24) Maxwells Silberhammer

„Mr Ziegler,“ fuhr Kite fort, „vielleicht können Sie mir in Ihrer Eigenschaft als Detektiv behilflich sein.“

Zach schaute erstaunt auf.

„Natürlich habe ich Erkundigungen über Sie eingezogen. Wer kauft schon gern die Katze im Sack?“

„Leute, die Manuskripte in Koffern erwerben?“, flachste Veronica.

„Erkundigungen, soso“, sagte Zach. „Nun, es kommt darauf an, wie der Fall beschaffen ist. Worum geht es und was erwarten Sie von mir?“

„Es geht um ein verschwundenes Dokument.“

„Ich bin nicht sicher, dass wir schon jetzt bereit sind, Memorabilien aufzu…“

„Es handelt sich um eine Fotografie, die mir im Verlauf eines unserer Familientreffen entwendet wurde; vermutlich ein Scherz, der die Grenzen des Zulässigen überschritt und sich daher kaum von allein in Wohlgefallen auflösen wird. Der Kreis der primär Verdächtigen besteht somit aus den Personen, die ich zuvor aufgezählt habe. Ziehen Sie Erkundigungen ein und beschaffen Sie entweder das Foto oder einen dienlichen Hinweis.“

Zach ging die Liste im Geist durch. „Einschließlich Ihnen bestand die Familie bis zum Tod meines Stiefbruders aus zehn Personen, korrekt?“

„Richtig. Ihn und mich können wir ausschließen, also bleiben acht.“

„Wen wir ausschließen können, müssen Sie mir überlassen, andernfalls lehne ich den Auftrag ab. Ich brauche außerdem weitere Informationen: Von welchem Ort, welchem Datum, welchem Zeitfenster, welchem Fotomotiv reden wir? Worin bestanden die Sicherheitsvorkehrungen für das Objekt und wie wurden diese überwunden?“

Der Hüne schwieg einen Moment. Er zog eine Grimasse, kratzte sich mit einem perfekt manikürten Finger an der Nase, dann antwortete er: „Sie werden keine Ermittlungen gegen mich durchführen. PC31 scheidet aus, weil die Tat in genau jener Nacht geschah, als er gestorben ist. Ich hatte anlässlich des Sucherfolgs kurzfristig ein Treffen hier im Schloss anberaumt. Er sollte den Koffer mitbringen, aber er traf nie ein. Wir zeigten uns gegenseitig einige andere Stücke, die wir in der letzten Zeit erworben haben, darunter auch das Foto – ein Motiv aus der Pathologie, das normalerweise in einem Safe aufbewahrt wird; mehr möchte ich darüber nicht sagen. Aus der geplanten Feier entwickelte sich ein weintrunkenes Fest, das bis in die frühen Morgenstunden dauerte. Kurz nach ein Uhr begaben Kirk und ich uns nach oben. Als ich gegen zehn Uhr wieder erwachte, waren bis auf Kirk alle Gäste und das Foto verschwunden.“

„Kirk?“

„Die Duchess of Kirkcaldy.“

„Ach ja. Wenn ich die Lage recht einschätze, werden Sie vermutlich auch zu den Vorgängen da ‚oben‘ keine näheren Angabe machen wollen.“

„Wie genau müssen Sie es wissen?“

„Vergessen Sie‘s. Ich komme vielleicht darauf zurück, falls die Ermittlungen steckenbleiben. Was ist Ihnen meine Arbeit wert?“

„Berechnen Sie Ihren üblichen Satz. Falls es mit Ihrer Hilfe gelingt, das Foto zurückzuholen, verdoppelt das Ihr Gehalt.“

Zach und Veronica verständigten sich wortlos. Dann reichte der Detektiv Kite die Hand und sagte: „Einverstanden. Ich halte Sie wöchentlich auf dem Laufenden.“

„Täglich. Geben Sie dem höchste Priorität. Ich erwarte, dass die Frage in einer Woche vom Tisch ist.“

„Wie Sie wünschen.“

Der Schlossherr zeigte einen zufriedenen Gesichtsausdruck. Er hob sein letztes noch gefülltes Saftglas. „Auf Ihr Wohl.“

Veronica und Zach prosteten zurück. „Auf Ihres.“

Kite erhob sich. „Lassen Sie uns zur Feier des Tages Ihren Wunsch erfüllen. Folgen Sie mir.“

Er führte sie zurück durch den Salon mit dem fünfeckigen Tisch und den schwarzen Sesseln bis zur Tür neben dem gegenüberliegenden Kamin. Sie traten hindurch. Der Grundriss des Saals entsprach dem des Speisesalons, allerdings wurde dieser hier als Bibliothek genutzt. „Fühlen Sie sich wie zuhause“, sagte Kite. Seine linke Hand wies im Halbkreis in den Raum. „Ich bin in zwei Minuten wieder bei Ihnen.“ Er verließ sie durch eine weitere Nebentür am anderen Ende. Zach und Veronica ignorierten den Drang, das während des Essens Gehörte zu diskutieren oder auch nur die Backen zu blähen. Sie mussten davon ausgehen, dass hier, genau wie nebenan, irgendwelche Instrumente auf sie gerichtet waren. Die beiden musterten Boden, Wände und Decken in gespielt gelangweilter Haltung, gaben vor, einmal dieses Gemälde, einmal jenes Buch genauer zu inspizieren.

Ohne besondere Eile schlenderte Zach zu einem Stück hinüber, das an einer Holzvertäfelung zwischen zwei Bücherschränken befestigt war. Er hatte die Form wiedererkannt, ohne sie gleich zuordnen zu können. Das Ding sah aus wie eine mittelalterliche Streitaxt oder eine Art Hellebarde. Am oberen Ende eines armlangen Stiels war ein kreuzförmiges Werkzeug montiert. Eine Seite, kegelförmig, nahm den sich leicht verjüngenden Stiel auf, der linke Flügel bestand aus einem spitzen, handlangen Dorn; oben lief das Objekt in einer dolchartigen Spitze zu. Statt einer Axt formte der rechte Flügel einen Hammer mit gespreizten Ecken. Die Flügel des Kreuzes waren an einem Würfel befestigt, der, wie der Rest der Waffe, wahrscheinlich aus Silber oder versilbertem Metall bestand. Der Stiel war aus einem edlen Rotholz gefertigt – keine Kriegswaffe, sondern für zeremonielle oder symbolische Zwecke gefertigt. Sie sah gefährlich genug aus. Doch wer mochte wissen, welche Schäden man mit einem ernst gemeinten Äquivalent anrichten konnte?

Zachs Blick glitt an dem Ausstellungsstück hinunter. Rechts unterhalb, etwa auf Höhe seiner Schultern, befand sich eine gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografie. Sie zeigte ein Motiv, das er schon einmal gesehen hatte – in einem anderen Wartezimmer, nur wenige Tage zuvor. Nach all den verstörenden Informationen, die er seither aufgenommen hatte, kam es ihm wie ein halbes Leben entfernt vor. Ein formell gekleideter älterer Herr hielt eine auf ein Samtkissen gebettete historische Waffe, vielleicht eine Streitaxt oder einen Kriegshammer. Ihm gegenüber stand John Lennon mit hängenden Schultern, sichtlich übernächtigt. Bei näherer Betrachtung konnte es sich um dasselbe Objekt handeln, das über dem Bild hing. Es war sogar wahrscheinlich, andernfalls ergab die Kombination aus Foto und Ausstellungsstück keinen Sinn. Seine Überlegungen bestätigte die dezente Texttafel, die links, gegenüber dem Foto, unterhalb der Waffe angebracht war. Auf ihr stand:

„Sir Maxwell Knight übergibt John Lennon den McCartney- biétl. 9. November 1966“

Zachs Kinnlade fiel nach unten.

„Faszinierend, nicht wahr?“, ertönte hinter seiner linken Schulter die Hyänenstimme des Schlossherrn.

Der Detektiv zuckte zusammen. Er drehte sich um und trat einen Schritt zur Seite. Sein rechter Zeigefinger deutete auf den Hammer. „Was, zur Hölle, ist das da?“

Kite setzte ein sardonisches Lächeln auf. „Wie die Inschrift angibt, handelt es sich um einen biétl. Das Wort entstammt dem Altenglischen und bezeichnet einen Hammer; in diesem Fall ein rituelles Objekt, das für Beatles-Sammler mit okkultem Wissen um die Band so etwas wie den heiligen Gral darstellt. Ist Ihnen das Datum aufgefallen?“

„Neunter November – 9/11. Wollen Sie andeuten, die Waffe stünde im Zusammenhang mit McCartneys Ableben? Ich dachte, er sei bei einem Autounfall am 11.9.1966 gestorben?“

„So geht die Rede. Sie geben die offizielle Version der Beatles-Geschichte für diejenigen wieder, die Gründe haben, der für die breite Masse publizierten offiziellen Geschichte keinen Glauben zu schenken. Die Kombination aus elf und neun hat numerologisch eine ganz besondere Bedeutung. Wenn Sie die Weltgeschichte daraufhin abklopfen, werden Sie in ihrem Zusammenhang zahlreiche der wichtigsten Ereignisse stattfinden sehen: Am 9.11.1918 die Revolution gegen den deutschen Kaiser, die den Krieg zugunsten der Alliierten beendete, selbigen Tags 1989 die Öffnung der Berliner Mauer, die für den Fall der kommunistischen Regime in Osteuropa von besonderer Bedeutung war; am 11.9.1973 begann mit dem Putsch General Pinochets gegen den chilenischen Präsidenten Salvador Allende die Übernahme der Welt durch den Neoliberalismus. Dies nur, um ein paar der bekannteren Beispiele zu nennen.“

„Wie kommt ein dem gegenüber unbedeutender Musiker ins Spiel?“, fragte Veronica, die sich den beiden zugesellt hatte.

„Der beliebteste Musiker innerhalb der erfolgreichsten Musikgruppe der Welt“, verbesserte Kite, „und damit ein wesentliches Element in der Transformation familienbasierter Nationen zu den Ansammlungen hyper-individualistischer Atome, wie wir sie heute kennen. Die zersetzende Wirkung der Rockmusik, allen voran die der Beatles und der Stones, auf herkömmliche Moralvorstellungen wird selbst von ihren ärgsten Kritikern gern unterschätzt. Diese Bands propagierten die Lockerung der Sexualmoral, untergruben den Glauben an Gott und staatliche Institutionen, popularisierten den Missbrauch von Hasch und LSD, bagatellisierten Satanismus, pulverisierten jede klare Vorstellung davon, was Ethik, Philosophie oder Kunst zu leisten hatten, und sie beeinflussten ein Milliardenpublikum. Paul McCartney verdiente es, Luzifer an jenem besonderen September-Datum übergeben zu werden.“

„Also gab es keinen Unfall“, schloss Zach. „Er wurde ganz einfach erschlagen.“

„Formulieren wir es so: Wenn es um historische Daten geht, überlässt man nichts dem Zufall. Maxwells Silberhammer sorgte dafür, dass Paul wie vorgesehen starb.“

Veronica drehte den Kopf der Waffe zu und verzog angeekelt das Gesicht. „Ich glaub‘, ich kotz‘ gleich!“, nuschelte sie fast unhörbar.

