Der orangefarbene Sportwagen bog in die Yewtree Road ein. Nach wenigen hundert Metern blieb er vor dem Haus des Notars Jules R. Miller stehen. Zach und Veronica stiegen aus, gingen den kurzen, von Blumen gesäumten Weg bis zur Vordertür und betraten das Gebäude.
Mrs Wickens, die Sekretärin, begrüßte sie herzlich. „Nehmen Sie im Wartezimmer Platz. Dr Miller kommt in wenigen Minuten aus seiner Besprechung“, fügte sie hinzu.
Vater und Tochter Ziegler kannten den Weg. Sie setzten sich und betrachteten die mit ‚Donna‘ unterzeichneten Gemälde auf der gegenüberliegenden Wand. Eines zeigte Paul McCartney, an seinen dunkelgrünen DB6 gelehnt, ein weiteres porträtierte John Lennon und Yoko Ono Hand in Hand spazieren gehend, und an den Flanken hingen Bilder von George Harrison im Yogi-Sitz und Ringo Starr an seinen Trommeln. Zach stand wieder auf. Er ging hinüber, um sich die darunter angebrachten schwarz-weißen Fotos anzusehen, für die er bei den beiden anderen Besuchen keine Zeit gehabt hatte. Sie zeigten Schnappschüsse und Porträts der vier Beatles, korrespondierend zu den darüber hängenden Gemälden. Jedes Foto entstammte einem anderen Jahr, wie Zach unschwer an den länger werdenden Haaren ablesen konnte. Die Veränderungen bei George und Ringo blieben subtil. Johns Brille änderte sein Erscheinungsbild natürlich viel mehr. Im direkten Vergleich zu früheren Jahren wirkte sein Gesicht in den späten Sechzigern und danach außerdem wesentlich schmaler. Einbildung? Ein natürlicher Prozess? Oder war auch John irgendwann ersetzt worden, temporär oder… wie Paul? Zu Pauls Fotoreihe fiel dem Detektiv nur ein einziges Wort ein: sensationell. Jedes einzelne Bild war eine wirklich gut gelungene Porträtaufnahme, die den Charakter der Person voll zur Geltung brachte. Getrennt betrachtet hätte die Antwort auf die Frage, wen das jeweilige Motiv darstellte, unzweifelhaft immer ‚Paul McCartney‘ lauten müssen. Und genau das verlieh der Reihe Sprengkraft, denn keines der vier Motive zeigte den selben Mann. Unterschiede in Alter, Beleuchtung, Perspektive oder Ausdruck konnten das Auge täuschen, ohne Frage. Aber das waren hier nicht die ausschlaggebenden Faktoren. Es waren die Gesichtsformen und Erkennungsmerkmale selbst, die sich unterschieden: die Nase, die Ohren, der Mund, die Augenbrauen, die Gesichtsform.
„Faszinierend, nicht wahr?“, sagte eine Stimme hinter Zach. Sie gehörte Jules R. Miller, dem Notar, der ‚in Sammlerkreisen‘ als Dr Robert bekannt war. „Man fragt sich ständig, welcher Paul McCartney der echte ist. Haben Sie einen Favoriten? Guten Tag, übrigens.“
„Guten Tag, Dr Miller. Spielt das eine Rolle? Ich komme langsam zu der Ansicht, dass sie wahrscheinlich alle Schauspieler sind. Wenn es einen echten, einen Ur-McCartney gegeben hat, war er ja ebenfalls teilweise Musikdarsteller.“
Miller nickte. „Manches spricht dafür. Es ergibt ökonomisch einfach mehr Sinn. Der Markenname zieht die Kundschaft, nicht das Individuum. Und Hand aufs Herz: Irgendwie wissen wir alle, dass wir nur eine Scheinwelt vorgespielt bekommen, wenn wir die Stars auf der Mattscheibe oder in der Zeitung sehen. Nichts ist real. Trotzdem möchten wir nicht darauf hingewiesen werden. Zusammenstellungen wie diese“ – er deutete auf die Galerie – „suchen Sie bei den sogenannten Qualitätsmedien vergeblich. Bei aller Liebe zur Sensation beißen die Journaillisten niemals die Hand, die sie füttert.“
„‚Mit geschlossenen Augen lebt man bequem…‘“, warf Veronica ein. „Die Beatles gaben die entscheidenden Hinweise ja selbst.“
„Korrekt. Ich glaube aber nicht, dass es lange so bleiben kann. Je mehr die Kontrolleure die Schrauben anziehen, desto unbequemer wird es für das gewöhnliche Volk – und desto mehr Leute erwachen aus ihrem Dornröschenschlaf.“
Zach setzte eine skeptische Miene auf. „Das merke ich zwar auch, speziell seit der Plandemie. Die Verstrickungen zwischen Politik, Wirtschaft, NGOs und Medien sind inzwischen selbst für Blinde sichtbar geworden. Das Problem ist nur, dass so wenige Menschen bereit sind, ihren Lebenswandel an die neuen Erkenntnisse anzupassen und damit ihren Gehaltsscheck zu riskieren.“
Der Notar zuckte die Schultern. „Das liegt nicht in unserer Hand. Im Übrigen sind es vielleicht mehr Menschen, als wir denken. Man kann es nur schwer abschätzen, weil sie aus dem System herausfallen und damit weitgehend unsichtbar werden.“
„Was liegt dann in unserer Hand?“, fragte Veronica.
