43) Neumond

Maria und Zach loggten in mehrere weitere Online-Dienste ein, um herauszufinden, ob Kirk in den letzten vier Wochen Lebenszeichen beziehungsweise Hinweise hinterlassen hatte, wo sie sich gerade aufhielt. Ihre Konten auf verschiedenen sozialen Medien zeigten den gesamten Mai hindurch keinerlei Aktivitäten. Schließlich sahen der Detektiv und die Italienerin einander resigniert an. Stumm stellten sie dieselbe Frage: Was nun? Schließlich war Zach aufgestanden. „Gehen wir“, sagte er.

„Wohin?“, fragte Maria.

„Nach Norden natürlich. Zu eurer Hütte, oder was das ist. Mangels weiterer Anhaltspunkte halte ich das für besser, als hier herumzusitzen und die Fingernägel zu zerkauen.“

„Wie stellst du dir das vor?“, protestierte Maria. „Da hält kein Bus vor dem Haus. Von der nächstgelegenen Ortschaft fährt man eine halbe Stunde, und von Liverpool bis dort hin braucht man mit dem Auto mindestens drei bis vier Stunden – wenn man eines hätte.“

„Wir haben eins“, sagte Zach. „Komm mit.“

Maria folgte ihm aus dem Studierzimmer hinaus, den Flur entlang und die Treppen hinab. „Ich dachte, Veronica hat den Opel mitgenommen“, rief sie ihm hinterher.

„Hat sie“, antwortete Zach, der einen Schlüssel aus der Hosentasche fischte. Er schloss den Tresor auf, griff in eines der Regale und hielt Maria einen Wagenschlüssel unter die Nase.

„Johns Mini Cooper!“, hauchte sie mit großen Augen. „Das kannst du nicht machen.“

Zach zuckte mit den Schultern. „Wenn es um Veronica geht, nehme ich keine falschen Rücksichten.“ Er schnitt Maria, die den hohen Preis des Autos ins Feld führte, das Wort ab. „Ich bin ein sicherheitsbewusster Fahrer. Dem Mini wird nichts passieren. Bloß schade, dass er nur so wenige Meilen pro Stunde macht.“


„Man sagt, das Haus wurde über einer alten druidischen Kultstätte errichtet“, erzählte Kite im Plauderton. „Man sagt auch, dass sie hier Menschen geopfert haben. Bei Ausgrabungen sind tatsächlich ein Ringwall um das Haus und darunter ein unidentifizierbares quadratisches Fundament gefunden worden.“ Während er all das erläuterte, legte Kite seine Jacke auf dem Stuhl unter dem linken Fenster ab und öffnete die Knöpfe seines Hemdes. Er ging hinter ihr vorbei zu dem Schränkchen – kein Tischchen – unter dem rechten Fenster und entnahm ihm fünf Kerzenständer, eine Streichholzschachtel, eine Art Nierenschale und einen schwarzen Kapuzenumhang. Die Utensilien legte er auf das Bett. Er kam zurück und zog ihr mit einem Ruck die Strohmatte unter den Füßen weg.

„Hey!“ rief Veronica, die mit dem vollen Gewicht in die Lederriemen um ihre Handgelenke fiel. Während sie wieder auf ihre Füße zu gelangen versuchte, bemerkte sie die eingeritzten Symbole, die die Matte bisher verdeckt hatte. Sie stand beziehungsweise hing im Zentrum eines Pentagramms.

Kite fuhr mittlerweile fort, das Hemd abzulegen. „Heute Nacht sollst du meine Braut sein“, sagte er. „Das Ritual erfordert, dass wir uns passend kleiden – ich mich um, du dich aus.“ Er kicherte sein Hyänenkichern. „Keine Sorge, ich helfe dir natürlich.“ Er wandte sich dem Bett zu. Die Hose fiel, die Unterwäsche folgte.

Veronica schauderte. Die geballte Kraft, die der Riese verkörperte, schien ihr beim Anblick seiner Muskeln plötzlich unüberwindlich. Für einen Moment verzagte sie, rief sich aber sofort zur Ordnung. Sie würde ihn besiegen! Sie würde ihn besiegen, weil sie musste.

Er streifte den schwarzen Kapuzenumhang über. Dann begann er, die Kerzen anzuzünden und verteilte sie in gleichen Abständen um das Pentagramm. „Ich bin fertig,“ verkündete er fröhlich. „Nun bist du an der Reihe.“ Vor ihr bei der letzten Kerze kniend schaute er zu ihr auf. Das Flackern der Flammen verwandelte sein Gesicht unter der Haube für einen Moment in die Fratze eines Dämons. „Bleib genau so stehen!“, befahl Kite. „Du siehst perfekt aus.“ Als hätte sie eine Wahl!

Langsam erhob er sich. Wieder ging er zu dem Schränkchen, wo er den Dolch, den er dort abgelegt hatte, ergriff. Er trat hinter sie und kniete nieder. Veronica spürte ein Zupfen am unteren Saum ihres Kleids. Ein Geräusch zerreißenden Textils. Der Druck, den der Stoff auf ihre Oberschenkel ausgeübt hatte, schwand. Kite führte die scharfe Klinge langsam weiter entlang ihrer Körpermitte nach oben und beendete die Bewegung erst, als er ihren Nacken erreicht hatte. Das schwarze Kleid, nur noch an ihren Schultern hängend, verhüllte sie nun lediglich von vorn. Kite zog an den Bändeln ihres Bikini-Oberteils und durchtrennte sie mit schnellen Schnitten. Dasselbe wiederholte er bei ihrem Höschen. Zufrieden betrachtete er sein Werk. Furcht stieg in Veronica auf. Nie in ihrem Leben war sie so schutzlos ausgeliefert gewesen.

„Unsere… Gäste… sind normalerweise sehr viel jünger als du“, sagte er. Seine Stimme klang raubkatzenhaft. „Für dein hohes Alter hast du dich recht gut in Schuss gehalten. Schau dir nur diese schönen Muskeln an!“ Er sagte es fast bewundernd. Seine Finger strichen über ihre Rippen. Dann glitten sie ihrer Wirbelsäule entlang. Die junge Frau nahm alle Kraft zusammen, um nicht aufzuschreien. Ihre Angst überwältigte sie fast, doch sie wusste, was geschähe, wenn sie ihr nachgab. Der Riese sprach es für sie aus: „Im Moment meiner höchsten Lust wirst du sterben.“ Der Zeigefinger seiner Linken fuhr über ihre Halsschlagader.

Bitte, bitte, bleib da nicht stehen!, flehte Veronica still. Alles hing nun davon ab, dass sie ihn sehen konnte. Wenn er einfach so fortfuhr, wäre ihr jede Möglichkeit genommen, ihn zu erledigen.

Er tat ihr den Gefallen. Kite schritt langsam um sie herum, baute sich vor ihr auf und hob den Dolch direkt vor ihre Augen. Im Kerzenschein schimmerten Ornamente auf der kurzen und rasiermesserscharfen Doppelklinge. Sie würdigte diese jedoch keines zweiten Blickes, sondern schaute daran vorbei in die Augen des Psychopathen, die im Schatten der Haube fast nur durch ein Glitzern auszumachen waren. Vorsichtig beugte sie die Knie, bis ihr Körper mit seinem vollen Gewicht am Seil hing. Ihre Gelenke schmerzten schlimm. Dennoch nahm sie eine S-Haltung ein, die Künstler aller Epochen in Gemälden und Skulpturen abgebildet hatten. Sie hoffte es wirkte verführerisch genug, ihn über ihre Anspannung hinwegzutäuschen.

Ihr Plan ging auf. Mit der rechten Hand des Hünen verließ der Dolch den Raum zwischen ihren Gesichtern. Seine Linke streckte er nach dem Halsausschnitt des lose an ihr herabhängenden Kleides aus, während der dazugehörige Fuß des Mannes ihn einen Schritt näher an Veronica herantrug. Blitzschnell spannte sie ihre Muskeln, zog ihre noch immer zusammengebundenen Beine ruckartig in eine Hockstellung und rammte ihm die Knie mit aller Macht in die Hoden. Ein heiserer Schrei entrang sich ihrer Kehle. Fast im selben Moment kollabierte Kite. Er schlug mit der Nase hart gegen ihre Schulter und ging mit einem lauten Grunzen zu Boden, wo er in Embryonalstellung liegen blieb. Reflexhaft hatte er beide Hände zu Fäusten geballt in seinen Schritt gepresst, in der linken die Reste ihres schwarzen Kleides, in der rechten den Dolch. Dass die Klinge tief ins Fleisch seiner Schenkel schnitt, schien er nicht zu bemerken.

Greller Schmerz durchzuckte auch die junge Frau. Ihre Handgelenke bluteten nun, die Schulter explodierte regelrecht in Schmerzen, und auch die Knie beschwerten sich. Es fiel ihr schwer, sich auf die Pendelbewegung zu konzentrieren, in die sie durch den Angriff geraten war. Sie musste einen weiteren Schlag ausführen, und er musste präzise sitzen. Nach einer gefühlten Ewigkeit stand sie endlich still. Der Perversling wendete ihr den Kopf zu, um sie anzuschauen. Wenn sie nicht schnell handelte, würde er den Körper folgen lassen und sich auf den Rücken drehen. Danach befände er sich wahrscheinlich außerhalb ihrer Reichweite. Erneut spannte sie die Muskeln, zog vorsichtig die Knie an und verharrte für den Bruchteil einer Sekunde in dieser Stellung. Sie zielte – und sie genoss den Augenblick. Dann schossen die mit einem Lederband zusammengeknoteten Beine senkrecht nach unten. Wieder schrie sie. Ihre Fersen bohrten sich in seine Kehle, die mit einem undefinierbaren Geräusch nachgab. Kite riss die Augen auf und auch den Mund, doch eine Lautäußerung war ihm nun verwehrt. Die Hände um den Hals gelegt zuckte er noch einige Sekunden. Ein leises Gurgeln sollte das Letzte sein, was der dreißigste Nachfahr von William Braveheart Wallace von sich gab. Veronicas innere Uhr tickte zwanzig weitere Sekunden, bevor sie 0:00 Uhr meldete. Neumond.


Der Vorbesitzer hatte Lennons Mini Cooper nicht nur fahrtauglich sondern gut in Schuss gehalten. Der Kleinwagen brummte mit neunzig Meilen die Stunde über die M6 nach Norden, der schottischen Grenze entgegen. Fast zwei Stunden lang beglückte sie der Asphaltstrang mit freier Fahrt, doch dann verdichtete sich der Verkehr zusehends, wurde immer langsamer und kam schließlich ganz zum Stillstand. Da es kurz vor Mitternacht war, schaltete Zach das altertümliche Radio ein, in der Hoffnung, die Nachrichten enthielten Informationen über das Ausmaß der Behinderung. Während sie im Schritttempo weiterschlichen, verkündete die Sprecherin eine Meldung zum Tod des Aaron S., eines reichen Bürgers und Kulturförderers der Stadt Liverpool. Die Polizei von Liverpool habe bekannt gegeben, dass sie vorbehaltlich letzter forensischer Untersuchungen nun ‚mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit‘ von einem Suizid ausging. Mr S. habe sich am Sonntag Abend mit einer kleinkalibrigen Waffe selbst in den Kopf geschossen und sei auf der Stelle verstorben. Als Motiv würden finanzielle Schwierigkeiten vermutet.

