25) Jenseits von 1984

Der eiförmige weiße Kleinwagen verstopfte noch immer die Durchfahrt unter dem Vordach des Haupteingangs zum Schloss. Während Veronica wenig geschickt die Tür des GT aufzuschließen versuchte, musterte Zach das Nummernschild des Käfers erneut, da er in verschiedenen Datenbanken nach ihm zu suchen gedachte. Schließlich wurde die Beifahrertür von innen entriegelt. Während er einstieg, brauste der Motor auf. Der Sportwagen setzte zurück, bis er die Stelle erreichte, wo die beiden Äste der Zufahrt sich wieder vereinten. Dann schoss er auf Geheiß von Veronicas Stiefel aus dem Hof des Schlosses hinaus, durch den Park und den kleinen Wald bis zur Mauer. Das Tor stand offen. Ohne zu zögern lenkte die Fahrerin den orangefarbenen Blitz auf die Landstraße Richtung Liverpool.

Eine Weile sagte niemand etwas. Veronica verunsicherte die Häufigkeit, mit der sie in der letzten Zeit schockiert worden war. Zach sorgte sich wegen der dunklen Szenerie, die sich aus den neuen Informationen herauszuschälen begann. Nahm er die Million an, die Kite angeboten hatte, betrat er eindeutig kriminelle Gefilde. Der Staat kannte keine Gnade mit jenen Untertanen, die ihm Steuern vorenthielten. Für Leute vom Schlage des Wallace-Schlossherrn war der Staat keine Bedrohung; der Mann gehörte zu jener schmalen Schicht, die den Apparat ihrem Willen gefügig machten. Zach aber wurde erpressbar. Lehnte er das Geld dagegen ab, blieb er ein Außenseiter und war in Liverpool erledigt. Dann konnte er den Fab Store genau so gut schließen. Die beiden Bedingungen, die Kite für ihre Aufnahme in die Familie gestellt hatte, waren praktisch ein und dieselbe. Geschickt eingefädelt. So also wurde man Mitglied einer elitären Loge – und blieb ein Leben lang an sie gekettet. Politik, Justiz, Polizei, Handel, Industrie, Adel, Geheimdienste; schon hier in dieser aufgeblasenen Mittelstadt im englischen Abseits wurde ein holografisches Abbild der mafiösen Durchdringung sämtlicher Leitungspositionen sichtbar, an der klandestine Gruppen unermüdlich weiterwebten.

Tiefenstaat, Freimaurertum, Mafia, Regierungen, Finanzkraken und die industriellen Komplexe, von denen in sozialkritischen Zirkeln allenthalben die Rede war, stellten lediglich unterschiedlich benannte Ausschnitte ein und desselben Netzwerkes dar, das sich unter völligem Ausschluss der weit über neunzigprozentigen Mehrheit an den Gütern der Erde sowie der Arbeitskraft von Mensch, Tier und Maschine bereicherte. Wenn er die Million annahm, baute er an ihrer ‚Neuen Welt-Ordnung‘ mit, dem Projekt zur vollständigen Versklavung der Menschheit. Die meisten Menschen hielten die NWO für eine paranoide Verschwörungstheorie. Dabei machten diejenigen, die sie anstrebten, aus ihren steinernen Herzen keine Mördergrube. Wollte man sie vor Gericht ziehen, würde es an Beweisen nicht im Mindesten mangeln. Aber natürlich lagen auch die höheren Richter im selben Bett wie die niemals Anklagbaren. Letztere waren eine winzige Minderheit, der höchstens einer unter zehntausend Menschen angehörten.

Leider war es ihnen im Lauf der Jahrhunderte gelungen, die Wahrnehmung ihrer Schafherde mit größer werdendem Erfolg nach Belieben zu formen, so dass die Mehrheit die Interessen ihrer Eigentümer, der Hirten und der Schäferhunde völlig selbstverständlich für die eigenen hielt. Schlimmer noch: Sie war sich der Existenz der Eigentümer überhaupt nicht bewusst. Die, die aus glückseliger Unwissenheit erwachten, sahen sich vor eine harte Entscheidung gestellt: entweder auf die ‚Segnungen‘ der Einbettung in den Mastbetrieb zu verzichten und damit aus dem sozialen Kontext, der Herde, weitgehend herauszufallen, oder vorsätzlich Verrat an der eigenen Spezies zu begehen, indem man zugunsten seines Vorankommens andere Schafe vom Ausscheren abhielt. Wer beruflichen oder sozialen Erfolg haben wollte, beugte sich dem Druck. Die ganze Welt war eine verdammte Schaf-Farm, eingeteilt in nationale Pferche unterschiedlicher Größe.

Gehörte Kite zur Kaste der Eigentümer? Eher unwahrscheinlich‚ vermutete Zach. ‚Nutznießer‘ hatte auf der Visitenkarte des Schlossherrn gestanden. Seine Familie musste relativ weit oben bei den Schäfern rangieren. Als Nachkomme von William Braveheart Wallace in der dreißigsten Generation hatte er alten schottischen Adel beansprucht. Er hatte von seinem ‚Großvater und den verbliebenen drei Beatles‘ gesprochen, behauptete also, der Enkel Sir Pauls, genauer gesagt von Billy Shears alias William Shepherd zu sein. Shepherd, der Schäfer. Namen waren nicht immer Schall und Rauch.

„Dad?“

Zach schrak aus seinen Gedanken auf. Durch die Windschutzscheibe sah er die ersten Häuser am Stadtrand von Liverpool. Die Landschaft war vor seinen offenen Augen an ihm vorbeigezogen, ohne dass er sie wahrgenommen hatte. „Ja, was gibt‘s, Kiddo?“, fragte er zurück.