„Unser eigenes Erwachen“, sprang Zach für den Notar ein. „Sich bewusst in den Prozess der Desillusionierung zu begeben und ihn aktiv voranzutreiben. Es gibt stets noch eine weitere Zwiebelschicht, hinter der sich eine tiefere Wahrheit verbirgt.“
Miller nickte. „Darum, finde ich, ist die Geschichte der Beatles ein solch geeigneter Einstieg in den Ausstieg.“
„Oder auch nicht. Wer sieht schon gern seine Idole vom Sockel gestoßen?“, widersprach die junge Detektivin.
„Wer sieht schon gern, dass die Renten nicht sicher sind? Wer sieht schon gern, wie der Grundrechtekatalog zur Verweigerung der Grundrechte missbraucht wird? Wer sieht schon gern, dass das Nachrichtenmagazin seines Vertrauens ihn jahrzehntelang in die Irre geführt hat? Wer sieht schon gern, dass Mutter Kirche von Satanisten gelenkt wird, oder dass keine Demokratie im Land herrscht, sondern nur ein weiteres Regime in einer zehntausend Jahre alten Reihe solcher Regimes?“, forderte Miller sie heraus. „Niemand sucht sich das Ereignis aus, das dazu führt, dass er aus der fabrizierten Realität herausfällt. Aber eins ist sicher: Der Schmerz missbrauchten Vertrauens und frustrierter Träume lehrt uns, künftig genauer hinzusehen.“
Zach zeigte mit einer bogenförmigen Geste in den Raum. „Haben Sie hiermit vielen Menschen die Falltür nach draußen geöffnet?“
„Wer kann das sagen? Der Impuls, den die Bilder setzen, mag erst Jahre oder Jahrzehnte später zünden. Ich kenne jedoch zahlreiche Leute in Liverpool – auch außerhalb der ‚Familie‘ –, für die Paul McCartneys Tod Fragen an unsere Gesellschaft aufgeworfen hat; Fragen, die von offiziellen Stellen entweder gar nicht oder mit offensichtlichen Lügen beantwortet werden. Vielleicht lassen sie sich noch ein paar Jahre länger irreführen, aber die Wirklichkeit hat einen Fuß bei ihnen in die Tür bekommen. Ihr Ausstieg ist nur eine Frage der Zeit.“
„Ich wünschte, ich könnte Ihre Zuversicht teilen.“ Zach schaute nachdenklich drein.
Veronica trat an dicht vor das Gemälde, auf dem der dunkelgrüne Aston Martin DB6 zu sehen war. „Diese Donna, die die Gemälde geschaffen hat, ist das zufällig die Frau, die in McCartneys Wagen saß?“
„Wenn es tatsächlich einen Unfall gab und wenn McCartney diese Anhalterin dabei hatte und wenn sie Donna hieß, dann stimmt sicherlich auch der Rest der Geschichte, das heißt, sie ist damals zusammen mit ihm gestorben“, spekulierte der Notar. „Donna steht der ‚Familie‘ nahe, hält aber Abstand zu Kite. Sie sammelt nicht Altes, sie erschafft Neues. Ich mag den Kontrast zwischen den heiteren Farbgemälden, die den Mythos der Pop-Idole pflegt, und den düsteren Abbildern der Realität. Leider sehen viel zu viele nur die hübschen Farben.“
„Es braucht beides, oder?“, bemerkte Veronica.
Miller warf ihr wieder seinen scharfen, durchdringenden Blick zu, der sie die Male zuvor so sehr gestört hatte. Dann entspannte er seine Gesichtszüge, lächelte sie an und sagte: „Die Weisheit des Alters aus dem Mund der Jugend… Sie haben recht: Schön oder unschön, wir müssen sehen, was ist, statt das, was wir glauben, wünschen, befürchten, vermuten, erschließen, lesen oder hören. Die meisten Leute haben große Probleme zu verstehen, dass die Wirklichkeit realer ist, als alles, was in ihrem Kopf stattfindet.“
„Mr Miller,“ begann Zach.