Zach und Maria schauten einander vielsagend an. „In den Hinterkopf, gleich zwei Mal! Schon klar!“, meinte der Detektiv.

„Von finanziellen Schwierigkeiten kann ebenfalls keine Rede sein. Mustard hat die Suche nach Mal Evans‘ Koffer mit hunderttausend Pfund vorfinanziert“, merkte die Italienerin an. „Was geht hier vor?“

„Meinst du, er könnte derjenige gewesen sein, der McCartneys Autopsiefoto mitgehen hat lassen?“

Maria schaute ihn betroffen an. „Ich halte nicht viel von Kite und traue ihm kein bisschen weiter, als ich sehen kann. Er ist ein grober und manchmal brutaler Mensch; aber… Mord? Ich weiß nicht.“

„Mangels Verwicklung in andere kriminelle Machenschaften, von denen wir nichts wissen – wer sonst sollte ein Interesse an Mustards Tod haben und in der Lage sein, die polizeilichen Ermittlungen zu beeinflussen?“

Die Italienerin rieb nervös die Hände aneinander. Sie schaute missmutig in die Rücklichter des zähfließenden Verkehrs vor ihnen. Gerade wollte sie wieder zu reden beginnen, da unterbrach der Detektiv sie mit einer schnellen Geste. Er drehte am Lautstärkeregler des Radios, das inzwischen vermehrt rauschte. Er justierte die Frequenz nach, bis er mit der Qualität der Übertragung zufrieden war, gerade rechtzeitig, dass sie die Verkehrsmeldung für die M6 hören konnten. Ein Unfall hatte beide Fahrbahnen in nördlicher Richtung blockiert. Nur der Standstreifen stand für die Weiterfahrt zur Verfügung. Fahrzeuge stauten sich bereits auf fast zehn Meilen. Verkehrsteilnehmer wurden gebeten, den Streckenabschnitt weiträumig zu umfahren.

Zach fluchte, dann riss er das Steuer herum und schoss am Fahrbahnrand an den stehenden Autos vorbei. Ein Hupkonzert folgte dem Mini. Zweihundert Yards weiter drängelte er sich an einer Ausfahrt in eine Lücke zwischen zwei anderen Verkehrsteilnehmern, die den Motorway verließen.

42) Auf sich allein gestellt

Desmond war ohne weiteren Kommentar durch die Tür nach draußen entschwunden. Sie hörte ihn die Treppe hinuntergehen. Veronica blieb sich selbst überlassen in dem Raum zurück. Das zur Decke führende Seil hielt ihre Arme nach oben ausgestreckt, so dass sie sich weder setzen noch hinlegen, sondern nur stehen oder hängen konnte. Stehfolter, dachte sie. Doch schlimmer als das Stehen empfand sie das Kribbeln in ihren Armen und Händen, gegen das sie nichts unternehmen konnte. Sie drehte sich um ihre eigene Achse, um den Raum in Augenschein zu nehmen. Der stechende Kopfschmerz hatte etwas nachgelassen und auch ihr Sehvermögen stabilisierte sich so langsam. Leider herrschte nun finstere Nacht. Ohne den Mond und ohne eine künstliche Beleuchtung in der Nähe spendete nur das Band der Milchstraße ein schwaches Licht, das die Gegenstände in ihrem Gefängnis als undeutliche Schemen, schwarz vor dunklerem Schwarz, erkennen ließ.

Es gab ein kleines quadratisches Tischchen oder Schränkchen unter dem rechten Fenster; sie sah nur die Deckplatte. Rechts daneben, in einer Ecke des Raums, zeichnete sich wegen der vermutlich weißen Laken etwas heller ein Bett ab. Unter dem anderen Fenster sah es so aus, als stünde dort ein Stuhl. Links an der einwärts führenden Wand sah sie die Umrisse des eisernen Leuchters, an dem ihr Seil befestigt war. Am anderen Ende der Wand hing ein weiterer, meinte sie zu erkennen. Es folgte die Zimmerecke, auf deren Existenz sie nur schließen konnte, denn die Innenwand lag vollständig im Schatten. Außer der mittig angebrachten Türöffnung, die sie gesehen hatte, als Desmond hindurchgegangen war, kannte sie keine Details ihrer Beschaffenheit.

Noch immer wusste sie nicht, wie spät es war. Als sie aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war, hatte sie gerade noch die letzten Augenblicke der Dämmerung erlebt. Wie lang hatte sie mit Wickens gesprochen? Es mochten fünfzehn oder zwanzig Minuten gewesen sein, plus die Zeit, die sie auf die Inspektion des Raums verwendet hatte. Sie schätzte, es musste nun halb acht Uhr sein. Sie drehte sich der Fensterseite zu. Ihr Blick wanderte hinaus zum Sternenhimmel. Die Stellung der Konstellationen über dem Horizont sagte ihr, dass ihre Schätzung gut getroffen war. Ab jetzt würde ihre innere Uhr mitlaufen, die sie zuletzt im Wallace-Schloss trainiert hatte. Das verschaffte ihr drei Annehmlichkeiten: Sie würde orientiert bleiben, sie wäre beschäftigt und es beruhigte die Nerven. Wenn sie eine Chance haben wollte, hier lebend und un… Sie schauderte, als Marias Beschreibung aus ihrer Erinnerung aufstieg, wie Kite mit Kirk umgesprungen war.

Wenn sie hier lebend herauskommen wollte, griff sie den Gedanken neu auf, musste sie voll konzentriert bleiben. Sie musste jeden noch so kleinen Vorteil mit maximaler Wirkung gegen ihre Entführer einsetzen. Einer dieser Vorteile bestand darin, dass man sie wahrscheinlich unterschätzte. Mit ihren fünf Fuß zehn war sie nicht übermäßig groß; sie war jung und hatte ein sanftes Gesicht, und sie hatte ihre Kenntnis verschiedener Kampfsportarten noch nicht in Liverpool anwenden müssen. Das Überraschungsmoment war auf ihrer Seite, aber natürlich nur ein einziges Mal. Sie würde Erfolg haben oder… Der Gedanke war müßig.


„Ist es möglich, dass der Polizist meinte, Desmond sei nur im Moment abwesend?“, fragte Maria Borghese.

Zach schüttelte energisch den Kopf. „Nein, er hat ausdrücklich gesagt, der Kommissar sei heute nicht im Dienst. Er war jedoch auf der Wache und hat diese laut Angaben des Jungspunds an der Rezeption zusammen mit Veronica verlassen. Wenn er nicht am Fall Senfkorn arbeitet, wo könnte er dann hingegangen sein?“

„Frag mich etwas Leichteres. Das einzige, das mir einfällt, ist unser Ferienhaus an der schottischen Grenze.“

„Du meinst, Kirk befindet sich dort und sie sind hingefahren? Gibt es ein Telefon im Haus?“

„Das Gebäude liegt dermaßen abseits, dass wir mehrere Kilometer Kabel aus eigener Tasche hätten bezahlen müssen. Das war es uns nicht wert, zumal man ja ein Mobiltelefon mitnehmen kann, wenn man erreichbar sein möchte. In der Regel wollten wir aber nur unsere Ruhe.“

Zach richtete sich plötzlich in seinem Sitz auf der Rückbank des Taxis auf, das sie ins Stadtzentrum trug. „Ha! Du bist ein Genie!“ Er drückte Maria einen Kuss auf die Wange.

„Ich weiß,“ sagte sie lächelnd, „ aber womit habe ich deine Lobpreisung verdient?“

„Mir hätte schon längst einfallen können, Kirk mittels Handy-Ortung aufzuspüren.“ Die restlichen Fahrminuten schwieg der Detektiv. Er rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her. Als sie endlich vor dem Laden angekommen waren, warf er eine Einhundert-Pfund-Note auf den Beifahrersitz und sprang ohne weiteres Aufhebens aus dem Wagen.

Maria bedankte sich beim Fahrer. „Behalten Sie den Rest“, sagte sie. Dann folgte sie Zach in den Laden. Als sie die Tür hinter sich schloss, war er schon nirgends mehr zu sehen.


Die Zeit verrann, ihre innere Uhr tickte mit. Veronica begann, sich Pläne für mehrere Szenarien zurechtzulegen. Als sie zufrieden war, dachte sie an ihren Vater. Er vermisste sie bestimmt schon seit der Mittagszeit. Was würde er unternommen haben, als klar war, dass sie sich wahrscheinlich in Schwierigkeiten befand? Bestimmt drehte er jeden Stein auf der Suche nach ihr um, doch ob er in der Lage war, ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort nicht nur in Erfahrung zu bringen, sondern auch rechtzeitig zu erreichen, musste sie bezweifeln. Also: keine Fehler! Sie war auf sich allein gestellt.

Die Detektivin überlegte gerade, ob sie ihren Geist und die Beine erfrischen sollte, indem sie zu schlafen versuchte, oder ob sie Hände und Arme noch etwas schonte, um sie gegebenenfalls gegen Kite einsetzen zu können. Alles hing davon ab, wie lange man sie noch in dieser quälenden Haltung stehen ließ. Ihre innere Uhr zeigte elf. Sie hörte draußen einen Käfermotor näherkommen. Das Geräusch war einfach mit nichts zu verwechseln. Das musste Kite sein. Man hatte ihr die Entscheidung abgenommen: Sie würde wach bleiben.

Das Knattern erstarb. Eine dünne Blechtür wurde zugeschlagen. Kurz darauf hörte sie den satten Ton der ins Schloss fallenden schweren Haustür. Ein kurzer unverständlicher Wortwechsel zwischen zwei Männern. Danach herrschte wieder Stille.


Der Laptop fuhr in nervenzerfetzend geringer Geschwindigkeit hoch. Kurz vor der Passworteingabe blieb er stecken. Zach fluchte und startete den Rechner neu. Maria legte eine Hand auf seinen Arm. „Vielleicht sollten wir Pauls Arbeitsrechner benutzen. Der läuft sehr viel schneller. Außerdem wird er besser gegen Schnüffelversuche abgesichert sein.“

„Ich brauche ein paar Spezialprogramme. Ohne die geht‘s nicht weiter.“ Zach presste die Lippen zusammen.

„Nimm den Laptop mit. Wir können ja parallel arbeiten“, erwiderte sie.

Maria fand tatsächlich einige nützliche Anwendungen auf Pauls Rechner, bevor es Zach gelang, den Laptop ans Laufen zu bringen. Der Detektiv hob eine Augenbraue, wunderte sich über die ungewöhnliche Ausstattung, stellte aber keine Fragen. Zu seiner Enttäuschung half ihnen das Ergebnis ihrer Recherche nicht weiter. Kirks Mobilnummer war seit einem Monat offline. Zuletzt war sie bei ihr zuhause registriert worden.


Eine halbe Stunde nach Eintreffen des Wagens hörte Veronica schwere Schritte auf der Treppe, dann auf den Holzdielen des Gangs. Vor ihrem Zimmer legte der Mann (?) eine Pause ein. Ein Schlüsselbund klackerte und klirrte, Metall schabte über das Holz der Tür. Mit einem Klicken öffnete sie sich. Licht fiel durch den schnell breiter werdenden Spalt. Es blendete sie, da ihre Augen auf die tiefe Dunkelheit des nächtlichen Raums eingestellt waren. Sie schloss die Lider gerade rechtzeitig, bevor grelle Wandlampen neben der Tür aufflammten. Die Gestalt, die sie kurz davor im Rahmen gesehen hatte, gehörte unverkennbar dem Schlossbesitzer mit seiner großen, kräftigen Figur. Sie hielt die Lider noch immer zugekniffen, als er sie ansprach.

