugewandt war, in warmes Licht. Der cremefarbene Lack des Dachs glänzte wie neu.

„Nett,“ ließ Zach mit einer Stimme vernehmen, der man eine gewisse Enttäuschung anmerken konnte. „Hat im Inventar nicht ‚Aston‘ gestanden?“

Miller lachte erneut. „Nein, Austin. Sie haben einen Aston Martin erwartet, einen DB5, wie James Bond ihn in ‚Goldfinger‘ fuhr, nur silberblau? McCartneys Aston Martin?“

„So ungefähr,“ gab Zach zurück.

„Der würde mir auch gefallen. Er ist leider in festen Händen, seit er vor vier, fünf Jahren für fast anderthalb Millionen Pfund in einer Auktion den Besitzer wechselte. Ich gebe zu, der würde zu Ihnen passen – und zu dem Sportwagen, den Ihre Tochter fährt.“ Wieder warf der Notar Veronica diesen eindringlichen Blick zu. Veronica starrte zurück.

„Wissen Sie, welchem der Beatles der Mini gehört hat?“, unterbrach Zach das Augenduell.

Miller musterte ihn für ein paar Sekunden, ohne eine Miene zu verziehen. „In Sammlerkreisen“ – er betonte das Wort auf eine Weise, die eine viel kleinere Personengruppe andeutete, als es normalerweise bezeichnete – „steht die Nummer ‚LGF 696D‘ für einen Wagen, der vor vielen Jahren spurlos von der Bildfläche verschwunden ist; nun, nicht ganz spurlos. Mr Campbell hat seine Beziehungen spielen lassen und ihn vor drei Jahren wieder aufgetrieben. Er steht mit einem Schätzwert von 183.000 Pfund im Inventar – angelehnt an den Erlös der Auktion, in der McCartneys Exemplar im September 2018 unter den Hammer kam. Aber Mr Campbell war weder dumm noch ungeduldig. Er konnte warten…“

„Warten? Worauf?“, warf Veronica ein.

„Darauf, dass der richtige Mann in sein Leben trat,“ erläuterte Miller. Er seufzte. „Die Welt ist so kurzatmig geworden. Für einen schnellen Riss verwerfen die Leute oft ihre gesamte Zukunft. Und wenn sie den kleinen Vorteil, den sie auf Kosten langfristigem Wohlstand einheimsen konnten, verspielt haben, stehen sie allein und mit leeren Händen da. Paulus Campbell war nicht so. Er war Teil von etwas Größerem, und er handelte vorausschauend. Und er wusste, man muss nur lange genug warten, bis der richtige Sammler zum richtigen Zeitpunkt erscheint – jemand, der ein Medienereignis oder einen Jahrestag zum Anlass nimmt, um sich John Lennons Mini Cooper zum gleichen Preis zu leisten, wie andere für Paul McCartneys Aston Martin DB5 bezahlt haben.“

„Das ist nicht Ihr Ernst?“ Zach hob skeptisch eine Braue.

„Es war Mr Campbells Erfolgsgeheimnis. Es funktionierte bei jedem einzelnen Stück, das er aufspürte, um es weiterzuverkaufen.“

„Nur, dass er dieses Mal zu lang gewartet hat.“

„Nun, er konnte ja nicht wissen, dass er so schnell aus dem Leben gerissen würde. Und hätte er gewusst, dass man ihn ermordet, hätte ihm der Erlös aus einem schnellen Verkauf auch nichts genützt.“

„Da haben sie natürlich re… Wie bitte? Sagten Sie gerade ‚ermordet‘?“

„Mein Beileid, Herr Ziegler, das ist leider das Schicksal, das der Herr Ihrem Stiefbruder zugemessen hat.“

2) Jules R. Miller, Notar

Sie erreichten das von ihnen gebuchte Hotel am Stadtrand von Liverpool kurz vor acht Uhr abends. Müde von der langen Fahrt begaben sie sich ohne Umschweife ins Bett. Der Schlaf wollte sie jedoch nicht sofort einholen. In den Ohren tönte noch das Brausen des GT-Motors, in ihren Gedanken spukten die Geister der Vergangenheit.

