38) Findet Kirk!

Punkt acht Uhr fuhr der orange lackierte Opel GT auf den Parkplatz der Polizeiwache. Diese befand sich zwar nur wenige Minuten zu Fuß vom Fab Store entfernt, doch Veronica wollte anschließend ein paar Dinge für den Haushalt einkaufen. Sie ließ sich dem Leiter der Mordkommission vorführen. Es entging ihr nicht, dass der junge Kollege, der sie zu Donald Wickens‘ Amtsstube begleitete, heimlich ihre Figur bewunderte. „Da wären wir wieder“, dachte sie. „Was ein schickes schwarzes Kleid doch ausmacht. Wäre ich in Pulli und Jeans erschienen, hätte er mich nach meinem Ausweis gefragt. Nun aber beeilt er sich, mir jeden Wunsch zu erfüllen.“ Sie hoffte, dass sie auf den Kommissar ähnlich attraktiv wirkte. Ihrer Erfahrung nach löste körperbetonte Kleidung die Zungen der meisten Männer schnell und zuverlässig. Aber Wickens war natürlich ein alter Hase in seinem Geschäft. Möglicherweise konnte er entsprechende Impulse routiniert zügeln. Seine forsche Stimme forderte sie auf, einzutreten, nachdem der junge Polizist angeklopft hatte. Wickens saß hinter dem Schreibtisch. auf dessen Oberfläche sich mehrere Stapel mit Aktenordnern türmten. Als Veronica den Arbeitsplatz fast erreicht hatte, stand er auf und reichte ihr über den Tisch hinweg die Hand. Dann wies er auf den Stuhl davor. „Setzen Sie sich“, forderte er sie auf.

„Hübsch haben Sie‘s hier“, sagte Veronica ironisch. Sie bemerkte an seinen irritierten Gesichtszügen, dass sie ihn mit ihrer Bemerkung auf dem falschen Fuß erwischt hatte. Das Büro war ein ebenso zweckmäßig wie hässlich eingerichteter Raum, an dem rein gar nichts hübsch oder schön aussah; eine durchschnittliche Amtsstube, wenn man so wollte.

„Wirklich?“, erwiderte er. „Nominieren Sie uns gern im Wettbewerb für die malerischsten Polizeiwachen Großbritanniens. Wo bleibt übrigens der Herr Papa? Sind Sie allein hergekommen?“

„Er hat leider geschäftlich zu tun und bedauert darüber hinaus sehr, dass ihr Kaffeeautomat… sie verstehen schon.“

Wieder dieser irritierte Blick. „Nein, ich verstehe nicht. Was ist das Problem mit dem Kaffee?“

„Das… fragen Sie ihn am besten selbst. Ich hoffe aber, dass wir uns trotzdem gut unterhalten.“ Sie zog ihr Kleid straff, dann setzte sie sich. „Mr Wickens, wir haben um dieses Gespräch ersucht, weil William Campbell – Mr Kite – uns beauftragt hat, den Verbleib eines Gegenstandes aus seinem Besitz zu ermitteln.“

Der Kommissar hob die Augenbrauen. „So?“

„Dieser wurde in der Nacht der letzten Familienfeier entwendet,“ fuhr sie fort, „dieselbe Nacht, in der Paulus Campbell ermordet wurde.“

„So so!“, sagte der Kommissar wieder.

Diesen Mann zu befragen würde mühselig werden, fürchtete Veronica. Er schien entschlossen, sich jedes Wort aus der Nase ziehen zu lassen. „Können Sie mir erzählen, wie der Abend des 30. April aus Ihrer Perspektive verlaufen ist?“, begann sie ihre Erkundigung.

„Nun, viel zu erzählen gibt es da nicht“, erwiderte er erwartungsgemäß. „Wir hatten uns in Kites Schloss versammelt, um den Erwerb von Mal Evans‘ Koffer zu feiern. Laut der Gerüchte, die seit Jahrzehnten umgingen, sollte er zahlreiche begehrte Gegenstände enthalten, die zusammen wahrscheinlich mehrere Millionen Pfund auf dem freien Markt wert sind. Paulus Campbell, der das Geschäft für uns abgeschlossen hat, hätte ihn mitbringen sollen, doch er ist nicht erschienen. Also betranken wir uns einfach und unterhielten uns über dies und das.“

„Hat denn niemand versucht, ihn telefonisch zu erreichen?“

„Aber ja. Sowohl Kite als auch ich haben ihn mehrmals angerufen, doch er hob nicht ab.“

„Was, glauben Sie, hielt ihn davon ab, auf der Feier zu erscheinen?“

„Keine Ahnung. Ein Missverständnis vielleicht?“

„Fiel Ihnen am Verhalten der Gäste etwas auf, das vom Gewohnten abwich? Gab es Anspielungen auf Dinge, die über den Kopf eines Uneingeweihten gingen? Gab es Begehrlichkeiten? Streit?“

„Nicht dass ich wüsste.“

„Ist Ihnen bekannt, welchen Gegenstandes wegen unsere Detektei ermittelt?“

„Kite erwähnte ein Foto.“

„Er bat sie nicht, bei der Wiederbeschaffung zu helfen?“

„Nein. Er erzählte es nur so nebenbei.“

„Wenn Sie einen Tip abgeben müssten, auf wen fiele Ihr Verdacht?“

„Ich habe wirklich nicht genug Informationen über die Sache, als dass ich mir eine Meinung bilden könnte.“

„Sie und Ihre Frau haben das Treffen als erste verlassen. Um welche Uhrzeit waren Sie zuhause?“

„Puh, keine Ahnung. Am frühen Morgen des 1. Mai irgendwann.“

„Sind Sie vom Schloss direkt zu Ihrer Wohnung gefahren?“

Wickens zeigte erneut Zeichen der Irritation. Er runzelte die Stirn. „Was soll die Frage? Inwiefern hat das mit dem Diebstahl zu tun? Verdächtigen Sie mich etwa?“

„Bitte geben Sie mir einfach eine Antwort.“

„Wir waren beide ziemlich müde. Meine Frau schlief bereits während der Rückfahrt ein. Keine weiteren Partys also.“

„Es hätte ja sein können, dass Sie sich gleich wieder in Ihre Arbeit stürzen wollten.“ Veronica ließ es wie eine scherzhafte Bemerkung klingen.

„Meine Kollegen sind durchaus in der Lage, für ein paar Stunden meiner Abwesenheit die Stellung zu halten. Sie genießen mein vollstes Vertrauen.“

„In gleicher Weise genießen Sie meines. Als neue Bürgerin Liverpools fühle ich mich beruhigt.“

Wickens musterte sie mit durchdringendem Blick, als wolle er abschätzen, ob sie es ernst oder ironisch meinte, doch Veronica hatte ein Pokerface aufgesetzt. Er wurde nicht schlau aus ihr. Sie beschloss, ihn aus der Reserve zu locken. Sie behauptete: „Wir haben Grund zu der Annahme, dass Duchess of Kirkcaldy die Gunst der Stunde genutzt hat. Mehrere der Gäste berichteten uns, dass sie in auffälliger Weise mit dem Hausherrn anzubändeln versuchte. Teilen Sie diese Einschätzung?“

Wickens lachte trocken. „Anzubändeln – nett ausgedrückt. Sie hat ihn vom Moment ihres Eintreffens angebettelt, flachgelegt zu werden, wenn Sie mich fragen. Geht mich aber nichts an.“

„Unsere Informationen besagen, dass sie dieses Ziel nicht nur erreicht hat, sondern im Zuge dessen auch Zugang zu dem Foto erhielt. Seit dem 1. Mai fehlt von ihr außerdem jede Spur. Wir vermuten nun, dass sie sich mit der Beute abgesetzt hat.“

Der Kommissar stutzte. Hatte er den Köder gefressen? Veronica legte nach. „Wir vermuten des weiteren, dass sie sich noch irgendwo in der Nähe aufhält, vielleicht bei Verwandten oder Freunden im Umland von Liverpool. Ist Ihnen darüber etwas bekannt? Haben Sie Kirk im vergangenen Monat eventuell sogar gesehen?“

Wickens setzte eine Miene konzentrierten Nachdenkens auf. Dann sagte er: „Ich habe sie tatsächlich gesehen. Sie kam zu mir und bat um den Schlüssel zum Landhaus der Familie. Wir haben einen alten Bauernhof in den Bergen nördlich von hier restauriert, müssen Sie wissen. Wir nutzen ihn als Ort für besondere Gelegenheiten. Kirk sagte, sie brauche eine Auszeit.“

„Meinen Sie, sie hält sich noch immer dort auf?“

„Sie hat den Schlüssel jedenfalls noch nicht zurückgegeben.“

„Wie finden wir das Landhaus?“

„Es steht ziemlich abgelegen; so abgelegen, dass selbst die meisten Routenplaner Ihnen keinen Weg weisen können. Wahrscheinlich finden Sie es ohne Hilfe überhaupt nicht.“ Wickens schaute Veronica forschend ins Gesicht. Als sie Anstalten machte, die logische nächste Frage zu stellen, kam er ihr zuvor. Er sagte: „Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen den Weg.“

„Das würden Sie tun? Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar. Wann hätten Sie denn Zeit?“

Der Kommissar zuckte mit den Schultern. „Gleich, wenn Sie wollen.“ Er zeigte auf die Aktenstapel auf seinem Schreibtisch. „Ich suche gerade eh einen Vorwand, dem hier zu entkommen.“


Veronica und der Kommissar eilten längst im GT nach Norden, als Henry the Horse den Fab Store betrat. Zach empfing ihn wie einen alten Freud. Sie umarmten sich und klopften einander auf den Rücken. „Schön, dass du dir Zeit für mich nimmst“, sagte der Detektiv.

„Keine Ursache,“ erwiderte der ältere Mann, „du weißt doch, dass ich Rentner bin und Montag vormittags sowieso zum Frühstücken in die Altstadt komme. Ehrlich gesagt vermisse ich die langen Gespräche hier im Laden.“

„Na, dann lass uns doch die Tradition wieder aufnehmen.“ Zach wies mit der Rechten auf die Tür im Hintergrund des Ladenlokals. „Komm, ich mach uns einen Kaffee.“

Eine Viertelstunde später, als der Duft des heißen Aufgussgetränks dem Raum eine gewisse Atmosphäre der Gemütlichkeit verliehen hatte, schwenkte Zach auf das Thema über, das ihm für heute am Herzen lag. „Henry, ich glaube, die ‚Familie‘ steckt in großen Schwierigkeiten.“ Der Detektiv ließ den Satz in der Luft hängen. Er betrachtete das Gesicht seines Gegenübers auf der Suche nach Zeichen der Zustimmung oder Ablehnung.

Henrys Mundwinkel zuckten, doch er antwortete nicht sofort. Er nahm seine Tasse vom Tisch, führte sie langsam an die Lippen und nippte vorsichtig daran. Erst nachdem er sie zurückgestellt und es sich wieder im Sessel bequem gemacht hatte, erwiderte er: „Und nicht erst seit heute.“

„Zu dem Eindruck bin auch ich gekommen, nachdem ich mit vielen von euch gesprochen habe. Wenn ich es recht verstehe, gibt es unter den Sammlern zwei grundlegend verschiedene Auffassungen darüber, wo eure Aktivitäten hinführen sollen, resultierend aus unvereinbaren Ansichten über die menschliche Natur. Würdest du mir zustimmen?“

„Brillant auf den Punkt gebracht, mein lieber Zachary. Auf der einen Seite steht ein elitärer Haufen, der sich für Übermenschen hält, während er den Rest der Menschheit als unnützes, dummes Volk betrachtet, dem man sagen muss, was es tun und lassen soll. Auf der anderen Seite – zu der ich selbst mich zähle – befinden sich jene unter uns, die die Kontroll- und Manipulationsbemühungen Ersterer als das erkennen, was sie eigentlich sind: selbsterfüllende paranoide Wahnvorstellungen. Ich glaube… nein, ich weiß, dass Menschen im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, wie die Floskel so schön besagt, zu unendlich viel mehr Gutem fähig sind als wir gerade sehen, wenn man sie nur lässt. Die moderne Welt ist nicht das Ergebnis einer angeblich fehlerhaft geschaffenen Spezies, sondern legt Zeugnis vom Scheitern des Kontrollwahns eines engen Kreises von Nutznießern ab.“

„Ich hätte es nicht treffender formulieren können,“ stimmte Zach dem Älteren zu, „doch meine Bemerkung zielte weniger auf das latente Konfliktpotenzial in der Familie ab sondern vielmehr auf eine akute Notlage. Eure Gruppe hat Kites Regime auf eine Weise herausgefordert, die der Mann als Kriegserklärung auffasst. Die Detektei wurde von ihm beauftragt, ein von euch entwendetes Foto wieder zurückzuführen.“

Henrys Augenbrauen zuckten in die Höhe.

