6) I ONEI X HE ◊DIE

Sie hatten beschlossen, dass sie in der Frage, ob sie Pauls Wohnung und Laden behalten wollten – oder auch nur die Wohnung –, ein Gefühl dafür bekommen mussten, was das in der Praxis bedeutete, und dass sie daher mehr Zeit dort verbringen sollten. Sie würden den Warenbestand sichten, ein wenig im Hinterzimmer abhängen, irgendwann ein paar Nächte im Oberstock schlafen. Daher fuhren sie kurz nach acht Uhr in der Frühe ins Zentrum. Es war relativ still in den Gassen des Cavern-Viertels. Die Mathew Street verbreitete das Feeling einer Konzertfläche am Morgen ‚danach.‘ Ein Reinigungstrupp fegte Glasscherben, Papierknäuel, Servietten und Zigarettenstummel zusammen. Die Rainford Gardens lag ähnlich entvölkert. Sie öffneten die Ladentür, knipsten das Licht an und warfen die Mäntel über den Tresen.

Veronica schaute sich um. „Wo fangen wir an?“

„Das Unangenehme zuerst. Mir graust ein wenig vor dem Fleck am Boden, aber wenn wir hier mehr Zeit verbringen wollen, entfernen wir ihn am besten so früh wie möglich.“

Veronica nickte. „Ob Onkel Paul die Reinigung wohl selbst getätigt hat?“ Sie entnahm ihrer Jackentasche ein Notizbuch, zog die oberste Schublade am Tresen auf, kramte darin herum und entnahm ihr dann einen Bleistift. Während sie schrieb, proklamierte sie: „Ad 1: Putzhilfe…“ Sie überlegte. „Wo wir gerade über Personal nachdenken – Ad 2: Verkaufshilfe?“

„Ganz wichtig: Wie bekommen wir Kontakt zu Pauls Stammkundschaft?“, ergänzte Zach.

„Notiert. Während du darüber nachdenkst, inspiziere ich kurz die Küchen- und Badezimmerschränke. Vielleicht finde ich Reinigungsmittel.“

Es dauerte tatsächlich nicht lange. Ein Spind im Hinterzimmer enthielt alles Nötige. Statt ihren Vater zu rufen, begab Veronica sich selbst an die Arbeit. Der Kreideumriss wich ihrem Angriff sofort. Mit ihm verging auch das seltsame Gefühl, dass sich außer ihr noch jemand im Raum befand. Der Drang, über die Schulter zu blicken, ließ nach. Der Blutfleck wehrte sich natürlich hartnäckiger. Nach einer knappen Viertelstunde hatte er jedoch das meiste von seiner Intensität verloren. Nur ein unscharfer dunkler Schemen deutete an, wo Paulus Campbell gelegen hatte. Sie verdeckte ihn mit Auslegeware.

Veronica deponierte Bürsten, Eimer und Fleckenmittel wieder im Spind. Sie entnahm dem Kühlfach der Bar eine Cola. Der Fruchtsaft war leider schon verdorben. Sie stellte die halb leere Flasche mit ihrem schimmligen Inhalt in den Papierkorb, ging dann zum Sofa und ließ sich hineinfallen. Sie schaute sich um. Alles wirkte normal. Es gab keine Kampfspuren, keine zerbrochenen Gegenstände, keine verformten Geländer oder ähnliches. Alles musste sehr schnell vonstatten gegangen sein… oder das Opfer hatte seinen Mörder gekannt und war nichts ahnend auf ihn zugegangen oder hatte ihm arglos den Rücken zugedreht. Ging es um Geld? Wertgegenstände? Oder hatte es Streit gegeben… worüber? Sie schüttelte den Kopf. Alles Spekulationen. Sie wusste zu wenig, um den Tathergang nachvollziehen zu können.