„Max Knight übergab das gute Stück, desinfiziert und von allen Spuren gereinigt, zwei Monate später an John… als Andenken beziehungsweise als Warnung. Aber wer weiß: Vielleicht ist auch dies nur eine wohlfeile Geschichte, eine Fassade vor einer Fassade vor einer Fassade… Kommen Sie, ich zeige Ihnen, was Sie sehen wollten.“

Kite legte den dicken Lederordner, den er in der Hand gehalten hatte, zwei Regalabteile entfernt auf ein Lesepult. Er schlug ihn an einer mit einer Seidenschleife markierten Stelle auf, ungefähr nach einem Drittel der Seiten. „Nicht anfassen! Lesen Sie gern langsam, sorgfältig, aber Sie werden keine weitere Seite zu Gesicht bekommen. Faksimiles dieser Textstelle kann man an mehreren Adressen im Internet finden, wenn man weiß, wonach man sucht. Es sollte Beweis genug sein, dass wir das Original vor uns haben.“

Zach trat näher. Die Seite war einseitig eng mit Schreibmaschinenschrift bedeckt. Er schätzte den Text auf etwa fünfhundert Wörter. Das Papier war fleckig und vergilbt. Am breiten oberen Rand trug es von Hand aufgetragen die Inschrift ‚146 –‘. Mehr als ein Drittel der Zeilen umrahmte eine Linie. Das von ihr gebildete Feld war doppelt durchgestrichen. Weitere Ergänzungen und Streichungen in Handschrift verliehen der Seite den Entwurfscharakter, den man von einem Buchmanuskript erwartete.

Der Detektiv begann zu lesen: Ein gewisser George Kelly und seine Frau seien wegen etwas, das Evans ihnen im Auftrag von Brian – Epstein? – sagte, unglücklich und verließen Cavendish. Am folgenden Tag sei Paul eingetroffen; alle seien zugegen gewesen – es folgte eine Liste von Vornamen – und seien erstaunt und aufgeregt gewesen… ‚Sie haben in Nairobi ganze Arbeit geleistet‘, las er, ‚Nun ging es also wirklich los. Es fühlte sich an, als ob wir ihn schon immer gekannt hätten.‘ Darauf folgte das durchgestrichene Feld von circa zwanzig Zeilen, in dem von weiteren Reaktionen der Anwesenden berichtet wurde. Unter anderem ging es um Strawberry Fields Forever, das John ihm, später wohl, rückwärts vorgespielt hatte. ‚Welch eine Art, eine Geschichte zu erzählen‘, begeisterte Evans sich.

Dem durchgestrichenen Feld folgten zuletzt sieben Zeilen. Hier erwähnte er eine Klinik in Kenia, zu der er Paul begleitet habe, und dass dieser nun einen falschen Oberlippenbart brauche. Dann brach der Text mitten im Satz ab, um auf der folgenden Seite seine Fortsetzung zu finden. Ohne nachzudenken hob Zach die Hand, um umzublättern. Sanft drückte der Hüne seinen Arm nieder.

„Das sollte Motivation genug sein, den Fab Store wieder zu eröffnen, Mr Ziegler. Nehmen Sie mein Angebot an; eine Million Pfund, bar, steuerfrei.“ Kite schaute ihm eindringlich ins Gesicht. „Kommen Sie, Sie haben heute enorm viel Neues erfahren. Lassen Sie uns in ein oder zwei Wochen wieder treffen, wenn Sie alles verarbeitet haben. Dann wissen wir außerdem mehr, was aus dem verschwundenen Foto geworden ist.“ Er legte Zach eine Hand in den Rücken und führte ihn sanft zur Haupttür in der Mitte der langen Seite des Saals. Der Detektiv, erschüttert, leistete keinen Widerstand.

23) Das Lachen der Hyäne

Kite hob beschwichtigend die Hände. „Immer mit der Ruhe. Einer der Gründe, weshalb ich Sie zu mir gerufen habe, bestand darin, Sie über den Status der Auftragsabwicklung zu informieren. Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung. Ich befinde mich im Besitz des Evans-Manuskripts und werde selbstverständlich meinen Teil der Abmachung mit PC31 – Ihrem Verwandten Paulus Campbell – erfüllen.“

Wieder preschten sowohl Veronica als auch Zach gleichzeitig mit Fragen vor. „Was soll denn das für ein Name sein, PC31?“, mokierte sich die junge Frau, während ihr Vater zu wissen verlangte, wann und in welcher Form der Schlossherr die Million Pfund Sterling, die im Warenbuch verzeichnet war, zu vergüten gedachte.

„Die leichte Frage zuerst: Es mag charmanter klingende Namen geben. Da Mr Campbells Initialen wie auch seine ermittlerische Tätigkeit zu denen des Police Constable Nr. 31 aus Maxwell‘s Silver Hammer passten, blieb das Kürzel als Spitzname an ihm hängen; zu seiner Ehre, wie ich finde. Die Million Pfund sollen Sie selbstverständlich erhalten – in bar. Ich bin fast der Überzeugung, dass das Buch ein Vielfaches davon wert ist. Aber Abmachung bleibt Abmachung. Dazu gehörte übrigens, dass das Werk nicht in den Papieren des Ladens auftaucht. Leider hat PC diese Abmachung gebrochen, zum Glück hat er dabei keinen Schaden angerichtet, denn die Natur des Werks hat er dankenswerterweise zu beschreiben unterlassen. Ohne den Einbrecher hätten wir uns jedoch eine Geschichte ausdenken müssen, die den Verbleib des Dokuments erklärt.“

„Sie erwarten von mir, dass ich eine Million Pfund Schwarzgeld annehme? Deklarieren kann ich sie ja wohl kaum, wenn Sie sich weigern, die Empfangsbestätigung für das Objekt zu zeichnen. Ganz nebenbei verwickeln Sie mich in die Behinderung amtlicher Ermittlungen, denn die Polizei denkt noch immer, es sei gestohlen worden.“

„Ich erwarte von Ihnen nur eines: dass Sie meine Erläuterungen gegenüber Dritten als nicht gesagt behandeln. Mal Evans‘ Erinnerungen besäßen enorme Sprengkraft, falls sie je ans Licht der Öffentlichkeit gelangten. Es wäre besser, sie blieben für immer von der Bildfläche verschwunden – oder zumindest so lange, bis alle Beteiligten in den Himmel gefahren sind.“

„Oder in die Hölle“, konnte Veronica sich nicht verkneifen.

Kite lachte herzhaft. „Ihr scharfes Mundwerk gefällt mir, Veronica. Passen Sie auf, dass Sie es sich nicht eines Tages verbrennen. Ich kann nur noch einmal eindringlich davor warnen, mit der Geschichte hausieren zu gehen“, sagte er. Nach einer Sekunde: „Die Familie ist natürlich ausgenommen. Desmond gehört, nebenbei gesagt, auch dazu.“

„Desmond?“, fragte Zach, der unwillkürlich an Maria Borghese denken musste. Gestern hatte sie den Chef der Mordkommission Desmond genannt. ‚D. Wickers‘ stand auf dessen Brustplakette, erinnerte sich Zach.

„Desmond Jones alias Donald Wickens, langjähriger Leiter des Polizeidistrikts und derzeit außerdem Leiter der Abteilung für Tötungsdelikte“, bestätigte der Hüne die Gedankengänge des Detektivs. „Guter Mann.“

„Wer ist sonst noch Mitglied im Club?“, erkundigte sich Zach.

„Haben Sie Horse und Semolina schon kennengelernt?“ Zach nickte, Veronica legte den Kopf schief. Daher fuhr Kite fort: „Der Gentleman und die Putze mit dem Superhirn. Er sammelt audiophiles Material, sie ist ständig auf der Suche nach Büchern und Artikeln; auch gute Leute, aber leider moralisch nicht flexibel genug. Dann wäre da noch Dr Robert, Pauls Anwalt; ich denke, den müssten Sie ebenfalls kennen.“ Wieder nickte Zach. „Er sammelt seltenes Bildmaterial. Molly Jones; sie hat sich auf Gegenstände aus dem Besitz der Mädchen im Beatles-Umfeld spezialisiert. Rocky Raccoon sucht nach den Musikinstrumenten aller möglichen Gruppen, die man auf Videoaufnahmen sieht. Mr Mustard liebt Autogrammkarten, Tickets, handgeschriebene Textblätter und solcherlei; er hat die Suche nach dem Koffer mitfinanziert, denn es müsste jede Menge Material für ihn dabei gewesen sein. Informieren Sie ihn unbedingt über den Zugang. Fehlt noch jemand?“ Kite überlegte kurz. „Ah, natürlich! Die Duchess of Kirkcaldy. Sie fängt gerade erst zu sammeln an. Seltenes Vinyl, Kleidungsstücke. Sie hat noch kein klares Profil. Ich helfe ihr, wo ich kann.“

Während Kite sprach, trug die Dienerschaft bereits den Hauptgang auf, dessen kunstvolles Arrangement Zach im Geiste in sinntragende Bestandteile zu zerlegen versuchte. Er konnte gefüllte Teigtaschen identifizieren, ein Püree – vermutlich Kartoffeln, eventuell mit Möhren angereichert und mit Zwiebeln geschmälzt –, ein Soße – Sauce, verbesserte er sich –, die mit Preiselbeeren angemacht sein konnte, sowie diverse Salatblätter unterschiedlicher Herkunft. Gesegnet sei, was satt macht, dachte er bei sich und koordinierte widerwillig seine Mund- und Handbewegungen für die Nahrungsaufnahme im Hause kultivierter Gastgeber.