Der Notar hob beide Hände abwehrend vor seine Brust. „Bitte nennen Sie mich Robert. Wir sind Mitglieder der Familie; mehr noch: Brüder und Schwestern im Geiste.“
„Okay, Robert. Nennen Sie mich gern Zach. Aber Mitglieder der Familie werden wir wohl nie werden.“
„Kite?“
„Kite.“
Jules Robert Miller seufzte. „Eines baldigen Tages wird es zum Bruch kommen. Viele von uns sind längst nicht mehr damit einverstanden, wohin das Schiff steuert.“
„Das ist uns bereits zu Ohren gekommen. Wenn ich recht verstehe, haben Sie auf der letzten Versammlung Schritte unternommen, die geeignet scheinen, einen solchen Bruch herbeizuführen. Können Sie uns etwas über den Verlauf des Abends erzählen?“
„Nun, es gibt wie gesagt eine Gruppe von Mitgliedern, die andere Vorstellungen davon pflegt, wie mit dem Sammelgut umgegangen werden sollte. Wir möchten das Material zur Dokumentation der Zeitgeschichte der Sechzigerjahre verwenden. Gegebenenfalls wird manches für Prozesse oder Tribunale relevant werden, wenn es gelingen sollte, die Kontrolleure aus dem Sattel zu heben – keine besonders wahrscheinliche Entwicklung der nahen Zukunft, aber wir wollen vorbereitet sein. Es wurde uns jedoch zunehmend offensichtlicher, dass Kite Beweismaterial für Paul McCartneys Ermordung sammelt, um es im Interesse seines Großvaters aus dem Verkehr zu ziehen. Unser Plan für den besagten Abend bestand darin, Kites Wachsamkeit zu schwächen, um Kopien von solchen Stücken anzufertigen.“
„Es ging dabei konkret um Mal Evans‘ Erinnerungen, richtig?“
„Richtig.“
„Wie gedachten Sie, ‚Kites Wachsamkeit zu schwächen‘?“
„Duchess of Kirkcaldy, eines unserer Mitglieder, erklärte sich bereit, sein Interesse auf sich zu ziehen.“
„Ist Ihnen bekannt, dass das Mädchen minderjährig ist?“, fragte Veronica.
„Sicher. Aber es war ihre eigene Idee. Sie hat auf dieser Rolle bestanden, und keiner von uns ist in einer Position, ihr Anordnungen zu erteilen.“
„Sie hätten das Vorhaben abblasen können“, sagte Zach.
„Vor wenigen Minuten haben Sie darüber geklagt, dass zu wenige Menschen bereit sind, für die Wahrheit Opfer zu bringen. Ich hege genau wie Sie meine Zweifel, ob Kirk genügend Lebenserfahrung besaß, die Folgen ihrer Entscheidung abzusehen, aber ich bewundere ihre Entschlossenheit.“
„Die nötige Erfahrung besitzt sie nach jener Nacht bestimmt. Es muss traumatisierend gewesen sein. Hat sich ihr Opfer wenigstens gelohnt?“
„Ich würde das bejahen wollen. Wir konnten ein Foto kopieren, das Paul McCartney auf dem Seziertisch zeigt.“
„Kein Richter würde eine Kopie als Beweismittel akzeptieren. Nicht einmal Ihnen als Sammler würde es genügen. Die Versuchung muss doch groß gewesen sein, das Original einzupacken und mitzunehmen.“
„Wem sagen Sie das? Ich bin ein Sammler seltener Fotografien, aber ich bin auch den anderen Sammlern in der Familie freundschaftlich verbunden. Überdies muss ich als Notar die Gesetze des Königreichs achten. Wenn wir das Bild gestohlen hätten, hätte Kirk das womöglich mit dem Leben bezahlt, und ich könnte von Glück sagen, wenn ich lediglich meine Lizenz verliere.“
„Sie haben das Originalfoto also im Schloss zurückgelassen?“
„Wir haben es nur abfotografiert. Semolina steckte es wieder in seinen Plastikumschlag und gab es Kirk zurück. Wir Männer – Mr Mustard, Rocky Raccoon und ich – haben uns anschließend in den Salon begeben, um auf das Gelingen anzustoßen. Semolina holte kurz darauf Mustard zu Hilfe, weil Kirk bewusstlos am Boden lag. Er berichtete, dass er das Foto auf einem Nachttisch in Kites Schlafzimmer gesehen habe. Kite ahnt bestimmt nicht einmal, dass…“
„Irrtum!“, unterbrach ihn der Detektiv. „Kite weiß davon, denn er sagte mir, dass man ihm das Foto entwendet hat.“
Miller sah schockiert aus.