„Wer ist dieser Maxwell Knight?“

„Wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, war er der Leiter des MI-5, Inlandsgeheimdienst ihrer Majestät, der Königin von England. Man sagt, er sei das Vorbild für die M-Personalie in den James-Bond-Filmen gewesen. Wie es scheint, haben ihn auch die Beatles in einem Song verewigt.“

„Glaubst du, dass der alte Knacker auf dem Foto Paul McCartney diesen Hammer über den Schädel ziehen konnte?“

„Das halte ich für den am wenigsten wahrscheinlichen Hergang – es sei denn, er hatte Helfer, die Paul festhielten. Der mochte vom Unfall noch benommen gewesen sein, aber er war ein junger, kräftiger Mann von Mitte Zwanzig.“ Zach grübelte ein paar Augenblicke, bevor er weitersprach. „Ich werde mir immer unsicherer, was von all den… Fakten… überhaupt mit der Wirklichkeit Verbindung hat. In gewissem Sinne befinden wir uns vierzig Jahre jenseits von 1984. Das Wahrheitsministerium veränderte die Geschichtsschreibung zwar fortlaufend, aber es gab in Orwells Roman zu jedem Zeitpunkt nur eine gültige Version davon. Das war das Fundament der Herrschaft der Partei. In unserer Welt dagegen gibt es so viele nebeneinander stehende Wahrnehmungen und übereinander liegende Schichten der Realität, dass niemand sagen kann, was tatsächlich geschah.“

„Ja. Nach allem, was wir wissen, sagt keine Quelle ‚die Wahrheit, die ganze Wahrheit, und nichts als die Wahrheit‘. Gibt es sie überhaupt?“

„Sicher, und mit dem passenden geistigen Werkzeug lässt sie sich oft auch finden. Das beinhaltet, dass du neben den Medien auch deiner eigenen Wahrnehmung misstrauen musst, weil sie von dem Ozean an Unwissen, Filtern, Linsen, Falschinformationen, dysfunktionalen Denkmustern und mangelnder Weisheit geprägt wird, in dem wir alle schwimmen. Wenn du es allerdings in unbedarfter Weise, ohne das Werkzeug versuchst, wirst du paranoid. Dann rennst du dir in einem Irrgarten das Hirn blutig, dessen Wände aus Propaganda, Einbildung und Verschwörungstheorien gebaut sind. So kann man nicht leben.“

Veronica gluckste, als habe sie einen besonders fiesen Witz gehört. „Das erinnert mich an ein Zitat von Robert Anton Wilson aus der Einleitung zu seinem Buch Das Lexikon der Verschwörungstheorien. Er beschreibt so ungefähr, was du gerade erläutert hast, und kommt zu dem Schluss, dass Hunde wahrscheinlich die einzigen Leute sind, die dem Menschen überhaupt noch trauen, aber ihm sei aufgefallen, dass selbst die Hunde neuerdings Zweifel hegten.“

Ihr Vater warf den Kopf zurück und lachte lauthals. Veronica fiel mit ein. Es war wieder so weit: Sie sahen die Absurdität der Welt beide zugleich in völliger Klarheit. Der Kaiser war splitterfasernackt, eine Witzfigur mit Hühnerbrust, O-Beinen und einem winzig kleinen Schniedel. Sie steuerte den GT an den Straßenrand, damit sie sich in aller Hysterie ausschütten konnten. Humor befreite die belagerte Seele.


In den Rainford Gardens angekommen stieg Veronica zielstrebig die Treppen hinauf. Ein Gedanke ging ihr im Kopf herum, den sie am Tisch in Onkel Pauls Studierzimmer zu verifizieren suchte. Die Geschwindigkeit, in der der Rechner betriebsbereit war, überraschte sie noch immer, aber sie ließ sich nicht ablenken. Sie rief Quellen zu Freimaurerei und Numerologie auf, um einen Überblick zu bekommen. Die Darstellungen verwirrten sie mehr, als dass sie Orientierung gaben. Manche beschrieben die Freimaurer als einen Club schrulliger Männer, die Geld für wohltätige Zwecke sammelten und alten Damen über die Straße halfen. Andere stellten sie als sinistre Geheimniskrämer dar, die Regierungen und sonstige mächtige Organisationen unterwanderten. Wieder andere sahen in ihnen Diener Satans, die kleine Kinder in schwarzen Messen opferten. Sie waren in Orden beziehungsweise Logen organisiert, aber sie fand daneben zahlreiche Gruppen und Körperschaften, denen nachgesagt wurde, sie seien freimaurerische Frontorganisationen.

Sie suchte nach einer Verbindung zu den Beatles, wurde mit Treffern überschüttet, fand jedoch wenig, das konkrete Hinweise auf eine Mitgliedschaft gab. Freimaurersymbolik zog sich jedoch in auffälliger Häufigkeit unverhohlen von den frühesten Tagen bis zur Gegenwart durch. Albencover und Fotos waren regelrecht gespickt damit. Immer wieder tauchten außerdem Verbindungen zu Ordensgründer Aleister Crowley auf. Als sie entdeckte, dass er gleich zwei Mal auf dem Titelbild des Sgt.-Peppers-Albums vertreten war, stieß sie halb amüsiert, halb beunruhigt Luft durch die Nase aus. Dieses Ding schien wirklich der Dreh- und Angelpunkt in der ganzen Beatles-Geschichte zu sein.

Dann probierte sie, den Einstieg über die Numerologie zu erhalten, doch auch hier kam sie nicht weiter. Es gab verschiedene Systeme in verschiedenen Kulturen, die sich teilweise überlappten. Eng damit verbunden waren Kabbalistik, Astrologie, Tarot, Okkultismus und natürlich das Freimaurertum. Die Sache schien ihr alles andere als trivial. Ohne konkrete Anhaltspunkte würde sie Monate brauchen, sich tief genug einzuarbeiten.

