45) In der Falle

Veronica war es gelungen, Kites Leiche mit ihren Füßen zu packen und näher heranzuziehen, ein halbes Dutzend Zoll bei jedem Durchgang. Die Nacht war kühl, doch die Arbeit trieb ihr Schweiß auf die Haut. Eine Viertelstunde später hatte sie es endlich geschafft. Der Kadaver lag direkt unter ihr. Sie klemmte den Griff des Dolchs zwischen ihre Füße, zog ihn aus den Dielen – das war schwieriger, als sie gedacht hatte – und führte die Beine nach oben. Den ersten Versuch brach sie ab, bevor sie Kopfhöhe erreichte, denn sie hielt die Klinge in einem ungünstigen Winkel. Beim zweiten Versuch gelang es ihr, den Lederstreifen, der ihre Hände mit dem Seil des Flaschenzugs verband, ein Stückchen einzuschneiden, bevor ihr die Kraft ausging. Schließlich, im dritten Anlauf, gab das Leder nach, riss die letzten Millimeter von allein entzwei und entließ Veronica in den freien Fall. Einen Sekundenbruchteil später grub sich ihr Hintern in Kites Bauch und Brust. Seine Rippen zersplitterten mit dem Knirschen einer zerquetschten Tüte Kartoffelchips. Ihr Gewicht presste die Luft aus seinen Lungen. Sie entwich durch den verengten Kanal seines Adamsapfels. Kites Stimmbänder vibrierten ein allerletztes Mal, wobei sie ein hässliches Gurgeln abgaben. Veronica, von ihrer unsanften Landung einem erneuten Schmerzgewitter ausgesetzt, glaubte einen Schrei zu vernehmen. Hatte Kite noch gelebt oder hatte sie den Laut selbst ausgestoßen? Schwer zu sagen.

Langsam rollte sie sich auf die Seite, herunter von dem Hünen. Sie wollte nur die Augen schließen, ruhen… schlafen… Nein! Sie durfte jetzt nicht das Bewusstsein verlieren, musste den Raum verlassen, das Haus, die Gegend. Mühsam rappelte sie sich auf. Von unten war das Stöhnen eines Mannes zu vernehmen. Jemand befand sich im Zimmer direkt unter ihrem. Desmond? Oder gab es einen weiteren Gefangenen? Hatten sie ihren Vater geschnappt? Bei dem Gedanken griff eine eisige Faust nach ihrem Herz. Wenn ihr Vater hier war, durfte sie nicht einfach davonschleichen. Sie musste zweifelsfrei feststellen ob auch er sich in diesem Landhaus befand oder nicht. Und das hieß, sie musste Desmond ausschalten.

Da ihre Muskeln nun entspannten, begann sie die Kühle auf der nackten Haut zu spüren. Sobald sie draußen war, würde sie frieren. Und natürlich lag es ihr fern, bei der Rückkehr nach Liverpool im Adamskostüm – müsste es nicht Evakostüm heißen?, dachte sie – aus dem Wagen zu steigen. Ihr Kleid konnte sie vergessen; es war völlig hinüber. Kites Klamotten mussten mehrere Nummern zu groß ausfallen; sie würden sie beim Kampf mit Desmond behindern. Ihr Blick fiel auf das Bett. Ohne lang zu überlegen zog sie das Laken ab und fabrizierte ein Wickelgewand daraus, das genug Beinfreiheit zum Treten und Rennen ließ. Sie ging zur Tür.

Verdammt! Sie hatte völlig vergessen, dass es im ganzen Haus keine Klinken gab. Wie war Kite hereingekommen? Ein Schlüsselbund klapperte in ihrem Gedächtnis; Desmond, der die Tür hinter Kite wieder zuzog. Ein Augenblick der Panik überrollte Veronica. Falls sie auf den Kommissar angewiesen war, um aus diesem Raum hinaus zu gelangen, standen ihre Chancen ungefähr fünfzig-fünfzig. Hektisch durchsuchte sie die Wäsche des Hünen, die auf den Boden gefallen war, als sie das Laken abzog.

Da – in einer seiner Hemdtaschen, ein einzelner Schlüssel mit einem Plastiketikett. Sie fischte ihn heraus. Auf dem Etikett stand: ‚Landhaus General‘. Die Detektivin schickte ein Dankgebet gen Himmel. Dann schnappte sie den Dolch, schloss leise die Tür auf und trat auf den im Dunkeln liegenden Gang hinaus. Das Streulicht aus dem hinter ihr liegenden Raum ließ wenig erkennen. Sie tastete neben der Tür nach einem Lichtschalter, fand jedoch keinen. Also ging sie zurück. Die Kerzen, die der Psychopath für sein perverses Ritual verwendet hatte, waren bis auf eine, die zu einem Stummel heruntergebrannt war, bei ihrem Kampf erloschen. Sie öffnete das Schränkchen unter dem Fenster, in der Hoffnung, eine Taschenlampe zu finden. In der hintersten Ecke stand eine Kerosinlampe. Sie prüfte den Tank; er war fast maximal gefüllt. Der Docht nahm die Kerzenflamme dankbar entgegen und brannte sofort hell. So ausgestattet begab sie sich umgehend nach draußen.

Der Korridor endete wenige Schritte rechts von ihr an einem Fenster, das sich zum Gelände hinter dem Haus öffnete. In der anderen Richtung erstreckte sich der Gang gute fünfzehn Meter. Einem Impuls folgend entschied sie, zuerst die Tür zu öffnen, um zu sehen, ob sich jemand darin aufhielt. Weder wollte sie etwaige weitere Gefangene zurücklassen, noch war sie darauf erpicht, einen etwaigen Feind im Rücken zu behalten. Sie schloss auf und leuchtete hinein. Der Raum war ähnlich eingerichtet wie ihr ehemaliges Gefängnis aber ansonsten leer. Erleichtert kehrte sie zum Gang zurück, folgte ihm einige Meter nach rechts und sah wie erwartet auf halber Länge ein Treppenhaus das rechter Hand nach unten führte. Veronica lauschte. Unten bewegte sich nichts. Also schlich sie weiter, um die Zimmer hinter den beiden verbliebenen Türen zu untersuchen. Auch sie waren Kopien des ersten, in dem nun Kites Leiche auf den Dielen lag; auch sie waren leer.

Wieder im Gang wagte sie einen Blick aus dem nach vorn zeigenden Fenster. Da es keinerlei Lichtquelle als die Sterne und das Streulicht umliegender Ortschaften gab, konnte sie die Zufahrt nur schemenhaft erkennen. Ihr GT parkte noch genau so, wie sie ihn abgestellt hatte. Schräg dahinter stand ein eiförmiges Etwas, das Kites Fahrzeug sein musste. Sie kehrte um und ging zum Treppenhaus. Wieder lauschte sie, dann stieg sie langsam, Schritt für Schritt, die steilen hölzernen Stufen hinunter. Sie zählte zwölf Stufen, bevor sie die letzte, die dreizehnte betrat. Bis hierhin war es ihr gelungen, völlig geräuschlos ins Erdgeschoss hinabzugehen, doch gerade, als sie auf den Steinfußboden der Eingangshalle treten wollte, knarzte das Holz. Das Geräusch explodierte in die Stille des Hauses wie der Eröffnungsakkord von ‚A Hard Day‘s Night‘ in die Einlaufrille einer LP.

Veronica gefror an Ort und Stelle. Jeden Moment musste sich eine der vier Türen öffnen – sie rechnete mit jener auf der anderen Seite in der linken Ganghälfte; der Tür, die zu dem Raum unterhalb ihres Gefängnisses führte – und dann würde Desmond mit gezücktem Revolver herausstürmen, um sie völlig unzeremoniell niederzustrecken. Sie hielt den Atem an, um jedes noch so kleine Geräusch hören zu können, doch es rührte sich auch weiterhin nichts. Auf Zehenspitzen schlich sie zu besagter Tür, legte ein Ohr an das Blatt, lauschte. Stille. Langsam führte sie den Schlüssel ein. Sein leises metallisches Klickern wuchs in ihrer Vorstellung zu einem unüberhörbaren Rattern an. Sie konnte nur hoffen, dass Desmond zu beschäftigt war, um darauf zu achten. Sie befahl der inneren Stimme, für einen Moment den Mund zu halten. Aber was, wenn auf der anderen Seite sein Schlüssel steckte?, greinte der Quälgeist. Dann locken wir ihn heraus, direkt in die Klinge des Dolches, entgegnete sie; und jetzt halt endlich die Klappe! Die Stimme grummelte, sah jedoch davon ab, auf ein weiteres Dutzend Eventualitäten hinzuweisen, die ihre Pläne durchkreuzen konnten.