„Darüber kam es auch zwischen uns und Kite zum Bruch. Also mach dir keine Sorgen. Ich werde bestimmt niemand an ihn ausliefern. Ich möchte dich aber darauf aufmerksam machen, dass eure gewohnten Routinen auf unabsehbare Zeit der Vergangenheit angehören. Möglicherweise steht die Familie als solche vor der Auflösung.“

„Danke für deine Offenheit. Ich werde dir natürlich als Kunde treu bleiben.“

„Freut mich zu hören, Henry. Im Moment plagen mich eine ganze Reihe anderer Sorgen. Ich möchte dieses Foto auftreiben; ich versuche, den Mörder meines Stiefbruders zu finden; ich brauche Munition, die mir Kite vom Leib hält, und, am drängendsten: Ich muss mit Kirk sprechen. Leider ist sie seit dem Familientreffen spurlos verschwunden.“

„Das fiel mir ebenfalls auf“, erwiderte Henry. „Ich habe mehrfach versucht, sie anzurufen, doch sie geht nie an die Leitung. So langsam mache ich mir Sorgen.“

„Ohne Umschweife: Weißt du, wer das Foto mitgenommen hat?“

„Nein. Ich hätte jedem abgeraten, es einzustecken. Viel zu gefährlich. Und ich hoffe für Kirk, dass sie nicht Diejenige-welche war, denn sonst wird sie es mit Kites unbeherrschtem Zorn zu tun bekommen.“

„Ehrlich gesagt befürchten wir genau das, unabhängig davon, ob sie es war oder nicht. Sie bot sich als Blitzableiter geradezu an, nachdem sie Kites Wachsamkeit geschwächt hat.“

37) Schlachtplan

In einer Bar unweit des Krematoriums nahmen die Trauergäste einen Umtrunk ein. Mr und Mrs Wickens hatten sich jedoch bereits in der Aussegnungshalle verabschiedet, Donalds dienstlicher Pflichten wegen, die ihn auch an diesem Sonntag nicht zur Ruhe kommen ließen. Das Verbrechen nehme keinen Urlaub, hatte der Kommissar halb im Scherz gesagt, und seine Frau Mary hatte dabei eine säuerliche Miene gezogen.

Veronica unterhielt sich mit der blonden Frau, die, genau wie Zach vermutet hatte, im Laden gegenüber arbeitete. Ein Auge hielt die junge Detektivin auf ihren Vater gerichtet, der mit Maria Borghese ein paar Meter weiter auf einem Barhocker am Tresen saß. Sie sprachen leise miteinander, steckten dabei immer wieder die Köpfe zusammen oder streichelten einander den Rücken. Veronica freute sich für ihrem Vater, der anscheinend endlich Klarheit gefunden hatte, wie er emotional mit dem Verlust seines Stiefbruders umgehen sollte. Maria, die zwar nie auf dem Stiefel gelebt aber von ihrer Familie eben doch einiges vom heißblütigen Nationalcharakter der Italiener vererbt bekommen hatte, musste der Katalysator gewesen sein. Sie wünschte sich, die ‚Putzhilfe‘, die für sie so viel mehr als nur eine einfache Angestellte geworden war, möge ihnen noch lange erhalten bleiben. Veronica war sie sehr ans Herz gewachsen, und wenn sie die Zeichen recht deutete, ging das auch ihrem Vater so. Sie lächelte.


„Hältst du es für wahrscheinlich, dass sie tatsächlich nach Bath gefahren ist, wie sie am Telefon behauptete?“, fragte Zach Maria. Er schaute zu seiner Tochter hinüber, die mit dieser blonden Frau ein paar Meter entfernt an einem der Tische saß. Sie sah ihn lächelnd an, dann konzentrierte sie sich wieder auf ihre Gesprächspartnerin. Veronica hatte das Durcheinander der letzten beiden Wochen besser verkraftet als er, schien es, und er war heilfroh deswegen. Sie konnten alles miteinander bereden, was emotionale Belastungen für sie beide viel leichter erträglich machte, aber er bemühte sich zur Zeit, ihr die düsteren Gedanken zu ersparen, die ihn häufig quälten. Dankbarerweise war nun Maria in das Leben der Zieglers getreten. Sie konnte nicht nur gut zuhören sondern mochte auch eine echte Stütze für sie werden, wie sich heute gezeigt hatte.

Auf seine Frage antwortete Maria: „Ganz ehrlich, ich glaube es eher nicht. Aber wer weiß, vielleicht wohnt jemand aus ihrer Familie dort. Über die wissen wir rein gar nichts.“

„Wo könnte sie sonst hingegangen sein?“

„Das frage ich mich auch schon die ganze Zeit. Es sind fast vier Wochen vergangen, seit ich sie zuletzt am Telefon sprach. Gestern Nacht kam mir eine Idee.“

„Die da lautet?“

„Die ‚Familie‘ hat einen alten Bauernhof nahe der schottischen Grenze gepachtet. Wir feiern dort einmal im Jahr ein großes Fest zusammen, aber wir nutzen das Haus auch für unsere individuellen Zwecke.“

„Wie ist das geregelt? Haben alle von euch einen Schlüssel?“, hakte Zach nach.

„Man muss das mit Desmond verhandeln. Er verwahrt den Schlüssel und achtet darauf, dass keine Überschneidungen entstehen.“

„Mit anderen Worten: Falls Kirk sich dort aufhält, müsste Desmond es wissen.“

Maria nickte.

„Okay, das hilft mir weiter. Ich werde morgen Vormittag mit ihm über das Familientreffen reden. Bei der Gelegenheit kann ich mich gleich nach Kirk erkundigen. Falls sie nicht auf den Bauernhof gegangen ist, besitzt er vielleicht andere Mittel, sie aufzuspüren.“

Die Italienerin schüttelte den Kopf. „Wenn sie in Schwierigkeiten steckt, dann wegen Mr Kite. Desmond ist ihm treu ergeben. Von dem erfährst du rein gar nichts.“

„Ich muss es versuchen, und sei es nur, um ihn wissen zu lassen, dass jemand ein Auge auf ihre Aktivitäten hat. Die Zeiten, da sie in Liverpool schalten und walten konnten, wie sie wollten, sind ab jetzt vorbei.“

„Spiel nicht ‚Don Camillo und Peppone‘ mit denen, Zach. Diese Typen sind gefährlich.“

„Ich bestehe ebenfalls nicht aus Schokolade.“

„Schade eigentlich“, sagte Maria und nahm seine Hand in die ihre.


Verworrene Träume und wiederholtes Erwachen hatten dafür gesorgt, dass sie beide In der Nacht nur wenig erholsamen Schlaf erhielten. Um sechs Uhr früh rollte Zach schließlich aus dem Bett, ging in die Küche und setzte eine Kanne Kaffee auf. Veronica, die seine Schritte auf dem Gang gehört hatte, gesellte sich ihm wenige Minuten später bei. Im trüben Schein einer heruntergedimmten Lampe hockten sie am Tisch und wärmten sich die Finger an den Tassen – Zach an einer bereits leeren, Veronica an einer noch vollen.

„Bei dem Gedanken an das gefärbte Wasser im Präsidium revoltiert mein Magen“, knurrte der Detektiv.

„So schlimm?“, fragte seine Tochter mitleidig.

„Du hast keine Ahnung, wie schlimm!“ Zach seufzte. „Mir mangelt es an jeglichem Drang, diesen Termin wahrzunehmen. Und das, obwohl es sich um einen der wichtigsten in der ganzen Serie handeln dürfte.“

„Weil Desmond das Foto ursprünglich beschafft hat?“

„Das ist nur einer von mehreren Gründen. Er hat vermutlich zahlreiches andere für Kite ‚organisiert‘. Er hält ihm den Rücken frei, wie wir von Miller gehört haben. Er verwahrt den Schlüssel für das Ferienhaus der Familie, in dem sich Kirk womöglich aufhält. Vor allem aber möchte ich abklären, ob er irgendwie in den Mord an Onkel Paul verwickelt war.“

„Wird er uns wohl kaum einfach so auf die Nase binden.“

„Seine Frau hielt den Zwischenstop in der Stadt zur fraglichen Zeit für harmlos genug. Falls er es anders sieht, wird er eine davon abweichende Geschichte erzählen beziehungsweise sich in Widersprüche verstricken.“

„Ah, jetzt verstehe ich, was du vorhast“, erwiderte Veronica. „Pass auf, ich mache dir einen Vorschlag: Wir arbeiten heute getrennt. Ich übernehme das Wickens-Interview und du knöpfst dir Henry the Horse vor. So können wir dem Kommissar mehr Zeit widmen, während wir sichergehen, dass Henry jemand im Laden antrifft. Ich weiß, dass du dich eh die ganze Woche schon auf das Gespräch mit ihm freust. Außerdem hat er Kirk angeblich damals in die Familie eingeführt. Wenn jemand etwas über ihren Hintergrund oder Verbleib weiß, dann er. Wir dürfen ihn heute auf keinen Fall verpassen.“

Zach grübelte eine halbe Minute. Er stierte auf die leere Tasse nieder, die er zwischen seinen Händen drehte, erst nach links, dann nach rechts, nach links, rechts, links rechts. Als er wieder aufblickte, sagte er: „So vernünftig dein Vorschlag klingt – mich beschleicht ein ungutes Gefühl, dich mit dem Mann allein zu lassen.“

„Traust du mir den Job nicht zu?“

„Ich vertraue niemandem mehr als dir, aber es könnte sein, dass Wickens ein falsches Spiel spielt. Wenn er mit Pauls Tod zu tun hatte…“

„Ach komm schon, was soll mir groß passieren? Ausgerechnet in einer Polizeiwache?“

„Was soll in der Höhle des Löwen schon groß passieren – von allen Orten jener, den Leute wie Wickens vollständig unter Kontrolle haben? Mit all den Typen um dich herum, die ihre moralische Kompetenz aufgegeben haben, um wie Roboter unpersönliche Regeln zu befolgen und wie Sklaven die Befehle ihrer Vorgesetzten unhinterfragt auszuführen?“

Veronica schluckte. „Aus der Warte habe ich das noch nie betrachtet. Ich war der Ansicht, dass ein Polizeigebäude eine Umgebung mit stärker kontrollierten Bedingungen ist als die meisten anderen, abgesehen vielleicht von Militärgeländen und Regierungsvierteln.“

„Ja selbstverständlich sind sie unvergleichlich viel stärker kontrolliert, aber doch nicht, um dich, sondern um sich selbst zu schützen. Wenn jemand mit denen in Konflikt kommt, dann ist er sofort mit dem Gesetz in Konflikt. Wenn deine Aussage gegen ihre steht, glaubt man eher dir oder dem treuen Staatsdiener?“

Seine Tochter schnitt eine Grimasse.

„Wenn einer von denen dich aus dem Verkehr ziehen will, findet er immer einen Grund, dich einzusperren. Und wenn er dich erschießt, so nur, weil du Widerstand geleistet hast – genau wie Mal Evans.“

„Willst du, dass ich zuhause bleibe?“

Zach zögerte. „Nein“, sagte er dann bestimmt. „Gefahren sind Teil unseres Daseins. Den Schwanz einzuziehen und sich in einer Festung zu verschanzen kann nicht die Antwort darauf sein.“

„Also…?“

„Geh hin und versuche, möglichen Schwierigkeiten mit offenen Sinnen zu begegnen. Was unberechenbare Momente betrifft: Vor denen bist du eh nicht gefeit. Man fährt besser, wenn man sie willkommen heißt.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Ich glaube, das ist der wichtigste Unterschied zwischen uns und jenen, die – egal auf welcher Etage – ihren Platz in der Machtpyramide einnehmen: Sie sind Kontroll-Freaks. Sie hassen alles Natürliche, Lebendige, aus dem Moment Geborene, sich frei Entfaltende.“

35) Hier stehe ich, …

„Mrs Wickens, haben Sie Ihren Koffer geliefert bekommen?“, fragte Zach die Sekretärin, als sie auf dem Weg nach draußen an der Empfangstheke vorbeigingen.