Nach Abschluss des Gangs entspannten sich alle in eine etwas bequemere Haltung und tranken von dem Rotwein, der ebenfalls aufgetischt worden war. Diesmal beendete Kite die Stille, indem er sich nach den Plänen der Zieglers erkundigte: „Sie werden den Laden doch weiterführen, nicht wahr?“, fragte er. „Es wäre eine Schande, ihn zu schließen. Aus meiner Sicht stellt er kulturell eine ebenso wichtige Einrichtung dar wie das Museum. Er trug schon einiges dazu bei, das Erbe der berühmtesten Söhne der Stadt zurückzuführen beziehungsweise vor Ort zu halten.“

Zach räusperte sich. „Wir erwägen diese Option ernsthaft, seit Mr Bishop und Signora Borghese uns ihrer tatkräftigen Mithilfe versichert haben. Der Nutzen unserer Aktivität für Liverpool entzieht sich dagegen meinem Verständnis. Was hat die Stadt davon, wenn wertvolle Kulturgüter in den Privatsammlungen einiger reicher Bürger verschwinden, wo außer den Eigentümern niemand sie genießen kann?“

„Mein lieber Mr Ziegler,“ entgegnete Kite jovial, „Sie betrachten die Angelegenheit durch die Linse des niederen Volkes. Auch die Oberschicht interessiert sich für Kultur; ich möchte sogar meinen: ungleich mehr, und ungleich mehr der Bedeutung der Objekte bewusst. Ihre Aktivität, wie sie es nennen, erzeugt Umsatz, der das örtliche Geschäft generell ankurbelt und über Steuerbeiträge die öffentlichen Einrichtungen finanziert. In einigen Jahrzehnten werden viele der Sammlungen an den Staat überführt werden, der sie zur Dokumentation der Landeshistorie benutzen wird. Kulturgüter durchlaufen die Schichten der Gesellschaft also in ähnlicher Weise wie die Segnungen der Trickle-Down-Economy.“

Veronica, die äußerlich ruhig wirkte, doch innerlich kochen musste, wie ihrem Vater keinesfalls entging, sagte kalt: „Wenn der Sicherheitsapparat eines Landes Akten für fünfzig, siebzig oder gar einhundertzwanzig Jahre wegsperrt, wie erst vor wenigen Jahren in Deutschland geschehen, dann ist die Verschlussdauer daran bemessen, wann die Dokumenteninhalte an Relevanz verlieren. Mit anderen Worten: Wenn niemand mehr einen nennenswerten Nutzen aus den erhobenen Fakten ziehen kann, wird den Historikern die Gist davon eingeschöpft; und beim Leser von Geschichtsbüchern kommt davon so gut wie gar nichts mehr an. Der Vergleich mit der Trickle-Down-Economy ist vielleicht gar nicht so schlecht. Ich würde sie nur anders nennen.“

„Ach ja? Sollte es tatsächlich eine bessere Bezeichnung dafür geben?“, neckte der Hüne.

„Oh ja! Ich würde sie Piss-On-You-Economy nennen. Oben kippt man den edlen Wein hinein, unten kommt nach angemessener Wartezeit ein Bruchteil davon wieder ans Tageslicht – gelb und stinkend, aber immerhin…“

Zach verschluckte sich fast an dem Wein, den er gerade genippt hatte. Ihr Gastgeber brach wieder in sein seltsam hohes Lachen aus. ‚Hyänenhaft‘ war das Wort, das Zach gesucht hatte. Hyänenhaft.

„Brillant!“, sagte Kite. „Lassen Sie mich Ihre Aussage in lediglich einer Nuance zurechtrücken. Während sie de facto korrekt beschreibt, was in der Regel geschieht, besteht die Absicht dahinter nicht darin, dem gemeinen Volk etwas vorzuenthalten, sondern Schaden von seiner Führung abzuwenden.“

Veronicas Vater bewunderte die rasiermesserscharfe Rhetorik, die seine Tochter heute zum Besten gab. Ob es sie Mut kostete, so in die Konfrontation zu gehen, wagte er zu verneinen. Sie war noch jung und idealistisch. Jemand wie dieser stinkend reiche Kite, der meinte, über dem Rest der Gesellschaft zu stehen, konnte auf junge Frauen nur entweder höchst erotisch oder aber ekelerregend wirken. Ließ sich der Hüne von ihrer Ablehnung beeindrucken? Zach zweifelte daran. Dennoch nahm er die Gelegenheit wahr, sich als der freundlichere Teil ihres Gespanns zu präsentieren. Womöglich konnte er so dem Mann weitere Informationen entlocken. „Wäre es uns vielleicht möglich, einen Blick auf Evans‘ Werk zu werfen? Nachdem wir die abenteuerliche Geschichte seines Verschwindens studiert haben, muss Ich zugeben, dass mich die Neugier treibt.“

„Tut mir leid,“ entgegnete Kite, „das geht nicht. Wie ich schon sagte, muss es verschwunden bleiben.“

„Für den Rest der Welt. Aber wir haben ja Kenntnis über den Verbleib des Objekts. Und sind wir denn kein Teil der Familie? Ich fände es ungeheuer motivierend für unsere Arbeit, das Buch einmal in Händen zu halten.“

Kite überlegte. „Mir kommt da eine Idee…“

Wieder betraten vier Diener den Raum, diesmal um die Nachspeise zu servieren. Zach gruselte es vor Mousse-au-chocolat, die er zunächst glaubte identifiziert zu haben, doch dann stellte sich die braune Masse als Schokoladenpudding deutscher Machart heraus. Die Diener übergossen sie mit im eigenen Saft erhitzten Erdbeeren und stellten jedem der Anwesenden drei kleine Gläser mit unterschiedlichen Fruchtsäften daneben.

Nachdem sie gegangen waren, sagte Kite: „Ob Sie Teil der Familie werden, entscheidet die Familie. Ich würde Ihr Verhältnis zu ihr als ‚befreundet und in Aufnahme befindlich‘ beschreiben. Da Sie, genau wie Ihr verstorbener Verwandter, keine Sammler sind, möchte ich meine Zustimmung von zwei Bedingungen abhängig machen: Erstens, Sie nehmen die vereinbarte Summe für das Manuskript wie besprochen entgegen; zweitens, Sie eröffnen den Fab Store wieder. Es versteht sich außerdem von selbst, dass Ihre Zugehörigkeit mit Verpflichtungen einhergeht. Lassen Sie sich über diese von Semolina oder Horse informieren.“

„Mir war nicht bekannt, dass es einen formellen Akt erfordert. Ich dachte, Sie verbindet eine gewisse… Liebe für die gemeinsame Sache.“

„Ohne Frage! Nur handelt es sich dabei nicht um romantische Gefühle, die einmal kommen und dann wieder gehen, sondern um agapé. Agapé bleibt ein ganzes Leben erhalten. Zu gewissen Gelegenheiten stellen wir unsere Verbundenheit immer wieder unter Beweis.“ Mit ironischem Grinsen in Veronicas Richtung fügte er hinzu: „Adel verpflichtet.“

Die junge Frau ignorierte die Stichelei. Ohne Anzeichen, dass sie sie überhaupt wahrgenommen hatte, löffelte sie den Pudding und warf ihrem Vater gelegentlich einen Blick zu.

22) Auf die Fabelhaften Sieben

Zach ließ seinen Blick ungeniert durch den ganzen Raum schweifen. „Sehr geschmackvoll!“, sagte er, während er eines der alten Gemälde anstarrte. Sein Kopf wippte, als bestätigte er das Gesagte, signalisierte Veronica jedoch, dass er die Kamera nun ebenfalls entdeckt hatte. Sie befand sich an einem der Zweigpunkte des Maßwerks, so dass sie im krassen Gegenlicht des Himmels über Wallace Castle kaum zu sehen war. In der Regel würde die Aufmerksamkeit von Besuchern ohnehin durch das wundervolle Panorama abgelenkt werden. Das geschulte Auge der Detektivin täuschte man so leicht jedoch nicht. Sie beherrschte die meisten Tricks, die auch er kannte. Innerlich grinste er. Wo eine Kamera hing, konnte ein Mikrofon nicht weit fort sein. Vielleicht gab es welche nahe den offenen Kaminen, aber der erfolgversprechendste Platz war offensichtlich der fünfeckige Tisch in der Mitte des Raumes.

Dieser Meinung schien auch Veronica zu sein. Sie schlenderte auf einen der Sessel zu und ließ sich hineinplumpsen. Ihre kurze kanariengelbe Jacke und der gleichfalls gelbe knielange Rock kontrastierten derart stark mit dem schwarzen Polster, dass es fast das Auge beleidigte. Zach mit seinem dunkelblauen Maßanzug passte sich besser in die Szene ein. Gemächlich ließ er sich zwei Sitze weiter nieder.

Die Tür ging auf. Der Butler trat ein. Er trug ein Tablett, darauf eine Kristallkaraffe voll Saft, zwei Gläser und zwei Schälchen, eines mit Snacks und eines mit Edelpralinen. Er stellte das Tablett an der ihnen gegenüber liegenden Ecke des Tisches ab, schenkte die Gläser jeweils halb voll und servierte sie ihnen zusammen mit den Snacks. Dann verließ er den Raum wieder.

Der Saft ähnelte farblich ihrem Auto, jedoch nicht kräftig genug, um tatsächlich von Orangen stammen zu können. Veronica roch daran. Ihre Brauen schossen nach oben. Sie nippte ein wenig und bleckte die Zähne, gab jedoch keinen Kommentar ab. Sie nahm ein paar Snacks und lehnte sich zurück. Zach, von Natur aus neugierig, musste sofort von dem Getränk kosten. „Wow!“, stieß er nach dem ersten Schluck leise hervor. „Steile Mischung! Ich schmecke Erdbeeren – und…“ Nun roch auch er daran.

„Maracuja“, ergänzte Veronica, als ihr Vater keinen weiteren Tip abgab. „Frisch gepresst. Um diese Jahreszeit. Trotzdem: eine tolle Kombination“, sagte sie so leise, dass man sie kaum hören konnte. Sie formte mit der Rechten eine Faust und hämmerte kraftvoll mit den Knöcheln auf die Tischplatte. Zach grinste breit. Wer immer am anderen Ende der Leitung hing, hatte sich vermutlich gerade die Kopfhörer von den Ohren gerissen.

Sie verfielen in Schweigen. Zach setzte sich bequemer. Er gab Veronica das Handzeichen für ‚Spiel‘ und hob eine Braue. Sie bejahte. Er zeigte an: „Fünf.“

Sie knabberte weiter an den Snacks – das einzige Geräusch erzeugend, das im Raum zu hören war –, blieb ansonsten jedoch bewegungslos sitzen. Nach vier Minuten und fünfzig Sekunden signalisierte sie: „Zeit ist um.“

Zach schaute auf die Uhr. Seine Finger antworteten: „Zehn Sekunden fehlen.“

Sie: „Gut genug. Jetzt du.“ Sie zeigte „Elf.“

Zach rührte sich nach exakt elf Minuten und einer Sekunde wieder. Veronica gab ihm die Differenz bekannt. Sie salutierte seiner Präzision. Er deutete an ihr vorbei auf einen der Feuerplätze. Sie drehte den Kopf und blickte hinüber. Auf dem Sims dort stand eine kitschige Porzellanfigur, die eine Uhr hielt. Erbost schaute sie zu Zach zurück. Dieser öffnete den Mund zu einem stillen Lachen. Die Lektion hatte gesessen. Dass sie die Kamera entdeckt hatte, war ein Meisterstück gewesen. Doch auch weniger sinistre Dinge konnten von Bedeutung werden. Es war besser, man gratulierte sich nie zu früh.