Sie überlegte. Es forderte Überwindung, die Nachforschungen aufzunehmen, die sie nun in Angriff nahm. Veronica vermutete hier den direktesten Zugang zu der Frage, die sie beschäftigte: War der Wechsel geplant gewesen, und wenn ja, weshalb? Erst gestern hatte Maria sie mehrfach erwähnt, dass es im Grunde – besonders bei den Freimaurern – keine Zufälle gab. Sie hatte ausdrücklich darauf hingewiesen, ein Todesfall am 11.9. mache eine rituelle Opferung höchst wahrscheinlich; auch Billy Shears habe das in den Raum gestellt. Trotzdem war sie durch die Worte Mr Kites heute wie von einem Hammerschlag getroffen worden: „John und Paul hatten einen faustischen Handel abgeschlossen, und Paul hat den Preis dafür gezahlt.“

Die Detektivin holte tief Luft. Zunächst musste sie das Feld abstecken. Um was ging es konkret? Was verstand man unter einem ‚faustischen Handel‘? Die Suchmaschinentreffer lieferten mehrere alternative Bezeichnungen zu ihrem Suchbegriff, darunter ‚faustischer Pakt‘ und ‚Teufelspakt‘. Sie überflog natürlich den Wikipedia-Artikel. Auch die vierte Szene aus Goethes Drama Faust stand weit oben in der Liste. Veronica las ihn sorgfältiger. Faust, ein Mann von großer Neugier und noch größerem Ehrgeiz, geplagt jedoch von allerlei Ängsten, entsagt Gott, von dem er sich verlassen fühlt. Er verschreibt seine Seele dem Teufel, der in Gestalt des Dämons Mephistopheles in sein Haus eingedrungen ist und ihm verspricht:

Ich will mich hier zu deinem Dienst verbinden, / Auf deinen Wink nicht rasten und nicht ruhn; / Wenn wir uns drüben wiederfinden, / So sollst du mir das gleiche tun.

Veronica glaubte nicht an den Teufel. Sie vermutete in ihm einen Buhmann, den man benutzte, um Kindern Wohlverhalten beizubringen oder Narren die Furcht zu lehren. Trotzdem lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken, als sie die Zeilen las. Goethes detailversessene Beobachtungsgabe der menschlichen Psyche verdankte das Werk seine bleibende Faszinationskraft über zwei Jahrhunderte hinweg. Hatte er den Teufel für wirklich gehalten? Oder war Mephisto lediglich eine allegorische Figur, ein Symbol für… was?

Ihr fiel auf, dass Mephisto Fausts Seele forderte, nicht sein Leben. Das mochte eine vielleicht entscheidende Differenz zum Fall McCartney darstellen. Mephisto konnte warten, denn egal, wie viele Jahre Faust am Leben blieb, gegen die Ewigkeit des Jenseits blieben sie verschwindend gering. Die Mörder Pauls schienen es dagegen eilig gehabt zu haben. Das Opfer durfte nur 24 Jahre alt werden. Veronica fütterte die Suchmaschine nun mit Beatles & Faust, dann mit Beatles & Teufelspakt. Sie stieß auf einen Artikel, der sie regelrecht elektrisierte. Mit einer Deutlichkeit, die kaum zu wünschen übrig ließ, legte er John Lennon die Worte in den Mund: „Ich habe meine Seele an den Teufel verkauft“. Als Quelle gab er ‚Joseph Niezgoda‘ an.

Es dauerte nur Sekunden, bevor sie auf eine ausführlichere Referenz stieß: The Lennon Prophecy, ein Buch, das „eine Neuprüfung der Todeshinweise bei den Beatles“ vornahm. Das musste eigentlich im Bestand des Ladens oder einer der beiden Hausbibliotheken vorhanden sein. Sie schaute sich im Raum um. Wo war die Musikabteilung? Ah, dort drüben. Sie ging ans Regal, überflog die Titel auf den Buchrücken und hatte den zweihundertseitigen Band schnell gefunden. Sie hoffte, dass er ein Register besaß – Uff! Glück gehabt. Die Zahl der Verweise auf Teufel, Satan und Faust war hoch, doch sie hatte erneut Glück. Bereits einer der ersten Indexeinträge, die sie nachschlug, führte sie zum Zitat. Laut Niezgoda hatte John Lennon es Mitte der 1960er auf dem Höhepunkt der Beatlemania seinem Freund Tony Sheridan gegenüber geäußert. Der Autor gab sogar eine Quelle an: Ray Colemans Definitive Lennon-Biografie, Seite 348. Die reinste Schnitzeljagd! Stünde die Bibliothek ihres Onkels nicht in Griffweite, könnte eine saubere Recherche Tage oder Wochen dauern. Sie stellte den Niezgoda zurück an seinen Platz und überflog die Buchrücken erneut.