„Halten Sie es für möglich, dass Mustard das Bild eingesteckt hat? Oder Semolina? Die beiden waren allein; die Gelegenheit war günstig.“
„Für Semolina lege ich meine Hand ins Feuer. Sie würde weder stehlen noch zulassen, dass in ihrer Gegenwart gestohlen wird.“
„Hätten Mr Mustard oder Rocky Raccoon später zurückgehen können, um das Foto zu klauen?“
Miller überlegte, dann zuckte er die Achseln. „Ich nehme es an. Ich habe das Schloss zwanzig Minuten nach Semolina verlassen, kurz nach zwei Uhr. Anschließend – wer weiß, was ihnen in ihrer Trunkenheit eingefallen sein mag.“
„Kite hat sich nicht bei Ihnen nach dem Foto erkundigt?“
„Nein. Er hat keinerlei Kontaktversuch unternommen.“
„Haben Sie seither andere Mitglieder ihrer Gruppe getroffen oder mit ihnen telefoniert? Ist über den Abend gesprochen worden?“
„Nein. Außer Molly, meine Sekretärin, habe ich niemand gesehen. Sie mokierte sich wegen Kirks Aufzug. Das war alles, was wir über jenen Abend austauschten.“
„Sie haben nicht versucht, herauszufinden, wie Kirk die Nacht überstanden hat?“, hakte Veronica nach.
„Ich wählte ihre Nummer mehrfach, aber sie nahm das Gespräch nicht an.“
„Könnte sie in Schwierigkeiten stecken?“
„Wenn es stimmt, was Sie sagen: möglicherweise in den allergrößten. Ich dachte, sie genießt noch ein wenig länger die Annehmlichkeiten auf Wallace Castle.“
„Woher kommt das Mädchen eigentlich?“
„Ich weiß es nicht. Eines Tages war sie einfach da. Ich denke zuweilen, dass sie für jemand ein Auge auf uns gerichtet hält. Aber ist das wahrscheinlich? Sie ist noch so jung…“
„Ich habe schon Pferde kotzen gesehen. Finden Sie es normal, dass man ein tiefes gemeinsames Interesse teilt und einander ‚Familie‘ nennt, aber nicht weiß, wie der andere heißt oder woher er kommt?“
„Sie haben natürlich recht. Zu Ihrem Stiefbruder Paul unterhielt ich ein ungleich intensiveres Verhältnis. Nur – wer könnte ein Interesse an uns haben?“
„Kites Familie, die sich sorgt, mit wem er sein gefährliches Wissen teilt? Ein Freimaurerorden, der Kites Aktivitäten unter Kontrolle halten will? Die Geheimdienste? Über Kite wissen wir ja auch nur das, was er uns erzählt. Er zeigte sich allerdings erstaunlich besorgt, dass ich gegen ihn ermitteln könnte.“
Miller lächelte. „Dass jemand gegen ihn vorgeht, sollen Desmond und ich verhüten. Ich darf Ihnen meiner anwaltlichen Schweigepflicht wegen natürlich keine Angaben zu seinen rechtlichen Angelegenheiten machen, aber ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass wir ein eingespieltes und erfolgreiches Team bilden.“
„Vielleicht wird es Zeit, Loyalitäten zu wechseln.“
„Vielleicht.“
„Gut, Robert. Dann sehen wir uns übermorgen, Sonntag, zur Einäscherung. Soll ich etwas mitbringen oder organisieren? Brauchen Sie Unterstützung?“, erkundigte sich Zach.
„Danke, es ist für alles gesorgt. Ich werde eine kurze Rede halten. Jeder, der möchte, darf sich anschließen und ein paar Worte verlieren. Anschließend gehen wir in eine Bar, um auf Paul anzustoßen. Zwischen elf und zwölf Uhr sind die Feierlichkeiten für den Tag beendet. Wir treffen uns am Dienstag Vormittag auf dem Toxteth Park Cemetary zur Beisetzung wieder.“
„Wie viele Leute werden voraussichtlich teilnehmen?“
„Zur Einäscherung sind nur die engsten Freunde eingeladen. Ich rechne mit zehn bis fünfzehn Personen. Die Beisetzung wurde bereits in der Zeitung annonciert. Viele kannten Paul; mal sehen, wie viele ihm die letzte Ehre erweisen werden.“