„Welch seltenes Vögelchen hat sich da in meiner Falle gefangen? Hmhm!“, höhnte er im Tonfall eines Snobs. Als sie nicht reagierte, sagte er: „Du kannst die Augen wieder öffnen. Ich werde dich nicht fressen – jedenfalls nicht sofort.“ Wieder lachte er, doch diesmal ohne die geringste Spur von adligem Getue. Die Hyäne hatte die Oberhand gewonnen.

Vorsichtig linste Veronica aus zu schmalen Schlitzen verengten Lidern hervor. Das Licht blendete sie noch immer. Ihr Kopfschmerz flammte wieder auf, wenn auch ohne nennenswerten Biss. Gut. Zumindest würde sie sich konzentrieren können, wenn es die Situation erforderte. Hinter Kite, der sich direkt vor ihr aufgebaut hatte, sah sie Wickens im Türrahmen stehen. Ohne sich umzudrehen signalisierte der Hüne, der Polizist möge sie allein lassen. Desmond gehorchte. Die Tür fiel ins Schloss. Wie ihre Schwestern im Untergeschoss besaß auch sie keine Klinken, weder außen noch innen, bemerkte die junge Frau.

„Desmond hat mir berichtet, dass du die Kooperation verweigerst“, sagte Kite.

Veronica bemerkte die Klinge in seiner rechten Hand, einen zweischneidigen sehr kurzen Dolch. Ihr stockte der Atem. Sie hatte mit einer Pistole gerechnet und würde nun ihre Pläne buchstäblich aus dem Stand der neuen Situation anpassen müssen. Sie lachte unsicher.

„Das Lachen wird dir schon noch vergehen. Sieh, es ist nicht weiter schlimm. Im Grunde plagt mich nur die Neugier, wie weit ihr mit eurem albernen Detektivspiel gekommen seid. Ich glaube nicht, dass es euch gelungen ist, Beweise gegen mich zu sammeln. Falls doch – ich habe den guten Desmond Jones, der polizeiliche Ermittlungen stets von mir ablenkt.“ Der Dolch wanderte von der rechten in seine linke Hand, dann wieder zurück.

„Was haben Sie vor?“, fragte Veronica.

„Was ich vorhabe? Das liegt doch auf der Hand! Ich schaffe zuerst dich aus dem Weg, anschließend deinen Vater.“

„Das wird Ihnen überhaupt nichts bringen!“, rief sie. „Die gesamte ‚Familie‘ weiß bescheid. Wollen Sie die alle umbringen?“

„Das könnte ich natürlich. Es sind eh nur noch wenige übrig. PC31 habe ich als ersten erledigen lassen. Kirk hat meinen Dobermännern sehr gut geschmeckt, und gestern ist Mr Mustard zur Strafe für den Diebstahl über die Klinge gesprungen…“

Gegen den Entschluss, ihre Gefühle streng im Zaum zu halten, durchlief ein Schock Veronicas sämtliche Glieder. Ihre Lippen formten ein O. Sie wurde kreidebleich. Ohne das Seil, das sie in aufrechter Stellung hielt, hätte sie womöglich das Gleichgewicht verloren.

„…aber so weit brauche ich gar nicht zu gehen“, fuhr Kite fort. „Keine von diesen Memmen wird es wagen, einen Finger gegen mich zu erheben… Was ist? Wird dir übel? Soll ich den Onkel Doktor holen?“ Er verzog abschätzig den Mund. „Nein, den Anruf kann ich mir sparen. Bis er hier eintrifft, brauchen wir eher einen Bestatter.“ Er kicherte.

Veronica spuckte ihm ins Gesicht. Zum einen befriedigte sie damit ein tiefes Bedürfnis, zum anderen hoffte sie, ihn zu unbedachten Handlungen zu provozieren. Doch der Hüne wischte sich nur mit dem linken Ärmel den Speichel von der Wange. „Natürlich bist du sauer. Was habe ich erwartet?“ Dann setzte er wieder sein fieses Grinsen auf. „Du gefällst mir. Endlich eine, die Widerstand leistet. Ich liebe Herausforderungen.“ Seine Rechte fuhr nach vorn, dicht vor ihren Bauch, und ließ den Dolch in atemberaubender Geschwindigkeit zwischen Daumen und Zeigefinger kreiseln. Die junge Frau blieb unbewegt stehen. Sie starrte ihm feindselig in die Augen.

„Das Schicksal hat bestimmt, dass wir heute eine Neumondnacht haben;“ bemerkte Kite, „wie geschaffen für ein kleines Ritual. Hast du Lust?“

41) Selbstmord?

Die Stimme explodierte in Veronicas Gehörgängen wie ein brutal übersteuerter Konzertlautsprecher. Sie zog eine Grimasse. Langsam drehte sie sich auf die Seite und winkelte die Ellbogen an, um sich aufzurichten.

„Lass dir helfen“, sagte die Stimme. Es klang wie ein Brüllen. Hand über Hand zog der Polizist geschwind an dem Seil. Über ihr quietschte Metall. Dann spannte sich der Strick und riss die Arme unter ihr weg. Schmerzhaft klatschte sie mit Brust und Bauch auf den Boden, wurde aber sogleich an den Händen in die Höhe gerissen, wobei sich ihr Rücken bis zur Grenze des Erträglichen durchbog. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten entfuhr ihr ein Schrei. Der Strick schleifte sie ein Stück nach vorn, während er ihren Körper in aufrechte Stellung zog, zunächst auf die Knie, dann auf die Füße. Bei dem Versuch, Halt zu finden, spürte sie, dass auch diese gefesselt worden waren.

Sie stand nun, an den eigenen Armen hängend, zu fast voller Höhe aufgerichtet. Die Aufwärtsbewegung stoppte. Desmond war drei Schritte zurückgetreten. Er wickelte das Seil um die schmiedeeiserne Halterung einer klotzigen Wandlampe. Er kam wieder näher, umrundete ihre Gestalt. Mit kurzen Blicken prüfte er den Sitz der Lederstreifen um ihre Hand- und Fußgelenke. „So gefällst du mir besser“, sagte er. „Du hast wohl geglaubt, du kannst mich drankriegen, hm? Da musst du früher aufstehen.“

Veronica schwieg. Sie fühlte sich noch zu schwach, um auf eigenen Beinen zu stehen. Das Bild, das ihre Augen lieferten, wurde immer wieder unscharf. Der Polizist legte eine Hand auf ihre linke Hüfte und begann ihren wie ein Sack an dem Strick hängenden Körper erneut im Uhrzeigersinn zu umrunden, wobei er die Hand erst über ihren Bauch, dann die rechte Hüfte und schließlich ihr Kreuz gleiten ließ. Die Furcht, dass aus der Belästigung Missbrauch werden könnte, schoss weitere Nadeln in ihr Hirn, gab ihr aber gleichzeitig die Kraft, die Kontrolle über ihren Körper wieder zu erlangen. Sie drückte die Knie durch. Endlich stand sie auf ihren Fußsohlen. Um Desmond aus seinen Phantasien zu reißen, sprach sie ihn an: „Wo ist Kirk? Was haben Sie mit ihr gemacht?“

Der Polizist, der nun wieder links neben ihr stand, lachte, schüttelte den Kopf, lachte erneut. „Die gute Duchess feierte ein Wiedersehen mit ihrem Märchenprinz“, raunte er ihr ins Ohr. „Ich glaube, die beiden hatten eine ganze Menge besprechen.“ Seine Hand strich in einer illustrativen Geste über ihren Hintern.

„Ist sie hier?“, würgte Veronica hervor.

„Nie gewesen.“ Der Polizist überlegte. „Eines der Dinge, die wir von ihr in Erfahrung zu bringen versuchten, ist der Verbleib des Fotos. Weißt du zufällig, wer es gestohlen hat?“

„Ja…“, sagte Veronica, der ein Ausdruck von Ekel über die Gesichtszüge lief.

„Geht‘s auch ein bisschen konkreter oder muss ich es dir mit einem Angelhaken aus der Nase ziehen?“

„Sie selbst, Wickens. Sie haben das Bild aus den Polizeiarchiven gestohlen.“

Donald Wickens alias Desmond Jones verlor für einen Moment die Fassung. Mit hassverzerrter Grimasse spuckte er: „Das hat dir der Teufel verraten!“

Es war ihrer prekären Lage unangemessen, doch Veronica konnte das Lachen, das aus ihr hervorbrach, beim besten Willen nicht zurückhalten. Zu sehr erinnerte Desmonds Ausbruch an das Märchen vom Rumpelstilzchen. Es fehlte nur noch, dass er mit dem Fuß aufstampfte und im Boden versank. „Genau der ist es gewesen“, prustete sie.

Der Fausthieb, der sie in die Niere traf, kam unerwartet, und er trieb ihr alle Luft aus den Lungen. Ihre Beine gaben nach, sie baumelte erneut an ihren Handgelenken vom Kälberstrick. Wutentbrannt trat Desmond in ihr Sichtfeld. Es sah aus, als wolle er sie auch von vorn bearbeiten, doch er hatte sich schon wieder im Griff. „Halt dein loses Mundwerk im Zaum oder ich vergesse, dass du für den Chef reserviert bist“, zischte er. „Los, sag mir, was du und dein Alter herausgefunden habt. Vielleicht lässt Kite dann noch genug von dir übrig, dass du aus eigener Kraft von hier rauskriechen kannst.“

„Andernfalls passiert… was?“, wagte sie ihn herauszufordern, da er offenbar Befehl hatte, sie in Ruhe zu lassen. Vielleicht konnte sie ihm nützliche Informationen entlocken.

„Andernfalls kommst du auf einem Altar zu liegen. Oder Kite überlässt dich mir, wenn er mit dir durch ist. Es wird mir eine ganz besondere Freude sein, dich möglichst lange am Leben zu halten.“ Ein Grinsen mit weit aufgerissenen Augen und gebleckten Zähnen huschte über seine Visage. Die Dämonenfratze verschwand so schnell wieder, wie sie erschienen war. „Leider war mir mit deinem Onkel weniger Zeit vergönnt. Ich musste kurzen Prozess machen. Befehl ist Befehl.“

Veronica, die sich aufgerappelt hatte, öffnete den Mund. „Sie…?“

„Ja, ich. Kite trug mir auf, Paul anzurufen und ihm mitzuteilen, dass das Treffen verschoben sei. Aus irgend einem Grund schien der Penner ganz froh darüber zu sein. Nachts um halb vier ging ich dann zum Laden und klingelte ihn raus. Er machte auf und ich sagte, es gäbe etwas Wichtiges zu besprechen. Wie erwartet führte er mich nach hinten. Ich streckte ihn mit sechs Stichen in Kreuzform nieder, genau um 3:33 Uhr. Dann plünderte ich die Kasse, um eine falsche Spur zu legen, und ging zum Wagen zurück.“ Der Polizist schien mich seiner Leistung zufrieden zu sein.

An Veronicas staubverschmierten Wangen bahnten Tränen zwei Flüsse bis zum Kinn. „Warum?“, wimmerte sie, „Warum nur?“

„Na, du kannst Fragen stellen… Zur höheren Ehre Luzifers natürlich – und damit der blöde Sack das Maul darüber hält, was in dem Manuskript steht oder wer es jetzt besitzt.“

„Verdammte Schweine!“, presste die junge Frau zwischen zwei Schluchzern hervor.