Am nächsten Morgen weckte strahlender Sonnenschein sie. Veronica hüpfte als Erste in das winzige Badezimmer, nahm eine schnelle Dusche, schrubbte die Zähne und zog ein bequemes dunkles Kleid an. Als sie ins Zimmer zurückkehrte, lag Zach mit hinter dem Kopf verschränkten Händen im Bett. Er sah besser aus als Tags zuvor. „Das Badezimmer gehört dir,“ rief sie ihm zu. „Beeil dich. Ich gehe gleich runter und sichere uns ein Frühstück. Ich sterbe vor Hunger!“

„Bloß nicht!“, brummte er, als sie bereits zur Tür hinaus war. „Ein Toter reicht mir vollauf.“

Der Frühstücksraum war tatsächlich recht voll, als Zach endlich eintraf: geduscht, rasiert, gekämmt und in einen frischen dunklen Anzug gekleidet. Veronica hatte ihnen einen Platz am Tresen gesichert, damit der Kaffee unterwegs möglichst wenig Temperatur verlor. Die Gastwirtin, eine Frau in den Fünfzigern, strahlte ihn an. „Guten Morgen, Mr Ziegler. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.“

„Bestens,“ antwortete er. „Wie auf Wolken.“

Sie lächelte. „Was hätten Sie gern? Kaffee? Tee? Kakao? Saft?“

„Kaffee, bitte. Schwarz.“

„Kommt sofort.“ Sie drehte sich zu einer altmodischen Kaffeemaschine um, die gerade die letzten Tropfen heißen Wassers röchelnd in einen Filter spuckte, der tiefschwarzen Sud in eine unter ihm stehende Glaskanne entließ. Die Wirtin entnahm die Kanne, wandte sich wieder Zach zu und befüllte eine vor ihm stehende – nach seinen Maßstäben recht kleine – weiße Tasse. Der Detektiv zögerte keine Sekunde, führte sie zum Mund und leerte sie schnell mit in den Nacken gelegtem Kopf. Dann knallte er sie wie ein Schnapsglas auf den Tresen. „Rah,“ prustete er zufrieden. „Noch einen!“

Die Wirtin stand mit offenem Mund vor ihnen. Veronica brauchte nicht hinzuschauen. Sie wusste auch so, dass einige der Gäste die Szene zufällig beobachtet hatten, nun ihre Nachbarn anstießen und mit dem Finger auf Zach zeigten. Im Raum wurde es stiller. Sie kannte das schon. In aller Gemütsruhe löffelte sie ihren Joghurt, während ihr Vater der Wirtin die Tasse entgegenschob. „Nun?“, sagte er.

Verdattert füllte sie sie erneut. Wieder stürzte Zach den dampfenden Inhalt auf einen Schlag hinunter, wieder hämmerte er die Tasse aufs Holz. Kollektives Keuchen füllte die Luft. Niemand sprach ein Wort. Nach einigen Sekunden drehte ihr Vater sich dem Raum voller Menschen zu, die ihn mit aufgerissenen Augen und Mündern anstarrten, grinste schief und sagte: „Gestatten? Ludwig Lederrachen, Feuerschlucker und Schwertspucker.“

Das brach den Bann. Alle begannen gleichzeitig zu schnattern, manche lachten, einige johlten. Zach zwinkerte ihnen zu, dann wandte er sich wieder an die Wirtin. „Was gibt‘s zu essen?“


„Du kannst es wirklich nicht lassen,“ beschwerte sich Veronica, während ihr Vater herzhaft in eine Scheibe Bauernbrot biss. „Kaum sind wir angekommen, machst du uns zum Stadtgespräch.“

„Ach tu nicht so empfindlich, du genießt die Aufmerksamkeit doch auch.“

„Ich bin mir nicht sicher, dass sich Prominenz mit unserer Tätigkeit als Privatdetektive verträgt.“

„Die größten Geheimnisse und die persönlichsten Dinge versteckt man am sichersten auf einem Präsentierteller,“ entgegnete Zach. „Savile hat seine Opfer live im Fernsehen zugeführt bekommen, unter den Augen der ganzen Nation. Wer hätte vermuten wollen…“

„Ja klar. Da steht meiner Zweitkarriere als Model also nichts mehr im Weg.“ Veronica schüttelte affektiert ihr schulterlanges blondes Haar, setzte ihr süßestes Lächeln auf und klimperte mit den Augendeckeln.