Da! Sie zog den Coleman heraus, schlug die angegebene Seite auf, und… konnte das Zitat nicht finden. Sie las die gesamte Seite mehrfach, überflog auch den Text davor und danach – nichts! Und nun? Hatte Niezgoda fantasiert? Sie prüfte das Impressum des Buchs. Nach einer Weile bemerkte sie endlich, dass sie die Ausgabe eines anderen Verlages in Händen hielt. Nun warf sie einen Blick ins Register; der Verweis dort führte sie zu einer gänzlich anderen Seitennummer, aber hier war es: Um den unglaublichen Erfolg seiner Band zu erklären, sagte John zu Tony: „Ich habe meine Seele an den Teufel verkauft.“ Er solle den Satz angeblich nur nebenbei geäußert haben, aber Tony habe sofort verstanden, was John meinte. Woher das Zitat stammte, gab Coleman nicht an. Aus Aussagen an anderer Stelle wurde klar, dass der Autor den Beatles häufig persönlich begegnet war, und so konnte Veronica nur vermuten, dass Coleman als Ohrenzeuge berichtete. Der sechszeilige Absatz, der die Begebenheit beschrieb, stand darüber hinaus in keiner Kontinuität mit den umliegenden Teilen des Kapitels, in dem es um ‚Geld‘ ging. Ob John Lennon den Teufel aus Jux, im übertragenen Sinn oder im Ernst erwähnte, ließ sich so nicht feststellen. Nur im Zusammenhang mit den anderen Indizien trug der isolierte Datenpunkt zum Entstehen eines Bildes bei. Dass zahlreiche weitere Musiker und Schauspieler von Bob Dylan über Jimmy Page, James Hetfield und Katie Perry bis Eminem teils in identischen Worten die Quelle ihres Erfolges benannten, wie Veronica herausfand, verlieh John Lennons Zitat jedoch ein höheres Gewicht.

In Gedanken versunken saß sie im Pilotensmöbel an Pauls Arbeitstisch und überlegte, wie sie weiter vorgehen sollte. Da vernahm sie eine Stimme aus dem unteren Stockwerk, deren fröhlicher Klang ihr Gefühl von Bedrückung zu verspotten schien. Daher verstand sie zunächst nicht, was sie hörte. Als sie sich auf das Geräusch konzentrierte, drang schließlich zu ihr durch, dass jemand lachte; völlig hysterisch lachte.

21) Ankunft in Wallace Castle

Als sie Liverpool hinter sich gelassen hatten und einer kurvigen Straßen in nördlicher Richtung folgten, hatte Veronica wieder größere Freude hinter dem Steuer. Sie mochte den Stadtverkehr überhaupt nicht. Landstraßen und Autobahnen gaben dem GT mehr Gelegenheit, seine Fahreigenschaften zu präsentieren. Manche nannten ihn eine Heckschleuder, aber Veronica fand, es mangelte jenen Leuten an Feingefühl beim Spiel mit Lenkrad und Pedalen. Jedes Vehikel besaß seine eigene Physik und jede Straße ihre eigenen Herausforderungen. Dass die Eigenschaften einer Straße beim Fahren berücksichtigt werden mussten, verstand sich von selbst. Was also war das Problem mit den spezifischen Eigenschaften dieses Autos? Sie erspähte eine enge Biegung in einiger Entfernung, ging vom Gas und schaltete einen Gang hinunter. Während sie mit genau der richtigen Geschwindigkeit und nur der Ahnung quietschender Reifen durch die Kurve rollte, um danach sofort wieder zu beschleunigen, dachte sie, dass sie dieses Gefühl wirklichkeitsnahen Reisens, das ihr der GT gewährte, lieber mit einem Fahrrad tauschen würde als mit elektronisch betreutem Fahren.

Mit wenigen Ausnahmen hielten die Leute sie und ihren Vater für Sonderlinge, weil sie Dinge gern selbst taten, Gegenstände lieber selbst reparierten und Zusammenhänge so oft als möglich selbst ergründeten. Die beiden Detektive fühlten sich unwohl, wenn Bildschirme oder staatlich zertifizierte Experten sie von den Schrauben und Zahnrädern eines Getriebes fernhielten. Sich in Fremdsteuerung, egal wie geringfügig, zu begeben, machte Menschen faul – und weich in der Birne, fand Veronica. Elektronische Unterstützung, Krankenkassen, Lohnarbeit, Expertentum oder die öffentliche Meinung konnten eine ebenso unwiderstehliche Abhängigkeit bewirken wie Tabak, Alkohol oder Drogen. Letztlich erzeugte jedes solche Verhältnis eine Daseinsunfähigkeit, die den Benutzer direkt in die Ketten von geld- und machthungrigen Strukturen führte. Wie viele Menschen verstanden, dass der Weg zu einem angestrebten Ziel genauso Teil des Lebens war und mindestens so viel Freude bereitete, wie dort angekommen zu sein? Wie viele schafften es, das Klingeln des Telefons zu missachten? Wie viele hielten es wochenlang ohne Internet aus? Wer traute sich zu, seinem Bauchgefühl zu glauben statt der Diagnose eines Arztes? Wer leistete es sich, dem Chef, dem Nachbar, dem Lebenspartner, der Mehrheitsmeinung auch dann zu widersprechen, wenn das potenziell mit Opfern verbunden war? – Eben!

„Ich glaube, wir haben die Adresse gleich erreicht. Das Gebäude dort drüben auf dem Hügel dürfte Wallace Castle sein“, unterbrach ihr Vater den Gedankengang. „Mann, das ist keine Villa sondern ein Palast.“

Die Fassade der dreiflügeligen Anlage in neugotischem Stil bestand in der Hauptsache aus großen Maßwerkfenstern und war von Zinnen bekrönt. An allen Ecken des Gemäuers ragten filigrane Erker heraus, die sich turmartig über der Traufhöhe fortsetzten. Über den glänzenden Dachpfannen erhoben sich zahlreiche Schornsteine. Das Gebäude war von einem Park, der Park von einem Wäldchen, und das Wäldchen von einer hohen Mauer umgeben. Wallace Castle überblickte das Tal, durch das die alte Handelsstraße von Liverpool ins schottische Hochland verlief, und auf der sie sich ihm näherten. Sie brauchten mehr als fünf Minuten, um das kunstvoll geschmiedete Tor in der Mauer zu erreichen, durch das der Weg zum Schloss führte. Als der Wagen davor zum Stehen kam, stieg Zach aus, um auf ihre Ankunft aufmerksam zu machen, doch er konnte keine Klingel entdecken. Ein rotes Blinken schräg über ihm verriet die Position einer aktiven Überwachungskamera. Der Detektiv hatte sie kaum entdeckt, als sich auch schon die beiden Flügel des Tors nach rechts und links zurückzogen.