„Sieht nicht so aus, als könnte ich dich überzeugen, mit mir auszugehen.“ Desmond kicherte. „Wie dem auch sei, ich habe Kite informiert. Er müsste bald eintreffen. Soll der entscheiden, wie es mit dir weitergeht. Ich denke, wir können noch mehrfach Nutzen aus dir ziehen, bevor wir dich entsorgen.“


Er hinterließ eine Notiz für Veronica an der Tür zum Hinterzimmer, dann verließ Zach den Laden. Ein Taxi wartete bereits vor dem Fab Store auf ihn. Innerhalb fünfundzwanzig Minuten erreichte das Fahrzeug die Straße, in der Mr Mustard wohnte. Polizeifahrzeuge blockierten die Zufahrt. Zach stieg aus und ging zur Barriere. Ein Beamter trat auf ihn zu. „Sie können hier nicht weitergehen,“ sagte er, „wir haben die Straße für Ermittlungszwecke gesperrt.“

Hielt der Mann ihn für blind? Am liebsten hätte er ihn einfach beiseite geschoben, aber das war natürlich nicht ratsam, wenn man an seiner Freiheit hing. Er versuche es stattdessen mit einem Trick: „Mein Name lautet Ziegler. Ich habe einen Termin bei Kommissar Wickens. Man sagte mir, er leite die Untersuchung hier.“

Das Gesicht des Uniformierten verwandelte sich plötzlich in eine steife Maske. „Papiere!“, herrschte er den Detektiv an. Zach reichte ihm seinen Ausweis. Der Polizist rief einen Kollegen herbei und zeigte ihm das Dokument. Die beiden flüsterten kurz miteinander, dann ging der Kollege mit dem Ausweis zu einem der Fahrzeuge hinüber. „Was wollen Sie von Kommissar Wickens?“, fragte der Polizist.

„Mit Verlaub, das geht nur ihn und mich etwas an.“

„Er ist heute nicht im Dienst. Wer hat Sie hierher geschickt?“

Was geht hier vor sich?, überlegte Zach. Ein Todesfall mit seltsamen Umständen, der Leiter der Mordkommission nicht im Dienst, und dann dieses Quasi-Verhör – hier stimmte entschieden ganz und gar nichts. Ohne mit der Wimper zu zucken sagte er: „Der junge Mann an der Rezeption des Reviers. Naja, wenn der Kommissar schon fort ist, kann man nichts machen. Wissen Sie zufällig, wo ich ihn finde?“

„Tut mir leid, darüber kann ich Ihnen gegenüber keine Angaben machen. Und nun verlassen Sie bitte den Ort. Es gibt hier nichts zu sehen!“

Fast hätte Zach laut aufgelacht. Das sah den Bullen wieder ähnlich. Ein Mann lag in seinem eigenen Blut, doch nein, es gab hier nichts zu sehen. „In Ordnung. Könnte ich bitte meinen Ausweis zurück haben? – Danke, Officer.“

Der Detektiv wanderte zur anderen Straßenseite, wo eine kleine Menschenmenge auf dem Gehweg stand. Einige diskutierten angeregt, die meisten anderen starrten neugierig herüber, in der Hoffnung, einen Blick auf die Geschehnisse am Tatort erhaschen konnten. Sein kleiner Wortwechsel mit dem Polizisten war eine willkommene Abwechslung gewesen, die die wahrscheinlich seit Stunden andauernde Ereignislosigkeit unterbrach. Routinemäßig prüfte er die Gesichter der Anwesenden, suchte nach besonderen Gefühlsregungen und speicherte seine Eindrücke in einer eigens dafür reservierten Ecke seines Gedächtnisses. Er entdeckte Maria Borghese etwas abseits der Menge. Sie unterhielt sich mit einer kleinen schmächtigen Frau gehobenen Alters. Beide sahen mitgenommen aus. Er trat hinzu und sagte: „Grüß dich, Maria.“

„Zach, was machst du denn hier?“ Sie umarmten einander kurz.

„Ich bin auf der Suche nach Veronica und Desmond, und dachte, ich versuche mein Glück einmal hier“, sagte der Detektiv, nachdem sie wieder auf Abstand gegangen waren.

„Es gibt keine Neuigkeiten. Sie lassen nichts heraus“, erwiderte die Italienerin. Mit gesenkter Stimme fuhr sie fort: „Ohne meine Freundin hier, eine von Mr Senfkorns Nachbarinnen, würde ich völlig im Dunkeln tappen.“ Sie stellte die beiden einander vor.

Die ältere Dame hieß Cilia Appleby. Sie trug eine dünnrandige Brille mit einer Silberkette um den Hals und machte einen aufgeweckten Eindruck. Ihr listiger Blick glitt schnell über die versammelten Menschen, wohl um sicherzustellen, dass niemand Interesse an ihnen zeigte. Die Erkundung schien zu ihrer Zufriedenheit ausgefallen zu sein, denn sie sagte leise: „Ich war eine der ersten, die den Leichnam gefunden hat. Mr Senfkorn lag in seinem Wohnzimmer in Hockstellung auf der Seite, ein kleines Loch im Nacken und ein weiteres im Hinterkopf. Das halbe Gesicht war weggesprengt…“ Sie schüttelte sich. „Da habe ich entschieden, dass ich nicht als Zeugin in Erscheinung treten werde. Das ist mir zu heiß. Wissen Sie, junger Mann, ich war früher Kriegsberichterstatterin für die Times. Ich erkenne eine Hinrichtung, wenn ich eine sehe, und ich habe kein Bedürfnis, den Leuten, die das verbrochen haben, im Wege zu stehen.“

„Eine weise Entscheidung. Ich habe mich vor etwa einer Stunde auf der Polizeiwache nach dem Fall erkundigt. Ein Beamter antwortete mir, dass er zu diesem Selbstmord nichts sagen könne.“ Er ließ die Brauen tanzen. Sowohl Maria als auch Cilia Appleby rissen die Augen auf. „Machen wir, dass wir hier weg kommen. Mein Taxi wartet an der nächsten Straßenecke.“

Maria drückte die alte Dame herzlich, dann verabschiedeten sie sich.

40) Gefesselt

Hecken und niedrige Natursteinmauern behinderten die Sicht. Der Weg führte mehrere Kilometer lang einspurig über holprige Traktorpfade. Im tief liegenden GT war von der Landschaft wenig zu sehen. Er rollte wegen seiner zu geringen Bodenfreiheit außerdem lediglich in Fahrradgeschwindigkeit seinem Ziel entgegen. Wer hier draußen lebte, sollte besser in keine Situation geraten, die schnelle Hilfe von außen erforderte, dachte Veronica. Bis Krankenwagen, Polizei oder Feuerwehr einträfen, hätte sich das Problem von selbst erledigt, wenn auch nicht notwendigerweise zum Guten. Doch schließlich deutete Desmond auf eine Öffnung in dem Wall, dem sie seit einigen Minuten schon gefolgt waren. Sie bog ab, und da war es: das Ferienhaus der ‚Familie‘.

Seine Form lies auf ein historisches Bauernhaus schließen, dessen Erbauer wohlhabend gewesen sein mussten, denn es besaß sowohl einen großzügigen Grundriss als auch ein zweites Stockwerk. Es war gut in Schuss gehalten worden; der Dachstuhl hing nicht durch, die Schindeln glänzten im Sonnenlicht, die Wände standen gerade und waren sauber verputzt. Doch das Gebäude sah verlassen aus. Die Holzläden an den Fenstern des Erdgeschosses waren sämtlich geschlossen. Keine Wäsche hing zum Trocknen auf der Leine, kein Fahrzeug stand im Hof.

Das Gefühl von weiträumiger Einsamkeit war mit Händen zu greifen. Wenn man ein bisschen Abstand zur Zivilisation brauchte, konnte dieser Ort Balsam für die geschundene Seele bieten. Doch sie suchten ja nicht das Alleinsein, sondern eine junge Menschin, die seit einem Monat aus Liverpool verschwunden war. Wenn sie sich hier draußen befand, verheimlichte sie ihre Anwesenheit sogar vor jenen, die sich zufällig in diese gottverlassene Gegend verirrten. Und wer an einem ohnehin versteckt liegenden Ort seine Spuren verwischte, hatte Grund zur Furcht. Veronica spürte Kribbeln im Bauch, das Kitzeln einer Intuition, die wenig Gutes verhieß. Es gelang ihr auf den wenigen Metern, die der GT brauchte, um auszurollen und stehen zu bleiben, jedoch nicht, eine Ursache dafür zu ergründen. Sie stellte den Motor ab.

Sie öffneten die Fahrzeugtüren nicht sofort aus, sondern blieben einen Augenblick sitzen. und lauschten den Geräuschen, die durch die heruntergekurbelten Seitenfenster hereindrangen. Abgesehen vom Knacken des Motors, der abzukühlen begann, hörten sie lediglich einige Singvögel und das Säuseln eines leichten Windes. Ihre Augen suchten die Hausfront und die nähere Umgebung ab, doch an dem Eindruck von Verlassenheit änderte sich nichts. Veronica sah Desmond fragend an. Er schaute zurück, dann deutete er durch eine Kopfbewegung an, sie sollten zur Haustür gehen. Also stiegen sie aus. Veronica zog das halblange schwarze Kleid glatt, das vom Sitzen zerknittert war.

Langsam näherten sie sich der Eingangstür, die die Längsseite mittig in zwei gleich große Hälften teilte. Dem wuchtigen Rahmen und der groben Machart der Tür nach zu urteilen musste sie dem Ansturm eines Rammbocks standhalten können. Der Polizist griff in eine der Taschen seiner ärmellosen Strickjacke. Ein Sicherheitsschlüssel kam zum Vorschein. Er steckte ihn ins Schloss und drehte zwei Mal. Ein leises Klickern verkündete, dass der Mechanismus den Weg freigeben würde. Das Türblatt gab dem Druck der Schultern des Mannes sofort nach. Es schwang ohne Geräusch nach innen und zeigte sich im Profil genau so kräftig, wie Veronica vermutet hatte. Desmond trat ein; die Detektivin folgte ihm dichtauf. Er schloss die Tür sofort wieder. Sie rastete mit sattem Ton ein.

Sie befanden sich in einem Gang, der, wie es für sie aussah, durch das ganze Haus bis zur rückwärtigen Außenmauer verlief, wo eine weitere massive Tür wieder nach draußen führte. Rechts und links gingen je zwei Türen ab. Zwischen ihnen sah Veronica auf der linken Seite eine Treppe nach oben und direkt gegenüber eine eben solche nach unten führen. Eine dünne Staubschicht bedeckte den Boden. Nichts wies darauf hin, dass das Haus derzeit eine Bewohnerin hatte. Sie wollte sich eben zu Desmond umdrehen, um ihn zu fragen, weshalb keine der Türen eine Klinke besaß, da traf sie ein harter Schlag an der linken Schläfe. Sie rollte die Augen nach oben und fiel bewusstlos zu Boden.