Ihr Blick fiel auf einen kleines kreisrundes schwarz gerahmtes Bild neben der Tür zum Verkaufsraum, direkt unterhalb einer handsignierten Porträtaufnahme des jungen Paul McCartney. Es mochte vielleicht 15 bis 20 Zentimeter Durchmesser besitzen. Das Motiv kam ihr bekannt vor. Ein Schriftzug, der dem oberen Kreisbogen folgte, besagte „Sgt. Pepper‘s“. Aha, dachte sie. Ein Ausschnitt von einem Album-Cover der Beatles. Natürlich kannte sie die LP aus dem Plattenschrank ihres Vaters. Hier in Liverpool war ihr Anblick allgegenwärtig. Der Rest des Bildes ergab jedoch keinen Sinn für sie. Der Schriftzug wiederholte sich spiegelbildlich am unteren Rand. Dazwischen, an der breitesten Stelle, eingerahmt von Ornamenten, stand:

I ONEI X HE DIE

Was sollte das denn? Sie sprang vom Sofa auf und trat nah an das Bild heran. Nein, sie hatte sich nicht verlesen. Sie war sich gleichzeitig sicher, dass die Zeile so nicht auf dem Cover abgedruckt war. Wie aber lautete der Originaltext? Sie konnte sich nur undeutlich erinnern. Veronica kniff die Augen zusammen. Eine haarfeine Linie teilte die Inschrift waagerecht genau in der Mitte. Die untere Hälfte des Bildes sah leicht verschwommen aus. Also handelte es sich tatsächlich um das Foto einer Spiegelung. Wie seltsam. Sie konnte sich keinen Reim auf die Sache machen. ‚HE DIE‘ – er stirbt… oder starb – klang irgendwie bedrohlich. Das spitze Symbol zwischen den beiden Wörtern schien wie ein Pfeil nach oben zu zeigen, wo ein leicht pausbäckiger Paul von dem wesentlich größeren Foto auf sie herunterlächelte.

„Du musst damals ungefähr in meinem Alter gewesen sein, höchstens ein oder zwei Jahre älter“, dachte sie. „Gut, dass du nicht gestorben bist, Herzchen“ murmelte sie, „sonst wären der Welt viele großartige Songs entgangen.“ Auch ihr Onkel hieß Paul, erinnerte sie sich. Nur wenige trauerten um ihn. Die Welt war ungerecht – aber sie war voll guter Musik.

Veronica löste sich von McCartney‘s Gesicht, dann öffnete sie die Tür zum Verkaufsraum, um nach einem Sgt.-Pepper-Album suchen zu gehen. Sie wollte wissen, was die von der Spiegelung verdeckte Hälfte des Originalbilds zeigte.


Nachdem seine Tochter die Tür hinter sich geschlossen hatte, versuchte Zach den Raum durch die Augen eines Geschäftsmanns zu betrachten. Was war das Konzept hier? Bezüge zur Musik der 1960er und den Beatles stachen erwartungsgemäß überdeutlich hervor. Ein Großteil der Aktivitäten im Herzen Liverpools, zuvorderst Themenkneipen, Kitschbuden und Retro-Klamottenläden, verdienten so ihr Geld. Skulpturen von John Lennon, Brian Epstein, Cilla Black und selbst der fiktiven Eleanor Rigby aus dem gleichnamigen Beatles-Song verwandelten die Fußgängerzone in einen Themenpark, in den sich Campbell‘s Fab Store hervorragend einfügte. Die Backsteinfassade mit ihrer in Holz gefassten Ladenfront verlieh dem Laden jene historisch korrekte Ausstrahlung, die gleichermaßen zu dessen Inhalt wie auch zu dessen weiterer Nachbarschaft passte. Als Andenkenladen für die durch die Straßen ziehenden Beatles-Fans wirkte er jedoch zu farblos und bieder, als Antiquitätengeschäft wiederum zeigte er zu wenige großformatige Stücke. Zach kannte einschlägige Geschäfte, etwa den London Beatles Store in der Baker Street; einige weitere hatte er in der unmittelbaren Nähe des Fab Stores entdeckt. Sie überfrachteten ihre Schaufenster mit kleinteiligem Kitsch, während es im Inneren kaum Platz genug gab, zwischen den mit Waren dicht beladenen Ständern, Tischen und Regalen hindurchzugehen.