Zach stieg wieder ein. Er und Veronica blickten einander an. Sie zuckte die Achseln und steuerte den Sportwagen langsam durch die Öffnung auf eine Pflasterstraße, die sich in langen Kurven durch den Wald nach oben wand. Als sie die letzten Bäume passiert hatten, raubte die Kulisse ihnen für einen Moment den Atem. Niedere, präzise getrimmte Büsche formten im Verband mit Blumenrabatten einen Park voller Labyrinthe, Muster und Symbole. Mehr als einen flüchtigen Blick auf den französischen Garten gestattete die Ehrfurcht gebietende Prachtfassade von Wallace Castle, der sie sich jetzt näherten, jedoch nicht. Die Zufahrt führte nun genau auf die Mittelachse des Schlosses zu. Zwischen den beiden Gebäudeflügeln teilte sie sich in zwei Arme, die unter dem Dach einer Vorhalle wieder zusammenfanden. Veronica nahm den linken und brachte den GT direkt vor der Fassade der Halle zum Stehen. Den Platz jenseits der spitzbogenförmigen Durchfahrt, direkt vor dem Haupteingang, belegte bereits ein Auto, mit dem sie, weil es an diesem Ort völlig unstandesgemäß wirkte, nicht gerechnet hätten. Dem auf Hochglanz polierten makellosen weißen Lack des Volkswagens zufolge hätte man zwar ein Fahrzeug frisch vom Band vermuten können, aber natürlich wurden heutzutage keine Käfer mehr hergestellt.

Erneut schauten der Detektiv und seine Tochter sich gegenseitig an. „Er hat wohl weiteren Besuch“, vermutete Zach. Veronica zog den Zündschlüssel ab. Sie öffnete die Fahrertür und stieg aus. Auch Zach stieg aus. Sie gingen entlang der eleganten Motorhaube des GT auf den Eingang zu. Amüsiert betrachteten sie im Vorbeigehen das eiförmige Fahrzeug, dessentwegen sie draußen parken mussten und das hier so völlig deplatziert wirkte. Zum Glück regnete es nicht. Routinemäßig musterte Zach das gelbe Nummernschild – eine Marotte, die ihm mehr als ein Mal geholfen hatte, Fälle zu lösen. „LMW 281F“, sprach Veronica aus, was sein Geist gerade abzuspeichern im Begriff war.

Es freute ihn, wie gut sie ihr Handwerk beherrschte. Als er selbst dreiundzwanzig Jahre alt gewesen war, hatte er nicht nur einen Gutteil seiner Schulbildung vergessen; er war mehr an Tagträumen, Literatur und nächtlichen Diskussionen mit Kommilitonen interessiert gewesen als an seiner Ausbildung. Er hatte seine Jugend genossen, wie es ihm in den Sinn gekommen war: pflichtvergessen. Manchmal befürchtete, dass er Veronica durch die frühe Einbindung in die Detektei die Möglichkeit genommen hatte, sich wie andere Mädchen ihres Alters zu entwickeln. Aber so wenig er selbst sich als junger Mann für Sex & Drogen & Rock‘n‘Roll interessiert hatte, kümmerte sie sich um Boygroups, Frauenabende oder den Austausch von Kochrezepten. Es hatte ihr Spaß gemacht, Logikrätsel zu knacken, mit den Harley-Freaks an Motorrädern herumzuschrauben und ihrem Vater einige Routinetätigkeiten abzunehmen. Sie besaß Talent, das hatte er schnell bemerkt. Als sie ihre pubertäre Unsicherheit hinter sich gelassen hatte, entwickelte sie außerdem eine unkomplizierte Art des Umgangs, die es anderen leicht machte, ihr Vertrauen entgegenzubringen.

Seite an Seite näherten sie sich nun einer schweren, mit kunstvollen Schnitzereien ornamentierten Holztür. Zach betätigte den auf Brusthöhe daran befestigten Klopfer, einen dicken, von einem Adlerschnabel gehaltenen Bronzering, den er gegen eine metallene Schlagfläche hämmerte. Einige Sekunden später hörten sie, wie ein Riegel zurückgezogen wurde. Langsam schwang die Tür auf. In der Öffnung stand eine Person, die sie als Butler identifizierten. „Guten Tag. Sie wünschen?“

Zach antwortete: „Wir sind Veronica und Zachary Ziegler, Inhaber von Campbell‘s Fab Store. Mr Kite hat uns für elf Uhr eingeladen.“ Er zog die Visitenkarte heraus, die ‚Melone‘ ihm überreicht hatte, und hielt sie dem Butler unter die Nase.

Dieser nickte. Er bedeutete ihnen einzutreten. Während sie in eine große, von zahlreichen Säulen bevölkerte Eingangshalle schritten, verbeugte sich der Butler leicht. Dann schloss er die Tür wieder. „Bitte folgen Sie mir“, sagte er und führte sie über einen schachbrettartig gemusterten Boden zu einer prunkvollen Treppe, über die sie ins nächste Stockwerk stiegen. Er ließ sie direkt gegenüber in einen Salon ein, dessen Wände mit alten Veduten bedeckt waren. In der Mitte standen fünf bequem aussehende armlehnenbewehrte Sessel mit Seidenpolstern um einen pentagonförmigen Tisch. An den Schmalseiten rechts und links befanden sich Feuerplätze, daneben jeweils eine kleine Tür. Gegenüber dem Eingang gewährten große Maßwerkfenster den Blick auf das Dach der Vorhalle, den Garten und den Wald dahinter. Über dessen Wipfel hinweg konnten die Detektive im atmosphärischen Dunst undeutlich Liverpool am Horizont ausmachen. „Bitte nehmen Sie Platz“, offerierte der Butler. „Der Hausherr wird Sie zu sich rufen, sobald er eine dringende Angelegenheit erledigt hat. Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen?“