Ihr Ritt zum Ferienhaus der Sammler – man konnte die ‚Fahrt‘ über den mit Schotter bestreuten und mit Schlaglöchern reichlich gesegneten Feldweg kaum anders bezeichnen – kostete sie nochmals eine wertvolle halbe Stunde. Die Landschaft um sie herum lag in solch tiefer Finsternis, dass man den Eindruck haben konnte, eine der entlegensten Weltgegenden zu durchqueren, wenn auch die Sterne über ihnen nicht ganz so klar funkelten, wie es in einem solchen Fall zu erwarten gewesen wäre. Dank der Wegbeschreibung des Taxifahrers wussten sie, dass sie das Ziel ihrer Reise beinahe erreicht haben mussten. Bestimmt waren es nur noch wenige hundert Yards bis… Da! Quer über den Feldweg, der rechts und links von Weidezäunen begrenzt wurde, ragte ein verschlossenes Gatter. Hinter diesem, gerade noch im Licht der Mini-Scheinwerfer schattenhaft zu erkennen, lag ein niedriges Gebäude. „Das ist es!“, rief Maria.


Der Schlüssel ließ sich ganz leicht im Schloss drehen. Ein letzter Widerstand gegen eine Federung, als der Riegelbolzen geräuschlos aus seiner Nut glitt, dann konnte Veronica die Tür aufdrücken. Millimeterweise öffnete sie das Blatt, auf jede Regung achtend, die von drinnen vielleicht vernehmbar gewesen wäre. Als sich ein Spalt bildete, sah sie, dass es dahinter fast völlig dunkel war. Nur das Flackern einer Kerzenflamme warf bewegte Schatten an die Wand. Es herrschte Stille. Mutig schob sie die Tür Stück für Stück weiter auf. Zeitungsstapel, Pappkartons, Brennholz, ein Stuhl, die Kante eines niedrigen Tisches, die Lehne eines Sofas kamen zum Vorschein. Es roch nach Alkohol, Zigarettenrauch und Geschlechtsverkehr. Auf der Lehne ruhten ein paar Stiefel; Beine ragten aus ihnen hervor, die eindeutig Desmond gehörten. Vorsichtig bewegte sie den Kopf zur Seite, um mehr von der Szenerie zu erfassen. Der Kommissar lag mit halb heruntergelassenen Hosen auf dem Sofa und schlief.

Veronica packte den Dolch fester, dann betrat sie den Raum. Vorsichtig arbeitete sie sich auf ihr Ziel zu, sorgfältig darauf achtend, nirgends anzustoßen. Auf halbem Wege stellte sie die Kerosinlampe ab. Vielleicht brauchte sie die freie Hand. Sie näherte sich dem Kopfende des Sofas. Wickens atmete gleichmäßig. Sie wusste, was sie zu tun hatte, wusste, dass kein Weg daran vorbeiführte, und hatte dennoch Hemmungen… zögerte, ihm die Gurgel durchzuschneiden. Zitternd führte sie den Dolch an seine Kehle. Millimeter trennten die rasiermesserscharfe Kante des Metalls von der Haut. Sie hielt inne. Eine leichte Berührung nur, doch der Polizist schrak sofort aus dem Schlaf, fuhr hoch und direkt in die Klinge. Ein Schrei entwich ihm; mit panischen Bewegungen rappelte er sich auf. Der Schnitt war nicht tief, aber er begann umgehend zu bluten. Veronica zuckte erschreckt zurück, stolperte über einen Stuhl und landete rücklings auf dem Boden. Der Dolch entglitt ihrer Hand und kreiselte in eine Ecke des Raums. Wickens, der ihr nachsetzen wollte, wurde von seiner auf Halbmast stehenden Hose zu Fall gebracht. Er landete auf Veronicas Beinen. Seine Hände griffen nach ihrem Hals, doch als es ihr gelang, einen rechten Schwinger gegen sein Ohr zu landen, rollte er von ihr herunter. Hastig krabbelte Veronica rückwärts von ihm fort.

Dann bemerkte sie ihren Fehler. Sie hatte dem Mann den Weg zu ihrer Waffe freigegeben. Der zögerte keinen Moment. Er zog die Hose hoch, hechtete nach dem Dolch, fuhr dann sofort herum und stürzte in ungeahnter Geschwindigkeit auf sie zu. Der einzige Gegenstand, den sie zu fassen bekam, war die Kerosinlampe. Mit ausgestrecktem Arm schnappte sie den Tragebügel, führte die Lampe im Halbkreis um ihren Kopf und drosch sie, so kraftvoll sie konnte, gegen Desmonds Schläfe. Glassplitter und Kerosin spritzten durch die Luft; brennbare Flüssigkeit ergoss sich über den Getroffenen, dessen Kopf und Schultern sofort in Flammen aufgingen. Wickens röhrte vor Schmerzen. Er taumelte knapp an der jungen Frau vorbei durch den Raum, die Hände gegen sein Gesicht schlagend. Dann stolperte er, fiel mit dem Kopf voraus gegen eine Wand und brach bewusstlos in der Ecke zusammen, wo die Zeitschriften und das Holz gelagert waren.

Veronica überlegte kurz, ob sie den Brand löschen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Sie war in den Raum gekommen, um Wickens zu töten und sie hatte ihr Ziel fast erreicht. Wodurch er starb, war ihr gleichgültig. Entweder sie machte ihrem Entführer, dem Mörder ihres Onkels, hier und jetzt den Garaus oder er würde sie, ihren Vater und womöglich noch andere Menschen ins Jenseits befördern. Als Polizist standen ihm hierfür zahlreiche Wege offen und er konnte seine Spuren mühelos verwischen.

Nein, dass er jetzt starb, war nur gerecht, und es war besser für alle. Sie wollte Sorge tragen, dass dieser Raum und der darüber liegende mit der Leiche Kites vollständig ausbrannten. Geschwind häufte sie Kartonagen und Papier um den Mann auf und schob das Sofa und die beiden Stühle dicht daneben. Innerhalb einer Minute brannte alles lichterloh. Sie öffnete ein Fenster. Dann zog sie sich eilig zurück, denn es wurde unangenehm heiß hier drin. Schnell durchsuchte sie die drei anderen Räume des Erdgeschosses, eine Küche, ein Bad und einen Lagerraum. Es war überall dunkel, aber es befand sich außer ihr eindeutig niemand mehr im Haus. Auch im Keller sah sie nach. Sie fand einen Lichtschalter. Regale voller Spirituosen und haltbarer Lebensmittel, aber keine lebende Seele. Sie hastete die Treppen hinauf, zurück in die Eingangshalle. Der Raum auf der rechten Seite hatte sich bereits in eine Flammenhölle verwandelt. Das Feuer schlug fauchend durch die Tür, die sie offen gelassen hatte, in den Korridor. Hitze, Qualm und Gestank nach verbranntem Fleisch zogen ihr entgegen.

Veronica rannte nach links, zum Vordereingang. Die Haustür besaß keine Klinke, genau wie alle anderen Durchlässe im Gebäude. Sie brauchte einen Schlüssel! Wo…? Hatte sie ihn etwa…? Sie schaute in Richtung der Feuersbrunst, die keine Rückkehr zulassen würde. Der Schlüssel steckte in der Tür gegenüber, wo sie ihn zurückgelassen hatte, bevor sie in den Keller hinabgestiegen war. Den Versuch, ihn abzuziehen, musste sie abbrechen. Qualm und Hitze ließen es nicht zu, dass sie sich der Tür näherte, doch ohne den Schlüssel gab es keinen Weg hinaus. Die Fenster im Erdgeschoss waren vergittert. Sie saß in der Falle.

44) Verfahren

Es war der heikelste Teil ihres Plans, denn ihre Befreiung und damit ihr Leben hing davon ab, dass sie den Dolch in ihren Besitz bekam. Daher verfolgte ein Teil ihres Bewusstseins mit Interesse jede seiner Positionsveränderungen.

Die Klinge rotierte langsam, während sie einen hohen Bogen durch die Luft beschrieb. Es fehlte nicht viel, dann hätte sie Veronica getroffen. Als Kite die Hände aus seinem malträtierten Schritt zum Hals gerissen hatte, nahmen sie die Waffe mit und gaben sie auf halbem Wege frei. Nachdem sie den höchsten Punkt auf Höhe von Veronicas Ellbogen erreicht hatte, folgte ihre Flugbahn wieder der Schwerkraft. Knapp hinter Veronica bohrte die gefährliche Spitze sich in die Holzdielen des Bodens. Während die junge Frau ihre Pendelbewegung zum zweiten Mal innerhalb einer Minute aufzuhalten versuchte, achtete sie darauf, ihr nicht zu nahe zu kommen. Zum einen wollte sie natürlich keine Verletzung riskieren; zum anderen hoffte sie, ihre Fußfessel mit der Schneide öffnen zu können.