Gegen halb zwei verließen Henry und Maria den Laden. Beide umarmten Zach noch einmal und sprachen ihm Mut zu. Der Detektiv brütete weitere zwanzig Minuten über der Geschichte von Mustards Tod, bevor ihm einfiel, dass Veronica aufs Polizeirevier gefahren war. Sie sollte eigentlich längst zurückgekehrt sein. Da er es nicht länger allein aushielt, schnappte er eine Jacke und ging zu Fuß zur Wache. So würde er nebenbei vielleicht Gelegenheit erhalten, ein paar Worte mit Wickens zu wechseln, der ihm, wenn er darüber sprechen durfte, bestimmt mehr über Mustards Tod erzählen konnte als das Lokalradio. Doch an der Rezeption teilte ihm ein junger Polizist mit, dass der Kommissar und Veronica bereits am frühen Morgen das Haus mit unbekanntem Ziel verlassen hatten. Über den Stand der Ermittlungen zum Selbstmord des reichen Sammlers dürfe er nichts sagen. Es werde aber nach Rückkehr des Kommissars eine offizielle Verlautbarung geben.

„Sagten Sie ‚Selbstmord‘?“ fragte Zach verdutzt.

„Tut mir leid, ich darf Ihnen wirklich keine weiteren Auskünfte erteilen.“

Zach schaute den jungen Uniformierten zweifelnd an, dann machte er kehrt, um nach Hause zurück zu gehen. Ein Gefühl der Beklemmung nistete sich in seinem Geist ein. Wo befanden sich Wickens und Veronica? Redeten sie noch immer miteinander? Er glaubte eher, dass sie schon getrennter Wege gingen. Wickens mochte sich zwecks Ermittlungen am Tatort befinden; Veronica wollte ein paar Besorgungen erledigen. Sie bummelt womöglich gerade durch die Innenstadt und konnte jederzeit wieder im Laden eintreffen. Er beschleunigte seine Schritte. Doch als er den Fab Store in den Rainford Gardens betrat, fand er das Gebäude verlassen vor. Zach beschloss, noch ein wenig zu warten. Er setzte zwei Tassen Kaffee auf, die er, als die Brühe durchgezogen war, umgehend hinunterstürzte. Er ging zum Telefon neben der Registrierkasse, nahm den Hörer ab und rief Molly Jones, Wickens‘ Frau, an ihrem Arbeitsplatz bei Notar Miller an.

„Mrs Wickens, guten Tag. Hier spricht Zachary Ziegler.“

Good day, Mr Ziegler“, flötete die Sekretärin. „Was können wir für Sie tun?“

„Mrs Wickens, entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich suche nach Ihrem Mann. Auf der Wache teile man mir mit, er habe das Gebäude in der Frühe verlassen. Wissen Sie zufällig, wohin er gegangen ist?“

„Nein, da kann ich Ihnen leider nicht helfen. Er sagt mir selten, was er tagsüber unternimmt. Das bringt sein Beruf so mit sich, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sie hatten doch einen Termin mit ihm. Ist er nicht erschienen?“

„Eine andere Verpflichtung kam mir dazwischen. Veronica ging an meiner statt zum Gespräch. Seither sind die beiden verschwunden.“

„Ach, die werden schon wieder auftauchen. Machen Sie sich keine Sorgen“, erwiderte die Sekretärin gut gelaunt.

„Wahrscheinlich haben Sie recht“, erwiderte Zach. „Haben Sie übrigens heute die Lokalnachrichten gehört?“

„Dazu hatte ich keine Zeit. Es war viel Betrieb bei uns. Wie hoch hat der FC Liverpool gewonnen?“

„Keine Ahnung. Ich meinte die Meldung über Mr Mustard.“

„Mustard? Hält er wieder peinliche Reden über Corbyns angeblichen Antisemitismus?“

„Kaum. Er wurde gestern Nacht erschossen.“

„Erschossen?“, quiekste es aus dem Schellack-Hörer.

Zach nickte. Dann fiel ihm ein, dass sie es nicht sehen konnte. Er sagte: „Ja. Es kam kurz nach zehn Uhr im Radio. Wissen Sie, ob er sich Feinde gemacht hat?“

„Zeigen Sie mir einen Juden, der keine Feinde hat. Aber gleich erschießen? Wer macht den so etwas?“

„Wir werden es früh genug erfahren, hoffe ich. Schalten Sie das Radio ein. Die Polizei will bald eine Stellungnahme abgeben.“

„Mache ich. Mr Ziegler, ich muss nun leider das Gespräch beenden. Soeben sind Kunden eingetreten. Richten Sie Veronica Grüße von mir aus, wenn sie zurückkehrt. Auf Wiedersehen!“

„Auf Wiedersehen, Mrs Wickens.“ Er legte auf.

Zach knirschte mit den Zähnen. „Verdammt!“, knurrte er. Seine beiden aussichtsreichsten Versuche, etwas über Veronicas Verbleib und den Mustard-Fall herauszufinden, waren ohne Ergebnis geblieben. Was nun?


Ein stechender Schmerz in ihrem Kopf war das erste, was sie bei der Wiederkehr ihres Bewusstseins begrüßte. Ihre Augenlider fühlten sich geschwollen an, daher entschied sie, dass sie diese erst einmal geschlossen halten würde. Sie prüfte den Zustand ihres Körpers, indem sie ihre Aufmerksamkeit von der pochenden Schläfe abwandte und langsam der Wirbelsäule entlang nach unten schickte. Sie lag auf der Seite, unter ihr eine Strohmatte. Gesicht und Hals meldeten keine Probleme. Die rechte Schulter fühlte sich an, als habe sie einen Boxhieb erhalten, schien abgesehen davon jedoch okay zu sein. Als ihr geistiges Auge bei den Handgelenken ankam, bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Sie… war gefesselt! Ein Alarmsignal raste durch die Arme ins Gehirn. Die junge Frau erwachte schockartig aus ihrer Benommenheit. Sie riss die Lider auf und betrachtete ihre Hände, die durch einen kräftigen Lederstreifen in Gebetsstellung zusammengebunden waren. Ein dort angeknoteter Kälberstrick wand sich von ihr fort über den Boden, um in etwa einem Meter Entfernung wie eine Kobra in die Höhe zu steigen. Mehr konnte sie aus ihrer Position nicht erkennen.

Es herrschte schummriges Zwielicht in dem Raum, dessen holzvertäfelten Wände nur wenige Meter entfernt aufragten. Wie spät mochte es sein? Veronica versuchte die Lichtquelle auszumachen. Langsam drehte sie sich auf den Rücken. Sie stöhnte laut. Ihr Kopf drohte zu explodieren. Als der sternenbesetzte Himmel vor ihren Augen sich wieder auflöste, folgte ihr Blick dem Seil nach oben. Was war das? Sie sah, dass es um mehrere Rollen geschlungen war, die an einem Haken von der Balkendecke herabhingen. Jenseits davon fiel es wieder dem Boden entgegen. Die Auflösung des Bildrätsels lag gefühlt in Griffweite, aber verborgen durch einen Nebel aus Kopfschmerzen und Desorientiertheit.

Die Lichtquelle! Sie hatte doch herausfinden wollen, woher das Licht kam, in der Hoffnung, die Tageszeit abschätzen zu können. Unter Vermeidung jeglicher anderer Bewegungen lies sie langsam den Blick kreisen. Es gab zwei Fenster auf der einen Seite des Raums. Die Dämmerung war schon weit fortgeschritten, doch die Reste von Tageslicht am schwarzblauen Himmel und tauchten alles in geisterhaftes Grau. Dann hatte sie also den ganzen Tag bewusstlos dagelegen… „Desmond!“, war ihr nächster Gedanke. Er hatte sie in diese Einöde gelockt und dann niedergeschlagen. Warum? Wollte er sie umbringen, weil sie ihm auf die Spur gekommen war? Panik flammte auf und ließ sogleich wieder nach. Das hätte er längst erledigen können. Er wollte etwas von ihr, brauchte sie noch für etwas, das zu ergründen im Moment zu viel Geisteskraft von ihr erfordert hätte. Sie ließ den Gedanken fahren und wandte sich erneut dem Problem ihrer gefesselten Hände zu. Als sie diese vor ihr Gesicht hob, bemerkte sie dahinter eine Gestalt an der Stelle, wo das Seil von den mysteriösen Rollen bis zum Boden hing. Ihre Umrisse glichen jenen des Polizisten.

Bis jetzt hatte er reglos außerhalb des Gesichtskreises der jungen Frau gestanden und still beobachtet, wie sie langsam wieder zu Bewusstsein gelangte. Als deutlich wurde, dass sie ihn bemerkt hatte, erhob er seine Stimme.„Ah, Miss Schlaumeier ist aufgewacht. Ich habe mich schon gesorgt, dass der Schlag ein wenig zu hart gewesen sein könnte“, sagte er höhnisch.

39) Lolita

Wieder herrschte für einige Augenblicke Stille im Hinterzimmer. Henry schaute zu Boden, als er leise sagte: „Ich sollte wahrscheinlich nicht über das sprechen, was ich dir nun zu sagen habe. Im Vertrauen auf unsere Freundschaft – und weil ich dich für einen ehrlichen Mann und einen professionell handelnden Ermittler halte – möchte ich meine Zuversicht zum Ausdruck bringen, dass Kirk weiß, was sie tut. Ihr wird schon nichts geschehen sein.“

„Wie kommst du zu der Einschätzung? Wie lang kennst du sie überhaupt?“

„Sie betrat vor etwa einem Jahr den Fab Store, just in dem Moment, als Paul und ich uns über Billy Shears unterhielten. Während wir in unserem Jargon fachsimpelten, stöberte sie durch die Auslagen. Sie schien uns keine Beachtung zu schenken. Nach einer Weile trat sie jedoch mit zwei Alben an den Tresen, ‚Rubber Soul‘ und ‚Sgt. Peppers‘, zeigte jeweils auf McCartneys Gesicht und sagte: ‚Sie meinen, das ist nicht derselbe Mann?‘ Ihre vorurteilsfrei geäußerte Wissbegier veranlasste uns dazu, ihr die Paul-ist-tot-Theorie zu erläutern. Sie stellte die richtigen Fragen, und so redeten wir mehrere Stunden lang mit einander, bis sie sagte: ‚Ist ja scharf! Wissen Sie was? Sie haben mich überzeugt. Man müsste diese ganzen Belege und Hinweise irgendwo sammeln..:‘ – und so kam sie in Kontakt mit der Familie.“

Zach hörte aufmerksam zu. Als Henry in Gedanken zu versinken schien, sagte er: „Erzähl weiter.“

Weitere Sekunden verstrichen, in denen lediglich gedämpfte Geräusche von der Straße hereindrangen. Dann begann Henry erneut zu sprechen. „Sie behauptete damals, fünfzehn Jahre alt zu sein, und sie wirkte überzeugend. Babyspeck, hippe Kleidung, naive Vorstellungen, schnoddrige Sprechweise – es passte alles ins Bild. Sie stellte Fragen über Fragen und wir alle fühlten uns berufen, diese ausführlicher zu beantworten, als sie verlangte. Sie kaufte zunächst wahllos zusammen, was ihr interessant erschien; mehr oder weniger das Standardprogramm für Einsteiger: seltene LP-Pressungen, signierte Gegenstände, Bühnenkleidung. Kite nahm sie also persönlich unter seine Fittiche, um ihr zu helfen, einen Fokus für ihre Sammlung zu finden. Von da an steckten die beiden ständig die Köpfe zusammen. Dass es Unstimmigkeiten zwischen uns gab, musste sie relativ schnell gespürt haben, denn sie lenkte das Gespräch immer wieder in diese Richtung. Sie begeisterte sich insbesondere für den Gedanken, objektive Beweise für McCartneys Tod und Billys Einstieg bei den Beatles zu finden, um der Musikindustrie die Maske herunterzureißen.“

„Wie tatkräftig sie bereit war, sich dafür einzusetzen, durftet ihr ja selbst beobachten“, warf Zach ein.