Zach und Veronica wechselten einen kurzen Blick und nickten einander zu. „Fruchtsaft bitte“, orderte Veronica. Zach zeigte durch eine Handgeste an, dass er sich dem Wunsch seiner Tochter anschloss. Der Mann verbeugte sich erneut und schritt dann steifen Schrittes hinaus. Zach hob eine Augenbraue und trat an eines der Fenster. Veronica gesellte sich zu ihm. „Wird er uns warten lassen?“, fragte sie, während sie die Symbole im Garten zu erkennen versuchte. Ihr Blickwinkel war ungünstig, das Fenster zu niedrig gelegen, das Gelände leicht abschüssig. Sie konnte ein Labyrinth in Form eines Keltenkreuzes ausmachen.

„Nachdem ich am Sonntag einen Mangel an Respekt gezeigt habe, müssen wir damit rechnen. Außerdem haben es hohe Herrschaften selten eilig, das Fußvolk zu sehen. Ich hoffe, es bringt deinen Terminkalender nicht gar zu sehr durcheinander“, witzelte Zach.

„Keineswegs. Die Aussicht ist besser als im Hinterzimmer der Rainford Gardens, und die Sessel sind gemütlicher als im Wartezimmer meines Zahnarztes. Hier halte ich es eine Weile aus.“ Sie signalisierte durch vierfaches Blinzeln, dass sie beobachtet wurden. Zach legte den Kopf schief, sah zu Boden, dann auf ihre Hände. Die Finger der jungen Frau durchliefen einige schnelle aber unauffällige Bewegungen: „Eine Kamera; über uns; am Fenster.“ Sie lehnte sich an eine der steinernen Maßwerkstützen des Fensters und blickte scheinbar unbefangen auf das Dach ihres orange lackierten Sportwagens hinab. Sie winkelte ihr rechtes Bein an, die Zehenspitze ihres Cowboystiefels auf den Boden gestellt: ein unhörbares „Hier.“

1) Paul ist tot

Zach entledigte die Tasse mit der Aufschrift „Schwarzer Tod“ ihres dampfenden Inhalts wie gewohnt auf einen Zug. „Verdammt!“, brummte er. „Halb kalt.“ Dann widmete er sich wieder einem Stoß von Briefen, deren Adressfelder er jeweils kurz studierte, bevor er sie auf einen von zwei Stapeln ablegte.

Veronica, die ihn über den Rand ihrer Müslischüssel beobachtete, hob die rechte Augenbraue. „Tut mir furchtbar leid.“

Zach wollte gerade einen offiziell wirkenden Umschlag beiseite legen. Dann zögerte er. Seine Stirn legte sich in Falten, während er die Beschriftung erneut musterte. Er blickte auf. „Was tut dir leid?“

„Dein Kaffee.“ Sie strich sich mit dem Löffelstiel eine Strähne aus dem Gesicht und betrachtete ihn amüsiert.

„Das sollte es auch!“, grollte der Privatdetektiv. „Wie soll ein Mann arbeiten, wenn er kein ordentliches Frühstück bekommt?“

„Wenn du mir beibringst, wie man das Wasser über dem Siedepunkt flüssig hält… Willst du ihn nicht aufmachen?“, fragte sie. Als er sie irritiert ansah, deutete sie mit dem Löffel auf seine Hand und fügte hinzu: „Den Brief. Ich rieche einen neuen Fall.“

Er schaute sich suchend auf dem Tisch um, griff dann nach dem Buttermesser seiner Tochter, steckte es sich in den Mund und zog es langsam zwischen zusammengekniffenen Lippen wieder heraus. Er wendete den Umschlag noch einmal, um die Rückseite in Augenschein zu nehmen, dann führte er die Klinge in den oberen Falz ein und durchtrennte ihn zügig, ohne auf Veronicas missbilligendes Schnalzen einzugehen. Er fischte das Schriftstück heraus, ein einzelnes Blatt, das nach dem Entfalten einen professionellen Briefkopf zeigte. Während Zachs Augen flink über einige wenige gedruckte Zeilen huschten, wich alle Farbe aus seinem Gesicht. Er ließ das Blatt sinken. „Paul…“, sagte er nur.

„Paul? Welcher Paul?“

Onkel Paul, mein Stiefbruder.“

„Du hast einen Stiefbruder? Wie kommt es, dass ich nichts von ihm weiß?“ Sie nahm ihrem Vater den Briefbogen ab und las halblaut: „… leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Angehöriger, Paulus Campbell, gebürtig… bla bla… am vergangenen Sonntag verstorben… bla… bla… beauftragt, Sie zur Testamentseröffnung einzuladen. Bitte finden Sie sich am… blafasel… Dr. Jules R. Miller, Notar.“

„Der Sohn deiner Oma Lana aus erster Ehe. Wir…“ Er schwieg einen Moment, den Blick gesenkt. „Wir haben uns seit fast zwanzig Jahren nicht mehr gesehen.“

„Ach, Dad!“ Sie legte ihre Hand auf die seine. „Es tut mir furchtbar leid,“ sagte sie wieder, diesmal jedoch ohne den schnippischen Unterton, „aber ich erinnere mich überhaupt nicht an ihn.“

„Du warst zu jung; erst zwei oder drei.“

„Warum hast du nie über ihn gesprochen? Weshalb habt ihr einander nicht besucht?“

Zach entzog seiner Tochter die Hand, erhob sich und ging schweren Schrittes auf die Tür seines Büros zu. „Ich… brauche einen Moment.“

Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Das Ächzen eines Stuhls, dann herrschte Stille im anderen Raum. Veronica erhob sich nun ebenfalls, begann die Reste des vorzeitig beendeten Frühstücks auf ein Tablett zu laden und trug dieses in die Küche.