Zach lachte auf. „Du lernst schnell. Der Catwalk muss allerdings warten, bis wir die Sache mit Paul hinter uns gebracht haben. Außerdem würde ich gern irgendwann einen Enkel oder zwei zu Gesicht bekommen. Ich bitte das in deine Lebensplanung einfließen zu lassen.“

Veronica hieb ihm mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. „Du hast sie wohl nicht mehr alle!“, rief sie in gespielter Entrüstung. „Hör auf zu quatschen und iss den Teller leer. In weniger als einer Stunde müssen wir in der Yewtree Road beim Notar sein.“

„Yes, Ma‘am.“


Wie sich herausstellte, hätte keine Eile bestanden. Dr. Jules R. Miller, der Notar, war länger als erwartet von einer anderen Angelegenheit in Beschlag genommen. Seine Sekretärin leitete Zach und Veronica in ein geschmackvoll dekoriertes Wartezimmer mit Blick auf den Calderstones Park. Sie hatten den Raum für sich. Außer ihnen befand sich niemand darin. An den Wänden hingen zwei Reihen gerahmter Bilder. Die obere bestand aus Aquarellen, die bekannten Fotos der Beatles nachempfunden waren: die Fab-Four mit Regenschirmen, das Cover des Albums Beatles For Sale, die Band beim Überqueren eines Zebrastreifens, oder auch John Lennon und Paul McCartney gemeinsam am Mikrofon. Die Gemälde trugen unten links jeweils den Schriftzug ‚Donna.‘ Die Künstlerin hatte die Charaktere der Musiker ziemlich gut getroffen. Die frischen, gefühlvoll auf einander abgestimmten Farben gaben dem Wartezimmer eine fröhliche Note – bis man sich näher mit der unteren Bildreihe beschäftigte. Es handelte sich um Schwarz-Weiß-Fotografien wesentlich kleineren Formats. Sie hingen direkt auf Augenhöhe. Um seine Nervosität zu dämpfen, schritt Zach der Wand entlang, von einer Aufnahme zur nächsten. Für Kunst hatte er wenig übrig. aber die Fotos faszinierten ihn. Er war mit der Musik dieser Gruppe aufgewachsen, da seine Mutter sie gern gehört hatte. Die Beatles hatten sich im Jahr vor seiner Geburt aufgelöst, waren aber nie ganz aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Die Zeitungen berichteten gelegentlich von neuen Enthüllungen oder druckten Berichte über verschollene Tonbänder; das Fernsehen zeigte bei jeder sich bietenden Gelegenheit Retrospektiven: gefüllte Stadien, schreiende Fans, winkende Pilzköpfe. Die Szenen auf den Fotos waren jedoch ganz anderer Art als die Gemälde oder die Zeitungsillustrationen. Eine düstere Aura ging von ihnen aus: Paul, der mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis bildete, die restlichen Finger abgespreizt; Stuart Sutcliffe in einem Sessel sitzend, die Merkel-Raute zeigend; Ringo, der sich ein Auge zuhielt; John, der hinter Pauls Kopf die ‚Pommesgabel‘ präsentierte; George Harrison, neben einem anonymen Grab stehend. So ging es weiter, Bild um Bild um Bild. Es handelte sich durchgehend um hochwertig aufgenommene ästhetische Motive, trotzdem war Zach sich sicher, keines von ihnen je gesehen zu haben.

Er wollte gerade Veronica darauf aufmerksam machen, als sich die Tür öffnete. Dr. Millers Sekretärin stand im Rahmen und bat sie, ihr zu folgen. Sie führte sie durch einen kurzen Gang in ein weiteres Zimmer, wo der Notar, ein schlanker älterer Herr, ihnen mit ausgestrecktem Arm entgegen schritt. Er hatte halblanges graues, leicht gewelltes Haar und trug eine Brille mit kleinen runden Gläsern auf der leicht gebogenen Nase. Mit ein bisschen Phantasie konnte man sich einem sechzigjährigen Lennon gegenüber wähnen. Miller schüttelte Zachs Hand und sagte in perfektem Oxford-Englisch: „Freut mich, Sie zu sehen, Mr Ziegler. Seien Sie meines tiefen Beileids über Ihren Verlust versichert. Ihr Stiefbruder war mehr als nur ein Mandant, er war auch mein Freund. Ich werde mein Möglichstes tun, Ihnen bei der Erledigung der Formalitäten zu helfen und meinen Beitrag zu einem angenehmen Aufenthalt in Liverpool zu leisten.“

„Vielen Dank, Dr. Miller. Dies hier“ – Zach zeigte auf Veronica, die hinter ihm in den Raum getreten war – „ist Mr Campbells Patenkind, meine Tochter Veronica.“

„Ms Ziegler, es ist mir eine Ehre.“ Der Notar deutete einen Handkuss an. Erst nach einem längeren prüfenden Blick in ihre Augen gab er die Hand wieder frei. „Setzen Sie sich doch.“

Er deutete auf zwei Stühle vor seinem ausladenden Schreibtisch und begab sich gegenüber zu einem hohen Drehsessel mit grünem Lederbezug. Vater und Tochter setzten sich, dann auch der Notar.