„Danke, er kam gestern Nachmittag an – heil, ohne Hinzufügungen oder Weglassungen.“

„Gut. Bei diesem Teil weiß man ja nie. Es scheint Fundbüros zu mögen.“

„Von jetzt an wird er schön auf meinem Dachboden stehen bleiben. Keine Ausflüge mehr nach New York oder Melbourne.“

Veronica und Zach lachten. Sie verabschiedeten sich von der Sekretärin und wandten sich zum Gehen. Dann drehte Zach sich noch einmal um. „Ach, Mrs Wickens,“ sagte er, „haben Sie Ihrem Mann meinen Wunsch nach einem Gespräch weiterleiten können?“

„Gut, dass Sie es erwähnen. Fast hätte ich es vergessen. Er lässt ausrichten, Sie sollen Montag um acht Uhr auf der Wache vorbeischauen.“


Der GT-Motor röhrte, Veronica setzte den Blinker und lenkte den Wagen in den Feierabendverkehr. Die Ampel am Ende der Yewtree Road war auf lange Rot- und kurze Grünphasen eingestellt. Sie näherten sich ihr im Schritttempo.

„Glaubst du ihm?“, fragte Veronica.

„Misstraust du ihm noch immer?“, stellte Zach die Gegenfrage.

„Ich habe mich heute mit der Möglichkeit angefreundet, dass dein erster Eindruck der treffendere war: Miller hat Tiefgang, und deshalb schaut er gern hinter die Fassade. Er kommt mir nun nicht mehr so unheimlich vor. Seine Aussagen passen außerdem haargenau zu Marias Bericht, den ich glaubhaft fand. Und er hat die schwierigen Fragen offen beantwortet.“

„Aber?“

„Aber ich finde es schwer zu glauben, dass ausgerechnet der Fotosammler der Familie sich die Gelegenheit durch die Lappen hat gehen lassen, eines der für ihn interessantesten und wichtigsten Objekte einzupacken. Erinnere dich: Er war laut Maria derjenige, der die Bedeutung des Bildes sofort erkannt hat. Wenn die bisher befragten Personen die Wahrheit gesagt haben, bleiben nur Mr Mustard, Rocky Raccoon und Duchess of Kirkcaldy im Kreis der Verdächtigen – Leute mit völlig anderen Interessengebieten. Ich bin geneigt, das Mädchen auszuschließen, weil ihr klar gewesen sein muss, dass sie sich für Kite zur offensichtlichen Zielscheibe gemacht hätte.“ Veronica überlegte.

Die Ampel schaltete auf Grün, ließ die letzten vor ihnen verbleibenden Fahrzeuge passieren und wechselte erneut zu Rot. Zach schnaufte und verdrehte die Augen.

„Was wäre, wenn es gar keinen Diebstahl gegeben hätte?“, fragte Veronica nun. „Hältst du es für denkbar, dass Kite denselben Trick abzieht, wie beim Manuskript – offiziell gestohlen, aber längst im Campbell‘schen Tresor verstaut?“

„Brillant. Du denkst wie eine echte Mafiosa. Wir hätten damit einen plausiblen Grund, weshalb er die eigene Person von den Ermittlungen ausgenommen sehen möchte. Doch weshalb beauftragte er überhaupt einen Detektiv?“

„Erstens, das würde seine Behauptung glaubhafter erscheinen lassen. Er ruft ‚Haltet den Dieb!‘ und begibt sich damit in die Opferrolle, während sich die Blicke aller Anwesenden suchend von ihm abwenden. Zweitens könnte er mit unserer Hilfe herausbekommen, ob er tatsächlich einem Komplott auf den Leim gegangen ist, wer daran beteiligt war und was die Gruppe erreicht hat.“

Zach brummte. Grimmig starrte er die noch immer rote leuchtende Ampel an. Hinter ihnen hupte jemand so ungeduldig, wie der Detektiv sich fühlte. „Vielleicht müssen wir eine Münze einwerfen, damit das blöde Ding uns durchlässt“, grollte er.


Der Mittfünfziger saß zurückgelehnt im Sessel, ein Bein lässig über das andere geschlagen. Er hatte kurze schwarze Haare und trug T-Shirt und Bluejeans, die nur auf den ersten Blick wie gewöhnliche Straßenkleidung aussahen, in Wirklichkeit jedoch teure Designertextilien waren. Sein Verhalten gab Zach unmissverständlich zur Kenntnis, dass der Mann eine klar geschnittene Vorstellung von der Welt besaß, dass er wusste, was er wollte, dass er es gewohnt war, Anweisungen zu geben, und dass er nicht lange um den heißen Brei herumredete. Rocky Raccoon weigerte sich, seinen bürgerlichen Namen zu nennen.

„Seit meiner Jugend kenne ich nichts anderes als Musik“, sagte er. “Mein Vater war einer dieser Starproduzenten, die man anrief, wenn man garantierte Hits brauchte. Er sorgte dafür, dass ich eine solide Ausbildung als Musiker, Tontechniker und Volkswirt erhielt und benutzte seine Kontakte, um mich im Management eines der größten Labels im Land zu platzieren. Ich habe die Firma über ein Jahrzehnt geleitet, bevor ich mich mit Fünfzig zur Ruhe setzte. Das hier –“ er zeigte mit dem Daumen über die Schulter zur Tür, die in den Laden führte, „– das hier ist mein privater Feldzug, eine mir selbst gestellte Aufgabe, die ich streng getrennt von meiner beruflichen Laufbahn halte. Die beiden schließen sich gegenseitig aus.“

„Ich bin sicher, manche in der Familie sehen das anders. Ich verstehe aber inzwischen, dass das Vorhaben ihrer… Gruppe den Interessen des Establishments, speziell der Musikindustrie, vollständig zuwider läuft. Ist es das, was Sie sagen wollen?“

„Haarscharf. Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, die Masche, mit Hilfe derer die Beatles groß geworden sind, bei jeder einzelnen Kapelle zu reproduzieren, die sie –“, er zeigte nach oben, „– in den Hitparaden platzieren wollten. Qualität spielte keine Rolle; das Schicksal der Musiker spielte keine Rolle; das Wohl des Kunden spielte keine Rolle; gesellschaftliche Folgen spielten keine Rolle. Es lief für mich nicht anders als für Leute in anderen Berufen. Sobald man begreift, dass die klaffende Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit weder zufällig entstand noch auf die Unfähigkeit einzelner Akteure zurückzuführen ist, muss man seine Wahl treffen. Es ist die wichtigste Entscheidung, vor der ein Mensch je stehen wird.“

Zach nickte und fügte hinzu: „Ob man in ihrem Schmierenstück mitwirkt oder das Theater verlässt.“

Rocky Raccoon wiegte den Kopf. „Sehr plakativ gesprochen: ja. Es gibt natürlich Graustufen, aber ich möchte betonen, dass man auf beiden Seiten des Orchestergrabens aktive und passive Rollen spielen kann. Es hat mir nicht gereicht, der Theatertruppe lediglich den Rücken zu kehren. Ich kann unmöglich auf dem Reichtum ausruhen, den ich im Dienst der Maschine angehäuft habe. Da ich nun aus eigener Anschauung weiß, was ich über sie weiß, bleibt mir nur die Wahl, ihr aktiv Widerstand zu leisten.“

„Leute wie Kite belächeln Ihre Bemühungen, denn er weiß genau, mehr als neunzig Prozent aller Menschen verstehen nicht, wovon Sie überhaupt reden. Und der größte Teil aller anderen wird Ihnen sagen, dass Sie sich bloß die Finger verbrennen.“

Rocky schnaubte. „Erstens geht es für mich in erster Linie um Ethik, um Wahrhaftigkeit, nicht um Erfolg. Es ist eine Frage des Prinzips. Zweitens versuche ich keineswegs, ‚die Welt zu retten‘, sondern nur meinen Beitrag zu einer gerechten Sache zu leisten, so wie ich zuvor, als Label-Manager, meinen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Maschine geleistet habe. Keins von beidem verlangt mehr von mir, als ein Mensch fähig ist, zu tun.“

„Verstehen Sie mich nicht falsch,“ erwiderte Zach, „ich bin da ganz bei Ihnen. Es interessiert mich einfach, wie Sie die Dinge sehen. Woher beziehen Sie die Kraft, einer weltumspannenden zehntausend Jahre alten Machtpyramide die Stirn zu bieten?“

„Lassen Sie es mich noch einmal mit Martin Luthers Worten sagen: ‚Hier stehe ich; ich kann nicht anders.‘ Dass Unterhaltung Lebenszeit auffrisst – schön. Dass Unterhaltung aus der Konserve unsere Fähigkeit zu eigener Kreativität zerstört – geschenkt. Aber dass massenproduzierte Unterhaltung aus der Konserve die Menschen zunehmend von der Wirklichkeit entfremdet – den natürlichen Grundlagen unserer Existenz, dem gesunden Menschenverstand und sogar von objektiven Tatsachen –, macht mich rasend. Diese Entfremdung war zwar stets Teil unserer Kultur; nun jedoch wird sie gezielt vorangetrieben. Sie und ich gehören derselben Generation an. Schauen Sie nur, wie sehr das Niveau menschlicher Fähigkeiten in den letzten fünfzig Jahren gefallen ist, und es war zuvor schon nicht mehr besonders berauschend: Handwerk, Kunst, technisches Verständnis, Logik, Sprache, Diskussionskultur, Miteinander, Leidensfähigkeit, geistige Gesundheit – um nur ein paar der am meisten betroffenen Bereiche zu nennen – haben im Verlauf unserer Lebenszeit dermaßen abgebaut, dass von Kultur kaum noch die Rede sein kann. Elemente von Vorsatz sollten so langsam auch für jene sichtbar geworden sein, die nicht wie ich direkte Anweisung bekommen haben, meine Bedenken zurückzustellen, erprobte Praktiken über Bord zu werfen und stattdessen tumbe Frontalangriffe gegen das Unterbewusstsein der Leute zu fahren. Doch mit dem Niveau sinkt auch die Fähigkeit, den Verfall überhaupt wahrzunehmen. Ein genialer Plan, gnadenlos ausgeführt.“

„Zu welchem Zweck, glauben Sie?“, fragte Zach.

„Um mit Gewalt ein neues Zeitalter herbeizuführen, das New Age, einen großen Neustart. Aleister Crowley sprach vom Zeitalter des Horus; seine Nachfolger reden vom Zeitalter des Wassermanns, das politisch von einer Neuen Welt-Ordung eingeläutet werden soll; im Prinzip der Weltstaat. Viele fürchten den Freiheitsverlust, den er mit sich bringen wird, aber im Vergleich zu den längerfristigen Zielen der Kontrolleure ist das Kleinkram. Ihre Vordenker imaginieren den Supermann, den Übermenschen, homo deus, eine transhumane neue Herrenrasse, die sich in einem alchemischen Prozess aus dem Staub und der Asche der alten Menschheit erheben soll. Sie kennt kein Schicksal, keinen Zufall, keine höheren Kräfte – ganz zu schweigen von Gott –, sondern nur totale Kontrolle über sämtliche materiellen, sozialen und geistigen Bedingungen des Daseins. Man experimentiert mit elektronisch-biologischen Schnittstellen herum und manipuliert Gene, um auf der einen Seite eine unsterbliche hyperintelligente Superrasse zu züchten und auf der anderen Seite eine Spezies degenerierter Sklaven, die zu keinen eigenen Gedanken mehr fähig ist. Es mag weniger wortreiche Definitionen von Satanismus geben, aber soweit es mich angeht, erfüllt die Ideologie der Herrschenden jede beliebige von ihnen.“

„Ihnen ist natürlich klar, dass Ihre Ansichten, milde ausgedrückt, keinen Popularitätspreis gewinnen werden. Schon Ihr Vokabular wird viele abschrecken.“

„Wie gesagt geht es mir ums Prinzip, um meinen eigenen Erwachensprozess – darum, die Dinge zu sehen, wie sie sind, und dann der erkannten Wahrheit entsprechend zu handeln. Es ist nicht meine Aufgabe, anderen Leuten die Scheuklappen abzunehmen; das liegt in deren Verantwortung. Ich kann nur anmerken, dass jene, die bezüglich des Zustandes der Welt keinen Zorn empfinden, entweder nicht hinsehen oder sich weigern, die Konsequenzen des Gesehenen bis ganz an ihre Ende zu durchdenken. Als Spezies bezahlen wir die Bagatellisierung des Bösen schon heute. Es schmerzt auf vielfache Weise, im einundzwanzigsten Jahrhundert zu leben. Die Qualen aber, die bei fortgesetzter kollektiver Ignoranz noch auf uns zukommen, vermag sich heute niemand vorzustellen.“

„Was meinen Sie damit, dass es schmerzt?“

„Wie viele Dinge tun wir lediglich aus Angst vor negativen Folgen? Oder anders gefragt: Wie viel von dem, was zu Ihrem Alltag gehört – Steuern zahlen, zum Arbeitsplatz pendeln, Vorschriften befolgen, Formulare ausfüllen, an Protestmärschen teilnehmen und so weiter – , würden Sie selbst dann noch betreiben, wenn Sie weder Strafe noch Verlust von Privilegien befürchten müssten? Diese Furcht ist der wichtigste Hinweis, dass wir unser Gleichgewicht als Personen und als Gesellschaften verloren haben. Es geht nur noch um Schmerzvermeidung für das kleine, verletzliche Ich. Wo einst Raum für Größeres und Höheres war, klafft ein riesiges Loch. Mit unseren Ängsten alleingelassen verfallen wir in zwanghaftes Verhalten. Das reicht von kleinen Ticks wie einem Waschzwang über Konsumismus bis hin zu Drogensucht, Psychosen, Depressionen und Suizid. All das sind Schmerzvermeidungsstrategien der menschlichen Psyche.“

It‘s got to be Rock‘n‘Roll / to fill the hole in your soul“, sang Zach eine ABBA-Zeile. „Ich habe übrigens vorige Woche von einer Untersuchung gehört, die zu dem Ergebnis kam, dass fast ein Drittel aller Bürger therapiebedürftig sei. Das klang zunächst wie eine ziemlich große Hausnummer. Aber Sie haben recht, vermutlich müssen wir Zahlen jenseits der neunzig Prozent ansetzen, wenn es um kulturell verursachte psychische Störungen geht.“

Rocky Raccoon hob seine Hand in einer Geste, die Zustimmung bekundete.