Nach etwas mehr als weiteren fünf Minuten öffnete sich die Tür. Eine sportlich gebaute Gestalt in den Mitt-Dreißigern, etwa 1,90 Meter groß, glattrasiert, mit schulterlangem rotblondem Haar, trat durch die Öffnung. Zügig kam er auf den Tisch zu und grüßte: „Mr Zachary Ziegler! Wie schön, Sie kennenlernen zu dürfen!“

Zach erhob sich aus dem Sessel und griff nach der ausgestreckten Hand des Hünen. Er wunderte sich über die ungewöhnlich hohe Stimme des Mannes, die nicht nur im Gegensatz zu dessen Gestalt sondern auch zu dessen Schraubstockgriff stand. „Die Freude ist ganz meinerseits, Mr… Kite!“, erwiderte er.

„Mr Kite passt ganz wunderbar, Mr Ziegler. Ich heiße eigentlich William Wallace Campbell – der dreißigste dieses Namens –, aber da wir über Geschäftliches sprechen werden, lassen Sie uns bei den Sammlernamen bleiben. Vermute ich richtig, dass Sie selbst noch keinen angenommen haben?“

„Sehr richtig. Wir sind erst vor wenigen Tagen in Liverpool angekommen, und wir sind eigentlich keine Sammler. Ich besitze jedoch so etwas wie einen Künstlernamen: Ludwig Lederrachen.“

„Davon habe ich gehört! Beeindruckend! Sie müssen mir Ihre Künste unbedingt vorführen.“

Veronica, die bislang in ihrem Sessel sitzen geblieben war, hatte dem Dialog mit steigender Belustigung zugehört. Sie stand jetzt auf und sagte: „Er tritt nur vor zahlendem Publikum auf.“

„Sagt wer?“, erkundigte sich der Hüne, ihr nun zugewandt.

„Seine Managerin.“ Sie streckte ihm den rechten Arm entgegen, als erwarte sie einen Handkuss. „Veronica…“

„…Mars!“, ergänzte er. „Welche Ehre, der berühmten Detektivin endlich persönlich gegenüber zu stehen.“

„…Ziegler!“, korrigierte Veronica, während William Wallace Campbell tatsächlich die Gelegenheit wahrnahm, einen Kuss auf ihre Knöchel zu hauchen.

„Ich erkenne eine eiserne Faust, wenn sie mir unter die Nase gehalten wird. Auch für Sie werden wir einen Sammlernamen brauchen, Ms Ziegler.“

„Sie sieht hoffentlich weniger hart aus, als sie sich anhört“, erwiderte sie mit einem Zwinkern. „Was die Namen betrifft – wir sind für Vorschläge selbstverständlich dankbar.“

Zach gab Veronica das Zeichen, sie solle ihr Gastgeschenk überreichen. Die junge Frau griff in die Innentasche ihrer Jacke und holte ein flaches, in Geschenkpapier verpacktes Bündel heraus. Sie gab es Mr Kite.

„Ah, ich liebe Geschenke, die von Herzen kommen!“, rief der Hüne mit der seltsam hohen Stimme. „Es ist sogar noch warm.“ Er nestelte am Knoten des goldenen Seidenbandes, das das Bündel umgab. Als er Band und Papier endlich geöffnet hatte, zog er einen Stapel handsignierter Beatles-Autogrammkarten verschiedener Motive heraus. „Vielen Dank, Mr und Ms Ziegler, für die freundliche Geste. Wussten Sie übrigens, dass sehr viele, womöglich die meisten Autogrammkarten von Mal Evans, dem Beatles-Roadie, signiert wurden? Die Jungs wären sonst vor lauter Schreiben nicht dazu gekommen, auch einmal aufzutreten.“

„Man lernt nie aus“, sagte Zach, der die Bemerkung taktlos und undankbar fand. „Sie stammen übrigens aus dem Koffer, den Sie und andere Sammler bei meinem Stiefbruder bestellt haben. Wie Sie wissen, halten manche das ganze Evans-Archiv für eine Ente.“

„Nicht so Ihr Verwandter, und auch wir nicht. Wir haben Grund zu der Annahme, dass wir die echten Effekten des armen Malcolm aufgespürt haben. Kommen Sie, gehen wir in den Speisesalon und besprechen die Sache im Sitzen. Ich habe uns ein Mittagessen herrichten lassen.“

Kite führte die Zieglers durch eine der Seitentüren neben den Feuerstellen in den nächstgelegenen Raum. Eine lange Tafel, umstanden von dutzenden Stühlen, beherrschte den Saal. An ihrem entfernten Ende war sie von einem Tischtuch bedeckt. Für den Platz am Kopf des Tisches und für die Plätze rechts und links davon standen Gedecke bereit. Drei Diener rückten die Stühle für die beiden Gäste und den Hausherrn zurecht. Ein vierter Diener schenkte Champagner ein. Wenige Minuten später zog sich das Personal zurück. Kite hob sein Glas: „Auf die fabelhaften Sieben!“

„Sieben.“ Veronica stellte die Frage im Tonfall einer Feststellung.

„John, Paul, George, Stu, Pete, Ringo und Bill.“

Zach und Veronica hoben ihre Gläser. Alle tranken einen Schluck.

„Müsste man dann nicht auch auf eine Handvoll weiterer Bandmitglieder trinken?“, merkte Zach an, während er sein Glas abstellte.

„Die Mitglieder von Vorläufern wie Quarrymen oder Silver Beetles sind nie unter der magischen Beatles-Marke aufgetreten.“

„Andy White aber schon.“

„Andy war kein festes Mitglied. George Martin hat ihn lediglich als Sessionmusiker angeheuert, um einen Job zu erledigen. Das triff auch auf eine ganze Reihe Leute wie Billy Preston und Eric Clapton zu. Lassen Sie uns nicht über Details streiten.“

„Details wie, Paul McCartney durch Billy Shears zu ersetzen? Meines Wissens war der nie Teil der offiziellen Story“, hakte Veronica nach.

„Der Wechsel wurde der Öffentlichkeit durch hunderte von Hinweisen bekannt gemacht, aber nur von den Wenigsten für bare Münze genommen“, erwiderte Kite feixend.

„Nachdem man ihnen mindestens eben so viele Dementis und geschätzt die fünfzigfache Menge an Falschbenennungen des Nachfolgers als ‚Paul‘ um die Ohren gehauen hat.“

„Was sollten die Jungs denn tun? Als William die Hysterie in den USA vom September 1969 initiiert hat – Sie wissen schon, diese Campuszeitung und kurz darauf die Radiosendung von Russ Gibb –, hat außer ein paar Freaks niemand die dort erläuterten Hinweise auf Pauls Tod aufgegriffen. Wo die Story im Mainstream gelandet ist, haben die Reporter die ‚Spinner‘ lächerlich gemacht, in deren Augen sie Sinn ergab.“

„Wie wäre es mit einer direkten, ehrlichen, unzweideutigen Aussage seitens der Band gewesen?“

„Seien Sie nicht naiv, Veronica. John und Paul hatten einen faustischen Handel abgeschlossen, und Paul hat den Preis dafür gezahlt. Abgesehen von den Verwerfungen, die ein Geständnis für die Band, womöglich für die ganze Musikszene erzeugt hätte, hätte die Masse der Menschen das Ganze lediglich für einen Marketing-Gag gehalten.“

Veronica starrte Kite angewidert ins Gesicht. Zach schien die Farbe des Champagners zu studieren. Stumm drehte er sein Glas zwischen Daumen und Zeigefinger.

Als niemand widersprach, fuhr der Hüne fort: „Die verbliebenen drei Beatles und mein Großvater haben jenen, die die Wahrheit hören wollen, genügend Hinweise gegeben, ohne sich damit selbst ans Messer zu liefern. Und der Rest der Menschheit behält die Freiheit, die familienfreundliche Fassung der Bandgeschichte in Ehren zu halten. Alle sind glücklich, insbesondere die Paul-Is-Dead-Leute, die weiterhin unter jedem Stein nach Beweisen schauen und andere von ihren Theorien zu überzeugen versuchen können.“

Die Detektive gaben erneut keine Widerrede. Im Grunde hatte Kite ja recht. Bevor das Schweigen zu lange über der kleinen Gruppe lastete, traten wieder die Diener ein, diesmal mit dem ersten Gang der Mahlzeit. Alles sprach dafür, dass diese eine hochtrabende französische Bezeichnung trug; für Zach war es einfach Suppe. Er bevorzugte Veronicas Eintopf, deren in der Eistruhe lagernde Überreste noch immer für eine Mahlzeit reichten, aber sie waren schließlich nicht wegen eines Kochwettbewerbs hierher gekommen. Sie versuchten, die Geschäftsbeziehungen seines Stiefbruders wieder aufzunehmen. Hinsichtlich ihres Ziels war es ein Fehler gewesen, mit Kite in diese gallige Diskussion über moralisch richtiges Verhalten einzusteigen. Dann wiederum hatte der einige Informationen preisgegeben, die wertvoll sein mochten – über Paul McCartney und Billy Shears, aber auch über sich selbst und seinen Charakter. Zach war aufgefallen, dass auch Veronica die mit weniger vorgeprägter Meinung die Fahrt angetreten hatte, nun eine Abneigung gegen den Schlossherrn entwickelte und die Ansicht ihres alten Herrn zu teilen begann. Sie diente ihm als Korrektiv, das anzeigte, ob er sich in Vorurteilen verrannt oder den Mann richtig eingeschätzt hatte: als grobschlächtigen Zyniker, dessen aufgesetzte Noblesse kaum verbergen konnte, dass sein einziger Maßstab er selbst und seine Wünsche waren. Man musste ihm zuerst die Grenzen zeigen, bevor man Verbindlichkeiten einging. Seine Gutsherrenseele mochte gefährlichen Anwandlungen folgen, wenn man sie enttäuschte.

„Mr Kite,“ begann der Detektiv das Gespräch erneut in Gang zu bringen, „meinem Verständnis der Aufzeichnungen meines Stiefbruders zufolge haben Sie die Suche nach dem sogenannten Mal-Evans-Archiv mit in Auftrag gegeben, weil Sie die Überzeugung hegten, das Manuskript seiner Memoiren darin vorzufinden.“

„Das ist richtig“, bestätigte der Hüne.