Zuerst musste sie jedoch neben den Pendelschwingungen auch ihre Muskeln und ihren Geist wieder unter Kontrolle bringen. Ihr Atem ging in schweren, rauhen Stößen, einem halben Grunzen, das womöglich auch in anderen Teilen des Hauses zu hören war. Es ließ sich leider nicht vermeiden. Als ihr Körper wieder still stand, konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit auf die Lunge, holte in regelmäßigen tiefen Zügen Luft durch die Nase und entließ sie in rhythmischen Stößen durch die Lippen. Sie zählte im Stillen mit. Nach etwa dreißig Durchgängen hatte sie sich so weit wieder in der Gewalt, dass sie es wagen konnte, die akrobatischen Anstrengungen zu unternehmen, mit denen sie ihre Fesseln durchtrennen wollte. Sie trippelte zum Dolch, der glücklicherweise fast direkt unter ihrer Aufhängung stecken geblieben war, stützte sich auf den rechten Fuß und begann mit dem linken eine winzige Auf- und Abbewegung. Der Lederstreifen glitt über die Klinge, leistete jedoch einigen Widerstand. Eine ganze Weile war nur das rhythmische Tappen ihrer Fußsohle auf den Dielen zu hören. Veronica musste das Gewicht mehrmals auf das jeweils andere Bein verlagern, bis die Fessel endlich entzwei ging.

Wieder verschnaufte sie einige Minuten. Ihr Rücken schmerzte, die mit frischem Blut versorgten Füße begannen zu kribbeln und ihre Arme und Hände waren ihrer unnatürlichen Haltung wegen beinahe taub. Noch immer lagen zwei schwere Arbeiten vor ihr. Sie musste, den Dolch zwischen die Füße geklemmt, ihre Handfesseln aufschneiden. Es würde unausweichlich dazu führen, dass sie in fötaler Haltung, Steiß voraus, zu Boden fiele. Wahrscheinlich würde es ihr das Becken brechen. Sie brauchte etwas Weiches. Das Bett stand leider außerhalb ihrer Reichweite, stellte sie fest. Keine Chance, die Matratze zu erreichen, um sie mit den Füßen auf den Boden zu ziehen. Kurz erwägte sie, die zerfetzten Überreste des schwarzen Kleides, das Kite ihr im Stürzen vom Leib gerissen hatte, zu verwenden, doch der Stoff war zu dünn, um den Aufprall nennenswert mildern zu können. Sie hätte etwas Ordentliches anziehen sollen, meldete sich eine innere Stimme. Resolut würgte sie sie ab. Es nützte nichts, Fehlentscheidungen zu betrauern; sie ließen sich nicht mehr ändern, und vermutlich böte selbst eine gut gefütterte Daunenjacke zu wenig Puffer.

Da fiel ihr Blick auf den Hünen.


Sie waren natürlich nicht die einzigen Reisenden, die der M6 den Rücken kehrten, um ihr Glück auf Landstraßen zu versuchen. Auch dort bewegte der Verkehr sich nur zähflüssig, aber immerhin bewegte er sich. Trotzdem waren Maria und Zach froh, jenseits der Unfallstelle wieder die wesentlich schnelleren Motorways benutzen zu können. Fast hätten sie der hypnotischen Wirkung des unter ihnen hinwegsausenden Asphaltbandes wegen die Ausfahrt verpasst. Der Mini besaß zum Glück gute Bremsen, und im letzten Moment nahmen sie die Kurve mit quietschenden Reifen. Die schleichende Müdigkeit verflog in Sekunden. Sie würden es brauchen. Der letzte Streckenabschnitt kostete die größte Anstrengung, denn in dieser ländlichen Gegend konnte man sich leicht verfahren. Maria hatte den Weg zum Ferienhaus der Familie noch nie bei Nacht zurückgelegt und hoffte, dass sie trotz der widrigen Umstände die Orientierung behielt.


Donald Wickens lag bequem auf einige Kissen gebettet auf der altmodischen Couch im Zimmer direkt unter Veronicas Gefängnis. Er schaute zur Decke und lauschte den Geräuschen, die durch die Bohlen zu ihm herunter drangen. Holz war ein guter Schallträger. Er hatte ein Bier in der Linken und eine Kippe zwischen den Lippen. Zwar bedauerte er, dieser naseweisen Göre nicht selbst bescheidstoßen zu können, dafür genoss er das akustische Lustspiel, das der Boss mit ihr veranstaltete. Er hörte Kites Schritte, als dieser sein Opfer umrundete, hörte das Reißen des Stoffs, von der Klinge zerschnitten, hörte die Kommentare des Schlossherrn über Veronicas Körper und malte sich die Szene aus, die sich ihm bieten musste. Seine Rechte öffnete Knopf und Reißverschluss seiner Hose, die schnell eng zu werden drohte.

Wieder Schritte über ihm, kurz Stille, dann schrie Veronica heiser, Kite grunzte. Es folgte fast sofort ein schweres Poltern auf den Deckendielen. „Ja, gib‘s ihr feste!“, feuerte Wickens knurrend seinen Boss an. Als hätte Kite ihn gehört, war sogleich ein dumpfer Schlag und ein weiterer lauter Schrei des Mädchens zu hören, während ihr Peiniger undefinierbare tierische Laute von sich gab. Sie japste ein paar Mal stöhnend. Wickens, höchst erregt, lauschte begierig nach weiteren Reizen, doch dann kehrte wieder Stille ein. Er schaute auf die Wanduhr; Punkt Mitternacht. Schnitt Kite ihr gerade die Kehle durch? Enttäuscht seufzte er und wollte sich eben aufsetzen. Es konnte sein, dass der Boss ihn gleich zu sich rief, um die blutige Sauerei aufzuräumen. Doch da erklang von oben ein leises rhythmisches Stampfen. Die Reprise. Ein seliges Grinsen legte sich auf sein Gesicht, während seine Rechte den Rhythmus wie von selbst übernahm.

Nach wenigen Minuten erneut ein Augenblick der Stille. Was geschah nun? Etwas Schweres wurde über den Boden geschleift und mit einem satten Rummsen losgelassen. Schleifen, Rummsen, Schleifen, Rummsen. Im Takt dazu hörte er Veronica grunzen, den Lautäußerungen bei einem Tennismatch der Damen nicht unähnlich. Plötzlich ein schweres Poltern; etwas knirschte und splitterte. Das Mädchen stieß einen lauten, heiseren Schrei aus, Kites Lungen entwich ein hässliches Gurgeln. Wickens verlor die Kontrolle über seinen Körper und glitt in einen tranceähnlichen Wachtraum. Als sein Verstand das Steuer wieder übernahm, herrschte völlige Stille über ihm. Das Bier und das warme Licht der Kerze trugen ihn übergangslos in den tiefen Schlaf danach.


Sie hatten die Orientierung verloren. Es war müßig gewesen, unter den gegebenen Umständen etwas anderes zu erhoffen. Lag der Feldweg, der über eine halbe Stunde bis zum Haus führte, noch vor ihnen oder hatten sie ihn bereits verpasst? Alles sah in der Dunkelheit ganz anders aus, als in ihrer Erinnerung, doch Maria war sich fast sicher, dass sie die Abzweigung übersehen hatten. „Fahr bis zur nächsten Ortschaft“, wies sie Zach an. „Vielleicht können wir jemand nach dem Weg fragen.“

„Um ein Uhr in der Nacht?“, erwiderte der Detektiv zweifelnd. Man merkte ihm die Müdigkeit nach der langen Wegstrecke an. Dennoch weigerte er sich, ihr das Steuer zu überlassen. „Du darfst mich auf dem Rückweg ablösen“, hatte er gesagt. Er folgte jedoch ihrem Rat. Die Ortschaft, die sie gerade erreichten, bestand nur aus einigen wenigen Häusern. Es gab weder Seitenstraßen noch Laternen. Alle Gebäude lagen im Dunkeln, nichts regte sich. Nur in einem Fenster des letzten Hauses, am anderen Ende des Weilers, flackerte einsam das Licht eines Fernsehers. Zach hielt an, stieg aus und ging zur Tür des Gebäudes. Kein Klingelknopf. Er schaute sich suchend um. Da, ein Glockenseil. Er zog daran. Lautes metallisches Geläut, das bestimmt im halben Dorf gehört werden konnte, drang von hinter der Tür nach draußen. Ein Gesicht erschien am Fenster des Raums, in dem der Fernseher stand. Es sah verschlafen aus. Zach winkte. Das Gesicht verschwand wieder, dann öffnete sich eine Tür im Gebäudeinneren; schlurfende Schritte auf einem Dielenboden – unendlich langsam, wie es Zach schien.

„Wer ist da?“, fragte eine schläfrig klingende Stimme.