„Ich danke für Ihre Offenheit. Ich finde sie… nun, erfrischend trifft es nicht ganz, aber Sie verstehen hoffentlich, was ich meine. Lassen Sie mich auf den Grund zu sprechen zu kommen, dessentwegen ich Sie eigentlich eingeladen habe: die Ereignisse auf dem letzten Treffen der Familie. Darf ich Ihnen hierzu einige Fragen stellen?“

„Tun Sie sich keinen Zwang an.“ Rocky lächelte.

33) Käferplage

Veronica fühlte sich in ihrem Innersten erschüttert. Die Informationen, die sie von Maria erhielt, verliehen dem, was sie zu wissen glaubte, eine völlig neue Bedeutung. Sie veränderten das Bild, das sie sich von der Welt gemacht hatte, dramatisch. Die Weiterungen, die sich daraus ergaben, konnte sie im Moment natürlich nur schemenhaft absehen, doch ihr Ausmaß mutete schon jetzt monströs an. Etwas in ihr stellte sich quer, wollte nicht wahrhaben, was ein anderer Teil ihres Verstandes als korrekt erkannte. Dass die Wirklichkeit anders beschaffen war, als offizielle Stellen sie darstellten, hatte sie dank langer tiefschürfender Gespräche mit ihrem Vater längst begriffen, aber konnte denn… alles falsch sein, einschließlich ihrer eigenen Erklärung dafür, weshalb so vieles zwischen den Menschen – gelinde gesagt – ungünstig verlief?

Sie unternahm einen schwachen Versuch, Marias Erläuterungen zu relativieren: „Mir scheint das übertrieben. Die meisten Leute, die ich kenne, hegen keine bösen Absichten. Sie wollen nur das Beste für sich, ihre Familie und Nachbarn. Man kann ihnen doch nicht vorwerfen, dass sie Spaß haben oder ihre Jobs behalten möchten.“

„Wir alle wollen das. Es ist völlig natürlich. Aber wenn das alles ist – wenn es jenseits von mir selbst und dem, was zu mir gehört, keine Werte, Tugenden oder Ziele gibt, und wenn ich nicht bereit bin, meinen Vorteil mit dem Wohlergehen anderer in Einklang zu bringen –, dann entsage ich dem Guten. Und ich fördere den Zerfall aller Gemeinschaft. Inzwischen lösen sich nicht mehr nur unsere Gesellschaften und Familien auf, sondern auch der einzelne Mensch als Person: Viele haben keine Ahnung, wer sie sind oder was sie sind. Sie besitzen keine eigene Identität mehr und damit auch keinen eigenen Willen. Sie werden zu Freiwild für jeden Rattenfänger mit genug Geld und Einfluss, der sie für seine Zwecke instrumentalisiert. Sagen Sie mir: Wo stehen wir heute im Vergleich zu den Sechzigern? Sieht es danach aus, als ob der naive Wunsch, es möge mir und den Meinen gut gehen, zu einer besseren Welt geführt hat? Gibt es weniger Verbrechen, Lügen, Kriege, Armut, Ausbeutung und Umweltprobleme? Oder geht der Plan der Olympier auf, das Vertrauen in die alten Strukturen zu zerstören und die Gesellschaft immer mehr zu atomisieren?“

Veronica schüttelte den Kopf. „Sie stellen es so dar, als hätte diese ominöse… Elite… alles unter Kontrolle. Ich kann einfach nicht glauben, dass sie mit solch monströsen Plänen durchkommen könnten. Die Leute würden sich wehren.“

„Oh, die Kontrolleure müssen ihre satanische Zielen nicht einmal hinter dem Berg halten. Alles, was ich Ihnen erzähle – und mehr –, können Sie in Veröffentlichungen von Regierungen, globalistischen NGOs, transatlantischen Thinktanks und so weiter wiederfinden. Der Chef des Weltwirtschaftsforums – selbst eine Marionette – brüstet sich damit, seine Puppen weltweit in Regierungen, Parlamenten und Konzernen sitzen zu haben. Ihre Namen stehen in öffentlich zugänglichen Listen, aber die Bevölkerungen gehen weiterhin schön brav wählen und arbeiten. Erinnern Sie sich; es ist ja gar nicht lang her: Wie viele Leiter von Institutionen, Verwaltungsstellen, Organisationen, Medienhäusern, Gewerkschaften, Kirchen, Verbänden, Kultureinrichtungen, großen Vereinen und Konzernen haben Sie gezählt, die dem Narrativ vom Killervirus widersprochen haben? Wie viele haben Zweifel an der Wirksamkeit der Maßnahmen geäußert? Wie viele haben Bedenken wegen der eklatanten Rechts- und Verfassungsbrüche im Namen der Gesundheit zu Protokoll gegeben oder die massiven Angriffe auf die Menschenwürde verurteilt? Wie viele Maßnahmenverweigerer kennen Sie in Ihrem Umfeld? – Und was geschah mit den wenigen, die es wagten, aufzumucken?“

„Ich…“ Die Stimme der jungen Detektivin versagte.

„Die Olympier haben uns genau dort, wo sie es wollen. Wachen Sie auf, Veronica. Die Welt, in der wir leben, ist kein Zufallsprodukt. Sie wird aktiv gestaltet von Leuten, die Motive, Mittel und Gelegenheit haben, ihre erklärten Ziele durchzusetzen.“


Alright!“, brüllte John Lennon, dann verklangen die letzten verzerrten Gitarrentöne. Zach, der den frühen Nachmittag nutzte, ein paar der besten Gassenhauer der Beatles auszugraben, fühlte sich in seiner Rolle als Diskjockey wie um dreißig Jahre verjüngt. Veronica nahm die Ablenkung dankbar an. Während ihr Vater den Plattenspieler am Verkaufstresen bestückte, tanzte sie die Gänge des Ladens entlang nach hinten und wieder nach vorn. Gemeinsam hatten sie ‚Michelle‘ und ‚All You Need Is Love‘ mitgesungen und zu den aggressiven Tönen von ‚Revolution‘ abgerockt.

„Nach all dem, was ich über sie in Erfahrung gebracht habe, gefällt mir ihre Musik noch immer so gut wie in meiner Jugend“, sagte Zach.

„Und doch fühlt es sich ein wenig anders an“, widersprach Veronica. „Es geht zumindest mir so. Dir nicht?“

„Klar. Da schwingt nun etwas mit, das wir früher nicht gehört haben – besonders, was die Texte angeht. Wenn damals ‚Revolution‘ lief, sprach es meine rebellische Ader an. Du verstehst schon: der Sound, der Titel… Heute bemerke ich erst, dass das Stück eigentlich gar kein Aufwiegler ist. John gibt zu verstehen, dass manche scheinbar revolutionären Handlungen ins Leere laufen, und, naja, wir alle wollen Veränderung; was soll‘s?“

„Ja. Maria erwähnte heute früh so etwas in der Art. Alle schreien ‚Revolution! Revolution!‘, ohne zu wissen, was sie jenseits der Zerstörung der alten Ordnung damit erreichen wollen. Was am Ende im Gedächtnis hängen bleibt, ist der Titel des Stücks und die Unzufriedenheit mit dem eigenen Dasein. Ich vermute, die Beatles hätten ihre Hände in Unschuld gewaschen, wenn ihnen jemand Aufruf zur Rebellion vorgeworfen hätte.“

„Bei mir hat‘s ganz toll funktioniert“, stimmte Zach ihr zu.

„Ist dir übrigens aufgefallen, dass John singt: ‚But when you talk about destruction, don‘t you know that you can count me out… in‘? Was soll das denn aussagen?“

Zach blickte erstaunt auf. „Wirklich?“

„Ja, am Ende der ersten Strophe.“

„Nein, habe ich überhört.“ Er startete den Plattenspieler erneut und legte den Tonarm auf die Einlaufrille der Scheibe. Diesmal wiegte er nur sanft mit dem Kopf im Takt, während er intensiv den Textzeilen folgte. „Tatsächlich!“, brach es aus ihm hervor, als kurz nach Johns Äußerung, dass man nicht auf ihn zählen solle, ein winziges dahingehauchtes Wörtchen das genaue Gegenteil verkündete. „Kreuzdonnerwetter,“ fluchte er, „gibt‘s denn bei diesem Musikverein kein einziges Mal eine klare Aussage?“

Veronica grinste. „Vielleicht solltest du zu den Stones wechseln. Von denen bekommst du Satan, Sex und Drogen ohne alberne Versteckspiele geliefert.“

Zach suchte etwas, das er nach ihr werfen konnte, fand aber nur einen Bleistiftstummel. Veronica fing ihn aus der Luft. Sie legte den Kopf schief und kicherte: „Dann lass dich halt weiter von deiner Käferbande plagen.“


Spät am Abend steckte Veronica ihren Kopf ins Studierzimmer. Zach saß noch immer über seine Karteikarten gebeugt und schrieb Notizen. „Willst du nicht bald ein Ende finden? Es geht auf Mitternacht zu.“

„Was bist du? Die Weltuntergangsuhr?“, scherzte der Detektiv.

„Nein, deine Mutter. Und nun ab ins Bett!“

„Och, jetzt schon?“, quengelte Zach. „Darf ich das hier noch fertig machen?“

„Zachary Archibald!“, donnerte Veronica.

„Na schön. Es geht eh nur um Kleinigkeiten. Sieh mal, das ist der Plan für die Interviews. Ich habe heute die restlichen Zeugen abtelefoniert.“ Er zeigte ihr den Terminkalender.

Sie las: „Freitag 14 Uhr: Miller; Samstag 9 Uhr: Rocky; 13 Uhr: Mustard; Sonntag 9 Uhr: Paul; Montag 10 Uhr: Henry. – Okay, wir werden also zügig durchkommen, trotzdem bleibt genug Luft für vertiefende Recherchen… oder Verschnaufpausen. Was geschieht am Sonntag?“

„Der Postbote brachte heute einen Brief von Miller. Pauls Einäscherung ist für neun Uhr angesetzt.“

„Oh…“ Sie schwieg einen Augenblick. Dann fragte sie: „Ich war noch nie bei so etwas dabei. Ist das gruselig anzusehen?“

„Nein. Wir werden am offenen Sarg Abschied nehmen – also im konkreten Fall erst einmal ‚Hallo‘ sagen. Zwanzig Jahre… davor gruselt mich am meisten.“

Veronica nickte. Sie hatte schon Erfahrungen mit dem Tod gesammelt, sogar Leichen angefasst. Pauls Anblick würde sie wohl nicht schockieren. Aber sie konnte sich vorstellen, dass es besonders bedrückend für ihren Vater sein musste, nach so langer Zeit der Trennung nur noch einem Toten zu begegnen.