Pauls Schaufenster präsentierte sich dagegen schlicht. Links stand lediglich eine lebensgroße Holzstatue McCartneys in seiner Peppers-Uniform, befremdlicherweise mit dem Rücken zur Straße; in der rechten unteren Ecke der Glasfront hatte Paul die leicht verzerrten Konterfeis der Fab-Four vom Rubber Soul-Album angebracht. Das war alles. Passanten konnten daher ohne Mühe das Ladeninnere sehen – den ganzen, sehr aufgeräumt wirkenden Laden. Sicher, das hatte Klasse, aber der Mangel an Glitzer würde einem Mangel an hereingespültem Kleingeld entsprochen haben, rechnete er sich aus. Paul musste also, genau wie der Notar beschrieben hatte, seinen Unterhalt mit Stammkundschaft bestritten haben. Der Eindruck von Seriosität konnte da nur nützlich sein. Kleinkram wie die Autogrammkarten, Gitarrensaiten („wie George Harrison sie verwendete“) oder Broschüren zur Musikgeschichte der Stadt dienten wohl eher dazu, irrtümlich hereingeschneiten Andenkensuchenden einem Alibikauf anzubieten, der ihnen den ehrenhaften Rückzug gestattete.

Zachs Gedankengang wurde vom Bimmeln der Türglocke unterbrochen. Ein älterer Herr trat ein. Er trug einen langen grauen Filzmantel, dunkle Hosen mit Bügelfalten, schwarz glänzende Lackschuhe und einen breitkrempigen Hut, den er schon beim Durchschreiten der Tür abnahm. Darunter zeigte sich schütteres graues zur Seite gekämmtes Haar.

„Einen schönen guten Morgen, Sir!“, grüßte der Mann. Zach schätzte ihn auf Anfang sechzig, wohl situiert, gebildet. Ihm fiel auf, dass der Neuankömmling sich nicht umschaute, sondern seine Neugier direkt auf ihn richtete. Kein Andenkenjäger, vermutete er.

„Guten Morgen“, grüßte er freundlich zurück. „So früh schon unterwegs? Es hat doch noch kaum ein Geschäft geöffnet.“

„Ja, bedauerlicherweise hat die Rockdiskothek geschlossen“, erwiderte der Mann lächelnd, „Um so erfreulicher, diesen fabelhaften Laden wieder von Licht erhellt zu sehen. Ich hatte schon befürchtet, er gehöre der Geschichte an.“

„Nun, eigentlich ist er im Moment tatsächlich zu. Wir führen lediglich eine erste Bestandsaufnahme durch.“

„Darf ich nach Ihrem werten Namen fragen, Sir?“

„Zachary Ziegler“, erwiderte Zach. „Und Sie sind…?“

„Oh, verzeihen Sie. Wie unhöflich von mir. Mein Name ist Bishop. Thomas Henry Bishop. Mr Campbells Laden gehörte seit dem Augenblick seiner Eröffnung zu meinem festen Programm, wenn ich in die Innenstadt kam. Paul – Mr Campbell – war ein Meister darin, verschollene Perlen wiederzubeschaffen. Es gab nur wenige Wünsche, die er mir nicht erfüllen konnte. Ich schätzte ihn auch als feinen, intelligenten Menschen, der stets für eine tiefsinnige Konversation zu haben war. Welch ein Verlust…“

„Mein Beileid, Mr Bishop“, sagte Zach seiner eigenen gemischten Gefühle wegen unbeholfen.