„Sowohl die Polizei als auch wir selbst haben eine Inventur der Warenbestände vorgenommen. Das Manuskript muss in dem Koffer gelegen haben, den Paul erworben hat – zumindest ein Manuskript unbekannten Titels und Umfangs. Ein solches war jedoch nach dem Mord nicht mehr aufzufinden. Die Polizei geht davon aus, dass der unbekannte Täter es mitgenommen hat, in der Hoffnung, es zu Geld machen zu können. Ich muss Ihnen daher mitteilen, dass wir Ihren Auftrag nicht zu Ende führen können.“

William Wallace Campbell lachte herzhaft. „Mein lieber Mr Ziegler, ich kann Ihnen versichern, dass es in dieser Beziehung kein Problem zwischen uns gibt. PC31 hat mich schon am Freitag, dem Tag des Eintreffens der Sendung, von der frohen Botschaft in Kenntnis gesetzt, dass unsere Wette von Erfolg gekrönt gewesen ist. Ich bin am Samstag in den Fab Store gegangen, um das Manuskript höchstpersönlich in Empfang zu nehmen.“

„Moment, Moment, Moment! Sie haben – waaas?“, unterbrach der Detektiv den Redefluss des Sammlers.

Gleichzeitig hatte auch Veronica ihre Stimme erhoben: „Wer ist PC31?“

19) Und täglich grüßt der Peppers-Code

Zach nahm das Sgt. Peppers-Album zur Hand, um es eingehend zu studieren, drehte es, um auch die andere Seite zu betrachten und nickte dann. Er reichte es an Veronica weiter. Auch diese konnte nicht umhin, den Beschreibungen Maria Borgheses zuzustimmen.

„Das ist aber noch längst nicht alles. Halten Sie sich fest: Eine DNA-Probe Sir Pauls, die wegen einer Vaterschaftsklage aus Deutschland genommen wurde, stimmte nicht mit einer Probe aus den frühen Sechzigern überein. Eine Handschriftenanalyse belegte, dass die Unterschriften aus den Sechzigern und den Achtzigern nicht von derselben Person stammen – die spätere hat ein Rechtshänder gezeichnet; Paul war jedoch Linkshänder. Eine Stimmanalyse kam zum gleichen Schluss: nicht derselbe Mann. Als Sir Paul 1980 in Japan wegen Drogendelikten festgenommen wurde, stellten die Beamten fest, dass seine Fingerabdrücke nicht denen entsprachen, die 1960 im Zusammenhang mit einer Anzeige wegen Brandstiftung in Hamburg genommen wurden.“

„Atemberaubend. Wieso befindet sich der Mann dann noch auf freiem Fuß?“

„Die Klage in Deutschland wurde als verjährt zurückgewiesen. In Japan hat die britische Regierung zu seinen Gunsten eingegriffen. Die unabhängigen Untersuchungen zu Stimme und Aussehen wurden von den sogenannten Qualitätsmedien nur punktuell aufgegriffen und schnell wieder fallengelassen. All jene, die trotz allem nicht locker lassen, erledigt in den Augen der Weltöffentlichkeit das Wörtchen ‚Verschwörungstheorie‘.“

„Mit dem sind wir spätestens seit 2020 bestens vertraut. Es ist infam, aber Sie haben recht“, stimmte Zach zu. „Es spielt keine Rolle mehr, was man belegen und beweisen kann. Sobald man der Mehrheit widerspricht – die unhinterfragt glaubt, was die Massenmedien ihnen erzählen – wird man als Spinner abgestempelt; als ob Wahrheit das Ergebnis von Volksabstimmungen wäre.“

Maria Borghese hatte den Detektiv aufmerksam angeblickt, während er sprach. Sie fragte: „Und Sie, Signore Ziegler? Auf welcher Seite stehen Sie? Schlägt Ihr Herz für die Mehrheit oder für die Minderheit? Stimmt die offizielle Story oder haben die Infokrieger mit ihrer alternativen Sicht auf die Dinge recht?“

„Ich habe keinen Einsatz in diesem Spiel. Mich interessiert die Wahrheit, egal wohin sie mich führt. Sie besitzt keine zwei Seiten, sie macht keine Kompromisse. Wir alle sehen die Wirklichkeit durch unsere persönliche Brille und kommunizieren das, was wir von ihr wahrnehmen, solange es unsere persönliche Agenda fördert. Es ist unvermeidlich, weil es menschlich ist. Daher kann die Verantwortung für meinen Geist – für Wahrnehmung, Verarbeitung, Erinnerung und Weitergabe sinnlicher Eindrücke – immer, ohne Ausnahme, nur bei mir selbst liegen. Mein Herz schlägt für die, die sich aufrichtig Mühe geben, nach dieser Einsicht zu leben. Der Rest kann mit seinen Glaubensbekenntnissen von mir aus zum Teufel gehen.“

„Genau das tut er, glauben Sie mir. Genau das tut er buchstäblich. Aber sparen wir uns das Gespräch für einen anderen Tag auf. Ich bin höchst erfreut, in Ihnen Geschwister im Geiste gefunden zu haben. Ich hege keine Zweifel, dass wir wunderbar zusammenarbeiten werden. Sie sind würdige Nachfolger Signore Campbells.“

„Danke Maria – ich darf Sie doch so nennen, oder?“, sagte Veronica. „Wir fühlen uns Ihnen ähnlich verbunden. Ich werde natürlich meine eigenen Nachforschungen anstellen müssen. Wenn es stimmt, was Sie uns eben mitgeteilt haben, ändert das alles. Die Antwort auf meine ursprünglichen Fragen steht jedoch noch offen.“

„Sicher – Veronica“, antwortete die Italienerin mit einem sanften Lächeln. „Sie möchten wissen, was der Code auf der Basstrommel besagt?“

„Ja. Und weshalb Onkel Paul ihn an die Wand gehängt hat.“

„Unter dem Porträt des jungen Paul McCartney, wohlgemerkt. ‚I ONEI X‘ steht für 11 IX, den elften September – ein wichtiges Datum in der freimaurerischen Numerologie. Zufälle kommen in den Kreisen nicht vor. Diese Leute planen für Jahrhunderte im Voraus. Ein Todesfall am 11.9. stellt eine rituelle Opferung dar. ‚HE ◊ DIE‘ erklärt sich selbst, ist jedoch leicht inkorrekt. Die Raute zeigt auf Billy Shears, den lebendigen McCartney-Darsteller, nicht auf den verstorbenen Paul McCartney – ganz im Gegensatz zu dem Arrangement Ihres Onkels.“ Sie deutete mit dem Daumen über die Schulter auf die Wand neben der Tür. „Signore Campbell arbeitete unter der Prämisse, dass der Peppers-Code die Wahrheit sagt. Das machte es einfacher, die ausgefallenen Wünsche seiner Kunden zu erfüllen, die fast alle der Überzeugung sind, dass Paul McCartney 1966 starb. Er hat mir nie gesagt, weshalb er das Bild aufgehängt hat, aber ich glaube, es sollte ihn täglich… zwicken.“

„Sie sagten doch, McCartney sei bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Wie passt ein Unfall zu einer geplanten Opferung?“, warf Zach ein.

„Als ich in Deutschland zur Schule ging, durchliefen wir ein Verkehrstraining für Fahrradfahrer. Ein paar Polizisten zeigten uns, wie man Unfälle vermeidet. Ich erinnere mich noch genau an den Titel einer Broschüre, die sie damals ausgeteilt haben: Unfall ist nie Zufall! Das gilt um so mehr, als der Fahrer des DB6 an sein schicksalhaftes Ende glaubte, und als seinem Schicksal möglicherweise nachgeholfen wurde, wie die Shears-Memoiren andeuten.“

Veronica schüttelte den Kopf. „Bei aller Liebe zur Wahrheit, ich glaube, wir haben heute Früh mehr erfahren, als wir in solch kurzer Zeit verarbeiten können. Ich habe tausend neue Fragen, aber mir platzt gleich die Schädeldecke weg. Lasst uns das Thema wechseln und eine Kleinigkeit essen.“

Der Detektiv und die Italienerin stimmten zu. Während die beiden über Einzelheiten der Zusammenarbeit diskutierten, holte Veronica Saft und Sandwiches aus der Küche. Als sie sich schließlich wieder gesetzt hatte, nahm sie sich lediglich eine kleine Käseecke, an der sie herumzuknabbern begann. Dem Gespräch folgte sie nur mit einem Ohr. Ihre Gedanken befanden sich hunderte Meilen entfernt, auf einer mondbeschienenen, von alten Bäumen gesäumten kurvigen Landstraße.


Kurz nach zehn Uhr desselben Montag Morgens schneite wie erwartet auch Thomas Henry Bishop alias Henry the Horse herein. Maria Borghese putzte gerade das Hinterzimmer. Der Boden des Ladens, den die Italienerin gewischt hatte, glänzte noch feucht. Henry nahm den Hut ab, grüßte die beiden Zieglers gut gelaunt und stellte fest: „Wie ich sehe, haben Sie eine Reinigungskraft gefunden.“

„Wir hatten Glück und konnten das Vertragsverhältnis mit Pauls Putzhilfe übernehmen“, erwiderte Zach.

„Oh, dann arbeitet Semolina also weiterhin hier? Ich freue mich sehr für sie. Sie werden sehen, die Frau ist ein Schatz!“

„Semolina? Wer ist Semolina?“, fragte Zach verwundert. „Nein, unsere Aushilfe heißt Maria Borghese.“

Henry lachte verlegen. „Entschuldigen Sie, dass ich Verwirrung stifte. Maria ist natürlich ein geschätztes Mitglied unserer Familie und führt als solches den Namen Semolina Pilchard. Sie haben sich noch gar nicht mit ihr über die Beatles unterhalten?“

„Sie haben keinen Ahnung… doch, vermutlich haben Sie mehr Ahnung als wir, schließlich haben Sie uns vor den dunklen Ecken der Bandhistorie gewarnt. Wir sind jedoch in der Kürze der Zeit noch nicht dazu gekommen, mit Maria über die Sammlerszene in Liverpool zu sprechen.“

„Tun Sie das, Zachary. Ich vertraue Semolinas Urteil uneingeschränkt. Da ich gerade hier bin, werde ich gerne auch selbst Auskunft erteilen.“

„Nun, wir hatten gestern Morgen das zweifelhafte Vergnügen, einer der Kreaturen von Mr Kite zu begegnen. Er lud uns für heute auf Kites Schloss ein.“

„Dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Ich komme gerade von meinem montäglichen Frühstück zurück und möchte Ihnen lediglich mitteilen, dass der Betrag für die Bänder angewiesen ist.“

„Sehr freundlich von Ihnen, danke!“, erwiderte Zach. „Konnten die Aufnahmen denn Ihre Erwartungen erfüllen?“