Der orange lackierte Opel GT flitzte über die M1 nach Norden, auf Liverpool zu. Den Wagen hatte Veronica, die wie ihr Vater eine Schwäche für Technik der vor-elektronischen Zeit hegte, zufällig bei Ermittlungen in einem Fall entdeckt. Es war ihnen gerade gelungen, den von ihnen gesuchten Heiratsschwindler in einem Hamburger Stundenhotel aufzustöbern, wo sie das von ihrer Mandantin gewünschte Kompromat sammeln konnten. Nachdem der Mann fluchtartig das Zimmer verlassen hatte, war Veronica ans Fenster getreten. Sie hatte aus dem dritten Stock in den Hinterhof jenes Etablissements geblickt und die schnittige Karosse dort stehen sehen. Damals war sie von altersmattem Weiß gewesen; eine Beule hatte die Beifahrertür verunstaltet und die Felgen waren stark verrostet gewesen. Und doch bot das Fahrzeug mit seinen eleganten Formen und den versenkbaren Frontleuchten einen Anblick, der sie sofort gefesselt hatte.


Das Fabrikat war ihr fremd – vielleicht der Prototyp einer nie gebauten Corvette-Serie? Sie würde es herausfinden. Das Gezeter der jungen Frau („Sammy,“ gab sie mit misstrauischem Blick an) war verstummt. Stattdessen hörte sie nun ihren Vater beruhigend auf sie einreden. Veronica drehte sich um. In Zachs ausgestreckter Hand war für einen kurzen Moment ein Geldschein zu sehen, bevor sich Sammys Finger blitzschnell um ihn schlossen und an sich rissen. Zach lächelte; sie würde keinen Krawall verursachen.

„Sorry für die Störung,“ sagte Veronica freundlich. „wir sind gleich wieder draußen.“ Sie hatte nun erstmals Gelegenheit, das Mädchen eingehender zu betrachten; slawische Gesichtszüge, schulterlanges blondes Haar, das einen blauen Fleck an der linken Schläfe halb verdeckte; ein breiter Mund, ein graziler Hals; unter dem Leinen, das sie bedeckte, zeichnete sich ein sehr feminin geformter Körper ab, und doch: keine junge Frau. Ihr achtzehnter Geburtstag lag definitiv mehr als ein paar Wochen in der Zukunft. Nicht gut. Veronica runzelte die Stirn.

Sammy nickte unsicher. „Klar…hm, schon gut.“ Ihr Akzent bestätigte die vermutete Herkunft.

„Sag mal, du weißt doch bestimmt, wem der Sportwagen da unten gehört?“

„Der weiße?“

„Ja.“

„Hannes. Dem Boss. Warum willst du das wissen?“

„Wo finde ich diesen Hannes?“

Auf dem Gang polterten schwere Schritte, dann wurde die Tür aufgerissen. „Was ist hier los?“, knurrte der Klotz, der in der Öffnung erschienen war. Anzug, offenes Hemd, keine Krawatte, der Schädel besser rasiert als Kinn und Wangen. „Was fällt euch ein, die Kunden zu vergraulen? Raus mit euch, aber zackig!“

„Wir… suchen Hannes,“ flötete Veronica und legte die Hände an die Hüften.

„Glückes Geschick, ti-ri-li! Er steht direkt vor euch und der Laden“ – er deutete auf seine Hose – „ist gerade offen.“ Das entsprach sogar der Wahrheit. Der Klotz musterte Veronica von oben bis unten, dann sagte er: „Heißes Gerät, aber ein bisschen zu alt.“

Sie warf einen schnellen Seitenblick auf Sammy, schaute Hannes wieder frech ins Gesicht und ließ ihre Brauen tanzen. „Ja, das ist mir auch schon aufgefallen,“ entgegnete sie. „Es war bestimmt nicht leicht, eine Lizenz dafür zu bekommen.“ Sie legte den Kopf schief.

Der Klotz kam einen Schritt näher. „Willst du mir drohen, Kleine?“

„Nicht so schnell!“, rief Zach, der die rechte Hand halb aus der Jackentasche zog. Der Griff einer Walther wurde sichtbar.

Der Klotz blieb stehen. „Was wollt ihr hier?“

„Das heiße Gerät da unten im Hof, gehört das Ihnen?“, fragte Veronica.

„Vielleicht. Vielleicht auch nicht.“

„Nun gut, wir können auch auf dem Revier nachfragen; wollten mit den Jungs ohnehin ein paar Tipps auszutauschen…“

„Was wäre, wenn der Schlampenschlepper mir gehört?“

„Dann kommen wir vielleicht ins Geschäft,“ erwiderte Veronica.


Ihr Vater hatte den Wagen bar bezahlt, seine Restauration und die Überführung auf die Inseln veranlasst und Veronica samt einem Fahrsicherheitstraining zum neunzehnten Geburtstag geschenkt. „Das ist eigentlich kein Auto für eine junge Frau,“ hatte er gesagt, „aber du hast deinen guten Geschmack eindeutig von deinem alten Herrn geerbt, und der ist sehr, sehr stolz auf dich.“

Die erste Stunde über, während sie sich aus dem dichten Londoner Stadtverkehr hinaus quälten, hatten sie geschwiegen. Das Gedränge begann sich so langsam zu lichten. Veronica ließ den GT seine Muskeln spielen. Geschickt nutzte sie Lücken, um sich nach vorn zu arbeiten, und als schließlich offene Strecke vor ihnen lag, gab sie ordentlich Gas.