„Mein Name ist Ziegler. Ich… wir sind auf der Suche nach einem Ferienhaus und haben uns verfahren.“

Das Geräusch eines Riegels, der zurückgeschoben wurde. Die Tür ging halb auf. Ein Mann, vielleicht Mitte dreißig, gekleidet in eine von Trägern gehaltene Anzughose und Feinrippunterhemd, sah ihn müden Blickes an.

„Ich hoffe, wir haben Sie nicht geweckt“, erkundigte sich Zach.

„Kein Problem. Ich habe Fahrbereitschaft und bin vor dem Fernseher eingenickt. Danke für‘s Wecken.“ Ein Lächeln flog über das Gesicht des Mannes. „Wo soll‘s denn hingehen?“

Nun bemerkte der Detektiv das in die Jahre gekommene schwarze Taxi, das in einer offenen Garage neben dem Haus stand. „Ihres?“, fragte er, mit einer Kopfbewegung in Richtung des Wagens. Der Mann nickte. Zach sagte: „Hier in der Nähe gibt es einen abseits gelegenen alten Hof, der von unseren Freunden in Liverpool als Ferienwohnung benutzt wird. Kennen Sie den?“

„Den von den Beatles-Freaks?“, fragte der Taxifahrer zurück, das Gesicht skeptisch verzogen.

„Genau den“, bestätigte Zach, erleichtert, dass ihnen das Glück gleich bei der ersten Erkundigung wohl gesonnen war.

„Mann, Mann, ihr Stadtleute habt echt Nerven!“, kam die etwas unwillige Erwiderung.

Der Detektiv hätte gern gewusst, welche Bewandtnis es mit der Bemerkung hatte, befürchtete jedoch eine Tirade auszulösen, falls er fragte. Also erkundigte er sich erneut nach dem Weg: „Tut uns wirklich leid für die Störung. Können Sie uns sagen, wo wir abbiegen müssen, um hinzugelangen? Ich nehme doch an, die Zufahrt mündet hier in diese Straße; richtig?“

Der Taxifahrer erklärte ihm den Weg.

43) Neumond

Maria und Zach loggten in mehrere weitere Online-Dienste ein, um herauszufinden, ob Kirk in den letzten vier Wochen Lebenszeichen beziehungsweise Hinweise hinterlassen hatte, wo sie sich gerade aufhielt. Ihre Konten auf verschiedenen sozialen Medien zeigten den gesamten Mai hindurch keinerlei Aktivitäten. Schließlich sahen der Detektiv und die Italienerin einander resigniert an. Stumm stellten sie dieselbe Frage: Was nun? Schließlich war Zach aufgestanden. „Gehen wir“, sagte er.

„Wohin?“, fragte Maria.

„Nach Norden natürlich. Zu eurer Hütte, oder was das ist. Mangels weiterer Anhaltspunkte halte ich das für besser, als hier herumzusitzen und die Fingernägel zu zerkauen.“

„Wie stellst du dir das vor?“, protestierte Maria. „Da hält kein Bus vor dem Haus. Von der nächstgelegenen Ortschaft fährt man eine halbe Stunde, und von Liverpool bis dort hin braucht man mit dem Auto mindestens drei bis vier Stunden – wenn man eines hätte.“

„Wir haben eins“, sagte Zach. „Komm mit.“

Maria folgte ihm aus dem Studierzimmer hinaus, den Flur entlang und die Treppen hinab. „Ich dachte, Veronica hat den Opel mitgenommen“, rief sie ihm hinterher.

„Hat sie“, antwortete Zach, der einen Schlüssel aus der Hosentasche fischte. Er schloss den Tresor auf, griff in eines der Regale und hielt Maria einen Wagenschlüssel unter die Nase.

„Johns Mini Cooper!“, hauchte sie mit großen Augen. „Das kannst du nicht machen.“

Zach zuckte mit den Schultern. „Wenn es um Veronica geht, nehme ich keine falschen Rücksichten.“ Er schnitt Maria, die den hohen Preis des Autos ins Feld führte, das Wort ab. „Ich bin ein sicherheitsbewusster Fahrer. Dem Mini wird nichts passieren. Bloß schade, dass er nur so wenige Meilen pro Stunde macht.“


„Man sagt, das Haus wurde über einer alten druidischen Kultstätte errichtet“, erzählte Kite im Plauderton. „Man sagt auch, dass sie hier Menschen geopfert haben. Bei Ausgrabungen sind tatsächlich ein Ringwall um das Haus und darunter ein unidentifizierbares quadratisches Fundament gefunden worden.“ Während er all das erläuterte, legte Kite seine Jacke auf dem Stuhl unter dem linken Fenster ab und öffnete die Knöpfe seines Hemdes. Er ging hinter ihr vorbei zu dem Schränkchen – kein Tischchen – unter dem rechten Fenster und entnahm ihm fünf Kerzenständer, eine Streichholzschachtel, eine Art Nierenschale und einen schwarzen Kapuzenumhang. Die Utensilien legte er auf das Bett. Er kam zurück und zog ihr mit einem Ruck die Strohmatte unter den Füßen weg.

„Hey!“ rief Veronica, die mit dem vollen Gewicht in die Lederriemen um ihre Handgelenke fiel. Während sie wieder auf ihre Füße zu gelangen versuchte, bemerkte sie die eingeritzten Symbole, die die Matte bisher verdeckt hatte. Sie stand beziehungsweise hing im Zentrum eines Pentagramms.

Kite fuhr mittlerweile fort, das Hemd abzulegen. „Heute Nacht sollst du meine Braut sein“, sagte er. „Das Ritual erfordert, dass wir uns passend kleiden – ich mich um, du dich aus.“ Er kicherte sein Hyänenkichern. „Keine Sorge, ich helfe dir natürlich.“ Er wandte sich dem Bett zu. Die Hose fiel, die Unterwäsche folgte.

Veronica schauderte. Die geballte Kraft, die der Riese verkörperte, schien ihr beim Anblick seiner Muskeln plötzlich unüberwindlich. Für einen Moment verzagte sie, rief sich aber sofort zur Ordnung. Sie würde ihn besiegen! Sie würde ihn besiegen, weil sie musste.

Er streifte den schwarzen Kapuzenumhang über. Dann begann er, die Kerzen anzuzünden und verteilte sie in gleichen Abständen um das Pentagramm. „Ich bin fertig,“ verkündete er fröhlich. „Nun bist du an der Reihe.“ Vor ihr bei der letzten Kerze kniend schaute er zu ihr auf. Das Flackern der Flammen verwandelte sein Gesicht unter der Haube für einen Moment in die Fratze eines Dämons. „Bleib genau so stehen!“, befahl Kite. „Du siehst perfekt aus.“ Als hätte sie eine Wahl!

Langsam erhob er sich. Wieder ging er zu dem Schränkchen, wo er den Dolch, den er dort abgelegt hatte, ergriff. Er trat hinter sie und kniete nieder. Veronica spürte ein Zupfen am unteren Saum ihres Kleids. Ein Geräusch zerreißenden Textils. Der Druck, den der Stoff auf ihre Oberschenkel ausgeübt hatte, schwand. Kite führte die scharfe Klinge langsam weiter entlang ihrer Körpermitte nach oben und beendete die Bewegung erst, als er ihren Nacken erreicht hatte. Das schwarze Kleid, nur noch an ihren Schultern hängend, verhüllte sie nun lediglich von vorn. Kite zog an den Bändeln ihres Bikini-Oberteils und durchtrennte sie mit schnellen Schnitten. Dasselbe wiederholte er bei ihrem Höschen. Zufrieden betrachtete er sein Werk. Furcht stieg in Veronica auf. Nie in ihrem Leben war sie so schutzlos ausgeliefert gewesen.

„Unsere… Gäste… sind normalerweise sehr viel jünger als du“, sagte er. Seine Stimme klang raubkatzenhaft. „Für dein hohes Alter hast du dich recht gut in Schuss gehalten. Schau dir nur diese schönen Muskeln an!“ Er sagte es fast bewundernd. Seine Finger strichen über ihre Rippen. Dann glitten sie ihrer Wirbelsäule entlang. Die junge Frau nahm alle Kraft zusammen, um nicht aufzuschreien. Ihre Angst überwältigte sie fast, doch sie wusste, was geschähe, wenn sie ihr nachgab. Der Riese sprach es für sie aus: „Im Moment meiner höchsten Lust wirst du sterben.“ Der Zeigefinger seiner Linken fuhr über ihre Halsschlagader.

Bitte, bitte, bleib da nicht stehen!, flehte Veronica still. Alles hing nun davon ab, dass sie ihn sehen konnte. Wenn er einfach so fortfuhr, wäre ihr jede Möglichkeit genommen, ihn zu erledigen.