„Papperlapapp!“, fuhr Bishop auf. „Es ist an mir, Ihnen mein Bedauern auszusprechen. Schließlich ist… war er Ihr Bruder, Mr Ziegler. Er hat manchmal von Ihnen erzählt. Nur Gutes, natürlich.“

„Das fände ich erstaunlich. Es ist viel Wasser die Themse hinunter geflossen, seit wir zuletzt miteinander gesprochen haben. Dennoch…“

„Wenn Sie einem Fremden gestatten, Ihnen einen Rat zu erteilen: Grämen Sie sich nicht. Die Gründe für sein Untertauchen lagen mehr in seinen eigenen Versäumnissen begründet als in einem vermeintlichen Verschulden Ihrerseits.“ Bishop schaute ihm ernst aber freundlich ins Gesicht. „Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, Mr Ziegler?“, fragte er und fuhr ohne auf eine Antwort zu warten fort: „Kommen Sie erst einmal zu sich, finden Sie sich in Ihrer neuen Umgebung zurecht und lassen Sie uns zu gegebener Zeit bei einer Tasse Tee über den lieben Paul sprechen.“

„Besten Dank, Mr Bishop. Sie sind der zweite Freund meines Bruders, der mir begegnet – und der zweite, der das anbietet.“

Der Ältere lächelte wieder. „Da sich ihm so viele verbunden und auch verpflichtet gefühlt haben, werde ich vermutlich nicht der letzte bleiben. Aber bitte: Nehmen Sie mein Angebot an. Es wäre mir eine Freude!“

Ein Impuls drängte Zach, Bishop die Hand zu reichen, und dieser ergriff sie. „Es wäre auch mir eine Freude. Ich komme mit Sicherheit darauf zurück. Sind Sie bald wieder in der Stadt, Mr Bishop?“

„Nennen Sie mich bitte Henry.“

„Einverstanden. Ich bin Zachary.“

Sie schüttelten einander erneut die Hände.

„Freut mich, Zachary. Was Ihre Frage angeht: Ja, recht häufig sogar. Ich nehme jeden Montag mein Frühstück im Bistro dort drüben am Eck ein.”

„Was führte Sie dann heute hierher?“

„Wie angedeutet liegt mir der Laden sehr am Herzen. Ein weiterer… Freund hat mich auf Ihr Eintreffen aufmerksam gemacht. Da wollte ich die Gelegenheit ergreifen, ein paar Worte mit Ihnen zu wechseln.“

„Das sprach sich ja schnell herum. Ich hatte den Eindruck, Liverpool sei etwas größer als ein Dorf.“

Der Ältere schmunzelte. „Eine Großstadt, ohne Frage, wenn auch weit abgeschlagen im Vergleich zu London. Die Sammlerszene ähnelt allerdings einer Familie.“

„Verstehe. Ich kann der Familie leider nicht versprechen, dass der Fab Store weiter bestehen bleibt. Wie gesagt fangen meine Tochter und ich gerade erst an, die Lage zu erfassen. Ich muss Ihnen zudem gestehen, dass wir zwar durchaus Freunde der analogen Technik sind, das Metier meines Bruders jedoch kaum kennen. Wir sind Privatermittler, keine Musikexperten oder Kaufleute. Wir wären auf fachmännische Hilfe angewiesen.“

„Man könnte auch Paul ohne Einschränkung als eine Art Privatermittler bezeichnen. Statt Personen hat er eben Dinge aufgespürt. Wenn Sie Ihre eigene Detektei betreiben, besitzen Sie genug kaufmännisches Wissen, um eine saubere Abrechnung zu erstellen. Und was die fachliche Expertise betrifft: Es gibt keinen besseren Ort, an solche heranzukommen. Vielleicht kann ich helfen. Erwähnte ich schon, dass Ihr Bruder Freunde hatte?“

„Am Rande. Lassen Sie mich darüber nachdenken. In ein paar Tagen sehe ich die Dinge bestimmt klarer.“

3) Tiefgarage

„Zwick mich!“, sagte Veronica, als sie wieder im Wagen saßen, die Yewtree Road verließen und nach Süden zu ihrem Hotel steuerten. „Autsch!“, kreischte sie. Der GT vollführte einen kleinen Schlenker. Ein entgegenkommendes Auto blendete die Scheinwerfer auf. „Das ist ja ganz und gar unglaublich.“

„Bis letzte Woche bist du in ausgelatschten Tennisschuhen herumgerannt, und plötzlich kannst du dir so viele Stöckels leisten wie einst Imelda Marcos,“ lachte Zach.