„Danach wird die Kiste verschlossen und verschwindet durch eine Öffnung“, fuhr Zach fort. „In ein paar Tagen bekommen wir die Asche in einer Urne überreicht; alles sehr sauber und antiseptisch. Es ist kein Vergleich zu dem, was ich in Varanasi gesehen habe. Dort verbrennen sie die Leichen offen auf Holzstößen und streuen die Asche danach in den Ganges. Du kannst alles ganz genau beobachten.“

„Eines Tages werde ich es mir ansehen. Doch gerade jetzt…“

„Gerade jetzt brauchen wir keinen weiteren Nervenkitzel. Ganz meine Meinung.“ Er klappte den Bildschirm in die Tischfläche zurück und erhob sich. „Zeit, etwas Ruhe zu finden.“

Sie verließen das Studierzimmer. Veronica hielt vor ihrer Tür inne. Ohne sich umzudrehen sagte sie: „Gute Nacht, John-Boy.“

Zach lächelte. „Gute Nacht, Elizabeth.“


„Guten Morgen, Signore Ziegler“, grüßte Maria ihren Arbeitgeber am Freitag Morgen. „Heute sind sie aber früh auf den Beinen. Haben Sie etwas vor?“

„Guten Morgen, Mrs Borghese. Ja, ich habe tatsächlich Termine, aber erst am Nachmittag. Ich schlief ein wenig unruhig. Da dachte ich, der Tag nimmt einen besseren Anfang, wenn ich etwas tue, statt mir das Kreuz platt zu liegen. Übrigens…“

„Si, Signore?“

„Was halten Sie davon, wenn wir uns die Höflichkeiten schenken uns beim Vornamen anreden?“

„Einverstanden.“

„Ich auch,“ rief Veronica, die gerade aus dem Hinterzimmer zu ihnen gestoßen war. „Veronica.“ Sie streckte der Italienerin die Hand hin. Die ergriff sie, schüttelte sie ein Mal und sagte: „Maria.“

„Nenn mich Zach“, sagte der Detektiv und streckte ihr ebenfalls die Hand hin. Maria reichte die ihre. Die beiden sahen sich einen Moment länger in die Augen, als die Etikette es erlaubte. Ein Hauch von Röte flog über Zachs Gesicht. Maria lächelte verträumt. Schließlich lösten sie die Hände.

„Steht heute etwas Besonderes an?“, erkundigte Maria sich.

„Du kochst uns allen einen schönen starken Kaffee“, kommandierte Zach. „Und währenddessen erzählst du uns, wie du zu deinem kuriosen Spitznamen gekommen bist.“

„Semolina Pilchard?“

Zach und Veronica nickten in perfektem Einklang, als folgten sie einer Choreographie. Maria lachte amüsiert. „Das ist schnell erklärt“, antwortete sie. „Er stammt aus dem Song ‚I am the Walrus‘ und verballhornt laut John den Namen eines englischen Polizisten, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, bekannte Musiker bei Drogendelikten zu erwischen.“

„Sowohl du als auch Onkel Paul führten Polizistennamen. Zufall?“, erkundigte sich Veronica.

Maria zuckte mit den Schultern. „Wir beide waren die Schnüffler der Familie, und wie die beiden Charaktere aus den Songs waren wir gut bei dem, was wir taten. Es passte gewissermaßen.“

32) Gestern und heute

Veronica begann den Morgen mit einer kleinen Recherche. Molly Jones hatte am Vortag sehr seltsam reagiert, als Zach gescherzt hatte, der Koffer eigne sich fast für die Aufnahme eines Menschen. Die Sekretärin hatte das Album ‚Yesterday and Today‘ erwähnt und sich geschüttelt. Veronica kannte den Titel nicht, ging aber wie selbstverständlich davon aus, dass es sich um ein Beatles-Werk handelte. Sie blätterte durch die LP-Sortierkästen des Ladens. Sie fand drei Exemplare des Albums. Eines zeigte drei der Pilzköpfe um einen auf seiner kleinsten Seitenfläche stehenden Kistenkoffer geschart. Der Deckel war geöffnet und im Inneren saß Paul McCartney. Obwohl die Gesichter der vier Musiker keine Trauer ausdrückten, stellte Veronicas Imagination die Verbindung zu einem Sarg oder dem Verscharren eines Leichnams her. Sie suchte auf der Rückseite des Covers nach dem Copyright-Datum. Da, 1966. Yesterday and Today‘ musste eine der letzten Veröffentlichungen gewesen sein, an denen der biologische Paul McCartney mitgewirkt hatte. Im Gegensatz zu Molly Jones war sie nicht der Meinung, dass der dort abgebildete Koffer dem von Jane Asher glich, verstand jedoch ihre instinktive Reaktion auf den Scherz ihres Vaters.

Die Hüllen der beiden anderen LPs zeigten ein völlig anderes Bild: Die Beatles trugen weiße Arbeitskittel. Man hatte sie mit etwas garniert, das auf den ersten Blick wie Leichenteile aussah. Bei näherer Betrachtung erkannte sie, dass es sich um Körperteile aus der Tierschlachtung sowie lebensgroße nackte Baby-Plastikpuppen handelte, deren Köpfe nicht mehr auf den Rümpfen saßen. Die vier Musiker schienen die Metzgerszene zu genießen. Sie strahlten und grinsten, als habe ihnen jemand einen guten Witz erzählt. McCartney saß genau im Zentrum. Das Motiv stach schockierend aus der ihr bekannten Parade biederer Sechzigerjahre-Produktionen heraus. Das Spiel mit Ekel und Gewalt als Verkaufsargument trieben eigentlich Punk- und Metal-Bands, zehn beziehungsweise zwanzig Jahre später. Nicht einmal die Stones hatten Vergleichbares gewagt.

Veronica stellte fest, dass Onkel Paul die Scheibe mit dem Kofferbild für vergleichsweise kleines Geld verkaufte, für das Metzger-Ding hingegen Mondpreise im fünfstelligen Bereich aufrief. Sie leitete daraus ab, dass der Koffer die reguläre Version schmückte, die Schlachter-Clique eine limitierte, zensierte oder nur regional verkäufliche, jedenfalls rare Version. Sie wunderte sich erneut über die bizarren Dinge, die allenthalben zum Vorschein kamen, wenn man ein wenig am glänzenden Lack der Fab Four kratzte.

Ein Geräusch an der Ladentür ließ Veronica herumfahren. Ihr Nervenkostüm hatte gelitten, seit sie in Liverpool angekommen waren, stellte sie fest. Sie sah Maria, die den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte und gerade im Begriff stand, sich selbst einzulassen. Veronica winkte ihr, während sie sich in Bewegung setzte, um ihr zu öffnen. Die Italienerin zog den Schlüssel wieder ab. „Guten Morgen, Signorina Veronica“, sagte sie dankbar.

„Guten Morgen, Maria. Überpünktlich wie immer.“

„Störe ich?“

„Im Gegenteil. Ich kann Gesellschaft heute ganz gut gebrauchen.“

„Haben Sie schlecht geträumt?“

„Danke der Nachfrage. Ich hätte Anlass dazu gehabt.“

Maria sah die Schallplatten, die die Detektivin auf den Sortierkisten liegen gelassen hatte. „Na, da kann einem aber auch schlecht werden, wenn man den Tag mit solchen Szenen beginnt.“

Veronica schnaubte. „Können Sie mir erklären, weshalb eine angeblich für Frieden und Liebe stehende Band sich in einer derart morbiden Aufmachung fotografieren lässt?“

„Von wegen, morbide – Avant-Garde! So lautet zumindest die gängige Erklärung.“

„Morbide und geschmacklos. Wie lautet die zweitgängigste Erklärung?“

Maria warf ihr einen listigen Blick zu und fragte zurück: „Wie kommen Sie darauf, dass es die gibt?“

„Weil das, was in den Zeitschriften und Büchern über die Beatles steht, mehr Löcher enthält als ein Schweizer Käse, mehr Widersprüche aufweist als ein falsches Geständnis, und weil ich bisher für jede solche Story eine besser zu den Tatsachen passende gefunden habe.“

„Schön beobachtet. Wie wär‘s dann hiermit: Die Beatles hatten die Nase voll davon, dass ihre Alben für US-Veröffentlichungen von der Plattenfirma verhackstückt wurden. Capitol Records hat sie gekürzt, umgestellt und mit anderen ihrer Werke kombiniert. In diesem Fall hat das Label einige Songs vom noch nicht erschienenen ‚Revolver‘-Album mit Stücken von den beiden Vorgängern auf ‚Yesterday and Today‘ gepresst. Das ‚Butcher-Cover‘, wie es von Kennern genannt wird, sollte ein visueller Protest werden. Der Schuss ging nach hinten los; die schon ausgelieferten Chargen mussten nach massiven Beschwerden von Händlern und Kunden zurückgerufen und neu verpackt werden. Die Band hat aber zumindest erreicht, dass ‚Yesterday and Today‘ das letzte solche Produkt blieb.“

„Grimms Märchen, die Zweite. Als ob die PR-Leute des Labels keine Ahnung hatten, welch eklatanten Tabubruch sie begingen! Waren sie auf Schockwirkung aus? Schließlich ist auch schlechte Presse gute Werbung.“

Maria wiegte den Kopf. „Es gibt hier zwei sehr interessante Umstände, die gegen eine simple PR-Aktion sprechen – und für eine tiefer gehende Manipulation. Ad 1: Yesterday and Today wurde am 15.6.‘66 veröffentlicht. Nehmen wir eine einfache numerologische Operation vor: Eins plus fünf ergibt sechs, für all jene, denen die drei weiteren Sechsen nicht genügen. Vier mal sechs ergibt 24. Zwei plus vier ergibt wieder…“

„Sechs! Hol‘s der Teufel.“

„Nur eins von vielen Beispielen, in denen die Veröffentlichung an Daten mit esoterischer Bedeutung stattfand. Ad 2: Im August, vier Tage vor Beginn der US-Tour erschienen drüben sowohl das Album ‚Revolver‘ als auch die Single-Auskopplung ‚Eleanor Rigby / Yellow Submarine‘. Von den insgesamt vierzehn Songs spielten sie wie viele live? Was glauben Sie?“

„Die Bands, auf deren Konzerten ich war, haben stets mehr als die Hälfte, manchmal sogar alle Lieder von ihrer neuesten Scheibe gespielt.“

„Die Beatles spielten keinen einzigen aktuellen Song, nur zwei vom Vorgänger ‚Rubber Soul‘, und neun alte Kamellen, darunter zwei Coverstücke.“

Veronica runzelte die Stirn. „Ich bin zwar keine PR-Spezialistin; vielleicht hat man den Zweck von Öffentlichkeitsarbeit in den Sechzigern auch anders verstanden als heute, aber aus meiner Sicht wurde bei der Vermarktung von ‚Revolver‘ Murks gebaut. ‚Yesterday and Today‘ fraß Aufmerksamkeit und Kaufkraft auf. Gleichzeitig sorgte das Butcher-Cover für einen Skandal, der bestimmt manche von ihrer Beatlemania kurierte. Und zu guter Letzt wird das neue Material überhaupt nicht live gespielt? Was sollte die Tour überhaupt bringen?“

„Wie ich schon sagte, es sieht mehr nach Massenmanipulation aus. Die Beatles wurden über Monate ins Bewusstsein der Konsumenten gepresst. Ein Compilation-Album, eine Single, eine neue LP, Interviews, Zeitungsberichte, Skandalnachrichten, Tour… Die simplen Melodien und albernen Teenie-Liebestexte der frühen Alben gingen gut ins Ohr; ‚Revolver‘ klang weniger gefällig, die neuen Stücke waren wesentlich komplexer. Also hat man sie weggelassen, um die Stimmung bis zum 29. August, dem Tag des allerletzten Konzerts vor einem Massenpublikum, nochmals richtig aufzuheizen. Dreizehn Tage später stirbt McCartney; eine neue Ära beginnt, in der die Band Psychedelic-Musik schreibt, deren Texte fast ausschließlich aus unterschwelligen Botschaften bestanden, und in der ihre Mitglieder offen den Gebrauch von Hasch und LSD befürworten.“

„Verstehe,“ sagte Veronica, „Die Fans und die Radio hörende Bevölkerung vollzogen die Lockerung der Moralvorstellungen mit, denn wenn‘s ihre Lieblinge, die vier netten Jungs aus Liverpool, gut fanden, musste es cool sein. Dann folgte der Sommer der Liebe, Flower Power, Vietnam-Proteste, New Age – was gibt es daran auszusetzen? War das nicht eine Verbesserung gegenüber dem verkrusteten, verklemmten Zustand vorher?“

„Relativ gesehen schon, aber es geht den Olympiern nicht um Reformen. Billy Shears schreibt in seinen Memoiren, dass es ihr Ziel sei, die alte Ordnung komplett zu zerstören, um ihre neue Weltordnung wie Phoenix aus der Asche daraus erstehen zu lassen. Institutionen, Traditionen, Religionen, Nationen und so weiter – Konzepte, die dem Leben einen Halt und einen Rahmen geben – sollen ihrer Grundlagen beraubt und aufgelöst werden. Dann folgt ‚der Große Neustart‘. Die Unterhaltungsindustrie spielt eine wesentliche Rolle im Zerstörungswerk, weil sie zum einen für harmlos gehalten wird, zum anderen jedoch ihre Inhalte tief ins Unterbewusste des Menschen einpflanzt. Gerade junge Menschen, die sowohl formbar sind als auch gern gegen die herkömmlichen Normen rebellieren, können auf diesem Weg leicht für die Sache der Olympier eingespannt werden. Billy schreibt, die Beatles und die Rolling Stones seien gezielt aufgebaut und eingesetzt worden, um Barrieren zu brechen.“

„Wer sind diese Olympier? Halten die sich für Götter? Was wollen sie von uns?“, wunderte sich Veronica.