Er tat ihr den Gefallen. Kite schritt langsam um sie herum, baute sich vor ihr auf und hob den Dolch direkt vor ihre Augen. Im Kerzenschein schimmerten Ornamente auf der kurzen und rasiermesserscharfen Doppelklinge. Sie würdigte diese jedoch keines zweiten Blickes, sondern schaute daran vorbei in die Augen des Psychopathen, die im Schatten der Haube fast nur durch ein Glitzern auszumachen waren. Vorsichtig beugte sie die Knie, bis ihr Körper mit seinem vollen Gewicht am Seil hing. Ihre Gelenke schmerzten schlimm. Dennoch nahm sie eine S-Haltung ein, die Künstler aller Epochen in Gemälden und Skulpturen abgebildet hatten. Sie hoffte es wirkte verführerisch genug, ihn über ihre Anspannung hinwegzutäuschen.

Ihr Plan ging auf. Mit der rechten Hand des Hünen verließ der Dolch den Raum zwischen ihren Gesichtern. Seine Linke streckte er nach dem Halsausschnitt des lose an ihr herabhängenden Kleides aus, während der dazugehörige Fuß des Mannes ihn einen Schritt näher an Veronica herantrug. Blitzschnell spannte sie ihre Muskeln, zog ihre noch immer zusammengebundenen Beine ruckartig in eine Hockstellung und rammte ihm die Knie mit aller Macht in die Hoden. Ein heiserer Schrei entrang sich ihrer Kehle. Fast im selben Moment kollabierte Kite. Er schlug mit der Nase hart gegen ihre Schulter und ging mit einem lauten Grunzen zu Boden, wo er in Embryonalstellung liegen blieb. Reflexhaft hatte er beide Hände zu Fäusten geballt in seinen Schritt gepresst, in der linken die Reste ihres schwarzen Kleides, in der rechten den Dolch. Dass die Klinge tief ins Fleisch seiner Schenkel schnitt, schien er nicht zu bemerken.

Greller Schmerz durchzuckte auch die junge Frau. Ihre Handgelenke bluteten nun, die Schulter explodierte regelrecht in Schmerzen, und auch die Knie beschwerten sich. Es fiel ihr schwer, sich auf die Pendelbewegung zu konzentrieren, in die sie durch den Angriff geraten war. Sie musste einen weiteren Schlag ausführen, und er musste präzise sitzen. Nach einer gefühlten Ewigkeit stand sie endlich still. Der Perversling wendete ihr den Kopf zu, um sie anzuschauen. Wenn sie nicht schnell handelte, würde er den Körper folgen lassen und sich auf den Rücken drehen. Danach befände er sich wahrscheinlich außerhalb ihrer Reichweite. Erneut spannte sie die Muskeln, zog vorsichtig die Knie an und verharrte für den Bruchteil einer Sekunde in dieser Stellung. Sie zielte – und sie genoss den Augenblick. Dann schossen die mit einem Lederband zusammengeknoteten Beine senkrecht nach unten. Wieder schrie sie. Ihre Fersen bohrten sich in seine Kehle, die mit einem undefinierbaren Geräusch nachgab. Kite riss die Augen auf und auch den Mund, doch eine Lautäußerung war ihm nun verwehrt. Die Hände um den Hals gelegt zuckte er noch einige Sekunden. Ein leises Gurgeln sollte das Letzte sein, was der dreißigste Nachfahr von William Braveheart Wallace von sich gab. Veronicas innere Uhr tickte zwanzig weitere Sekunden, bevor sie 0:00 Uhr meldete. Neumond.


Der Vorbesitzer hatte Lennons Mini Cooper nicht nur fahrtauglich sondern gut in Schuss gehalten. Der Kleinwagen brummte mit neunzig Meilen die Stunde über die M6 nach Norden, der schottischen Grenze entgegen. Fast zwei Stunden lang beglückte sie der Asphaltstrang mit freier Fahrt, doch dann verdichtete sich der Verkehr zusehends, wurde immer langsamer und kam schließlich ganz zum Stillstand. Da es kurz vor Mitternacht war, schaltete Zach das altertümliche Radio ein, in der Hoffnung, die Nachrichten enthielten Informationen über das Ausmaß der Behinderung. Während sie im Schritttempo weiterschlichen, verkündete die Sprecherin eine Meldung zum Tod des Aaron S., eines reichen Bürgers und Kulturförderers der Stadt Liverpool. Die Polizei von Liverpool habe bekannt gegeben, dass sie vorbehaltlich letzter forensischer Untersuchungen nun ‚mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit‘ von einem Suizid ausging. Mr S. habe sich am Sonntag Abend mit einer kleinkalibrigen Waffe selbst in den Kopf geschossen und sei auf der Stelle verstorben. Als Motiv würden finanzielle Schwierigkeiten vermutet.

Zach und Maria schauten einander vielsagend an. „In den Hinterkopf, gleich zwei Mal! Schon klar!“, meinte der Detektiv.

„Von finanziellen Schwierigkeiten kann ebenfalls keine Rede sein. Mustard hat die Suche nach Mal Evans‘ Koffer mit hunderttausend Pfund vorfinanziert“, merkte die Italienerin an. „Was geht hier vor?“

„Meinst du, er könnte derjenige gewesen sein, der McCartneys Autopsiefoto mitgehen hat lassen?“

Maria schaute ihn betroffen an. „Ich halte nicht viel von Kite und traue ihm kein bisschen weiter, als ich sehen kann. Er ist ein grober und manchmal brutaler Mensch; aber… Mord? Ich weiß nicht.“

„Mangels Verwicklung in andere kriminelle Machenschaften, von denen wir nichts wissen – wer sonst sollte ein Interesse an Mustards Tod haben und in der Lage sein, die polizeilichen Ermittlungen zu beeinflussen?“

Die Italienerin rieb nervös die Hände aneinander. Sie schaute missmutig in die Rücklichter des zähfließenden Verkehrs vor ihnen. Gerade wollte sie wieder zu reden beginnen, da unterbrach der Detektiv sie mit einer schnellen Geste. Er drehte am Lautstärkeregler des Radios, das inzwischen vermehrt rauschte. Er justierte die Frequenz nach, bis er mit der Qualität der Übertragung zufrieden war, gerade rechtzeitig, dass sie die Verkehrsmeldung für die M6 hören konnten. Ein Unfall hatte beide Fahrbahnen in nördlicher Richtung blockiert. Nur der Standstreifen stand für die Weiterfahrt zur Verfügung. Fahrzeuge stauten sich bereits auf fast zehn Meilen. Verkehrsteilnehmer wurden gebeten, den Streckenabschnitt weiträumig zu umfahren.

Zach fluchte, dann riss er das Steuer herum und schoss am Fahrbahnrand an den stehenden Autos vorbei. Ein Hupkonzert folgte dem Mini. Zweihundert Yards weiter drängelte er sich an einer Ausfahrt in eine Lücke zwischen zwei anderen Verkehrsteilnehmern, die den Motorway verließen.

42) Auf sich allein gestellt

Desmond war ohne weiteren Kommentar durch die Tür nach draußen entschwunden. Sie hörte ihn die Treppe hinuntergehen. Veronica blieb sich selbst überlassen in dem Raum zurück. Das zur Decke führende Seil hielt ihre Arme nach oben ausgestreckt, so dass sie sich weder setzen noch hinlegen, sondern nur stehen oder hängen konnte. Stehfolter, dachte sie. Doch schlimmer als das Stehen empfand sie das Kribbeln in ihren Armen und Händen, gegen das sie nichts unternehmen konnte. Sie drehte sich um ihre eigene Achse, um den Raum in Augenschein zu nehmen. Der stechende Kopfschmerz hatte etwas nachgelassen und auch ihr Sehvermögen stabilisierte sich so langsam. Leider herrschte nun finstere Nacht. Ohne den Mond und ohne eine künstliche Beleuchtung in der Nähe spendete nur das Band der Milchstraße ein schwaches Licht, das die Gegenstände in ihrem Gefängnis als undeutliche Schemen, schwarz vor dunklerem Schwarz, erkennen ließ.

Es gab ein kleines quadratisches Tischchen oder Schränkchen unter dem rechten Fenster; sie sah nur die Deckplatte. Rechts daneben, in einer Ecke des Raums, zeichnete sich wegen der vermutlich weißen Laken etwas heller ein Bett ab. Unter dem anderen Fenster sah es so aus, als stünde dort ein Stuhl. Links an der einwärts führenden Wand sah sie die Umrisse des eisernen Leuchters, an dem ihr Seil befestigt war. Am anderen Ende der Wand hing ein weiterer, meinte sie zu erkennen. Es folgte die Zimmerecke, auf deren Existenz sie nur schließen konnte, denn die Innenwand lag vollständig im Schatten. Außer der mittig angebrachten Türöffnung, die sie gesehen hatte, als Desmond hindurchgegangen war, kannte sie keine Details ihrer Beschaffenheit.