„Über die Maßen. Die Gespräche zwischen den Musikern fand ich äußerst kurzweilig. Sie arbeiteten tatsächlich an zwei unbekannten Stücken. Die Entscheidung, sie nicht auf das Album zu packen, war gerechtfertigt, aber wer weiß, was aus ihnen geworden wäre, wenn die Jungs noch ein wenig länger daran gefeilt hätten.“

„Die Beatles waren genial. Mir fällt kein anderes Wort dafür ein.“

„Die Musik ist zweifelsohne großartig, aber das Schreiben ist den Jungs nicht leicht gefallen. Es gibt genügend Hinweise, dass vieles aus der Feder von Ghostwritern stammt und ein guter Teil der Aufnahmen von Sessionmusikern eingespielt worden ist.“

Zach stöhnte. „Henry, nimm‘s mir nicht übel, aber wir haben von Maria – Semolina – heute eine volle Breitseite abbekommen. Veronica und ich werden das erst einmal verifizieren und verarbeiten müssen, bevor wir uns auf weitere Hiobsbotschaften einlassen können.“

„Selbstverständlich. Gut Ding will Weile haben, Zachary. Falls Sie den Fab Store weiterführen, bleibt Ihnen viel Zeit, die weniger erfreulichen Anblicke hinter der schönen Kulisse zu erkunden. Wie haben Sie sich denn nun entschieden? Werden Sie den Laden wieder aufmachen?“

„Ja, wir werden mit Semolinas Hilfe und dank Pauls Grundstock an Waren und Ersparnissen in der Lage sein, den Versuch zu wagen. Immerhin sind wir schon drei Mitgliedern der Familie begegnet, und morgen lernen wir das vierte kennen.“

„Ach morgen erst? Ich dachte, Sie wurden für heute eingeladen. Wann werden Sie denn in Wallace Castle erwartet?“

„Ich habe den Termin auf morgen um elf Uhr verschoben.“

Henry zeigte ein beeindrucktes Gesicht. „Sie sind äußerst couragiert, Zachary. Das gefällt mir. Strapazieren Sie die Geduld des Maestro jedoch nicht zu sehr. Er besitzt nur einen begrenzten Sinn für Humor.“

„Maestro? Wohl eher Zirkusdirektor, dem Clown nach zu urteilen, den er vorgeschickt hat.“

„Wie ich bereits andeutete, verfügt Kite über familiäre Verbindungen und finanzielle Mittel, die es angeraten sein lassen, ihn nicht unnötig zu reizen. Behalten Sie im Auge, dass er mit seinen Aufträgen wohl den größten Teil von Pauls Umsatz generiert hat. Und er greift anderen Sammlern gelegentlich unter die Arme, was Ihnen letztlich ebenfalls zugute kommt.“

„Schon gut. Ich kann es lediglich nicht leiden, wenn man mich einschüchtern und herumkommandieren will.“

„Hat der Bote Ihnen mitgeteilt, worin der Grund oder Anlass der Einladung besteht?“

„Nein. Wir können jedoch sicher sein, dass er über das Manuskript reden will.“

„Er wird auch wissen wollen, wie es mit dem Fab Store weitergeht. An seiner Stelle würde ich vorzufühlen versuchen, mit wem ich es künftig zu tun habe.“

„Würden Sie. So so…“ Zach zwinkerte. Sein rechter Zeigefinger richtete sich auf den älteren Mann, der Daumen fuhr herab wie der gespannte Hahn eines Revolvers.

Bishops Augen weiteten sich. „Erwischt. Zugegebenermaßen bin ich Kite ausnahmsweise eine Nasenlänge voraus.“

„Und Sie stellen sich etwas geschickter an. Wissen Sie, Henry, ich habe kein Problem damit, schlauen Menschen die Früchte ihrer Bemühungen zu überlassen. Es geht mir jedoch entschieden gegen den Strich, wenn jemand eine Agent-Smith-Nummer abzieht.“

15) Eine wichtige Botschaft

„Ich suche Sie im Auftrag von Mr Kite auf. Er ist Stammkunde in Campbell‘s Fab Store und…“

„Ich weiß, wer Mr Kite ist, –“ schnauzte Zach, wenngleich weniger druckvoll, als er beabsichtigt hatte. Sein Ärger über die Störung begann sich bereits aufzulösen. Als Vollblutddetektiv plagte ihn permanent die Neugier. So auch jetzt. Welch kauziger Auftritt dieses Typen, der keinen eigenen Namen nannte, sondern sich als Besitz eines wesentlich bedeutsameren Befehlsgebers zu verstehen schien – formell gekleidet, aber eben lediglich der Hund eines Herrchens, unter dem er sich zweifelsohne eine Ehrfurcht gebietende Präsenz vorzustellen hatte. Seit Paul ihm gezeigt hatte, wie man die unbesiegbare Aura der scheinbar Allmächtigen brach, beeindruckten ihn Äußerlichkeiten wie Kleidung, Posen oder Wortgewalt jedoch überhaupt nicht mehr. Er würde diesem Wauwau die Hausregeln erklären und ihm dann freundlicherweise erlauben, den Wunsch seines Herrn vorzutragen. „– aber am siebten Tage ruhte selbst Gott, der Herr,“ fuhr er fort, „und ich habe nicht vor, daran etwas zu ändern. Sonntags bleibt dieses Geschäft geschlossen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag.“

Er tat so, als wolle er der Melone die Tür vor der Nase zuschlagen. Diese öffnete und schloss ihren Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen, hob schnell die Hand und würgte ein krächzendes „Aber…!“ hervor.

„Ist noch was?“, fragte Zach.

Melone fasste sich mit der Rechten ins Revers, tastete eine gefühlte Ewigkeit darin herum und produzierte schließlich eine Visitenkarte, die er dem Detektiv wortlos entgegenstreckte. Zach musterte den Mann von oben bis unten, bevor er sie annahm. Lässig drehte er sie zwischen den Fingern, dann schaute er nach unten. Er las:

‚M. Kite, Nutznießer. The Wallace Castle Liverpool, Scotland Road,‘ und eine Telefonnummer.

„Mr Kite, ja. So weit waren wir schon.“

Erneut hatte er Melone auf dem falschen Fuß erwischt. Die Augen weiteten sich, der Mund formte ein O, durch das Luft hörbar nach innen strömte. Einen Moment schien es, als wolle er zu weinen anfangen, doch dann begann der Mann, seine Fassung wiederzugewinnen. Er räusperte sich und sagte: „Mr… hrm… Kite wünscht mit Ihnen zu sprechen und schlägt ein Treffen auf seinem Schloss vor. Er lässt fragen, ob es Ihnen gleich morgen recht wäre.“

Zach ging im Geist ihre Vorhaben für den kommenden Tag durch. „Nein,“ erwiderte er. Sie würden ausgiebig mit Maria Borghese sprechen. Eventuell würde auch Henry hereinschauen; wer konnte sagen, wie viel Zeit sie danach brauchten, alles zu verarbeiten, oder welche Erledigungen umgehend zu tätigen sein würden. „Morgen bleibt keine Zeit für zusätzliche Termine,“ fuhr er fort. „Was, meinen Sie, wird Mr Kite von dem Vorschlag halten, das Treffen um einen oder zwei Tage zu verschieben?“

Der Mann zog ein Taschentuch heraus, nahm seine Melone ab und tupfte sich die Stirn. Dieses Gespräch schien seinem Handlungsspielraum das letzte abzuverlangen. Zach hegte fast so etwas wie Mitgefühl für ihn, doch so leid es ihm tat – man musste seine Pflöcke früh genug einschlagen, sonst wurde man gnadenlos überfahren. Er hatte nicht vor, den Laufburschen für die örtliche Schickeria zu spielen, und er würde es sie von der ersten Sekunde an wissen lassen.

Melone hatte sich endlich zu einer Antwort durchgerungen. Er sagte: „Ich… äh, betrachten Sie Dienstag als bestätigt. Bitte finden Sie sich pünktlich um 11 Uhr mittags in Wallace Castle ein. Auch Ihre Begleiterin ist willkommen.“ Er tupfte erneut Schweiß von der Stirn.

Zach nickte ihm zu. „Einverstanden. Richten Sie Mr Kite meinen Dank für seine Einladung aus. Ich freue mich, mit ihm plaudern zu können.“ Er griff in die Gesäßtasche seiner Hose, holte eine Zehn-Pfund-Note heraus und steckte sie der Melone in die Brusttasche. Er lächelte dem Mann freundlich zu, dann drehte er sich um, ging in den Laden zurück und schloss die Tür. Ohne sich noch einmal umzusehen strebte er der hell erleuchteten Tür des Hinterzimmers zu, diesmal sorgfältig darauf achtend, nicht mit Hindernissen zusammenzustoßen. Auf dem Weg nach hinten entgleisten ihm sämtliche Gesichtszüge; er zwang sich zu einem ruhigen aber zügigen Schritt. Doch sobald er die Tür hinter sich zugeworfen hatte, platzte es aus ihm heraus. Er begann lauthals zu lachen. Veronica, die die seltsame Unterhaltung verfolgt hatte, stimmte sofort mit ein. Sie prusteten und keuchten und krümmten sich mehrere Minuten lang. Jedes Mal, wenn einer der beiden sich etwas beruhigen wollte, überwältigte sie eine erneute Lachsalve. Tränen rannen ihnen an den Wangen herab. Sie klopften sich gegenseitig auf den Rücken, stampften mit den Füßen und ließen sich etliches später endlich halb entkräftet auf ihre Sitze fallen.

„Hätte ich ihn fragen müssen, ob wir etwas aus der Pommesbude zu essen mitbringen sollen?“, setzte Zach erneut an. Die Frage löste eine weitere Runde vergnügten Gackerns aus.

„Schluss jetzt, ich kann nicht mehr!“, japste Veronica.

„Schmeiß den Film wieder an,“ krakeelte ihr Vater, „ich sehne mich nach echten Menschen.“

„Und ich nach authentischen Außerirdischen“, ergänzte sie.


Der Film lenkte sie für ein Stündchen von der Begegnung ab, und von all dem, was mit dem Mord an dem armen Onkel Paul zusammenhing. Weder Zach noch Veronica war wohl zumute, wenn sie daran dachten, welche Umstände sie nach Liverpool in dieses Haus geführt hatten. Ihre flippigen Unterhaltungen, durch die sie ein Stück ihrer Londoner Normalität in diese unbekannte Stadt importierten, und das hysterische Gelächter von gerade eben, das ihrem irrationalen Spiel mit schwer einzuschätzenden Gefahrenquellen geschuldet war, lagen wie ein dünner Firnis über dem tief sitzenden Gefühl von Bedrohung, das sie beschlichen hatte. Erst vor fünf Tagen waren sie hier eingetroffen, aber Thomas Henry Bishops Warnung, dass der Abgrund, in den sie gerade blickten, zu ihnen zurückschauen könnte, verfolgte sie bis in die unruhigen Träume des langen Mittagsschlafs, den sie sich heute gönnten. Als sie gegen drei Uhr nachmittags erwachten – mit Schmerzen im Hintern, gebrochenem Kreuz und zerknittertem Gesicht – hatte sich ihre Stimmung ins Gegenteil dessen verwandelt, was sie am Morgen gewesen war. Veronica setzte eine neue Kanne Kaffee auf, dann machten die beiden es sich in einer Art Katzenjammer am Küchentisch bequem.