„Die Kontrolleure nennen sich so. Sie entstammen uralten Blutlinien, Dynastien, die Jahrtausende in die Vergangenheit zurückreichen, vielleicht sogar bis zum Beginn der Zivilisation. Sie bedienen sich der Illuminati, diese bedienen sich der Freimaurer, und letztere bedienen sich der gesellschaftlichen Hierarchien, um die gewöhnliche Bevölkerung zu lenken. Letztlich geht es um die Schaffung eines neuen Menschen, einer künstlichen Spezies – unsterblich, allwissend, allmächtig –, die den Göttern, der Natur, ja dem gesamten Universum trotzen kann.“

„Größenwahn, wie er im Lehrbuch steht.“

„Psychopathen und Soziopathen, Signorina, wenn man es in psychologischen Begriffen ausdrücken will; Satanisten, wenn man es aus religiöser Sicht betrachtet. Falls es stimmt, was Billy Shears schreibt, sind nicht nur die oberen Ränge der Freimaurer und die Illuminaten Satanisten. Die Olympier selbst glauben, dass Luzifer die Welt regiert.“

„Jetzt verstehe ich so langsam, weshalb Mr Kite sagte, McCartney habe es verdient, Luzifer übergeben zu werden. Er meinte buchstäblich eine Opferung, richtig?“

„Si. Ich deutete es vor ein paar Tagen schon einmal an.“

„John Lennons Spruch, er habe seine Seele an den Teufel verkauft, muss man dann ebenfalls wörtlich nehmen, oder?“

„So ist es. Manche glauben, es geschah am 27. Dezember 1960, als das erste Mal ein Beatlemania-ähnlicher hysterischer Ausbruch auf einem ihrer Konzerte entstand; Billy nennt den 24. Oktober 1963. Es spielt keine Rolle. Paul und John, und vielleicht auch George, sagten Dinge, deren Tragweite sie in ihrem jugendlichen Leichtsinn kaum abschätzen konnten. Geld, Mädchen, Ruhm, Einfluss – der Teufel gibt dir alles, wenn du ihm im Gegenzug deinen größten Schatz versprichst: deine unsterbliche Seele.“

„Ich mag das Wort ‚Gott‘ nicht; es ist überfrachtet mit Vorstellungen, die ich nicht teile“, sagte Veronica, „aber ich glaube, es gibt etwas Höheres, eine ordnende Kraft, die das Leben liebt. Die Seele ist es, die uns lebendig macht, oder?“

Maria nickte.

„Ich glaube aber nicht an den Teufel. Der wurde doch nur erfunden, um den Menschen Gehorsam beizubringen.“

Die Italienerin lachte trocken. „Ich würde mich hüten, ihn zu unterschätzen. Erstens besitzt das Böse eine eigene Dynamik, eine Kraft, die dem Guten, dem Göttlichen, entgegen gerichtet ist. So wie Christus das Fleisch gewordene Gute darstellt, personifiziert der Teufel das Böse. Sie können sich die beiden Seiten in ganz verschiedenen Worten, Bildern und Konzepten zurechtlegen, aber ihre Existenz als solche bleibt davon unberührt.“

„Verstehe. Jede Kultur formt ihre eigenen Mythen, um die Kräfte zu erklären, die ihr Dasein beeinflussen.“

„Si, Signorina Veronica. Deshalb spielt es – zweitens – keine Rolle, ob Sie den Teufel, Satan oder Luzifer für real halten oder nicht. Was zählt ist vielmehr, dass die Olympier und ihre Untergebenen an ihn glauben, denn es hat Auswirkungen auf alles, was sie tun. Paul McCartney mag den Teufel für einen Witz gehalten haben, fiel aber dennoch dem Silberhammer der Satansdiener zum Opfer. Da sie global alle Machtstrukturen kontrollieren, stimmt Billys Aussage, dass Luzifer die Welt beherrscht; ob im übertragenen oder wörtlichen Sinn, bleibt sich gleich.“

Im Gesicht der jungen Detektivin zeigte sich Betroffenheit.

„Es gibt hierbei noch einen dritten Aspekt, der genau wie die beiden anderen von der Mehrzahl unserer Zeitgenossen abgestritten und daher überhaupt nicht beachtet wird. Die Riten, Opfer und Beschwörungsformeln des religiösen Satanismus sind nicht der Kern seiner Lehre. Das sind sie bei keiner Religion. Der Lohn des Satanisten sind weltliche Güter. Mit anderen Worten: Er glaubt an den radikalen Materialismus und verankert den Menschen daher in der rein physisch-rationalen Ebene, die seinem niederen Ego-Bewusstsein entspricht. Wenn wir bedenken, wie die Wirklichkeit in den Medien gezeichnet wird, wie Geld alle Bereiche der Gesellschaft dominiert, was die Leute allgemein für erstrebenswert halten und wer in ihrem Leben die Hauptrolle spielt – nämlich nur sie selbst –, dann können wir ohne Einschränkung festhalten, dass die Mehrzahl der Menschen Materialisten und Egoisten sind. De facto handeln sie wie Satanisten.“

28) Die junge Herzogin und ihr Märchenprinz

Durch die Erkenntnisse aus seinen Recherchen zu Fab-Store-Paul und Beatle-Paul hatte die Ernüchterung über den Zustand des Menschengeschlechts eine neue Dimension bekommen. Zach wusste nun mit Bestimmtheit, dass es das Böse gab. Disney-Comics wollten uns weismachen, das Böse sei ein hässlicher Gnom, der sich mit fiesem Grinsen die Hände rieb, wenn er jemand in die Pfanne hauen konnte. Das Böse war banaler. Es war alltäglicher. Es gedieh in unser aller Gleichgültigkeit gegenüber dem Nächsten, unserem ‚gesunden Egoismus‘, unserem Materialismus, unserem Kuschen vor Autorität. Es gab da jedoch eine Ebene des Bösen, die sich diese Neigungen zunutze machte, ja regelrecht kultivierte, eine Ebene, die davon profitierte und mit kalter Berechnung auf die Schwäche unserer Herzen und unseren Mangel an Rückgrat setzte. Diese Ebene war bevölkert von Psychopathen, Menschen, die über andere Menschen Macht suchten – und sie hatten sie gefunden. Niemand behinderte ihr Streben, vor allem nicht jene, die den Schmerzen aus dem Weg gingen oder, falls das misslungen war, sie mit Alkohol, Musik, Fernsehen, Hobbys, Arbeit, Sex, Shopping oder anderen Drogen betäubten. Den Psychopathen fehlte jede Empathie. Ihnen war das Leid der Anderen egal. Sie benutzten sie als Mittel zum Zweck. Korruption und Misswirtschaft waren noch ihre geringsten Vergehen.

„Es stimmt. Ich war ganz schön dumm“, bekannte Zach schließlich. „Ich war so dumm, die Ammenmärchen der Mainstream-Kultur zu glauben: dass die Polizei dein Freund und Helfer ist; dass wir in der Schule fürs Leben lernen; dass gewählte Regierungen unsere Interessen vertreten; dass der Markt es schon regeln wird; dass Nachrichten über wichtige Ereignisse berichten; dass Romane, Musik, Filme und Computerspiele nur Unterhaltung sind. Ich sollte langsam aufhören, mich zu wundern, warum die Probleme in unserer Gesellschaft nie gelöst werden, sondern stets größere Ausmaße annehmen.“

Maria Borghese nickte wissend. „Menschen wie Sie und ich müssen die Spannung zwischen dem Erzählten und dem Erkannten aushalten – einfach weil uns der Unterschied zwischen den beiden bewusst ist.“

„Damit zu leben finde ich manchmal ganz schön schwierig.“

„Wach zu sein macht das Leben nun mal nicht schöner, nur interessanter.“ Sie lachte trocken. „Ich weiß, Sie sind einer, der der Wahrheit zu ihrem Recht verhelfen will. Das wollen auch einige von uns. Aktiv etwas dafür zu tun steigert das Wohlgefühl ganz erheblich.“

„Glauben Sie, Sie tun genug?“

Maria schaute ihn zum ersten Mal mit zusammengezogenen Augenbrauen an. „Bin ich Gott der Allmächtige? Was eine einzelne Frau oder auch eine Gruppe von Menschen unternehmen kann, wird allein nie genug sein, die Maschine ins Taumeln zu bringen. Was zählt ist unser Leben – wer wir sind und was wir tun. Und soweit es das Tun betrifft, so tue ich, was ich kann. Den Rest besorgt eine höhere Macht.“ Nach einer kurzen Pause: „Kite sammelt Beweise für den Tod des biologischen Paul McCartney. Wenn er zum Clan von Billy Shears gehört, wie er behauptet, dann beabsichtigt er, das Material endgültig aus dem Verkehr zu ziehen.“

„Die Aufklärung des gemeinen Volks scheint kein Programmpunkt auf Kites Agenda zu sein“, sagte Zach.

„Si. Mr Mustard, Dr Robert und Rocky Raccoon haben daher vor einer Weile beschlossen, dass sie zumindest Fotos, Filme oder Kopien von den Beweisen anfertigen werden. Letzten Monat konnten sie die kleine Kirk überzeugen, ihnen zu helfen. Mehrere Tage vor der Versammlung haben sie auch mich eingeweiht. Da das Eintreffen des Koffers mit seinem brisanten Inhalt erwartet wurde, wollten sie die Gelegenheit nutzen, das Manuskript durchzufotografieren, bevor es in Kites Safe verschwindet. Sie planten, Kite entweder unter Drogen zu setzen oder für längere Zeit abzulenken.“

„Sie hätten das Ding direkt bei Paul kopieren können“, unterbrach Paul ihren Redefluss.

„Nein, wir wollten Paul nicht hineinziehen. Er war als Lieferant einfach zu wichtig, als dass wir ihn kompromittieren durften. Wie sich herausstellte, kam am Tag X sowieso alles anders.“

„Erzählen Sie mir von dem Abend. Wer war anwesend?“

„Es war ein Samstag. Ich sammelte Kirk ein und fuhr mit ihr zum Schloss. Wir kamen gegen sieben Uhr dreißig an. Bis auf Henry und Robert, die eine halbe Stunde später eintrafen, sowie PC31 – Paul – waren alle schon da.“

„Alle heißt – wer?“

„Desmond und Molly Jones, Mustard, Rocky und natürlich Kite. Kirk erzählte mir während der Fahrt, dass alles für den Coup vorbereitet war. Die Gruppe hielt es für zu riskant, Kite durch Alkohol oder Medikamente schlafen zu schicken. Die Gefahr, dass sie entdeckt wurden oder der Gastgeber das Treffen vorzeitig beendete, erschien ihnen zu hoch. Plan B sah vor, dass Kirk ihn verführte. Viel gehörte nicht dazu. Es war für alle Beteiligten nur zu offensichtlich, dass er sie haben wollte. Sie sollte unter der Bedingung einwilligen, dass sie das Manuskript genauer ansehen durfte. Dann sollte sie ihm K.O.-Tropfen in den Drink schütten, das Manuskript zum Kopieren herausreichen und es anschließend wieder in Empfang nehmen. Am Ende sollte sie die Tropfen selbst einnehmen, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen.“

„Scheißplan“, kommentierte Zach.

„Ich habe genau dasselbe Wort verwendet, aber sie ließ sich nicht davon abbringen. Da wir nur noch wenige Fahrtminuten vom Schloss entfernt waren, blieb keine Zeit, ihr die Dummheit auszureden. Ich konnte lediglich ihrer Bitte nachgeben, die Kontaktperson vor der Schlafzimmertür zu spielen.“

„So weit, so schlecht. Doch dann liefen die Ereignisse aus dem Ruder.“ Zach formulierte es mehr als Feststellung denn als Frage.