„Werden wir auf die Anderen warten müssen oder möchten sie nicht an der Testamentseröffnung teilnehmen?“, erkundigte sich Zach.

Die Sekretärin kam erneut herein. Sie hielt ein Tablett, auf dem sich eine Teekanne, drei Tassen und etwas Gebäck befanden. Sie setzte das Tablett auf einem Beistelltischchen ab, verteilte die Gedecke und füllte Ceylon-Tee ein. Dann verließ sie das Zimmer. Veronica warf Zach, der sich anschickte, nach seiner Tasse zu greifen, einen mahnenden Blick zu. Der Notar lehnte sich zurück. „Mr Ziegler, Sie sind der einzige Anverwandte und auch der Alleinerbe des Verstorbenen. Ich werde daher nicht viel mehr zu tun haben, als Mr Campbells letzten Willen zu verlesen und Ihre Entscheidung über Annahme oder Ausschlagung des Erbes zu beglaubigen.“

„Oh,“ sagte Zach. Er nippte etwas Tee, dann stellte er die Tasse zurück und knabberte an einem Gebäckstück.

Miller entnahm einer dünnen dunkelgrauen Kladde, die er vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte, einige zusammengeheftete Seiten, die ein notarielles Siegel trugen, und begann mit der Verlesung:

Letzter Wille und Testament

Ich, Paulus Martin Campbell, geboren am 8.April 1970 in Liverpool, erkläre hiermit im Vollbesitz meiner geistigen Fähigkeiten, meinen letzten Willen. Ich handle weder unter Druck noch Zwang und bin mir des Charakters und Umfangs meines Eigentums bewusst.

Ich verfüge, dass mein Stiefbruder, Zachary Archibald Ziegler, geboren am 23. Februar 1971 in Stuttgart, derzeitiger Wohnort London, der alleinige Nutznießer meiner Hinterlassenschaften sein soll. Diese bestehen in einem Ladengeschäft samt Einrichtung und Waren in Liverpool, meiner Wohnung samt Inhalt, meinem Wagen und meinen Bankkonten samt Inhalt.

Das Dokument bestimmte des weiteren Dr. Miller zum Vollstrecker des Testaments, erklärte, dass weder Schulden noch Außenstände vorhanden wären, und nannte eine Reihe rechtlicher Vorbehalte. Pauls Unterschrift war gefolgt von den Signaturen zweier Zeugen und der des Notars.

Als Miller zu Ende gelesen hatte, legte er das Dokument beiseite, öffnete die Kladde erneut, zog ein Papier heraus und reichte es Zach. Es handelte sich um eine Aufstellung der Vermögenswerte und sonstigen Gegenstände aus Pauls Besitz. Bei dem im Testament erwähnten Laden handelte es sich um ein Musikantiquitätengeschäft auf der Rainford Gardens. Pauls Wohnung befand sich in den beiden darüber liegenden Stockwerken. Sein Wagen war ein Austin, Baujahr 65. Auf den Konten lagen 2,4 Millionen Britische Pfund. Alles in allem war das Erbe laut amtlicher Schätzung über sieben Millionen Pfund wert.

„Heiliger Strohsack!“, stieß Zach hervor.

„Jeeesus!“, hauchte Veronica, die mitgelesen hatte.

„Die Waren und Einrichtungsgegenstände des Ladens sind im Inventarverzeichnis aufgeführt,“ erklärte der Notar. „Möchten Sie einen Blick hineinwerfen?“

„Danke, nein. Rainford Gardens hört sich idyllisch an. Ist das eine gute Lage?“, wollte ihr Vater wissen.