„Und genauso unverdient. Bis letzte Woche kannte ich keinen Onkel Paul; du hast dich im Streit von ihm getrennt, ihn seit zwanzig Jahren nicht gesehen, weißt weder, wie er gestorben ist noch wo er begraben liegt, aber von einem Tag auf den anderen macht er dich zum Millionär. Das ist ein kleines bisschen beunruhigend, oder?“

„Nur so lange, bis diese Fragen geklärt sind. Dr. Miller wird uns schon morgen alles erzählen, und dann…“

„Und dann was?“, bohrte Veronica. „Hängst du unsere Detektei an den Nagel, um alte Autogrammkarten berühmter Musiker an Touristen in Hawaii-Hemden zu verkaufen?“

„Wohl kaum. Dafür fehlt mir die Geduld. Andererseits…“ Er überlegte. „Paul wird sein Vermögen sicher nicht mit Kleinkram gemacht haben. Die Immobilie mitten im Stadtzentrum war sicher enorm teuer. Ihr Kauf hätte sich nur gelohnt, wenn der Laden auch in großem Maßstab Gewinn abzuwerfen versprach. Er wird Raritäten und Unikate gehandelt haben: Cobains letzte Gitarre, die Kulissen vom Pepper-Album der Beatles oder irgendwelche Beethoven-Manuskripte. Dafür spricht auch, dass sich der geschätzte Verkaufswert der noch vorhandenen Waren auf über drei Millionen Pfund beläuft.“

„Man muss sich in der Materie gut auskennen, um aus altem Schrott Geld herauszuschlagen,“ wandte Veronica ein. „Im Gegensatz zu Briefmarken gibt es für seltene Memorabilien bestimmt keine Kataloge oder Preislisten. Du brauchst eine gute Nase, um geeignetes Material aufzuspüren und musst Kontakte zu Sammlern pflegen, um abschätzen zu können, was man an wen für wie viel Kohle weiterverscherbeln kann. Onkel Paul hatte von seiner Zeit beim Sender her bestimmt erstklassige Verbindungen in die Szene. Wir hingegen werden jemand damit beauftragen müssen, den Laden weiterzuführen oder abzuwickeln, sonst verwandelt sich diese Goldgrube in ein schwarzes Loch.“

Zach nickte. „Da hast du wahrscheinlich recht. Aber schauen wir uns die Sache doch erst einmal an, ehe wir voreilige Schlüsse ziehen.“

„Yep. Ich bin dafür, dass wir an der nächsten Pizzeria halten und ordentlich Ballast aufnehmen. Ich komme mir vor, als schwebte ich einige Zentimeter über dem Boden. Mir schwirrt der Kopf.“

„Rate mal, wem noch,“ grunzte Zach.


Am nächsten Morgen schliefen die beiden aus. Sie ließen das Hotelfrühstück sausen – zur Enttäuschung all jener, die gehofft hatten, einen weiteren Auftritt Ludwig Lederrachens erleben zu dürfen – und suchten stattdessen einen Pub auf, der Brunch servierte. Nachdem sie ausgiebig gespeist hatten, steuerte Veronica den Wagen wieder in die Yewtree Road. Mrs Jones ließ sie ein und übergab ihnen einen Ordner mit Unterlagen sowie ein Inventarverzeichnis mit der Aufschrift ‚Campbell‘s Fab Store‘. „Nehmen Sie doch einen Augenblick Platz.“ Sie deutete auf den Eingang zum Wartezimmer. „Dr. Miller wird in wenigen Minuten mit den Haustürschlüsseln eintreffen.“

Zach legte die Papiere auf einen Stuhl neben Veronica, die sich gesetzt hatte. Wieder packte ihn eine seltsame Unruhe. Er begann, wie bereits am Vortag, die Fotos zu inspizieren, die in solch scharfem atmosphärischen Kontrast zu den heiteren Gemälden über ihnen standen: Eines zeigte die vier Pilzköpfe in schwarze Kutten gekleidet, die Gesichter weitgehend im Schatten der Kapuzen verborgen. Auf dem nächsten sah man einen Mann, dessen Gesicht von Bandagen verdeckt war, vor einer Kulisse mit exotischen Pflanzen stehen, zusammen mit einer Person, die eine Hornbrille trug und ihn um fast einen Kopf überragte. Auf einem weiteren Foto präsentierte ein formell gekleideter älterer Herr eine auf ein Samtkissen gebettete historische Waffe, vielleicht eine Streitaxt oder ein Kriegshammer. Ihm gegenüber stand John Lennon mit hängenden Schultern, sichtlich übernächtigt.