„Unzweifelhaft. Die Frage, die wir uns hätten stellen sollen, lautete: Warum? War es wirklich nur jugendlicher Idealismus oder steckte mehr dahinter?“

„Es wurde die Vermutung geäußert, es sei ihr um erotische Abenteuer gegangen.“

„Ha!“, lachte Henry auf. „Ich hege hierüber keinerlei Zweifel mehr. Es handelte sich aus meinem Verständnis um eine der Vorbedingungen, mit denen sie in diese Mission gegangen – oder sollte ich sagen: geschickt worden? – ist.“

Zach zog die Augenbrauen hoch. „Geschickt worden?“

„Bist du je nach Japan gereist, Zachary?“

„Nein. Weshalb fragst du?“

„Vielleicht hast du aber von der seit den 1980ern blühenden Jugendkultur gehört, die sich visual kei nennt?“

„Meinst du die Leute mit den bunten Haaren?“

„Ja, unter anderem. Popularisiert hat das eine Heavy-Metal-Gruppe namens X, deren Mitglieder sich in Anlehnung ans traditionelle Kabuki-Theater sehr feminin präsentierten: Schminke, Lippenstift, lange gefärbte Haare, teilweise sogar Röcke – das ganze Programm. Einer von ihnen, Yoshiki, veröffentlichte einen Fotoband mit dem Titel ‚Nude‘, der weibliche Erotik simulierte. Visual kei ist mehr als ein kurzlebiger Trend, es ist eine seit Jahrzehnten praktizierte Lebensweise, bei dem nicht nur die Grenzen zwischen Rock, Pop und Manga verschwimmen, sondern auch jene zwischen den Geschlechtern und Altersgruppen. Im Stadtzentrum von Tokyo gibt es eine Brücke, auf der sich die Musik- und Comicfans gern aufhalten – aufgetakelt als diese Idole in ihren schrillen Outfits. Aber du brauchst gar nicht ans andere Ende der Welt fliegen, um es mit eigenen Augen zu sehen. Geh einfach auf eine ihrer Conventions. Kleine Mädchen ebenso wie junge Frauen und auch Männer kleiden sich als ‚Loli‘, wie sie das nennen.“ Henry schaute Zach nun direkt in die Augen. „Du ahnst vielleicht bereits, worauf ich hinaus will.“

Zach brummte. „Lolitas?“, riet er.

„Lolitas, ja; minderjährige Nymphomaninnen.“

„Und Kirk entstammt dieser Szene?“

„Nein. Die Lolis sind nur ein Teil der visual kei– und Manga-Szene, wenn auch ein bedeutender. Ich glaube nicht, dass Kirk überhaupt von ihnen gehört hat, aber sie ist definitiv eine überzeugende Lolita-Darstellerin. Kirk war nicht fünfzehn Jahre alt, als ich sie kennenlernte, sondern zwanzig.“

„Was?“, rief Zach erstaunt. „Das hieße ja, sie wäre heute einundzwanzig. Bist du sicher? Sie sieht auf ihren Facebook-Fotos kaum älter als sechzehn oder siebzehn aus.“

Henry nickte grimmig. „Eines Tages, als ich gerade wieder mit Paul redete – wir standen am Verkaufstresen –, stellte sie sich neben mich, um ein Buch zu bezahlen, das sie kaufen wollte. Sie öffnete ihren Geldbeutel und ihr Ausweis fiel zu Boden. Ich hob ihn für sie auf. Mein Blick erfasste das Datum, und da wäre mir die Karte fast selbst entglitten.“

„Hast du sie je darauf angesprochen?“

„Auf ihr wahres Alter? Ja. Ich sagte ihr auf den Kopf zu, dass sie nicht das wäre, als was sie sich ausgab.“

„Und ihre Antwort?“

„Sie schien mich falsch verstanden zu haben. ‚Ich darf dir leider nicht erzählen, wer ich bin‘, sagte sie. ‚Warum nicht? Wer verbietet es?‘, fragte ich. Sie schüttelte nur den Kopf und antwortete: ‚Auch das darf ich dir nicht sagen.‘“

Zach überlegte. „Meinst du, jemand hat sie nach Liverpool geschickt, um sie auf die Familie anzusetzen?“

„Ja, der Schluss drängt sich auf. Und wer könnte das sein? Es muss entweder eine ziemlich hoch angesiedelte staatliche Stelle sein, etwa die oberen Etagen von Scotland Yard oder MI-5, oder sie arbeitet für obere Freimaurergrade, vielleicht sogar die Illuminaten. Jedenfalls glaube ich, dass sie weiß, was sie tut. Sie ist kein unerfahrener Teenager mehr.“

„Das eröffnet die Option, dass sie erreicht hat, was sie wollte, und dass sie zur Zentrale zurückgekehrt ist, um Bericht zu erstatten“, sinnierte Zach.

„So sieht es auch für mich…“

In diesem Moment polterten Schritte auf der Treppe. Mit eiligen Schritten stürme Maria zu ihnen herab und rief: „Mr Mustard ist tot. Sie haben es gerade im Lokalradio gebracht.“

Henry und Zach sprangen erschrocken von ihren Sitzen auf. „Was sagst du da?“

Die Italienerin stellte das Kofferradio, das sie mitgebracht hatte, auf den Bartresen und drehte den Lautstärkeregler höher. „… Nachbarn hörten vergangene Nacht mehrere Schüsse aus dem angrenzenden Haus. Sie sahen einen unbeleuchteten weißen Lieferwagen davonfahren. Laut Augenzeugen, die durch die offen stehende Vordertür ins Haus eindrangen, lag der Besitzer, Aaron Senfkorn, mit mit einer Schusswunde im Kopf tot am Boden. Die Polizei wurde umgehend zum Tatort gerufen. Sie sperrte das Grundstück ab. Offiziell hat die Mordkommission noch keine Stellung abgegeben, aber sie kündigte eine Verlautbarung für den Vormittag an. Wir rechnen jede Minute mit ihrem Statement und werden Sie auf dem Laufenden halten, sobald wir weitere Einzelheiten haben.“

Henry sank wieder in den Sessel zurück. Zach war kreidebleich geworden. Maria bemerkte es. Mit besorgtem Blick setzte sie sich auf das Sofa und zog ihn auf den Platz neben sich herunter. Sie legte einen Arm um ihn. Der Detektiv benötigte einige Minuten, bis er wieder sprechen konnte. Dann erzählte er ihnen von seinem Telefonat mit Mr Mustard. „Du musst dich getäuscht haben, Zach“, sagte Maria.

„Das war bestimmt nur ein seltsamer Zufall“, meinte auch Henry.

Zach glaubte keine Sekunde daran, aber was half es? Wenn ihm eine Vorschau auf das Geschehen gewährt worden war, so hatte er die Gelegenheit verpasst, Mustard vor seinem Schicksal zu bewahren. Für den Sammler kam jede Hilfe zu spät. Unfähig zu einer sinnvollen Reaktion warteten die drei auf die angekündigte Radiomeldung. Doch weder um elf noch um zwölf und auch nicht um ein Uhr gab es Neuigkeiten zum Fall Senfkorn.

36) Revolver

„Angesichts Ihrer Erkenntnisse über den größeren Zusammenhang beschlossen Sie, dass Sie an den Kulissen der Unterhaltungsindustrie rütteln mussten. Wenn ich es recht verstehe, arbeiten Sie an einer Art Dokumentationsprojekt…“

„Nun, das ist die eine Hälfte der Unternehmung: interessierten Zeitgenossen Zugang zu authentischen Objekten zu verschaffen und eine halbwegs korrekte Geschichtsschreibung zu ermöglichen. Die andere Hälfte besteht in der juristischen Aufarbeitung. Ich sehe im Moment zwar keine Chance, ein unabhängiges Gericht zu finden, das gegen die Kontrolleure antreten würde, aber die Zeit wird kommen, und dann wollen wir vorbereitet sein.“

„Was hatten Sie sich diesbezüglich vom Familientreffen erhofft?“

„Wir dachten, wir könnten eine Gelegenheit herbeiführen, Mal Evans‘ Memoiren zu kopieren. Wir vermuten, dass seine Beschreibungen Hinweise auf weiterführende Spuren enthalten, etwa zur Frage, wie die Songs geschrieben und aufgenommen wurden oder wie Billy Shears Paul McCartney ersetzte.“

„Wer kam auf die Idee, ein minderjähriges Mädchen als Venus-Fliegenfalle zu benutzen?“

„Das Mädchen selbst. Unser Plan sah vor, Kite mit Alkohol oder Drogen auszuschalten. Kirk war der Ansicht, wir unterschätzten seine Intelligenz. Sie sollte recht behalten.“

„Wider Erwarten blieb PC31 jedoch an diesem Abend dem Treffen fern, und mit ihm das Manuskript. Weshalb machten Sie trotzdem weiter?“

„Kirk ließ sich durch nichts bremsen. Vielleicht ging es ihr mehr um den Sex als um das Beweisstück; vielleicht genoss sie den Kitzel der Gefahr; vielleicht wollte sie sich oder uns etwas beweisen. Ich weiß es nicht. Vom Augenblick ihres Eintreffens flirtete sie heftig drauf los. Ich habe ihr mehrmals signalisiert, dass sie es sein lassen soll, aber sie ignorierte mich einfach.“

„Also stieg sie schließlich mit Kite ins Bett. Was geschah dann?“

„Semolina schlich ihr hinterher. Irgendwann kehrte Sem in den Salon zurück, um uns zu holen. Sie hatte von Kirk ein Foto erhalten. Mustard, Robert und ich haben Aufnahmen gemacht. Dann gingen wir wieder hinunter, während Semolina das Foto zurückzugeben versuchte. Aber sie fand Kirk bewusstlos am Boden des Schlafzimmers liegend vor. Also hat sie mich geholt, um ihr zu helfen, sie aufs Bett zu legen.“

„Wie sah es im Schlafzimmer aus? Ist Ihnen etwas aufgefallen?“

„Völliges Durcheinander; Kleidungsstücke über den Boden verstreut. Kite lag im Tiefschlaf auf dem völlig zerwühlten Bett, Kirk daneben auf dem Boden. Sie sah übel zugerichtet aus – voller blaue Flecke, die Haare zerzaust. Wir hievten sie hoch, dann gingen wir.“

„Haben Sie das Foto irgendwo gesehen?“

„Es lag auf einem der Nachttischchen.“

„Und da lag es noch, nachdem Sie das Zimmer verlassen hatten?“

„Selbstverständlich! Wofür halten Sie mich?“

„Entschuldigen Sie, ich muss die Frage stellen. Das Bild fehlte am folgenden Tag.“

„Wie bitte?“

„Kite sagt, es sei ihm entwendet worden. Er hält es für einen Scherz, der zu weit getrieben wurde, und bat mich, Erkundigungen einzuholen. Hat er Sie nicht zu kontaktieren versucht?“

„Nein. Ich hatte auch keinen Kontakt zu den anderen.“

„Als Semolina und Sie in den Salon zurückgekehrt waren, sprachen Sie den anderen gegenüber davon, was Sie im Schlafzimmer gesehen haben?“