„Die beste; Cavern-Viertel; eine kurze Seitenstraße der Whitechapel, die in die Mathew Street mündet. Es gibt da keinen einzigen Grashalm, dafür jede Menge Sehenswürdigkeiten, Pubs und Läden in der Nachbarschaft. Wie Sie vielleicht wissen, gehört die Mathew Street zum Pflichtprogramm eines jeden Besuchers unserer Stadt.“

„Das Beatles-Museum!“, warf Veronica begeistert ein.

Miller lächelte. „Und der Cavern-Club, wo alles begonnen hat.“ Er räusperte sich. „Ich muss Sie nun fragen, ob Sie das Erbe Ihres Stiefbruders annehmen möchten, Mr Ziegler.“

„Wer könnte da nein sagen? Ich nehme es selbstverständlich an.“

„Dann unterschreiben Sie bitte diese Erklärung – ja, dort auf der Linie.“ Als Zach seinen Krakel daraufgesetzt hatte, nahm der Notar das Blatt an sich, signierte es schwungvoll und drückte sein Siegel auf. Er räumte alle Papiere wieder in die Kladde. „Ich bin sicher, Sie haben viele Fragen,“ sagte er.

„Mein Bruder und ich haben uns seit zwanzig Jahren nicht gesehen. Ich habe keine Ahnung, was er seither getan oder wie er gelebt hat. Ich weiß nicht einmal, wie er gestorben ist.“

„Ich würde mich gern mit Ihnen über Paul Campbell unterhalten. Wir standen uns wie gesagt recht nahe. Leider erwarten mich nun andere Verpflichtungen. Bitte kommen Sie morgen gegen ein Uhr noch einmal hierher. Ich händige ihnen dann sämtliche Unterlagen aus. Anschließend fahren wir in die Rainford Gardens, zur Übergabe von Laden, Wohnung und Fahrzeug.“ Er betätigte einen Knopf auf seiner Sprechanlage: „Mrs Jones.“

Er erhob sich aus dem Sessel. Vor der Tür ertönten Schritte, dann trat die Sekretärin ein. „Ja bitte?“

Miller überreichte ihr die Kladde. „Bitte führen Sie die Gäste hinaus und machen Sie die Campbell-Unterlagen bis morgen Mittag fertig.“

„Jawohl, Sir.“ Sie nickte Vater und Tochter zu, dann setzte sie sich in Richtung Tür in Bewegung.

Zach schüttelte dem Notar die Hand. „Besten Dank, Dr. Miller. Bis morgen Nachmittag!“

Miller nickte kurz. „Junge Dame,“ sagte er an Veronica gewandt, „auf hoffentlich baldiges Wiedersehen.“

Erneut dieser durchdringende Blick. Veronica schaute uneingeschüchtert zurück, lächelte, drückte fest zu und versprach: „Morgen Nachmittag.“

1) Paul ist tot

Zach entledigte die Tasse mit der Aufschrift „Schwarzer Tod“ ihres dampfenden Inhalts wie gewohnt auf einen Zug. „Verdammt!“, brummte er. „Halb kalt.“ Dann widmete er sich wieder einem Stoß von Briefen, deren Adressfelder er jeweils kurz studierte, bevor er sie auf einen von zwei Stapeln ablegte.

Veronica, die ihn über den Rand ihrer Müslischüssel beobachtete, hob die rechte Augenbraue. „Tut mir furchtbar leid.“

Zach wollte gerade einen offiziell wirkenden Umschlag beiseite legen. Dann zögerte er. Seine Stirn legte sich in Falten, während er die Beschriftung erneut musterte. Er blickte auf. „Was tut dir leid?“

„Dein Kaffee.“ Sie strich sich mit dem Löffelstiel eine Strähne aus dem Gesicht und betrachtete ihn amüsiert.

„Das sollte es auch!“, grollte der Privatdetektiv. „Wie soll ein Mann arbeiten, wenn er kein ordentliches Frühstück bekommt?“

„Wenn du mir beibringst, wie man das Wasser über dem Siedepunkt flüssig hält… Willst du ihn nicht aufmachen?“, fragte sie. Als er sie irritiert ansah, deutete sie mit dem Löffel auf seine Hand und fügte hinzu: „Den Brief. Ich rieche einen neuen Fall.“

Er schaute sich suchend auf dem Tisch um, griff dann nach dem Buttermesser seiner Tochter, steckte es sich in den Mund und zog es langsam zwischen zusammengekniffenen Lippen wieder heraus. Er wendete den Umschlag noch einmal, um die Rückseite in Augenschein zu nehmen, dann führte er die Klinge in den oberen Falz ein und durchtrennte ihn zügig, ohne auf Veronicas missbilligendes Schnalzen einzugehen. Er fischte das Schriftstück heraus, ein einzelnes Blatt, das nach dem Entfalten einen professionellen Briefkopf zeigte. Während Zachs Augen flink über einige wenige gedruckte Zeilen huschten, wich alle Farbe aus seinem Gesicht. Er ließ das Blatt sinken. „Paul…“, sagte er nur.