„Was mich seit Tagen irritiert,“ begann Zach, „ist diese seltsame Leere an der Stelle, an der Paul einen Platz in meinem Herz haben müsste. Er war mein bester Freund, als wir zur Schule gingen, und eine große Stütze zu der Zeit, als du zur Welt gekommen bist. Er verdiente ein Dankeschön und eine Entschuldigung, doch er ließ sie mich nie aussprechen. Zwanzig Jahre lang hielt er sich vor mir versteckt, und dann plötzlich dieser gewaltsame Tod, der endgültig alle Brücken zwischen uns einreißt. Diese Erkenntnis der unwiderruflichen Trennung war es, die mich im ersten Moment schockierte. Ich sollte traurig sein oder auf eine egozentrische Weise verärgert, weil er mir jede Gelegenheit genommen hat, unser geknicktes Verhältnis wieder zu kitten. Aber: nichts. Da ist nichts. Ich fühle – nichts! Er ist als ein unbekannt Gewordener gestorben, als Kondensationskern einer Gemeinschaft schattenhafter Fremder, als Kenner einer untergegangenen Kultur, der es zu Reichtum gebracht hat, indem er deren Artefakte aus dem Dunkel der Zeit ins Licht der Gegenwart zerrte. Weder zu dem Mann noch zu dem, was er uns hinterlassen hat, kann ich eine Beziehung herstellen… verstehst du, was ich sagen will?“

Veronica, über ihren Humpen gebeugt, den sie mit beiden Händen festhielt, hob den Blick, um ihrem Vater direkt in die Augen zu schauen. „Ich kann nur vermuten, was du fühlst – oder eher, was du nicht fühlst“, antwortete sie langsam. „Vielleicht ist es schwieriger für dich als für mich, weil du ihn einmal gekannt hast. Für mich besitzt er kaum mehr Substanz als der König aus einem Märchen oder irgendein Fremder, über den die Zeitungen berichten. Ich fühle keine Trauer, weil Onkel Paul nie einen Raum hier drin“ – sie klopfte sich auf die Brust – „eingenommen hat.“ Veronica überlegte kurz. „Total abgefahren! Ich meine, von einem Moment auf den anderen tritt jemand in mein Leben, der die Macht hat, es völlig auf den Kopf zu stellen, und ich weiß nicht einmal, wie er aussieht… aussah. Ich lerne ihn kennen, indem ich seine Überreste vom Boden kratze, seine Wohnung benutze, mit seinen Geschäftspartnern den Faden wieder aufnehme und mich für die Dinge zu interessieren beginne, die für ihn eine Bedeutung hatten. All das scheint mir mehr abenteuerlich als traurig.“

„Bäääh!“ – das Meckern eines Schafs.

Veronica sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. „Womit habe ich diesen Kommentar verdient, Herr Ziegler? Gerade noch wähne ich mich in einem ernsthaften Gespräch, und plötzlich reden Sie in Zungen.“

„Dank deiner Erläuterungen kam mir gerade der Gedanke, dass Paul hier“ – er drehte seine Tasse so, dass seine Tochter das Foto McCartneys sehen konnte und tippte mit dem Zeigefinger darauf – „nicht etwa seine Meinung zur Qualität des Tasseninhalts abgibt, sondern eine wichtige Botschaft für uns hat.“

Veronica schüttelte irritiert den Kopf. „Die da lautet?“

„Steht doch da.“

„Bäääh!? Das ist mir zu hoch.“

Zach stieß ein bellendes Lachen aus. „Wenn wir den wahren Paul erkennen wollen, müssen wir ihn völlig neu sehen lernen“, sagte er. „Nicht so, wie andere ihn für uns zeichnen – den netten Mann, der stets etwas Schönes für die Leute aus dem Hut zauberte –, aber auch nicht so, wie er sich selbst verstand: als Schäfer einer Herde, die zu dumm ist, seine wahre Funktion zu erkennen.“

„Okaay…“, sagte Veronica gedehnt. „Und wie stellen wir das an?“

„Indem wir ihn beobachten, ihn regelrecht ausspionieren – so, wie wir es bei einem Auftrag normalerweise tun. Wir lesen seine Emails, scannen seine Festplatte, prüfen seine Kontobewegungen, schauen in seine Manteltaschen,“ – Veronica schluckte; – „durchsuchen seine Möbel, leuchten in die staubigen Ecken seiner Wohnung, suchen nach verborgenen Hohlräumen, vollziehen seine Tagesaktivitäten nach. Was wir finden, vergleichen wir mit dem, was er über sich selbst erzählt hat und was andere über ihn sagen.“

„Arbeit für eine, die Vater und Mutter erschlagen hat… Na gut. Da passt ja unser Vorhaben, die Hausbibliotheken zu inspizieren, perfekt ins Programm. Suchen wir nach etwas Bestimmtem oder wollen wir uns zunächst ein allgemeines Bild von der Sammlung machen?“

„Lass uns schauen, womit er sich beschäftigt hat, welche Fächer und Themen ihn interessierten. Vielleicht fällt uns dabei schon etwas auf, dem man weiter nachgehen kann: viel benutzte Bücher mit Markierungen, Widmungen oder Randnotizen; Briefe und Fotos, die als Lesezeichen eingelegt wurden – derlei.“

7) Henry the Horse

„Dürfte ich Ihnen eine letzte Frage stellen – als Kunde?“, erkundigte sich Thomas Henry Bishop.

„Um was geht es?“, fragte Zach zurück.

„Einen Tag vor seinem Ableben erhielt ich einen Anruf von Mr Campbell, bezüglich einer Bestellung, die ich… die wir in Auftrag gegeben hatten. Er teilte mir mit, dass die Gegenstände eingetroffen seien.“

„Welche Gegenstände hatten Sie bestellt?“

„Wir – einige andere Sammler und ich – hatten nach einem Koffer mit einer Anzahl verschiedener Objekte darin suchen lassen. Ich interessiere mich dabei für die Tonbandspulen.“

„Ich habe welche im Lager gesehen. Lassen Sie mich das Warenbuch checken.“ Zach ging hinter den Tresen, zog das Buch heraus und fuhr mit dem Finger über die letzten Einträge. „Die einzigen Bänder, die hier verzeichnet sind, wurden auf den Namen ‚Horse‘ bestellt – Horse wie Pferd. Keine Einträge für Bishop. Ist Mr Horse einer Ihrer Kollegen?“

„Nein, das bin ich. Paul hat mich so genannt.“

„Wie originell. Bishop, der Läufer, Horse, der Springer – spielen Sie Schach?“

Thomas Henry Bishop kicherte vergnügt. „Mr Kite hat mir den Spitznamen ans Revers geheftet. Benötigen Sie einen weiteren Hinweis oder genügt das bereits?“

Zach starrte den Älteren ratlos an. Bishop schnaubte.

and of course Henry the Horse dances the waltz…“, sang er mit brüchiger Stimme. Und als sich bei Zach noch immer kein Verständnis regte, ergänzte er: „‚Being For The Benefit Of Mr Kite!‘, einer meiner persönlichen Favoriten, was Beatles-Songs angeht.“ Er trat an einen der Sortierkästen heran, aus dem er nach weniger als drei Sekunden des Suchens eine in transparentes Plastik gehüllte Schallplatte herauszog. „Voilà – Sgt. Pepper. Ich nehme an, das sagt Ihnen etwas.“ Auf eine bestätigende Geste Zachs drehte er die Scheibe um, tippte mit dem Zeigefinger genau auf die Mitte der knallroten textbedeckten Fläche und reichte sie Zach.

Der Detektiv schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. „Aber natürlich! In der Familie haben alle ein Pseudonym angenommen. Man hat mich gewarnt.“

Bishop alias Horse nickte, sagte jedoch kein Wort. Er legte den Kopf leicht schief, wie ein Lehrer, der auf weitere Erläuterungen des Schülers wartete.

„Sie sind also das Walzer tanzende Zirkuspferd…,“ stellte Zach fest. Er überlegte einen Moment. Dabei ließ er die Augen durch den Raum wandern. Plötzlich richtete er sie wieder auf sein Gegenüber. „Wer ist Mr Kite?“, stieß er hervor.

„Sehr gut! Sie stellen genau die richtige Frage. Wer ist dieser Mr Kite, zu dessen Gunsten wir hier sind? Es ist genau, wie ich sagte: Im Grunde besitzen Sie die nötigen Voraussetzungen zur Führung dieses Ladens bereits.“

„Nun, wer ist also Mr Kite?“

„So nennt sich der Besitzer der bedeutendsten und teuersten Sammlung von Beatles-Memorabilien im Königreich – wenn man von den Erzeugern dieser Objekte einmal absieht.“

„Mit Erzeugern meinen sie die Bandmitglieder selbst, nehme ich an.“

„Richtig. Und der einzige noch lebende und im Land ansässige Beatle – abgesehen von Pete Best, der nicht wirklich zählt – hört auf den Namen Sir James Paul McCartney. Stellen Sie sich vor, sie wären mit ihm verwandt; ob das wohl Spuren in Ihrer Sammlung hinterließe?“

„Wollen Sie damit andeuten, Mr Kite – oder wie auch immer er mit bürgerlichem Namen heißen mag –“

„Mr Kite besitzt im eigentlichen Sinn keinen bürgerlichen Namen,“ unterbrach ihn Bishop, „aber selbstverständlich benutzt er einen Klarnamen… den zu enthüllen ich ihm selbst überlassen möchte. Sie werden ihn früh genug kennenlernen. Kite war einer der Beteiligten an unserer kleinen Bestellung. Er hat das bedeutendste Objekt aus dem Koffer für sich reserviert.“

„Nun machen Sie mich neugierig. Was hat es mit diesem Koffer auf sich?“, erkundigte sich Zach.