Rocky Raccoon überlegte. Zögernd sagte er: „Ja. Da Sie so fragen, erinnere ich mich, die Szene beschrieben zu haben.“

„Wer hat das Schloss als Letzter verlassen?“

„Ich. Gelegenheit ins Schlafzimmer zurückzugehen hätten aber alle gehabt. Der Ruf der Natur, Sie verstehen?“

„Was halten Sie für wahrscheinlicher: dass Kite lügt oder dass einer von Ihnen sich das Foto heimlich geschnappt und mitgenommen hat?“

„Ich glaube eher, dass Kite lügt, möchte jedoch grundsätzlich nichts ausschließen.“

„Wer von Ihnen, glauben Sie, käme am ehesten dafür infrage?“

„Robert oder Mustard.“

„Weshalb nicht Semolina?“

Rocky verzog den Mund. „Wenn Sie sie seit längerem kennen würden, hätten Sie sich die Frage geschenkt.“

„Was ist mit Kirk? Sie scheint gerade untergetaucht zu sein. Halten Sie es für möglich, dass sie mit dem Foto abgehauen ist?“

Der Ex-Manager zuckte die Schultern. „Sie müsste vor Kite aufgewacht und dann zu Fuß bis zur Hauptstraße zurückgegangen sein. Sie ist zierlich gebaut, daher vermute ich, die K.O.-Tropfen haben sie härter getroffen. Kite war bestimmt vor ihr wach.“

„Er dürfte über das Fehlen des Fotos wenig amüsiert gewesen sein.“

„Und sie über seine Reaktion.“


„Ich dachte, du und ich seien schon ziemlich weit in den Dschungel vorgedrungen“, bemerkte Zach, während seine Tochter, die von der Minibar aus dem Gespräch gelauscht hatte, die Backen blähte.

„Vielleicht ein bisschen zu weit, um den Überblick zu bewahren“, erwiderte sie.

„Ja. Mr Raccoon hat aus den einzelnen Bäumen einen Wald geformt.“

„Raccoon hat geholfen, aus den vielen Bäumen einen Wald zu formen. Ohne die Einsichten, die Henry und Maria mit uns geteilt haben, wäre ich sehr viel skeptischer, was den Wahrheitsgehalt des eben Gehörten angeht.“

„Es geht mir ähnlich. Was hältst du von seiner Aussage zum Familientreffen?“

„Er bestätigt, was die anderen erzählt haben. Alle einschließlich Kite halten Maria für eine ehrliche, integre Frau. Sie ihrerseits vertraut Henry und sie würde auch nicht zugelassen haben, dass Rocky das Foto einfach einsteckte. Es bleiben tatsächlich nur der Bildersammler Dr Robert und der geheimnisvolle Mr Mustard als Verdächtige übrig – vorausgesetzt, Kite behauptet den Diebstahl nicht lediglich. Miller scheint mir vertrauenswürdig. Mustard… nun, seine Geschichte werden wir heute Nachmittag hören.“


Würden sie nicht. Aaron Senfkorn, Nachfahre deutsch-jüdischer Holocaust-Überlebender, in Sammlerkreisen unter dem Pseudonym Mr Mustard bekannt, rief kurz vor ein Uhr am Nachmittag an, um das Treffen mit Zach abzusagen. Er machte einen kurzfristigen unaufschiebbaren Termin geltend, wirkte dabei jedoch über die Maßen verlegen. Zach ahnte, dass der Sammler ihm auszuweichen versuchte, denn der Vorschlag, das Gespräch am Montag nachzuholen, erntete ebenfalls Ausflüchte.

„Ich könnte auch bei Ihnen vorbeikommen, wenn Ihnen das lieber ist“, bot Zach an. „Mals Koffer enthielt eine nette Sammlung signierter Autogrammkarten, die ich Ihnen gern zeigen möchte.“

„Nein!“, plärrte es schnell aus der Hörmuschel. Dann, wesentlich sanfter, wie um dem Eindruck entgegenzuwirken, dass er etwas zu verbergen hatte, sagte Mustard: „Nein, äh, danke, das wird nicht nötig sein. Ich werde die, äh, erste Gelegenheit nutzen, Sie in der, hm, kommenden Woche aufzusuchen.“

Mustards Antwort war ein deutlich hörbares Klicken vorausgegangen, das im Grunde der Schalter eines beliebigen Geräts verursacht haben konnte. Die Haare, die sich in Zachs Nacken aufstellten, gaben konkretere Auskunft. Er konnte nicht sagen, weshalb, aber er wusste einfach, dass es sich um den Hahn eines Revolvers handelte. Der Detektiv schüttelte die Intuition als irrational ab. Er wurde langsam paranoid, schalt er sich. Zu Mustard sagte er: „Schön, kommen Sie bitte im Lauf der Woche in den Laden. Warten Sie nicht zu lang. Es gibt einige wichtige Entwicklungen zu besprechen. Und natürlich möchte ich Sie unbedingt kennenlernen.“

„Hm, ja, sicher. Leben Sie wohl.“

„Auf bald“, erwiderte Zach.


Das Krematorium Springwood war ein moderner Zweckbau mit klaren Konturen aus Glas, Stahl und Beton. Der Leichenwagen mit dem ihm folgenden Konvoi der Gäste hielt unter einem Vordach, das etwas mehr Platz bot als sein Gegenstück in Wallace Castle. Miller hatte sechs Träger bestellt, die den offenen Kiefernholzsarg aus dem Fahrzeug zogen und auf ihren Schultern in das Gebäude hineintrugen. Am anderen Ende der kleinen Halle, die sie betraten – dem Aussegnungsraum – befand sich eine Bühne, die rechts und links von roten Vorhängen flankiert wurde. Der linke Vorhang war geöffnet. Dahinter erstreckte sich ein drei auf drei Schritte messender Raum, der bis auf Brusthöhe mit einem Marmorpodest gefüllt war. Auf der Bühne stand mittig ein Rednerpult, davor ein langer niedriger Tisch, auf dem die Träger den Sarg abstellten.

Während aus den Lautsprechern leise die letzten Takte des Beatles-Stücks Long, Long, Long ausklangen, schaute Zach in die Runde. Von den anwesenden Personen kannte er nur etwa die Hälfte: seine Tochter, Miller, Maria, Mr und Mrs Wickens, Bishop und Rocky Raccoon. Fünf weitere Gesichter hatte er noch nie gesehen. Doch, einen Augenblick: Der älteren Dame mit den schulterlangen blonden Locken war er bereits einmal auf der Straße begegnet. Sie gehörte zum Laden gegenüber des Fab Stores, wenn er sich nicht irrte. Müsste er einen Tipp abgeben, waren auch die anderen Trauergäste Nachbarn aus dem Cavern-Viertel.

Der Notar betrat nun die Bühne. Er stellte sich hinter dem Rednerpult auf und blickte geduldig in den Raum. Es verging noch etwa eine Minute, bis auch der Letzte sich gesetzt und alle Gespräche eingestellt hatte. Dann begrüßte Jules Robert Miller die Anwesenden und gab mit gestelzten Worten, denen es jedoch nicht an mitfühlender Wärme fehlte, eine kurze Zusammenfassung von Pauls Leben. Bis auf das Wenige, das er in den vergangenen zwei Wochen über seinen Halbbruder in Erfahrung hatte bringen können, handelte es sich um die Biografie eines für Zach völlig fremden Menschen. Er schaute zum Sarg hinüber, dessen Rand um nur wenige Zentimeter vom Leichnam überragt wurde. Auch die Perspektive war ungünstig. Sein Blick fiel auf die Unterseite von Kinn, Nase und Augenlidern. Ob im Kiefernholzsarg tatsächlich sein Stiefbruder Paul lag – zumal um zwanzig Jahre gealtert, von einem brutalen Mord gezeichnet und vom Tod bereits verfremdet – hätte er nicht zu sagen vermocht. Zachs Gedanken schweiften zurück zu dem Paul, den er um die Jahrtausendwende gekannt hatte, und dann noch weiter zurück zu dem Kinderfreund, den er vor fast fünfzig Jahren dank der zweiten Ehe seines Vaters kennengelernt hatte. Das Ende von Millers Rede ging im Rauschen seiner Erinnerungen unter. Aus den Winkeln seiner nun von Tränen verschleierten Augen bemerkte der Detektiv eine Bewegung. Der Notar trat an den Sarg, legte dem Toten für einige Momente still die linke Hand auf die Schulter und platzierte dann eine Nelke auf dessen Brust. Dann nickte er Henry zu und setzte sich auf einen der Sitzplätze in der vorderen Reihe. Thomas Henry Bishop stand auf. Er ging zum Pult und erzählte einige fröhliche Anekdoten, die die vielen Talente des Ladenbesitzers Paulus Campbell würdigten. Anschließend nahm er eine der Nelken, die in einem Korb nahe der Bühne bereit lagen und gesellte sie der Blume bei, die der Notar auf Pauls Brust hinterlassen hatte. Die anderen Gäste taten es ihm einer nach dem anderen gleich.

Zach saß wie gelähmt auf seinem Platz. Jemand legte ihm eine Hand auf die Schulter. Zögernd drehte er den Kopf, folgte mit Blicken dem Arm nach oben, bis er ein Gesicht ausmachen konnte. Er kannte diese Züge. Er überlegte. Es war…, es war… wer? Henry schaute freundlich auf ihn herab. „Magst du ein paar Worte sprechen?“, fragte er. Der Klang seiner Stimme erschütterte Zach. Nein, wollte er nicht. Doch ohne wahrzunehmen, wie er auf die Bühne gelangt war, hielt er sich nun mit beiden Händen am Pult fest, sein Verstand gleichzeitig leer und zum Platzen gefüllt mit unzähligen Gedanken. Er öffnete den Mund. Die Augen der Trauergemeinde in den Stuhlreihen vor ihm war erwartungsvoll auf ihn gerichtet. Er sprach, ohne zu begreifen, was er da sagte. Zwei Sätze, drei vielleicht; Worte des Dankes an die Ersatzfamilie, die fremde Menschen seinem Stiefbruder in der zweiten Hälfte seines Lebens gewesen waren, würde ihm Veronica später berichten. Dann stieg er herab auf den roten Teppich, mit dem die Halle ausgelegt war, nahm im Vorbeigehen eine Nelke aus dem Korb, trat an den Sarg und starrte dem Toten lange Zeit ins Gesicht. Schließlich legte er seufzend die Blume auf die Brust seines Stiefbruders. Er wandte sich ab. Im Vorbeigehen bemerkte er die nackten Füße, die aus dem schwarzen Anzug des Verstorbenen ragten, ganz wie es Sitte auf den Inseln war. „Abbey Road“, schoss ihm ein skurriler Gedanke durch den Kopf, und: „Paul ist tot.“

‚Golden Slumbers‘ begann von der Musikanlage zu spielen. Bevor Zach in hysterisches Gelächter ausbrechen konnte, näherten sich die Sargträger mit dem Deckel. Er trat beiseite, um ihnen Platz zu machen. Nun erhoben sich auch die anderen Gäste. Als das Holzbehältnis verschlossen war, kamen sie herbei und gruppierten sich um ihn. ‚Golden Slumbers‘ wurde gefolgt von ‚Good Night‘. Die Träger bewegten den Sarg zu der Öffnung links von der Bühne, stellten ihn auf dem Granitpodest ab und traten zurück. Als die Musik verklang, schloss sich der rote Vorhang. Einige der Nachbarn bekreuzigten sich, bis auf Maria jedoch niemand aus der ‚Familie‘. Dann drehten sich die ersten um und verließen die Halle.