Zach wollte seine Tochter fragen, was sie über die Szenen dachte, wurde aber, genau wie am Vortag, unterbrochen – diesmal von Veronica selbst, die das Inventarbuch studiert hatte. „Phantastisch!, Du wirst staunen, was Onkel Paul alles in seinem Laden angeboten hat,“ sagte sie aufgeregt. „Die Trümmer der Gitarre, die Jimi Hendrix auf dem Isle of Man-Festival gespielt hat; ein Zombie-Kostüm namens Eddie, mit dem jemand auf Iron Maidens Killers-Tour über die Bühne wankte; eine Perücke von Tina Turner aus der Zeit mit Ike. Und ja, tausende von Autogrammkarten, alte Ausgaben von Musikzeitschriften, signierte Plektren, Vinylscheiben und anderer Klimbim, aber die wertvollsten Stücke stammen fast alle von den Beatles. Er hat sie auf Bestellung beschafft. Hier, das sind die Namen der Käufer, dahinter der vereinbarte Preis. Wären wir nicht solche Intelligenzbestien würde ich sagen, wir haben mehr Glück als Verstand.“ Sie grinste. Dann bemerkte sie seine Miene. „Was ist?“

Die Tür ging auf, Dr. Miller trat ein.


Sie folgten dem SUV des Notars in die Innenstadt von Liverpool. Die Straßen waren um diese Zeit nur mäßig befahren, so dass sie es in einer Dreiviertelstunde schafften. Statt ihnen einfach nur die Schlüssel zu Laden, Wohnung und Fahrzeug zu überreichen, hatte Dr. Miller angeboten, die Räumlichkeiten für sie zu öffnen. Es gebe einiges zu beachten, sagte er, das er ihnen vor Ort zeigen werde, und er wolle auch seinem Versprechen nachkommen, etwas über die Umstände von Mr Campbells Tod zu erzählen. Und so bogen sie schließlich in die Victoria Street ein, rollten über eine steile Rampe in eine Tiefgarage und fädelten in die ziemlich engen Nischen ein. Es gab nur wenige freie Plätze, so dass die beiden Fahrzeuge in einiger Distanz zu einander standen. Parkplätze, erklärte Dr. Miller, nachdem sie schließlich gemeinsam über eine Treppe auf Straßenniveau zurückgekehrt waren, seien Mangelware so nahe am Touristenzentrum. Es gebe jedoch reservierte Buchten für die Anwohner. Auf einer solchen stehe auch Mr Campbells Wagen. Ob sie ihn gleich sehen wollten?

„Ist es weit?“, fragte Veronica.

„Nein, er befindet sich auf dem Weg zum Laden,“ erwiderte der Notar.

„Dann zeigen Sie uns den Weg,“ meinte Zach.

Über den unscheinbaren Nebeneingang eines Restaurants betraten sie ein Treppenhaus, das sie wieder unter die Erde führte. Durch eine Stahltür gelangten sie auf ein weiteres Parkdeck – ausschließlich für Anlieger –, in dessen entlegenstem Eck sie eine verschlossene Garage erwartete.

Zach sah Miller fragend an. „Ist das nicht ein bisschen übertrieben für einen alten Wagen?“

Miller lachte. „Nicht irgendeinen alten Wagen – einen der Austin Mini Cooper S, die Epstein 1965 für die Beatles besorgt hat! Das Fahrzeug wurde von Harold Radford den Sonderwünschen des Käufers angepasst und wäre schon allein deshalb kein Besitz, den man unbeaufsichtigt am Straßenrand stehen lässt.“ Er zückte einen Schlüsselbund, öffnete das Garagenschloss, drehte am Knauf und riss das Rolltor auf. Ohne nennenswertes Geräusch glitt es nach oben, bis es in eine Haltestellung geriet. Hinter der Öffnung war automatisch eine Serie von Wandlampen angegangen. Sie tauchten einen kastenförmigen Kleinwagen, dessen salbeigrünes Heck ihnen zugewandt war, in warmes Licht. Der cremefarbene Lack des Dachs glänzte wie neu.