„Lassen Sie uns nach hinten gehen. Es ist eine lange Geschichte, und ich muss mich setzen; meine Beine sind nicht mehr die Jüngsten.“

„In Ordnung. Ich schließe nur eben den Laden ab.“

Zach schritt zur Eingangstür, verriegelte sie, hängte das ‚Geschlossen‘-Schild, das auf den Boden gefallen war, wieder an den Haken am Fenster und führte Bishop zum Durchgang nach hinten. Als er eben nach der Klinke greifen wollte, ging die Tür auf und Veronica, die es scheinbar eilig hatte, in den Laden zu gelangen, prallte gegen seine Brust. Sie quiekte erschreckt, er gab ein atemloses „Uff!“ von sich.

„Wohin so eilig, junge Dame?“, fragte Zach.

„Wohin so eilig, mein Herr?“, fragte sie zurück. Sie musterte ihren Vater von oben bis unten; dann bemerkte sie den älteren Mann, der hinter ihm stand. Sie nickte ihm grüßend zu. Wieder an ihren Vater gewandt deutete sie auf die Schallplatte, die dieser noch immer in der Hand hielt. „Woher wusstest du, dass ich genau das hier suchte?“


Zach stellte Veronica und Bishop einander vor. Der Sammler erläuterte auch ihr sein Anliegen und erklärte, er sei bereit, den Zieglers bei der Abwicklung von Pauls letztem Auftrag behilflich zu sein. Er kenne die betreffenden Kunden.

„Möchten Sie etwas trinken? Tee, Kaffee, Cola, Wasser? Saft ist leider keiner mehr im Haus“, sagte Veronica.

„Einen Milchkaffee, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Miss Veronica. Ich darf Sie doch so nennen?“

„Kein Problem, Mr Bishop.“

„Henry. Ich bestehe darauf.“

„Einverstanden. Dad, möchtest du auch einen Kaffee?“

Zach, dem erst jetzt bewusst wurde, dass er ihren Gast in den Raum geführt hatte, der vom Blut seines Bruders gezeichnet war, nickte abwesend. Seine Augen suchten die Stelle am Boden. Voll Erleichterung nahm er zur Kenntnis, dass Veronica in der kurzen Zeit gute Arbeit geleistet hatte. Ein Fußabstreifer lag auf der ersten Treppenstufe, ein kleiner Teppich davor. Von der weiß nachgezeichneten Kontur der Leiche war nichts mehr zu sehen.

Henry – the Horse, schoss Zach erneut durch den Kopf – schien unbekümmert. Er ließ sich in den Sessel sinken, den Veronica ihm angeboten hatte. Die junge Frau begab sich an den Bartresen, setzte die Kaffeemaschine in Gang und ließ sich dann neben ihrem Vater aufs Sofa nieder.

„Verstehe ich das richtig?“, erkundigte sich der Detektiv. „Sie und einige andere Personen haben meinen Stiefbruder auf die Suche nach einem Koffer geschickt, der diverse Objekte Ihres Interesses enthielt.“

„Korrekt, Mr Ziegler… Zachary.“

„Sie möchten diese getrennt erwerben. Ihr Anteil daran sind die Tonbänder, die ich im Safe gesehen habe, ja? Dieser Mr Kite ist mit von der Partie und –“ Er überflog den Songtext. „Die Hendersons? Wer noch?“

„Nicht die Hendersons. Mr Kite und Mr Mustard werden die Manuskripte übernehmen, Molly Jones möchte den Koffer als solchen erwerben. Zusätzlich zu seiner Vergütung hätte Paul alle weiteren Inhalte behalten dürfen. Wir wissen nicht, worin diese genau bestehen. Es war von hunderten signierter Autogrammkarten die Rede, dazu Photographien, Konzertprogramme und Schallplatten.“

„Was hat es mit diesem Koffer auf sich? Wer hat ihn gepackt und wo ging er verloren?“

Bishop atmete ein Mal tief durch, überlegte kurz, dann begann er zu erzählen: „Im Juli 2004 ging eine Meldung durch die Presse, nach fast dreißig Jahren sei das sogenannte ‚Mal-Evans-Archiv‘ wieder aufgetaucht. Ein englischer Tourist habe auf einem australischen Flohmarkt für kleines Geld einen alten Koffer mitgenommen. Beim Öffnen habe sich herausgestellt, dass sich Beatles-Raritäten darin befanden, unter anderem Mitschnitte von Aufnahme-Sessions nie veröffentlichter Songs. Papiere, die man außerdem enthalten fand, legten nahe, dass der Koffer Mal Evans, dem Road Manager und engen Vertrauten der Beatles, gehört haben musste. Mehrere Experten äußerten sich sofort zuversichtlich, dass es sich um authentische Memorabilien handelte, doch schon Tage später widerriefen alle diese Einschätzung wieder. Sie gaben Erklärungen ab, lediglich ein Sammelsurium wertloser Kopien habe sich in dem Koffer befunden; bei den Tonaufnahmen habe es sich um gängige Bootlegs gehandelt. Sie verweigerten weitere Interviews. Auch der englische Tourist ist nie wieder in Erscheinung getreten. Über den weiteren Verbleib des Koffers beziehungsweise seines Inhalts gab es keine Erkenntnisse.“

Veronica, die zwischenzeitlich aufgestanden war, kam mit einer Kanne Kaffee und drei Tassen zurück. „Leider haben wir keine frische Milch im Haus. Möchten Sie Milchpulver oder trinken Sie ihn lieber schwarz, Henry?“

„Schwarz bitte.“

Nachdem Veronica eingegossen hatte, rührte er gedankenverloren etwas Zucker in die dampfende Brühe. Daher entging ihm sowohl die rasche Bewegung, mit der Zach seine Tasse entleerte, als auch Veronicas beherztes Zugreifen, das verhinderte, dass das Porzellan anschließend auf den Tisch gehämmert wurde.

„An dieser Geschichte kam uns manches spanisch vor,“ führte der Sammler weiter aus, „insbesondere die schnelle Vorabbestätigung des Fundes durch Menschen, die einen Ruf zu verlieren hatten. Das ist unüblich – gerade angesichts der späteren Meldung, dass sich kein bisher unveröffentlichtes Material darunter befunden habe. Was genau begeisterte die sogenannten Experten an den ersten Kostproben so dermaßen, dass sie ihr Berufsethos vergaßen?“

„Das finde auch ich dubios“, warf Zach ein. „Da Sie den Koffer durch Paul aufspüren haben lassen, nehme ich an, dass Sie im Gegensatz zu den Experten von seiner Echtheit ausgehen. Wenn diese ihr Fach verstanden, müssen sie also mit ihrem abschließenden Urteil gelogen haben. Warum?“

„Es sieht für uns danach aus, als seien sie zurückgepfiffen worden. Über die Gründe kann man lange spekulieren, aber wir vermuten, dass die Bestätigung der Authentizität der Tonbänder die unangenehme Frage aufgeworfen hätte, weshalb zu keinem Zeitpunkt die eigentliche Sensation, das Manuskript von Mal Evans‘ Memoiren, erwähnt wurde.“

„Moment, Moment, Moment!“ rief Veronica dazwischen. „Das geht mir etwas zu schnell. Wie kommen plötzlich diese Memoiren ins Spiel?“

„Evans war ein Beatles-Fan der ersten Stunde. Nachdem er die Band live gesehen hatte, arbeitete er für sie zunächst als Türsteher. Er machte sich schon bald als Laufbursche, Roadie und Mädchen-für-alles unentbehrlich. Da er sehr viel Zeit mit den vier Jungs verbrachte, die alle wesentlich jünger als er waren, wurde er darüber hinaus zu einem engen Freund, dem sie ihre Sorgen anvertrauten. Das gestattete ihm Einblicke, die außer ihm nur wenigen anderen Personen vergönnt waren. Das enge Verhältnis dauerte bis weit über die Auflösung der Band hinaus an.“

Zach wiegte den Kopf. „Der Mann hatte also Dinge zu erzählen, die man in keiner anderen Beatles-Biographie lesen kann. Ist sein Buch eigentlich veröffentlicht worden oder haben ihn die Jungs verklagt?“

„Weder das eine noch das andere. Malcolm Frederick Evans ist am 5.1.1976 in seiner eigenen Wohnung in L.A. von der Polizei erschossen worden – kurz bevor er das Manuskript seiner Memoiren beim Verlag abliefern sollte. In dem nachfolgenden Chaos von Ermittlungen, Bestattungsvorbereitungen und Haushaltsauflösung ging nicht nur ein Koffer voller Beatles-Erinnerungsstücke verloren sondern auch das Manuskript. Sogar seine Asche verschwand während der Überführung nach England vorübergehend. Die näheren Umstände dieser tragischen Geschichte erweisen sich auch hier als dubios. Verschiedene Berichte enthalten kleine aber entscheidende Widersprüche zum Hergang. Ob das Manuskript sich in dem verschollenen Koffer befand, blieb ungeklärt, lag aber nahe. Der Zeitpunkt des Vorfalls erregte jedenfalls den Verdacht, dass zwischen der bevorstehenden Fertigstellung der Memoiren, dem gewaltsamen Tod des Autors und dem Verschwinden des Manuskripts ein finsterer Zusammenhang bestand.“

Stille herrschte im Hinterzimmer von Campbell‘s Fab Store. Für einige Augenblicke rührte sich niemand. Vater und Tochter schauten einander verblüfft an. Bishop nippte an seiner Kaffeetasse. Das leise Schlürfen schallte wie Motorenknattern durch den Raum. Zach räusperte sich. „Ich muss schon sagen… An Dramatik mangelt es Ihrer Geschichte nicht im Mindesten. Für mich waren die Beatles bisher lediglich vier geniale Musiker. Wer hätte gedacht, dass nach über einem halben Jahrhundert Geheimnisse zu lüften bleiben? So langsam verstehe ich Ihre Faszination für diese Band.“

Henry the Horse ließ sein Gebiss aufblitzen. „Ich möchte Sie nicht entmutigen, sich mit dem Gedanken an den Weiterbetrieb des Ladens anzufreunden, aber lassen Sie mich Ihnen sagen, dass diese Story weder den Anfang noch das Ende der zahllosen Ungereimtheiten im Umfeld der Gruppe darstellt. Wenn Sie ein wenig länger in diesen Abgrund starren, Zachary, wird schon bald etwas Ihren Blick erwidern.“

Veronicas Nackenhaare stellten sich auf. Die kryptische Inschrift, die sie studiert hatte, bevor die beiden Männer hereingekommen waren, stieg wieder in ihr Bewusstsein auf; ihre Augen suchten den kleinen kreisrunden Rahmen neben der Tür, dann schweiften sie zu Paul McCartney‘s jugendlichem Konterfei darüber. Unwillkürlich musste sie an das denken, was Ihr Vater über den anderen Paul, ihren Onkel, und die Gründe für dessen Verschwinden aus London gesagt hatte. War er wirklich nur unglücklichen Umständen zum Opfer gefallen oder gab es einen finsteren Zusammenhang?