Noch immer wusste sie nicht, wie spät es war. Als sie aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war, hatte sie gerade noch die letzten Augenblicke der Dämmerung erlebt. Wie lang hatte sie mit Wickens gesprochen? Es mochten fünfzehn oder zwanzig Minuten gewesen sein, plus die Zeit, die sie auf die Inspektion des Raums verwendet hatte. Sie schätzte, es musste nun halb acht Uhr sein. Sie drehte sich der Fensterseite zu. Ihr Blick wanderte hinaus zum Sternenhimmel. Die Stellung der Konstellationen über dem Horizont sagte ihr, dass ihre Schätzung gut getroffen war. Ab jetzt würde ihre innere Uhr mitlaufen, die sie zuletzt im Wallace-Schloss trainiert hatte. Das verschaffte ihr drei Annehmlichkeiten: Sie würde orientiert bleiben, sie wäre beschäftigt und es beruhigte die Nerven. Wenn sie eine Chance haben wollte, hier lebend und un… Sie schauderte, als Marias Beschreibung aus ihrer Erinnerung aufstieg, wie Kite mit Kirk umgesprungen war.

Wenn sie hier lebend herauskommen wollte, griff sie den Gedanken neu auf, musste sie voll konzentriert bleiben. Sie musste jeden noch so kleinen Vorteil mit maximaler Wirkung gegen ihre Entführer einsetzen. Einer dieser Vorteile bestand darin, dass man sie wahrscheinlich unterschätzte. Mit ihren fünf Fuß zehn war sie nicht übermäßig groß; sie war jung und hatte ein sanftes Gesicht, und sie hatte ihre Kenntnis verschiedener Kampfsportarten noch nicht in Liverpool anwenden müssen. Das Überraschungsmoment war auf ihrer Seite, aber natürlich nur ein einziges Mal. Sie würde Erfolg haben oder… Der Gedanke war müßig.


„Ist es möglich, dass der Polizist meinte, Desmond sei nur im Moment abwesend?“, fragte Maria Borghese.

Zach schüttelte energisch den Kopf. „Nein, er hat ausdrücklich gesagt, der Kommissar sei heute nicht im Dienst. Er war jedoch auf der Wache und hat diese laut Angaben des Jungspunds an der Rezeption zusammen mit Veronica verlassen. Wenn er nicht am Fall Senfkorn arbeitet, wo könnte er dann hingegangen sein?“

„Frag mich etwas Leichteres. Das einzige, das mir einfällt, ist unser Ferienhaus an der schottischen Grenze.“

„Du meinst, Kirk befindet sich dort und sie sind hingefahren? Gibt es ein Telefon im Haus?“

„Das Gebäude liegt dermaßen abseits, dass wir mehrere Kilometer Kabel aus eigener Tasche hätten bezahlen müssen. Das war es uns nicht wert, zumal man ja ein Mobiltelefon mitnehmen kann, wenn man erreichbar sein möchte. In der Regel wollten wir aber nur unsere Ruhe.“

Zach richtete sich plötzlich in seinem Sitz auf der Rückbank des Taxis auf, das sie ins Stadtzentrum trug. „Ha! Du bist ein Genie!“ Er drückte Maria einen Kuss auf die Wange.

„Ich weiß,“ sagte sie lächelnd, „ aber womit habe ich deine Lobpreisung verdient?“

„Mir hätte schon längst einfallen können, Kirk mittels Handy-Ortung aufzuspüren.“ Die restlichen Fahrminuten schwieg der Detektiv. Er rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her. Als sie endlich vor dem Laden angekommen waren, warf er eine Einhundert-Pfund-Note auf den Beifahrersitz und sprang ohne weiteres Aufhebens aus dem Wagen.

Maria bedankte sich beim Fahrer. „Behalten Sie den Rest“, sagte sie. Dann folgte sie Zach in den Laden. Als sie die Tür hinter sich schloss, war er schon nirgends mehr zu sehen.


Die Zeit verrann, ihre innere Uhr tickte mit. Veronica begann, sich Pläne für mehrere Szenarien zurechtzulegen. Als sie zufrieden war, dachte sie an ihren Vater. Er vermisste sie bestimmt schon seit der Mittagszeit. Was würde er unternommen haben, als klar war, dass sie sich wahrscheinlich in Schwierigkeiten befand? Bestimmt drehte er jeden Stein auf der Suche nach ihr um, doch ob er in der Lage war, ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort nicht nur in Erfahrung zu bringen, sondern auch rechtzeitig zu erreichen, musste sie bezweifeln. Also: keine Fehler! Sie war auf sich allein gestellt.

Die Detektivin überlegte gerade, ob sie ihren Geist und die Beine erfrischen sollte, indem sie zu schlafen versuchte, oder ob sie Hände und Arme noch etwas schonte, um sie gegebenenfalls gegen Kite einsetzen zu können. Alles hing davon ab, wie lange man sie noch in dieser quälenden Haltung stehen ließ. Ihre innere Uhr zeigte elf. Sie hörte draußen einen Käfermotor näherkommen. Das Geräusch war einfach mit nichts zu verwechseln. Das musste Kite sein. Man hatte ihr die Entscheidung abgenommen: Sie würde wach bleiben.

Das Knattern erstarb. Eine dünne Blechtür wurde zugeschlagen. Kurz darauf hörte sie den satten Ton der ins Schloss fallenden schweren Haustür. Ein kurzer unverständlicher Wortwechsel zwischen zwei Männern. Danach herrschte wieder Stille.


Der Laptop fuhr in nervenzerfetzend geringer Geschwindigkeit hoch. Kurz vor der Passworteingabe blieb er stecken. Zach fluchte und startete den Rechner neu. Maria legte eine Hand auf seinen Arm. „Vielleicht sollten wir Pauls Arbeitsrechner benutzen. Der läuft sehr viel schneller. Außerdem wird er besser gegen Schnüffelversuche abgesichert sein.“

„Ich brauche ein paar Spezialprogramme. Ohne die geht‘s nicht weiter.“ Zach presste die Lippen zusammen.

„Nimm den Laptop mit. Wir können ja parallel arbeiten“, erwiderte sie.

Maria fand tatsächlich einige nützliche Anwendungen auf Pauls Rechner, bevor es Zach gelang, den Laptop ans Laufen zu bringen. Der Detektiv hob eine Augenbraue, wunderte sich über die ungewöhnliche Ausstattung, stellte aber keine Fragen. Zu seiner Enttäuschung half ihnen das Ergebnis ihrer Recherche nicht weiter. Kirks Mobilnummer war seit einem Monat offline. Zuletzt war sie bei ihr zuhause registriert worden.


Eine halbe Stunde nach Eintreffen des Wagens hörte Veronica schwere Schritte auf der Treppe, dann auf den Holzdielen des Gangs. Vor ihrem Zimmer legte der Mann (?) eine Pause ein. Ein Schlüsselbund klackerte und klirrte, Metall schabte über das Holz der Tür. Mit einem Klicken öffnete sie sich. Licht fiel durch den schnell breiter werdenden Spalt. Es blendete sie, da ihre Augen auf die tiefe Dunkelheit des nächtlichen Raums eingestellt waren. Sie schloss die Lider gerade rechtzeitig, bevor grelle Wandlampen neben der Tür aufflammten. Die Gestalt, die sie kurz davor im Rahmen gesehen hatte, gehörte unverkennbar dem Schlossbesitzer mit seiner großen, kräftigen Figur. Sie hielt die Lider noch immer zugekniffen, als er sie ansprach.

„Welch seltenes Vögelchen hat sich da in meiner Falle gefangen? Hmhm!“, höhnte er im Tonfall eines Snobs. Als sie nicht reagierte, sagte er: „Du kannst die Augen wieder öffnen. Ich werde dich nicht fressen – jedenfalls nicht sofort.“ Wieder lachte er, doch diesmal ohne die geringste Spur von adligem Getue. Die Hyäne hatte die Oberhand gewonnen.

Vorsichtig linste Veronica aus zu schmalen Schlitzen verengten Lidern hervor. Das Licht blendete sie noch immer. Ihr Kopfschmerz flammte wieder auf, wenn auch ohne nennenswerten Biss. Gut. Zumindest würde sie sich konzentrieren können, wenn es die Situation erforderte. Hinter Kite, der sich direkt vor ihr aufgebaut hatte, sah sie Wickens im Türrahmen stehen. Ohne sich umzudrehen signalisierte der Hüne, der Polizist möge sie allein lassen. Desmond gehorchte. Die Tür fiel ins Schloss. Wie ihre Schwestern im Untergeschoss besaß auch sie keine Klinken, weder außen noch innen, bemerkte die junge Frau.

„Desmond hat mir berichtet, dass du die Kooperation verweigerst“, sagte Kite.