Zach, noch immer den Blick auf den Vorhang gerichtet, spürte, wie eine warme Hand sanft die seine ergriff. Es war Maria, die ihn traurig ansah. Er wandte sich ihr zu. Im nächsten Moment lagen sie sich in den Armen, schluchzend, zitternd, weinend.

29) Die Nacht im Schloss

„Konnten Sie hören, was die beiden besprachen?“, erkundigte sich Zach.

„Nein, aber es war offensichtlich, dass Kirk ihre Rolle spielte. Sie feuerte den einen Schuss ab, den sie im Lauf hatte, ohne Garantie, dass der Plan zum Ziel führen würde. Falls Paul nicht mit dem Manuskript auftauchte, würde es keine weitere Gelegenheit geben. Ein zweites Mal würde ihre Masche nicht funktionieren.“

„Und er ist nie aufgetaucht, richtig? Stattdessen wurde er in der selben Nacht ermordet und das Manuskript verschwand.“

Maria Borghese nickte wortlos.

„Was geschah dann?“, fragte Zach.

„Eine halbe Stunde vor Mitternacht flüsterte Kite dem Mädchen etwas ins Ohr. Er verließ den Raum. Zehn Minuten später folgte sie ihm. Ich gab Mr Mustard das vereinbarte Zeichen, dass die heiße Phase des Plans nun anlief und folgte ihr. Ich signalisierte Kirk, dass ich in der Nähe war. Wir stiegen zwei Treppen nach oben, dann wandte sie sich dem rechten Schlossflügel zu und folgte dem Gang bis zu einer Tür in der Wand, an der der er endet. Dort gibt es viele Nischen, Säulen, Vasen und Skulpturen. Ich versteckte mich hinter einer Säule nahe der Tür. Sie zeigte mir den erhobenen Daumen, bevor sie eintrat. Ich musste über eine Stunde lang warten, bevor ich sie wiedersah.“

„Hat Ihnen Kirk erzählt, was sich abspielte? Oder haben Sie gehört, was in der Zeit geschah?“

„Letzteres, zu meinem Bedauern.“ Maria verdrehte die Augen. „Er hat sie ziemlich hart rangenommen. Sie gaben sich außerdem keine Mühe, leise zu sein. Ich wäre am liebsten wieder davongeschlichen, aber ich hatte ihr mein Wort gegeben. Ich fürchtete auch, ihr könnte etwas zustoßen. Es kam schon vor, dass Kite die Kontrolle verlor.“

„Inwiefern verlor er manchmal die Kontrolle?“

„Er… schlägt manchmal zu fest zu.“ Sie schaute zu Boden.

„Hat er auch in jener Nacht fest zugeschlagen?“

„Ich glaube nicht, aber er hat sie, wie gesagt, ziemlich roh behandelt. Als sie die Tür öffnete, sah sie übel zerzaust aus. Ich sah auch blaue Flecken auf Schenkeln und Schultern, aber keine im Gesicht.“

Zach schüttelte missbilligend den Kopf. „Kirk war also unbekleidet, als sie wieder herauskam. Das wird wann gewesen sein? Ein Uhr? Später?“

„Ja, sie war splitterfasernackt, schien sich dessen aber nicht bewusst zu sein. Das war kurz vor halb zwei. Sie reichte mir einen durchsichtigen Plastikumschlag. Er enthielt das Foto aus der Pathologie. Sie sagte, ich solle mich beeilen. Ich fragte sie, was mit Kite sei. Er schlafe, sagte sie. Sie habe ihm die K.O.-Tropfen verabreicht, aber er habe sie einen Schluck aus dem Glas trinken lassen und sie fühle sich unglaublich müde. Dann ging sie wieder hinein.“

„Weiter. Was taten Sie?“

„Ich versteckte den Umschlag in einer der Ziervasen. Dann ging ich zu den anderen in den Salon hinunter. Desmond, Molly und Henry hatten bereits das Haus verlassen, da sie die Hoffnung aufgegeben hatten, Paul werde noch eintreffen. Robert, Rocky und Mustard kehrten mit mir auf den Gang vor dem Schlafzimmer zurück. Ich zeigte ihnen, was Kirk ergattert hatte. ‚Das ist verdammt wenig‘, klagte Mustard. Rocky schien derselben Meinung zu sein. Robert schnauzte, sie hätten keine Ahnung und seien wohl zu betrunken, um zu erkennen, was ihnen da in die Hände gefallen sei.“

„Und dann hat Dr Robert das Bild mitgehen lassen?“, hakte Zach ein.

„Davon weiß ich nichts. Ich habe keine Ahnung wer es mitnahm, und es war auch nicht vorgesehen. Ich erfuhr erst heute von Ihnen, Signore, dass es überhaupt fehlt.“

„Kite hat keine Nachforschungen angestellt? Hat er nicht gefragt, ob Sie etwas wissen, oder Ihnen gar gedroht?“

„Nein.“

„Wenn Sie das Foto nicht stehlen wollten, was wollten Sie mit dem ganzen Spuk dann erreichen?“

„Die Männer machten Mikrofilm-Aufnahmen von Vorder- und Rückseite, anschließend gingen sie zurück nach unten. Ich steckte das Foto wieder in seinen Plastikumschlag und dann in die Vase. Ich klopfte an die Tür. Niemand antwortete. Also ging ich hinein.“

„Was fanden Sie?“

„Kite lag bäuchlings auf der Matratze, wahrscheinlich besinnungslos. Ich sah hinter dem Bett zwei Beine hervorragen, eilte hin und sah, dass Kirk zusammengebrochen war, bevor sie wieder hineinkriechen konnte. Ich warf ein Laken über sie, holte das Foto, legte es auf ihren Nachttisch. Ich wollte sichergehen, dass das erledigt war, damit Kite keinen Verdacht schöpfte. Dann holte ich Mustard, der mir half, das Mädchen aufs Bett zu heben. Anschließend gingen wir hinunter. Robert bestand darauf, dass wir den Erfolg feierten. Also tranken wir eine weiteren Sekt. Dann verabschiedete ich mich. Ich brauchte mehr als eine Stunde, bis ich wieder zuhause ankam, weil ich so langsam fuhr.“

„Wann sind Sie angekommen?“

„Genau um halb vier Uhr. Ich weiß es deshalb, weil ich beim Einparken vor meiner Wohnung aus Versehen die Hupe betätigt habe. Als ich ausstieg, rief eine Nachbarin aus einem Fenster, es sei halb vier; ob ich noch nie etwas von Nachtruhe gehört hätte?“

„Es gab also Zeugen für Ihre Rückkehr. Wann haben die Männer und das Mädchen das Schloss verlassen?“

„Ich weiß es nicht. Wir haben das Thema seither gemieden. Ich versuchte am Sonntag mehrfach, Kirk telefonisch zu erreichen. Sie ging nicht ran. Es gelang mir erst am Montag Abend. Sie klang heiser und antwortete nur lakonisch.“

„Was hat sie gesagt?“

„Es gehe ihr okay. Sie habe viel geschlafen. Sie werde vielleicht ein paar Tage nach Bath an den Strand fahren, um sich zu erholen.“

„Das war alles?“

Maria verzog den Mund. Sie kehrte ihre Handflächen nach oben und ließ sie dann wieder in ihren Schoß fallen.

„Erschien Ihnen Kirks Verhalten auffällig?“

„Ja und nein. Unter den Umständen fand ich es nachvollziehbar, dass eine Sechzehnjährige mitgenommen oder geschockt klingt. Sie war zwar keine Jungfrau mehr, vermute ich, aber ich bezweifle, dass sie schon Erfahrung mit brutalem Sex hatte.“

„Sechzehn, um Himmels Willen!“ Zach legte eine Hand an seine Stirn. Er schloss die Augen und nahm einige tiefe Atemzüge. „Wo finde ich das Mädchen?“

„Wie ich schon sagte hat sie möglicherweise das Haus verlassen. Ich konnte sie seither nicht mehr erreichen und sie hat sich nicht mehr bei mir gemeldet.“ Sie zog eine Geldbörse aus ihrer Handtasche, entnahm ihr eine Visitenkarte und reichte sie dem Detektiv. „Hier, ihre Kontaktdaten.“

Der leerte seine Tasse in einem Zug. Dass ihr Inhalt kalt geworden war, entging seinem Wachbewusstsein. Eintrainierte Reflexe verformten seine Gesichtszüge missbilligend. Er beäugte den bunt bedruckten kleinen Papierstreifen. „Hätten Sie zufällig auch ein Foto von ihr?“

Maria zeigte auf die Karte. „Die Webadresse verweist auf ihr Facebook-Profil.“


Herrlicher Sonnenschein, der durch die großen Maßwerkfenster hereinfiel, wärmte ihr angenehm den Rücken. Sie lag auf dem Bauch, zu voller Länge ausgestreckt. Das Tageslicht blendete sie, als sie die Augen öffnete. Es mochte zehn Uhr oder später sein. Etwas Schweres, von dem sie vermutete, es müsse ein quer über dem Bett liegender Kite sein, drückte auf ihr Gesäß. Sie versuchte, die Arme an sich zu ziehen, um ihren Oberkörper für einen Blick nach hinten aufzurichten – vergeblich. Ihre Hände waren am Gestell des Bettes festgebunden. Als sie daran zerrte, sagte er leise: „Guten Morgen, Prinzessin. Hast du gut geschlafen?“

Er saß rittlings auf ihrem Po, registrierte sie nun, und die Erinnerung an die gewaltsame Behandlung während der Nacht entlockte ihr ein Stöhnen. „Massierst du mir die Schultern?“, bat sie ihn, hoffend, heute umsichtiger behandelt zu werden.

Kite blieb reglos sitzen. Einen Moment später fragte er: „Wo ist es?“

Kirk verstand nicht, was er meinte. „Wo ist was?“, fragte sie zurück.

„Wo ist das Foto?“ Seine Stimme, immer noch leise, klang nun scharf.

„Auf dem Nachttisch, glaube ich“, sagte sie verschlafen.

Ein brutaler Fausthieb in die rechten Rippen trieb ihr die Luft aus de Lunge. Sie schrie laut auf. „Falsche Antwort“, erwiderte er. „Nochmal: Wo ist das Foto?“

Kirk warf den Kopf hin und her. Ihr Blick suchte das Wenige zu erfassen, das ihre Bauchlage sie sehen ließ. „Ich weiß nicht,“ hustete sie, „es müsste doch hier sein.“

Ein weiterer Faustschlag traf sie, diesmal auf der linken Seite. Sie schrie, dann wimmerte sie. „Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. Bitte nicht schlagen, bitte…“ Die nächste Faust landete auf ihrer Wirbelsäule. Sie warf den Kopf zurück, den Mund weit geöffnet, als sie nach Luft schnappte.

Seine linke Hand fuhr ihr ins Haar, zog grob daran, während seine rechte vor ihrem Gesicht auftauchte. Sie hielt einen kurzen zweischneidigen Dolch, dessen Klinge irgendwelche symbolischen Gravuren aufwies. Dann setzte er den Dolch an ihren Hals. „Was hast du getan?“, brüllte er in ohrenbetäubender Lautstärke.

Sie sagte es ihm.