Zu fortgeschrittener Stunde befanden sich Gastgeber und Gäste in einem eben so fortgeschrittenen Stadium der Betrunkenheit. Ungeduld machte sich breit. Immer wieder schlug der eine oder die andere Feiernde vor, Kite solle PC31 anrufen, aber der Schlossherr wiegelte ab. Der Ladenbesitzer werde seine Gründe haben. Wahrscheinlich sei spät noch ein wichtiger Kontakt mit einer Quelle zustande gekommen. Er habe gehört, PC31 sei einem ganz großen Objekt dicht auf der Spur. Also warteten sie und tranken, und Kite ließ den nächsten Gang auffahren. Die Sammler begannen ihre letzten Neuerwerbungen zu präsentieren. Sie rezitierten lange, verworrene Geschichten, wie es ihnen allen Widerständen zum Trotz gelungen war, ihre Beute aufzuspüren. Die Eingeweihten jenes Teils der Familie, die den Plan geschmiedet hatten, Kite der Exklusivität seiner Sammelobjekte zu entledigen, warfen einander zunehmend häufiger nervöse Blicke zu.

Duchess of Kirkcaldy, die einen schulterfreien engen Einteiler aus rotem Leder trug, der knapp unter dem Gesäß endete, und darunter nichts als rote Stöckelschuhe, nutzte jede Gelegenheit, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Während sie den neuesten Klatsch über Stars und Sternchen der Musikszene und deren Sexpraktiken verbreitete, warf sie Mr Kite immer wieder herausfordernde Blicke zu. Der lächelte nur, sagte gar nicht viel, stellte aber von Zeit zu Zeit eine Bemerkung in den Raum, die sie wissen ließ, dass er ihr interessiert zugehört hatte. Nachdem sie das Abendessen beendet und den Speisesalon verlassen hatten, um es sich in einem gemütlich eingerichteten Raum im rückwärtigen Bereich des Schlosses auf Liegestühlen und Diwanen bequem zu machen, ging Kirk zum offenen Angriff über. Während die anderen Sammler lautstark über Yoko Ono und ihre Rolle bei der Trennung der Beatles diskutierten, setzte sie sich eng neben Mr Kite auf eine der mit dicken Kissen gepolsterten Fensterbänke.

„Du hast mir noch gar nicht zum Geburtstag gratuliert“, beschwerte sie sich beim Schlossherrn. Sie strich lasziv eine lange schwarze Locke aus ihrem Gesicht.

„Oh?“ Kites Lautäußerung klang, als habe er gerade eine interessante aber nebensächliche Information erhalten. „Wie lang bin ich überfällig?“

„Dir bleiben noch etwa zwei Stunden, das Schlimmste zu verhindern, und du weißt das ganz genau, du Schuft! Ich sollte eigentlich mit meinen Freundinnen im White Star sitzen und richtig groß feiern. Ich meine – wie oft im Leben wird man volljährig?“

„Ist das wahr? Du feierst heute deinen achtzehnten Geburtstag?“

„Von feiern kann bisher keine Rede sein. Ich sitze in einem alten Kasten, von alten Leuten umgeben – Anwesende selbstverständlich ausgenommen –, wir reden, worüber wir immer reden: die verdammten ollen Beatles, und der Mann, der mich in diese Situation genötigt hat, unternimmt nicht das Geringste, um meine Bedürfnisse zu stillen.“ Sie warf die feuerrot gefärbten Lippen zu einem Schmollmund auf.

„Also, zunächst einmal hat dich niemand gezwungen. Du bist aus freien Stücken hierher gekommen und hast dich sogar noch hübsch in Schale geworfen.“ Er musterte sie demonstrativ vom Kopf bis zu den Füßen und wieder zurück, wobei er die prominenteren Zwischenstationen längerer Blicke würdigte. „Vielleicht habe ich meine Qualitäten als Märchenprinz bisher zu wenig zur Geltung gebracht, doch ich kann dir versichern, ich bin wirklich einer, denn ich wohne schließlich in einem Märchenschloss.“ Er wies auf die Gemäuer um sie herum. „Ich verwehre mich energisch gegen die Bezeichnung ‚alter Kasten‘!“

Kirk, die mehr als einen Kopf kleiner als der Hüne war, lächelte zu ihm auf. Dann lehnte sie sich gegen seine Schulter. Kite legte einen Arm um sie. „Kein alter Kasten,“ sagte sie gnädiger gestimmt, „aber haben die Jungfrauen im Märchen nicht drei Wünsche frei?“

„Drei? Willst du mich ruinieren?“, fragte Kite in gespielter Entrüstung.

„Nun, dann eben zwei.“

„Einen. Das muss genügen.“

„Einen nur?“, fuhr Kirk entrüstet auf. „Einen, als wäre ich zum Tode verurteilt?“ Sie seufzte, legte eine Hand aufs Herz, die andere auf sein Knie, überlegte einen Moment und sagte dann: „Wenn ich morgen sterben müsste…“ Sie hielt inne.

„Ja?“

„Wenn ich morgen sterben müsste, wäre mein letzter Wunsch, Gewissheit darüber zu bekommen, ob auch ER gestorben ist. Du weißt schon: er, Paul. Bitte, lass mich das Manuskript lesen oder irgendeinen anderen Beweis sehen, was mit ihm geschehen ist.“ Duchess of Kirkcaldy schaute Kite halb flehend, halb kokettierend in die Augen.

Die Erektion, deren Entstehen sie in seinem Schritt beobachtet hatte, verlor an Offensive. Dafür bemerkte sie eine größere Härte in seiner Stimme, als er antwortete: „Kein bescheidener Wunsch; ich hoffe, du weißt, was du da verlangst.“

„Gehab dich nicht so furchtbar schottisch“ gurrte sie. „Würdest du einem Mädchen drei bescheidene Wünsche gewähren, müsste sie keinen außergewöhnlichen äußern. Ach bitte, tu mir den Gefallen.“

„Wenn du für die Erfüllung deines Wunsches sterben würdest, wozu wärst du dann noch bereit?“

„Zu allem, was du verlangst“, hauchte Kirk.

„Du wirst bekommen, wonach du verlangst“, beendete Kite das Gespräch, erhob sich und schlenderte mit seinem Sektglas zu der Gruppe schnatternder Sammler hinüber, die im Halbkreis um eine Gemälde John Lennons standen und noch immer heftig diskutierten. Während das Mädchen auf der Fensterbank sitzend zurückblieb – zitternd, ohne zu wissen, ob vor Furcht oder vor Lust – stieß der Schlossherr mit den von Alkohol benebelten Gästen auf Paul Campbell an. Die meisten vermissten ihn schmerzlich, vor allem jene, die im Geiste schon ihre Finger auf das Evans-Manuskript legten. Außer Semolina Pilchard hatte niemand die Szene auf der Fensterbank bemerkt.

25) Jenseits von 1984

Der eiförmige weiße Kleinwagen verstopfte noch immer die Durchfahrt unter dem Vordach des Haupteingangs zum Schloss. Während Veronica wenig geschickt die Tür des GT aufzuschließen versuchte, musterte Zach das Nummernschild des Käfers erneut, da er in verschiedenen Datenbanken nach ihm zu suchen gedachte. Schließlich wurde die Beifahrertür von innen entriegelt. Während er einstieg, brauste der Motor auf. Der Sportwagen setzte zurück, bis er die Stelle erreichte, wo die beiden Äste der Zufahrt sich wieder vereinten. Dann schoss er auf Geheiß von Veronicas Stiefel aus dem Hof des Schlosses hinaus, durch den Park und den kleinen Wald bis zur Mauer. Das Tor stand offen. Ohne zu zögern lenkte die Fahrerin den orangefarbenen Blitz auf die Landstraße Richtung Liverpool.

Eine Weile sagte niemand etwas. Veronica verunsicherte die Häufigkeit, mit der sie in der letzten Zeit schockiert worden war. Zach sorgte sich wegen der dunklen Szenerie, die sich aus den neuen Informationen herauszuschälen begann. Nahm er die Million an, die Kite angeboten hatte, betrat er eindeutig kriminelle Gefilde. Der Staat kannte keine Gnade mit jenen Untertanen, die ihm Steuern vorenthielten. Für Leute vom Schlage des Wallace-Schlossherrn war der Staat keine Bedrohung; der Mann gehörte zu jener schmalen Schicht, die den Apparat ihrem Willen gefügig machten. Zach aber wurde erpressbar. Lehnte er das Geld dagegen ab, blieb er ein Außenseiter und war in Liverpool erledigt. Dann konnte er den Fab Store genau so gut schließen. Die beiden Bedingungen, die Kite für ihre Aufnahme in die Familie gestellt hatte, waren praktisch ein und dieselbe. Geschickt eingefädelt. So also wurde man Mitglied einer elitären Loge – und blieb ein Leben lang an sie gekettet. Politik, Justiz, Polizei, Handel, Industrie, Adel, Geheimdienste; schon hier in dieser aufgeblasenen Mittelstadt im englischen Abseits wurde ein holografisches Abbild der mafiösen Durchdringung sämtlicher Leitungspositionen sichtbar, an der klandestine Gruppen unermüdlich weiterwebten.

Tiefenstaat, Freimaurertum, Mafia, Regierungen, Finanzkraken und die industriellen Komplexe, von denen in sozialkritischen Zirkeln allenthalben die Rede war, stellten lediglich unterschiedlich benannte Ausschnitte ein und desselben Netzwerkes dar, das sich unter völligem Ausschluss der weit über neunzigprozentigen Mehrheit an den Gütern der Erde sowie der Arbeitskraft von Mensch, Tier und Maschine bereicherte. Wenn er die Million annahm, baute er an ihrer ‚Neuen Welt-Ordnung‘ mit, dem Projekt zur vollständigen Versklavung der Menschheit. Die meisten Menschen hielten die NWO für eine paranoide Verschwörungstheorie. Dabei machten diejenigen, die sie anstrebten, aus ihren steinernen Herzen keine Mördergrube. Wollte man sie vor Gericht ziehen, würde es an Beweisen nicht im Mindesten mangeln. Aber natürlich lagen auch die höheren Richter im selben Bett wie die niemals Anklagbaren. Letztere waren eine winzige Minderheit, der höchstens einer unter zehntausend Menschen angehörten.

Leider war es ihnen im Lauf der Jahrhunderte gelungen, die Wahrnehmung ihrer Schafherde mit größer werdendem Erfolg nach Belieben zu formen, so dass die Mehrheit die Interessen ihrer Eigentümer, der Hirten und der Schäferhunde völlig selbstverständlich für die eigenen hielt. Schlimmer noch: Sie war sich der Existenz der Eigentümer überhaupt nicht bewusst. Die, die aus glückseliger Unwissenheit erwachten, sahen sich vor eine harte Entscheidung gestellt: entweder auf die ‚Segnungen‘ der Einbettung in den Mastbetrieb zu verzichten und damit aus dem sozialen Kontext, der Herde, weitgehend herauszufallen, oder vorsätzlich Verrat an der eigenen Spezies zu begehen, indem man zugunsten seines Vorankommens andere Schafe vom Ausscheren abhielt. Wer beruflichen oder sozialen Erfolg haben wollte, beugte sich dem Druck. Die ganze Welt war eine verdammte Schaf-Farm, eingeteilt in nationale Pferche unterschiedlicher Größe.

Gehörte Kite zur Kaste der Eigentümer? Eher unwahrscheinlich‚ vermutete Zach. ‚Nutznießer‘ hatte auf der Visitenkarte des Schlossherrn gestanden. Seine Familie musste relativ weit oben bei den Schäfern rangieren. Als Nachkomme von William Braveheart Wallace in der dreißigsten Generation hatte er alten schottischen Adel beansprucht. Er hatte von seinem ‚Großvater und den verbliebenen drei Beatles‘ gesprochen, behauptete also, der Enkel Sir Pauls, genauer gesagt von Billy Shears alias William Shepherd zu sein. Shepherd, der Schäfer. Namen waren nicht immer Schall und Rauch.

„Dad?“

Zach schrak aus seinen Gedanken auf. Durch die Windschutzscheibe sah er die ersten Häuser am Stadtrand von Liverpool. Die Landschaft war vor seinen offenen Augen an ihm vorbeigezogen, ohne dass er sie wahrgenommen hatte. „Ja, was gibt‘s, Kiddo?“, fragte er zurück.