„Paul? Welcher Paul?“

Onkel Paul, mein Stiefbruder.“

„Du hast einen Stiefbruder? Wie kommt es, dass ich nichts von ihm weiß?“ Sie nahm ihrem Vater den Briefbogen ab und las halblaut: „… leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Angehöriger, Paulus Campbell, gebürtig… bla bla… am vergangenen Sonntag verstorben… bla… bla… beauftragt, Sie zur Testamentseröffnung einzuladen. Bitte finden Sie sich am… blafasel… Dr. Jules R. Miller, Notar.“

„Der Sohn deiner Oma Lana aus erster Ehe. Wir…“ Er schwieg einen Moment, den Blick gesenkt. „Wir haben uns seit fast zwanzig Jahren nicht mehr gesehen.“

„Ach, Dad!“ Sie legte ihre Hand auf die seine. „Es tut mir furchtbar leid,“ sagte sie wieder, diesmal jedoch ohne den schnippischen Unterton, „aber ich erinnere mich überhaupt nicht an ihn.“

„Du warst zu jung; erst zwei oder drei.“

„Warum hast du nie über ihn gesprochen? Weshalb habt ihr einander nicht besucht?“

Zach entzog seiner Tochter die Hand, erhob sich und ging schweren Schrittes auf die Tür seines Büros zu. „Ich… brauche einen Moment.“

Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Das Ächzen eines Stuhls, dann herrschte Stille im anderen Raum. Veronica erhob sich nun ebenfalls, begann die Reste des vorzeitig beendeten Frühstücks auf ein Tablett zu laden und trug dieses in die Küche.


Der orange lackierte Opel GT flitzte über die M1 nach Norden, auf Liverpool zu. Den Wagen hatte Veronica, die wie ihr Vater eine Schwäche für Technik der vor-elektronischen Zeit hegte, zufällig bei Ermittlungen in einem Fall entdeckt. Es war ihnen gerade gelungen, den von ihnen gesuchten Heiratsschwindler in einem Hamburger Stundenhotel aufzustöbern, wo sie das von ihrer Mandantin gewünschte Kompromat sammeln konnten. Nachdem der Mann fluchtartig das Zimmer verlassen hatte, war Veronica ans Fenster getreten. Sie hatte aus dem dritten Stock in den Hinterhof jenes Etablissements geblickt und die schnittige Karosse dort stehen sehen. Damals war sie von altersmattem Weiß gewesen; eine Beule hatte die Beifahrertür verunstaltet und die Felgen waren stark verrostet gewesen. Und doch bot das Fahrzeug mit seinen eleganten Formen und den versenkbaren Frontleuchten einen Anblick, der sie sofort gefesselt hatte.


Das Fabrikat war ihr fremd – vielleicht der Prototyp einer nie gebauten Corvette-Serie? Sie würde es herausfinden. Das Gezeter der jungen Frau („Sammy,“ gab sie mit misstrauischem Blick an) war verstummt. Stattdessen hörte sie nun ihren Vater beruhigend auf sie einreden. Veronica drehte sich um. In Zachs ausgestreckter Hand war für einen kurzen Moment ein Geldschein zu sehen, bevor sich Sammys Finger blitzschnell um ihn schlossen und an sich rissen. Zach lächelte; sie würde keinen Krawall verursachen.

„Sorry für die Störung,“ sagte Veronica freundlich. „wir sind gleich wieder draußen.“ Sie hatte nun erstmals Gelegenheit, das Mädchen eingehender zu betrachten; slawische Gesichtszüge, schulterlanges blondes Haar, das einen blauen Fleck an der linken Schläfe halb verdeckte; ein breiter Mund, ein graziler Hals; unter dem Leinen, das sie bedeckte, zeichnete sich ein sehr feminin geformter Körper ab, und doch: keine junge Frau. Ihr achtzehnter Geburtstag lag definitiv mehr als ein paar Wochen in der Zukunft. Nicht gut. Veronica runzelte die Stirn.