„Nett,“ ließ Zach mit einer Stimme vernehmen, der man eine gewisse Enttäuschung anmerken konnte. „Hat im Inventar nicht ‚Aston‘ gestanden?“

Miller lachte erneut. „Nein, Austin. Sie haben einen Aston Martin erwartet, einen DB5, wie James Bond ihn in ‚Goldfinger‘ fuhr, nur silberblau? McCartneys Aston Martin?“

„So ungefähr,“ gab Zach zurück.

„Der würde mir auch gefallen. Er ist leider in festen Händen, seit er vor vier, fünf Jahren für fast anderthalb Millionen Pfund in einer Auktion den Besitzer wechselte. Ich gebe zu, der würde zu Ihnen passen – und zu dem Sportwagen, den Ihre Tochter fährt.“ Wieder warf der Notar Veronica diesen eindringlichen Blick zu. Veronica starrte zurück.

„Wissen Sie, welchem der Beatles der Mini gehört hat?“, unterbrach Zach das Augenduell.

Miller musterte ihn für ein paar Sekunden, ohne eine Miene zu verziehen. „In Sammlerkreisen“ – er betonte das Wort auf eine Weise, die eine viel kleinere Personengruppe andeutete, als es normalerweise bezeichnete – „steht die Nummer ‚LGF 696D‘ für einen Wagen, der vor vielen Jahren spurlos von der Bildfläche verschwunden ist; nun, nicht ganz spurlos. Mr Campbell hat seine Beziehungen spielen lassen und ihn vor drei Jahren wieder aufgetrieben. Er steht mit einem Schätzwert von 183.000 Pfund im Inventar – angelehnt an den Erlös der Auktion, in der McCartneys Exemplar im September 2018 unter den Hammer kam. Aber Mr Campbell war weder dumm noch ungeduldig. Er konnte warten…“

„Warten? Worauf?“, warf Veronica ein.

„Darauf, dass der richtige Mann in sein Leben trat,“ erläuterte Miller. Er seufzte. „Die Welt ist so kurzatmig geworden. Für einen schnellen Riss verwerfen die Leute oft ihre gesamte Zukunft. Und wenn sie den kleinen Vorteil, den sie auf Kosten langfristigem Wohlstand einheimsen konnten, verspielt haben, stehen sie allein und mit leeren Händen da. Paulus Campbell war nicht so. Er war Teil von etwas Größerem, und er handelte vorausschauend. Und er wusste, man muss nur lange genug warten, bis der richtige Sammler zum richtigen Zeitpunkt erscheint – jemand, der ein Medienereignis oder einen Jahrestag zum Anlass nimmt, um sich John Lennons Mini Cooper zum gleichen Preis zu leisten, wie andere für Paul McCartneys Aston Martin DB5 bezahlt haben.“

„Das ist nicht Ihr Ernst?“ Zach hob skeptisch eine Braue.

„Es war Mr Campbells Erfolgsgeheimnis. Es funktionierte bei jedem einzelnen Stück, das er aufspürte, um es weiterzuverkaufen.“

„Nur, dass er dieses Mal zu lang gewartet hat.“

„Nun, er konnte ja nicht wissen, dass er so schnell aus dem Leben gerissen würde. Und hätte er gewusst, dass man ihn ermordet, hätte ihm der Erlös aus einem schnellen Verkauf auch nichts genützt.“

„Da haben sie natürlich re… Wie bitte? Sagten Sie gerade ‚ermordet‘?“

„Mein Beileid, Herr Ziegler, das ist leider das Schicksal, das der Herr Ihrem Stiefbruder zugemessen hat.“