„Wer ist dieser Maxwell Knight?“

„Wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, war er der Leiter des MI-5, Inlandsgeheimdienst ihrer Majestät, der Königin von England. Man sagt, er sei das Vorbild für die M-Personalie in den James-Bond-Filmen gewesen. Wie es scheint, haben ihn auch die Beatles in einem Song verewigt.“

„Glaubst du, dass der alte Knacker auf dem Foto Paul McCartney diesen Hammer über den Schädel ziehen konnte?“

„Das halte ich für den am wenigsten wahrscheinlichen Hergang – es sei denn, er hatte Helfer, die Paul festhielten. Der mochte vom Unfall noch benommen gewesen sein, aber er war ein junger, kräftiger Mann von Mitte Zwanzig.“ Zach grübelte ein paar Augenblicke, bevor er weitersprach. „Ich werde mir immer unsicherer, was von all den… Fakten… überhaupt mit der Wirklichkeit Verbindung hat. In gewissem Sinne befinden wir uns vierzig Jahre jenseits von 1984. Das Wahrheitsministerium veränderte die Geschichtsschreibung zwar fortlaufend, aber es gab in Orwells Roman zu jedem Zeitpunkt nur eine gültige Version davon. Das war das Fundament der Herrschaft der Partei. In unserer Welt dagegen gibt es so viele nebeneinander stehende Wahrnehmungen und übereinander liegende Schichten der Realität, dass niemand sagen kann, was tatsächlich geschah.“

„Ja. Nach allem, was wir wissen, sagt keine Quelle ‚die Wahrheit, die ganze Wahrheit, und nichts als die Wahrheit‘. Gibt es sie überhaupt?“

„Sicher, und mit dem passenden geistigen Werkzeug lässt sie sich oft auch finden. Das beinhaltet, dass du neben den Medien auch deiner eigenen Wahrnehmung misstrauen musst, weil sie von dem Ozean an Unwissen, Filtern, Linsen, Falschinformationen, dysfunktionalen Denkmustern und mangelnder Weisheit geprägt wird, in dem wir alle schwimmen. Wenn du es allerdings in unbedarfter Weise, ohne das Werkzeug versuchst, wirst du paranoid. Dann rennst du dir in einem Irrgarten das Hirn blutig, dessen Wände aus Propaganda, Einbildung und Verschwörungstheorien gebaut sind. So kann man nicht leben.“

Veronica gluckste, als habe sie einen besonders fiesen Witz gehört. „Das erinnert mich an ein Zitat von Robert Anton Wilson aus der Einleitung zu seinem Buch Das Lexikon der Verschwörungstheorien. Er beschreibt so ungefähr, was du gerade erläutert hast, und kommt zu dem Schluss, dass Hunde wahrscheinlich die einzigen Leute sind, die dem Menschen überhaupt noch trauen, aber ihm sei aufgefallen, dass selbst die Hunde neuerdings Zweifel hegten.“

Ihr Vater warf den Kopf zurück und lachte lauthals. Veronica fiel mit ein. Es war wieder so weit: Sie sahen die Absurdität der Welt beide zugleich in völliger Klarheit. Der Kaiser war splitterfasernackt, eine Witzfigur mit Hühnerbrust, O-Beinen und einem winzig kleinen Schniedel. Sie steuerte den GT an den Straßenrand, damit sie sich in aller Hysterie ausschütten konnten. Humor befreite die belagerte Seele.


In den Rainford Gardens angekommen stieg Veronica zielstrebig die Treppen hinauf. Ein Gedanke ging ihr im Kopf herum, den sie am Tisch in Onkel Pauls Studierzimmer zu verifizieren suchte. Die Geschwindigkeit, in der der Rechner betriebsbereit war, überraschte sie noch immer, aber sie ließ sich nicht ablenken. Sie rief Quellen zu Freimaurerei und Numerologie auf, um einen Überblick zu bekommen. Die Darstellungen verwirrten sie mehr, als dass sie Orientierung gaben. Manche beschrieben die Freimaurer als einen Club schrulliger Männer, die Geld für wohltätige Zwecke sammelten und alten Damen über die Straße halfen. Andere stellten sie als sinistre Geheimniskrämer dar, die Regierungen und sonstige mächtige Organisationen unterwanderten. Wieder andere sahen in ihnen Diener Satans, die kleine Kinder in schwarzen Messen opferten. Sie waren in Orden beziehungsweise Logen organisiert, aber sie fand daneben zahlreiche Gruppen und Körperschaften, denen nachgesagt wurde, sie seien freimaurerische Frontorganisationen.

Sie suchte nach einer Verbindung zu den Beatles, wurde mit Treffern überschüttet, fand jedoch wenig, das konkrete Hinweise auf eine Mitgliedschaft gab. Freimaurersymbolik zog sich jedoch in auffälliger Häufigkeit unverhohlen von den frühesten Tagen bis zur Gegenwart durch. Albencover und Fotos waren regelrecht gespickt damit. Immer wieder tauchten außerdem Verbindungen zu Ordensgründer Aleister Crowley auf. Als sie entdeckte, dass er gleich zwei Mal auf dem Titelbild des Sgt.-Peppers-Albums vertreten war, stieß sie halb amüsiert, halb beunruhigt Luft durch die Nase aus. Dieses Ding schien wirklich der Dreh- und Angelpunkt in der ganzen Beatles-Geschichte zu sein.

Dann probierte sie, den Einstieg über die Numerologie zu erhalten, doch auch hier kam sie nicht weiter. Es gab verschiedene Systeme in verschiedenen Kulturen, die sich teilweise überlappten. Eng damit verbunden waren Kabbalistik, Astrologie, Tarot, Okkultismus und natürlich das Freimaurertum. Die Sache schien ihr alles andere als trivial. Ohne konkrete Anhaltspunkte würde sie Monate brauchen, sich tief genug einzuarbeiten.

Sie überlegte. Es forderte Überwindung, die Nachforschungen aufzunehmen, die sie nun in Angriff nahm. Veronica vermutete hier den direktesten Zugang zu der Frage, die sie beschäftigte: War der Wechsel geplant gewesen, und wenn ja, weshalb? Erst gestern hatte Maria sie mehrfach erwähnt, dass es im Grunde – besonders bei den Freimaurern – keine Zufälle gab. Sie hatte ausdrücklich darauf hingewiesen, ein Todesfall am 11.9. mache eine rituelle Opferung höchst wahrscheinlich; auch Billy Shears habe das in den Raum gestellt. Trotzdem war sie durch die Worte Mr Kites heute wie von einem Hammerschlag getroffen worden: „John und Paul hatten einen faustischen Handel abgeschlossen, und Paul hat den Preis dafür gezahlt.“

Die Detektivin holte tief Luft. Zunächst musste sie das Feld abstecken. Um was ging es konkret? Was verstand man unter einem ‚faustischen Handel‘? Die Suchmaschinentreffer lieferten mehrere alternative Bezeichnungen zu ihrem Suchbegriff, darunter ‚faustischer Pakt‘ und ‚Teufelspakt‘. Sie überflog natürlich den Wikipedia-Artikel. Auch die vierte Szene aus Goethes Drama Faust stand weit oben in der Liste. Veronica las ihn sorgfältiger. Faust, ein Mann von großer Neugier und noch größerem Ehrgeiz, geplagt jedoch von allerlei Ängsten, entsagt Gott, von dem er sich verlassen fühlt. Er verschreibt seine Seele dem Teufel, der in Gestalt des Dämons Mephistopheles in sein Haus eingedrungen ist und ihm verspricht:

Ich will mich hier zu deinem Dienst verbinden, / Auf deinen Wink nicht rasten und nicht ruhn; / Wenn wir uns drüben wiederfinden, / So sollst du mir das gleiche tun.

Veronica glaubte nicht an den Teufel. Sie vermutete in ihm einen Buhmann, den man benutzte, um Kindern Wohlverhalten beizubringen oder Narren die Furcht zu lehren. Trotzdem lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken, als sie die Zeilen las. Goethes detailversessene Beobachtungsgabe der menschlichen Psyche verdankte das Werk seine bleibende Faszinationskraft über zwei Jahrhunderte hinweg. Hatte er den Teufel für wirklich gehalten? Oder war Mephisto lediglich eine allegorische Figur, ein Symbol für… was?

Ihr fiel auf, dass Mephisto Fausts Seele forderte, nicht sein Leben. Das mochte eine vielleicht entscheidende Differenz zum Fall McCartney darstellen. Mephisto konnte warten, denn egal, wie viele Jahre Faust am Leben blieb, gegen die Ewigkeit des Jenseits blieben sie verschwindend gering. Die Mörder Pauls schienen es dagegen eilig gehabt zu haben. Das Opfer durfte nur 24 Jahre alt werden. Veronica fütterte die Suchmaschine nun mit Beatles & Faust, dann mit Beatles & Teufelspakt. Sie stieß auf einen Artikel, der sie regelrecht elektrisierte. Mit einer Deutlichkeit, die kaum zu wünschen übrig ließ, legte er John Lennon die Worte in den Mund: „Ich habe meine Seele an den Teufel verkauft“. Als Quelle gab er ‚Joseph Niezgoda‘ an.

Es dauerte nur Sekunden, bevor sie auf eine ausführlichere Referenz stieß: The Lennon Prophecy, ein Buch, das „eine Neuprüfung der Todeshinweise bei den Beatles“ vornahm. Das musste eigentlich im Bestand des Ladens oder einer der beiden Hausbibliotheken vorhanden sein. Sie schaute sich im Raum um. Wo war die Musikabteilung? Ah, dort drüben. Sie ging ans Regal, überflog die Titel auf den Buchrücken und hatte den zweihundertseitigen Band schnell gefunden. Sie hoffte, dass er ein Register besaß – Uff! Glück gehabt. Die Zahl der Verweise auf Teufel, Satan und Faust war hoch, doch sie hatte erneut Glück. Bereits einer der ersten Indexeinträge, die sie nachschlug, führte sie zum Zitat. Laut Niezgoda hatte John Lennon es Mitte der 1960er auf dem Höhepunkt der Beatlemania seinem Freund Tony Sheridan gegenüber geäußert. Der Autor gab sogar eine Quelle an: Ray Colemans Definitive Lennon-Biografie, Seite 348. Die reinste Schnitzeljagd! Stünde die Bibliothek ihres Onkels nicht in Griffweite, könnte eine saubere Recherche Tage oder Wochen dauern. Sie stellte den Niezgoda zurück an seinen Platz und überflog die Buchrücken erneut.

Da! Sie zog den Coleman heraus, schlug die angegebene Seite auf, und… konnte das Zitat nicht finden. Sie las die gesamte Seite mehrfach, überflog auch den Text davor und danach – nichts! Und nun? Hatte Niezgoda fantasiert? Sie prüfte das Impressum des Buchs. Nach einer Weile bemerkte sie endlich, dass sie die Ausgabe eines anderen Verlages in Händen hielt. Nun warf sie einen Blick ins Register; der Verweis dort führte sie zu einer gänzlich anderen Seitennummer, aber hier war es: Um den unglaublichen Erfolg seiner Band zu erklären, sagte John zu Tony: „Ich habe meine Seele an den Teufel verkauft.“ Er solle den Satz angeblich nur nebenbei geäußert haben, aber Tony habe sofort verstanden, was John meinte. Woher das Zitat stammte, gab Coleman nicht an. Aus Aussagen an anderer Stelle wurde klar, dass der Autor den Beatles häufig persönlich begegnet war, und so konnte Veronica nur vermuten, dass Coleman als Ohrenzeuge berichtete. Der sechszeilige Absatz, der die Begebenheit beschrieb, stand darüber hinaus in keiner Kontinuität mit den umliegenden Teilen des Kapitels, in dem es um ‚Geld‘ ging. Ob John Lennon den Teufel aus Jux, im übertragenen Sinn oder im Ernst erwähnte, ließ sich so nicht feststellen. Nur im Zusammenhang mit den anderen Indizien trug der isolierte Datenpunkt zum Entstehen eines Bildes bei. Dass zahlreiche weitere Musiker und Schauspieler von Bob Dylan über Jimmy Page, James Hetfield und Katie Perry bis Eminem teils in identischen Worten die Quelle ihres Erfolges benannten, wie Veronica herausfand, verlieh John Lennons Zitat jedoch ein höheres Gewicht.

In Gedanken versunken saß sie im Pilotensmöbel an Pauls Arbeitstisch und überlegte, wie sie weiter vorgehen sollte. Da vernahm sie eine Stimme aus dem unteren Stockwerk, deren fröhlicher Klang ihr Gefühl von Bedrückung zu verspotten schien. Daher verstand sie zunächst nicht, was sie hörte. Als sie sich auf das Geräusch konzentrierte, drang schließlich zu ihr durch, dass jemand lachte; völlig hysterisch lachte.