Veronica bemerkte die Klinge in seiner rechten Hand, einen zweischneidigen sehr kurzen Dolch. Ihr stockte der Atem. Sie hatte mit einer Pistole gerechnet und würde nun ihre Pläne buchstäblich aus dem Stand der neuen Situation anpassen müssen. Sie lachte unsicher.

„Das Lachen wird dir schon noch vergehen. Sieh, es ist nicht weiter schlimm. Im Grunde plagt mich nur die Neugier, wie weit ihr mit eurem albernen Detektivspiel gekommen seid. Ich glaube nicht, dass es euch gelungen ist, Beweise gegen mich zu sammeln. Falls doch – ich habe den guten Desmond Jones, der polizeiliche Ermittlungen stets von mir ablenkt.“ Der Dolch wanderte von der rechten in seine linke Hand, dann wieder zurück.

„Was haben Sie vor?“, fragte Veronica.

„Was ich vorhabe? Das liegt doch auf der Hand! Ich schaffe zuerst dich aus dem Weg, anschließend deinen Vater.“

„Das wird Ihnen überhaupt nichts bringen!“, rief sie. „Die gesamte ‚Familie‘ weiß bescheid. Wollen Sie die alle umbringen?“

„Das könnte ich natürlich. Es sind eh nur noch wenige übrig. PC31 habe ich als ersten erledigen lassen. Kirk hat meinen Dobermännern sehr gut geschmeckt, und gestern ist Mr Mustard zur Strafe für den Diebstahl über die Klinge gesprungen…“

Gegen den Entschluss, ihre Gefühle streng im Zaum zu halten, durchlief ein Schock Veronicas sämtliche Glieder. Ihre Lippen formten ein O. Sie wurde kreidebleich. Ohne das Seil, das sie in aufrechter Stellung hielt, hätte sie womöglich das Gleichgewicht verloren.

„…aber so weit brauche ich gar nicht zu gehen“, fuhr Kite fort. „Keine von diesen Memmen wird es wagen, einen Finger gegen mich zu erheben… Was ist? Wird dir übel? Soll ich den Onkel Doktor holen?“ Er verzog abschätzig den Mund. „Nein, den Anruf kann ich mir sparen. Bis er hier eintrifft, brauchen wir eher einen Bestatter.“ Er kicherte.

Veronica spuckte ihm ins Gesicht. Zum einen befriedigte sie damit ein tiefes Bedürfnis, zum anderen hoffte sie, ihn zu unbedachten Handlungen zu provozieren. Doch der Hüne wischte sich nur mit dem linken Ärmel den Speichel von der Wange. „Natürlich bist du sauer. Was habe ich erwartet?“ Dann setzte er wieder sein fieses Grinsen auf. „Du gefällst mir. Endlich eine, die Widerstand leistet. Ich liebe Herausforderungen.“ Seine Rechte fuhr nach vorn, dicht vor ihren Bauch, und ließ den Dolch in atemberaubender Geschwindigkeit zwischen Daumen und Zeigefinger kreiseln. Die junge Frau blieb unbewegt stehen. Sie starrte ihm feindselig in die Augen.

„Das Schicksal hat bestimmt, dass wir heute eine Neumondnacht haben;“ bemerkte Kite, „wie geschaffen für ein kleines Ritual. Hast du Lust?“

36) Revolver

„Angesichts Ihrer Erkenntnisse über den größeren Zusammenhang beschlossen Sie, dass Sie an den Kulissen der Unterhaltungsindustrie rütteln mussten. Wenn ich es recht verstehe, arbeiten Sie an einer Art Dokumentationsprojekt…“

„Nun, das ist die eine Hälfte der Unternehmung: interessierten Zeitgenossen Zugang zu authentischen Objekten zu verschaffen und eine halbwegs korrekte Geschichtsschreibung zu ermöglichen. Die andere Hälfte besteht in der juristischen Aufarbeitung. Ich sehe im Moment zwar keine Chance, ein unabhängiges Gericht zu finden, das gegen die Kontrolleure antreten würde, aber die Zeit wird kommen, und dann wollen wir vorbereitet sein.“

„Was hatten Sie sich diesbezüglich vom Familientreffen erhofft?“

„Wir dachten, wir könnten eine Gelegenheit herbeiführen, Mal Evans‘ Memoiren zu kopieren. Wir vermuten, dass seine Beschreibungen Hinweise auf weiterführende Spuren enthalten, etwa zur Frage, wie die Songs geschrieben und aufgenommen wurden oder wie Billy Shears Paul McCartney ersetzte.“

„Wer kam auf die Idee, ein minderjähriges Mädchen als Venus-Fliegenfalle zu benutzen?“

„Das Mädchen selbst. Unser Plan sah vor, Kite mit Alkohol oder Drogen auszuschalten. Kirk war der Ansicht, wir unterschätzten seine Intelligenz. Sie sollte recht behalten.“

„Wider Erwarten blieb PC31 jedoch an diesem Abend dem Treffen fern, und mit ihm das Manuskript. Weshalb machten Sie trotzdem weiter?“

„Kirk ließ sich durch nichts bremsen. Vielleicht ging es ihr mehr um den Sex als um das Beweisstück; vielleicht genoss sie den Kitzel der Gefahr; vielleicht wollte sie sich oder uns etwas beweisen. Ich weiß es nicht. Vom Augenblick ihres Eintreffens flirtete sie heftig drauf los. Ich habe ihr mehrmals signalisiert, dass sie es sein lassen soll, aber sie ignorierte mich einfach.“

„Also stieg sie schließlich mit Kite ins Bett. Was geschah dann?“

„Semolina schlich ihr hinterher. Irgendwann kehrte Sem in den Salon zurück, um uns zu holen. Sie hatte von Kirk ein Foto erhalten. Mustard, Robert und ich haben Aufnahmen gemacht. Dann gingen wir wieder hinunter, während Semolina das Foto zurückzugeben versuchte. Aber sie fand Kirk bewusstlos am Boden des Schlafzimmers liegend vor. Also hat sie mich geholt, um ihr zu helfen, sie aufs Bett zu legen.“

„Wie sah es im Schlafzimmer aus? Ist Ihnen etwas aufgefallen?“

„Völliges Durcheinander; Kleidungsstücke über den Boden verstreut. Kite lag im Tiefschlaf auf dem völlig zerwühlten Bett, Kirk daneben auf dem Boden. Sie sah übel zugerichtet aus – voller blaue Flecke, die Haare zerzaust. Wir hievten sie hoch, dann gingen wir.“

„Haben Sie das Foto irgendwo gesehen?“

„Es lag auf einem der Nachttischchen.“

„Und da lag es noch, nachdem Sie das Zimmer verlassen hatten?“

„Selbstverständlich! Wofür halten Sie mich?“

„Entschuldigen Sie, ich muss die Frage stellen. Das Bild fehlte am folgenden Tag.“

„Wie bitte?“

„Kite sagt, es sei ihm entwendet worden. Er hält es für einen Scherz, der zu weit getrieben wurde, und bat mich, Erkundigungen einzuholen. Hat er Sie nicht zu kontaktieren versucht?“

„Nein. Ich hatte auch keinen Kontakt zu den anderen.“

„Als Semolina und Sie in den Salon zurückgekehrt waren, sprachen Sie den anderen gegenüber davon, was Sie im Schlafzimmer gesehen haben?“

Rocky Raccoon überlegte. Zögernd sagte er: „Ja. Da Sie so fragen, erinnere ich mich, die Szene beschrieben zu haben.“

„Wer hat das Schloss als Letzter verlassen?“

„Ich. Gelegenheit ins Schlafzimmer zurückzugehen hätten aber alle gehabt. Der Ruf der Natur, Sie verstehen?“

„Was halten Sie für wahrscheinlicher: dass Kite lügt oder dass einer von Ihnen sich das Foto heimlich geschnappt und mitgenommen hat?“

„Ich glaube eher, dass Kite lügt, möchte jedoch grundsätzlich nichts ausschließen.“

„Wer von Ihnen, glauben Sie, käme am ehesten dafür infrage?“

„Robert oder Mustard.“

„Weshalb nicht Semolina?“

Rocky verzog den Mund. „Wenn Sie sie seit längerem kennen würden, hätten Sie sich die Frage geschenkt.“

„Was ist mit Kirk? Sie scheint gerade untergetaucht zu sein. Halten Sie es für möglich, dass sie mit dem Foto abgehauen ist?“

Der Ex-Manager zuckte die Schultern. „Sie müsste vor Kite aufgewacht und dann zu Fuß bis zur Hauptstraße zurückgegangen sein. Sie ist zierlich gebaut, daher vermute ich, die K.O.-Tropfen haben sie härter getroffen. Kite war bestimmt vor ihr wach.“

„Er dürfte über das Fehlen des Fotos wenig amüsiert gewesen sein.“

„Und sie über seine Reaktion.“


„Ich dachte, du und ich seien schon ziemlich weit in den Dschungel vorgedrungen“, bemerkte Zach, während seine Tochter, die von der Minibar aus dem Gespräch gelauscht hatte, die Backen blähte.