Sammy nickte unsicher. „Klar…hm, schon gut.“ Ihr Akzent bestätigte die vermutete Herkunft.

„Sag mal, du weißt doch bestimmt, wem der Sportwagen da unten gehört?“

„Der weiße?“

„Ja.“

„Hannes. Dem Boss. Warum willst du das wissen?“

„Wo finde ich diesen Hannes?“

Auf dem Gang polterten schwere Schritte, dann wurde die Tür aufgerissen. „Was ist hier los?“, knurrte der Klotz, der in der Öffnung erschienen war. Anzug, offenes Hemd, keine Krawatte, der Schädel besser rasiert als Kinn und Wangen. „Was fällt euch ein, die Kunden zu vergraulen? Raus mit euch, aber zackig!“

„Wir… suchen Hannes,“ flötete Veronica und legte die Hände an die Hüften.

„Glückes Geschick, ti-ri-li! Er steht direkt vor euch und der Laden“ – er deutete auf seine Hose – „ist gerade offen.“ Das entsprach sogar der Wahrheit. Der Klotz musterte Veronica von oben bis unten, dann sagte er: „Heißes Gerät, aber ein bisschen zu alt.“

Sie warf einen schnellen Seitenblick auf Sammy, schaute Hannes wieder frech ins Gesicht und ließ ihre Brauen tanzen. „Ja, das ist mir auch schon aufgefallen,“ entgegnete sie. „Es war bestimmt nicht leicht, eine Lizenz dafür zu bekommen.“ Sie legte den Kopf schief.

Der Klotz kam einen Schritt näher. „Willst du mir drohen, Kleine?“

„Nicht so schnell!“, rief Zach, der die rechte Hand halb aus der Jackentasche zog. Der Griff einer Walther wurde sichtbar.

Der Klotz blieb stehen. „Was wollt ihr hier?“

„Das heiße Gerät da unten im Hof, gehört das Ihnen?“, fragte Veronica.

„Vielleicht. Vielleicht auch nicht.“

„Nun gut, wir können auch auf dem Revier nachfragen; wollten mit den Jungs ohnehin ein paar Tipps auszutauschen…“

„Was wäre, wenn der Schlampenschlepper mir gehört?“

„Dann kommen wir vielleicht ins Geschäft,“ erwiderte Veronica.


Ihr Vater hatte den Wagen bar bezahlt, seine Restauration und die Überführung auf die Inseln veranlasst und Veronica samt einem Fahrsicherheitstraining zum neunzehnten Geburtstag geschenkt. „Das ist eigentlich kein Auto für eine junge Frau,“ hatte er gesagt, „aber du hast deinen guten Geschmack eindeutig von deinem alten Herrn geerbt, und der ist sehr, sehr stolz auf dich.“

Die erste Stunde über, während sie sich aus dem dichten Londoner Stadtverkehr hinaus quälten, hatten sie geschwiegen. Das Gedränge begann sich so langsam zu lichten. Veronica ließ den GT seine Muskeln spielen. Geschickt nutzte sie Lücken, um sich nach vorn zu arbeiten, und als schließlich offene Strecke vor ihnen lag, gab sie ordentlich Gas.

„Was ist damals eigentlich zwischen euch vorgefallen?“, erkundigte sie sich endlich. Die Frage hatte ihr die ganze Woche über unter den Nägeln gebrannt, aber Zach war nie recht in der Stimmung gewesen, über Paul zu reden. Nun, da sie sich auf dem Weg zum Notariat Miller befanden und es weder etwas anderes zu tun noch zu bereden gab, konnte sie ihre Neugier nicht länger zügeln. Sie sah, dass ihr Vater geneigt schien, die Frage zu überhören, aber sie ließ nicht locker: „Ich meine, ihr habt euch bestimmt nicht einfach auseinandergelebt.“

Er brummte, überlegte kurz und sagte: „Nein, haben wir nicht. Das ist eine lange Geschichte.“