„Was ist damals eigentlich zwischen euch vorgefallen?“, erkundigte sie sich endlich. Die Frage hatte ihr die ganze Woche über unter den Nägeln gebrannt, aber Zach war nie recht in der Stimmung gewesen, über Paul zu reden. Nun, da sie sich auf dem Weg zum Notariat Miller befanden und es weder etwas anderes zu tun noch zu bereden gab, konnte sie ihre Neugier nicht länger zügeln. Sie sah, dass ihr Vater geneigt schien, die Frage zu überhören, aber sie ließ nicht locker: „Ich meine, ihr habt euch bestimmt nicht einfach auseinandergelebt.“

Er brummte, überlegte kurz und sagte: „Nein, haben wir nicht. Das ist eine lange Geschichte.“

„Noch immer fast zweihundert Meilen Fahrt vor uns.“

Er seufzte. „Na gut.“ Einige Sekunden verstrichen. „Ich war fünf Jahre alt, als meine Stiefmutter bei uns einzog. Paul war sechs. In dem Alter erscheint einem ein Jahr wie eine riesige Hürde, aber wir freundeten uns sofort an. Er zeigte mir viele coole Tricks beim Fußball. Er war um etliches größer als die meisten seines Alters und stellte sich den anderen Jungs in den Weg, wenn sie mich in die Zange nehmen wollten. Das taten sie oft; sie hielten mich für einen Spinner. Ich interessierte mich mehr für Bücher als für Sport, Zigaretten oder in späteren Jahren Mädchen. Einmal hatten sie mich allein erwischt. Sie drängten mich in eine Ecke und wollten gerade beginnen, mich zu ‚bearbeiten‘, da kam Paul wie eine Naturgewalt über sie. Sie waren zu viert, aber er hat sie so vermöbelt, dass einer von ihnen einen Zahn verlor. Er war eigentlich ein friedfertiger Mensch; doch wenn er etwas sah, das er für ungerecht hielt, konnte er energisch werden.“

Zach hielt kurz inne. Er lächelte. „Als du geboren wurdest, bot er sich sofort als Pate an. Paul hat nie geheiratet, wenn du verstehst, was ich meine, aber er mochte Kinder, und er hat ihnen immer irgendwelche Kniffe beigebracht, die sie noch nicht kannten. Er war derjenige, der dich das Gehen lehrte, während deine Mutter und ich…“ Er schnaubte. „…während deine Mutter und ich mit unseren Karrieren beschäftigt waren. So wie deine Großeltern viel zu selten Zeit für mich und Paul gehabt hatten.“

Erneut pausierte er. Dann: „Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht mehr an den Skandal um Jimmy Savile.“

„Nah, ich war gerade zwölf, als die Doku über ihn rauskam. Ich hab sie mir aber zum Teil angesehen. Dieses alte Schwein!“

„Ja, Savile war ein Schwein. Er war aber beileibe nicht der einzige Kinderficker im Land. Da war eine ganze Gang von weiteren bekannten BBC-Radiomoderatoren und Musikern unterwegs, die ihren Promi-Status benutzten, um an Nachschub zu gelangen. Die Polizei hatte konkrete Verdachtsmomente gegen fast 200 solcher Personen. Keiner kann mir erzählen, dass die Leute in den Chefetagen nichts davon wussten, dass Benefizgalas für Kinder in Not, Jugendtalentshows und ähnliche Programme für pädophile Zwecke missbraucht wurden. Wir wussten davon, verdammt noch mal, und wir sind hellhörig geworden, als wir erfuhren, dass Onkel Paul dich regelmäßig an seinen Arbeitsplatz mitgenommen hatte – zur BBC. Du hast damals eine schwierige Phase durchlaufen. Eine Kinderpsychologin, die wir konsultierten, deutete an, es könne jemand im engeren Umfeld geben, der dich missbraucht. Wir haben Paul zur Rede gestellt. Er räumte ein, im Team von Savile zu arbeiten und mit Leuten wie diesem Gary Glitter zu tun gehabt zu haben. Er nannte sie ‚ein bisschen exzentrisch‘, stritt aber vehement ab, von irgendwelchen Unregelmäßigkeiten gewusst zu haben. Deine Mum war extrem aufgebracht. Sie glaubte ihm kein Wort, schmiss ihn aus dem Haus und untersagte ihm, jemals wieder in deine Nähe zu kommen. Ich kannte ihn besser. Trotzdem war ich mir unsicher, daher habe ich es geschehen lassen.“

Veronica blickte ihn schockiert an. „Heißt das…?“

„Nein. Dir ist kein Haar gekrümmt worden. Wir zogen eine Traumatherapeutin zu Rate, mit deren Hilfe wir relativ schnell herausfanden, dass wir selbst dein größtes Problem gewesen sind. Du hast dich wegen unserer ständigen Abwesenheit schwer vernachlässigt gefühlt. Als mir klar geworden ist, welch großes Unrecht ich begangen hatte, wollte ich den Kontakt mit Paul wieder herstellen. Aber er war unauffindbar. Er hatte bei der BBC gekündigt und war umgezogen. Von einer gemeinsamen Freundin habe ich Jahre später erfahren, dass er direkt nach unserer Auseinandersetzung Nachforschungen über den Pädophiliesumpf im Musikbusiness angestellt hat. Seine Erkenntnisse müssen wohl einen wesentlichen Beitrag zu einigen der Enthüllungen geleistet haben, die nach Saviles Ableben veröffentlicht worden sind.“ Er schaute zum Beifahrerfenster hinaus. „Paul war unschuldig.“