„Noch immer fast zweihundert Meilen Fahrt vor uns.“

Er seufzte. „Na gut.“ Einige Sekunden verstrichen. „Ich war fünf Jahre alt, als meine Stiefmutter bei uns einzog. Paul war sechs. In dem Alter erscheint einem ein Jahr wie eine riesige Hürde, aber wir freundeten uns sofort an. Er zeigte mir viele coole Tricks beim Fußball. Er war um etliches größer als die meisten seines Alters und stellte sich den anderen Jungs in den Weg, wenn sie mich in die Zange nehmen wollten. Das taten sie oft; sie hielten mich für einen Spinner. Ich interessierte mich mehr für Bücher als für Sport, Zigaretten oder in späteren Jahren Mädchen. Einmal hatten sie mich allein erwischt. Sie drängten mich in eine Ecke und wollten gerade beginnen, mich zu ‚bearbeiten‘, da kam Paul wie eine Naturgewalt über sie. Sie waren zu viert, aber er hat sie so vermöbelt, dass einer von ihnen einen Zahn verlor. Er war eigentlich ein friedfertiger Mensch; doch wenn er etwas sah, das er für ungerecht hielt, konnte er energisch werden.“

Zach hielt kurz inne. Er lächelte. „Als du geboren wurdest, bot er sich sofort als Pate an. Paul hat nie geheiratet, wenn du verstehst, was ich meine, aber er mochte Kinder, und er hat ihnen immer irgendwelche Kniffe beigebracht, die sie noch nicht kannten. Er war derjenige, der dich das Gehen lehrte, während deine Mutter und ich…“ Er schnaubte. „…während deine Mutter und ich mit unseren Karrieren beschäftigt waren. So wie deine Großeltern viel zu selten Zeit für mich und Paul gehabt hatten.“

Erneut pausierte er. Dann: „Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht mehr an den Skandal um Jimmy Savile.“

„Nah, ich war gerade zwölf, als die Doku über ihn rauskam. Ich hab sie mir aber zum Teil angesehen. Dieses alte Schwein!“

„Ja, Savile war ein Schwein. Er war aber beileibe nicht der einzige Kinderficker im Land. Da war eine ganze Gang von weiteren bekannten BBC-Radiomoderatoren und Musikern unterwegs, die ihren Promi-Status benutzten, um an Nachschub zu gelangen. Die Polizei hatte konkrete Verdachtsmomente gegen fast 200 solcher Personen. Keiner kann mir erzählen, dass die Leute in den Chefetagen nichts davon wussten, dass Benefizgalas für Kinder in Not, Jugendtalentshows und ähnliche Programme für pädophile Zwecke missbraucht wurden. Wir wussten davon, verdammt noch mal, und wir sind hellhörig geworden, als wir erfuhren, dass Onkel Paul dich regelmäßig an seinen Arbeitsplatz mitgenommen hatte – zur BBC. Du hast damals eine schwierige Phase durchlaufen. Eine Kinderpsychologin, die wir konsultierten, deutete an, es könne jemand im engeren Umfeld geben, der dich missbraucht. Wir haben Paul zur Rede gestellt. Er räumte ein, im Team von Savile zu arbeiten und mit Leuten wie diesem Gary Glitter zu tun gehabt zu haben. Er nannte sie ‚ein bisschen exzentrisch‘, stritt aber vehement ab, von irgendwelchen Unregelmäßigkeiten gewusst zu haben. Deine Mum war extrem aufgebracht. Sie glaubte ihm kein Wort, schmiss ihn aus dem Haus und untersagte ihm, jemals wieder in deine Nähe zu kommen. Ich kannte ihn besser. Trotzdem war ich mir unsicher, daher habe ich es geschehen lassen.“

Veronica blickte ihn schockiert an. „Heißt das…?“

„Nein. Dir ist kein Haar gekrümmt worden. Wir zogen eine Traumatherapeutin zu Rate, mit deren Hilfe wir relativ schnell herausfanden, dass wir selbst dein größtes Problem gewesen sind. Du hast dich wegen unserer ständigen Abwesenheit schwer vernachlässigt gefühlt. Als mir klar geworden ist, welch großes Unrecht ich begangen hatte, wollte ich den Kontakt mit Paul wieder herstellen. Aber er war unauffindbar. Er hatte bei der BBC gekündigt und war umgezogen. Von einer gemeinsamen Freundin habe ich Jahre später erfahren, dass er direkt nach unserer Auseinandersetzung Nachforschungen über den Pädophiliesumpf im Musikbusiness angestellt hat. Seine Erkenntnisse müssen wohl einen wesentlichen Beitrag zu einigen der Enthüllungen geleistet haben, die nach Saviles Ableben veröffentlicht worden sind.“ Er schaute zum Beifahrerfenster hinaus. „Paul war unschuldig.“