„Vielleicht ein bisschen zu weit, um den Überblick zu bewahren“, erwiderte sie.

„Ja. Mr Raccoon hat aus den einzelnen Bäumen einen Wald geformt.“

„Raccoon hat geholfen, aus den vielen Bäumen einen Wald zu formen. Ohne die Einsichten, die Henry und Maria mit uns geteilt haben, wäre ich sehr viel skeptischer, was den Wahrheitsgehalt des eben Gehörten angeht.“

„Es geht mir ähnlich. Was hältst du von seiner Aussage zum Familientreffen?“

„Er bestätigt, was die anderen erzählt haben. Alle einschließlich Kite halten Maria für eine ehrliche, integre Frau. Sie ihrerseits vertraut Henry und sie würde auch nicht zugelassen haben, dass Rocky das Foto einfach einsteckte. Es bleiben tatsächlich nur der Bildersammler Dr Robert und der geheimnisvolle Mr Mustard als Verdächtige übrig – vorausgesetzt, Kite behauptet den Diebstahl nicht lediglich. Miller scheint mir vertrauenswürdig. Mustard… nun, seine Geschichte werden wir heute Nachmittag hören.“


Würden sie nicht. Aaron Senfkorn, Nachfahre deutsch-jüdischer Holocaust-Überlebender, in Sammlerkreisen unter dem Pseudonym Mr Mustard bekannt, rief kurz vor ein Uhr am Nachmittag an, um das Treffen mit Zach abzusagen. Er machte einen kurzfristigen unaufschiebbaren Termin geltend, wirkte dabei jedoch über die Maßen verlegen. Zach ahnte, dass der Sammler ihm auszuweichen versuchte, denn der Vorschlag, das Gespräch am Montag nachzuholen, erntete ebenfalls Ausflüchte.

„Ich könnte auch bei Ihnen vorbeikommen, wenn Ihnen das lieber ist“, bot Zach an. „Mals Koffer enthielt eine nette Sammlung signierter Autogrammkarten, die ich Ihnen gern zeigen möchte.“

„Nein!“, plärrte es schnell aus der Hörmuschel. Dann, wesentlich sanfter, wie um dem Eindruck entgegenzuwirken, dass er etwas zu verbergen hatte, sagte Mustard: „Nein, äh, danke, das wird nicht nötig sein. Ich werde die, äh, erste Gelegenheit nutzen, Sie in der, hm, kommenden Woche aufzusuchen.“

Mustards Antwort war ein deutlich hörbares Klicken vorausgegangen, das im Grunde der Schalter eines beliebigen Geräts verursacht haben konnte. Die Haare, die sich in Zachs Nacken aufstellten, gaben konkretere Auskunft. Er konnte nicht sagen, weshalb, aber er wusste einfach, dass es sich um den Hahn eines Revolvers handelte. Der Detektiv schüttelte die Intuition als irrational ab. Er wurde langsam paranoid, schalt er sich. Zu Mustard sagte er: „Schön, kommen Sie bitte im Lauf der Woche in den Laden. Warten Sie nicht zu lang. Es gibt einige wichtige Entwicklungen zu besprechen. Und natürlich möchte ich Sie unbedingt kennenlernen.“

„Hm, ja, sicher. Leben Sie wohl.“

„Auf bald“, erwiderte Zach.


Das Krematorium Springwood war ein moderner Zweckbau mit klaren Konturen aus Glas, Stahl und Beton. Der Leichenwagen mit dem ihm folgenden Konvoi der Gäste hielt unter einem Vordach, das etwas mehr Platz bot als sein Gegenstück in Wallace Castle. Miller hatte sechs Träger bestellt, die den offenen Kiefernholzsarg aus dem Fahrzeug zogen und auf ihren Schultern in das Gebäude hineintrugen. Am anderen Ende der kleinen Halle, die sie betraten – dem Aussegnungsraum – befand sich eine Bühne, die rechts und links von roten Vorhängen flankiert wurde. Der linke Vorhang war geöffnet. Dahinter erstreckte sich ein drei auf drei Schritte messender Raum, der bis auf Brusthöhe mit einem Marmorpodest gefüllt war. Auf der Bühne stand mittig ein Rednerpult, davor ein langer niedriger Tisch, auf dem die Träger den Sarg abstellten.

Während aus den Lautsprechern leise die letzten Takte des Beatles-Stücks Long, Long, Long ausklangen, schaute Zach in die Runde. Von den anwesenden Personen kannte er nur etwa die Hälfte: seine Tochter, Miller, Maria, Mr und Mrs Wickens, Bishop und Rocky Raccoon. Fünf weitere Gesichter hatte er noch nie gesehen. Doch, einen Augenblick: Der älteren Dame mit den schulterlangen blonden Locken war er bereits einmal auf der Straße begegnet. Sie gehörte zum Laden gegenüber des Fab Stores, wenn er sich nicht irrte. Müsste er einen Tipp abgeben, waren auch die anderen Trauergäste Nachbarn aus dem Cavern-Viertel.

Der Notar betrat nun die Bühne. Er stellte sich hinter dem Rednerpult auf und blickte geduldig in den Raum. Es verging noch etwa eine Minute, bis auch der Letzte sich gesetzt und alle Gespräche eingestellt hatte. Dann begrüßte Jules Robert Miller die Anwesenden und gab mit gestelzten Worten, denen es jedoch nicht an mitfühlender Wärme fehlte, eine kurze Zusammenfassung von Pauls Leben. Bis auf das Wenige, das er in den vergangenen zwei Wochen über seinen Halbbruder in Erfahrung hatte bringen können, handelte es sich um die Biografie eines für Zach völlig fremden Menschen. Er schaute zum Sarg hinüber, dessen Rand um nur wenige Zentimeter vom Leichnam überragt wurde. Auch die Perspektive war ungünstig. Sein Blick fiel auf die Unterseite von Kinn, Nase und Augenlidern. Ob im Kiefernholzsarg tatsächlich sein Stiefbruder Paul lag – zumal um zwanzig Jahre gealtert, von einem brutalen Mord gezeichnet und vom Tod bereits verfremdet – hätte er nicht zu sagen vermocht. Zachs Gedanken schweiften zurück zu dem Paul, den er um die Jahrtausendwende gekannt hatte, und dann noch weiter zurück zu dem Kinderfreund, den er vor fast fünfzig Jahren dank der zweiten Ehe seines Vaters kennengelernt hatte. Das Ende von Millers Rede ging im Rauschen seiner Erinnerungen unter. Aus den Winkeln seiner nun von Tränen verschleierten Augen bemerkte der Detektiv eine Bewegung. Der Notar trat an den Sarg, legte dem Toten für einige Momente still die linke Hand auf die Schulter und platzierte dann eine Nelke auf dessen Brust. Dann nickte er Henry zu und setzte sich auf einen der Sitzplätze in der vorderen Reihe. Thomas Henry Bishop stand auf. Er ging zum Pult und erzählte einige fröhliche Anekdoten, die die vielen Talente des Ladenbesitzers Paulus Campbell würdigten. Anschließend nahm er eine der Nelken, die in einem Korb nahe der Bühne bereit lagen und gesellte sie der Blume bei, die der Notar auf Pauls Brust hinterlassen hatte. Die anderen Gäste taten es ihm einer nach dem anderen gleich.

Zach saß wie gelähmt auf seinem Platz. Jemand legte ihm eine Hand auf die Schulter. Zögernd drehte er den Kopf, folgte mit Blicken dem Arm nach oben, bis er ein Gesicht ausmachen konnte. Er kannte diese Züge. Er überlegte. Es war…, es war… wer? Henry schaute freundlich auf ihn herab. „Magst du ein paar Worte sprechen?“, fragte er. Der Klang seiner Stimme erschütterte Zach. Nein, wollte er nicht. Doch ohne wahrzunehmen, wie er auf die Bühne gelangt war, hielt er sich nun mit beiden Händen am Pult fest, sein Verstand gleichzeitig leer und zum Platzen gefüllt mit unzähligen Gedanken. Er öffnete den Mund. Die Augen der Trauergemeinde in den Stuhlreihen vor ihm war erwartungsvoll auf ihn gerichtet. Er sprach, ohne zu begreifen, was er da sagte. Zwei Sätze, drei vielleicht; Worte des Dankes an die Ersatzfamilie, die fremde Menschen seinem Stiefbruder in der zweiten Hälfte seines Lebens gewesen waren, würde ihm Veronica später berichten. Dann stieg er herab auf den roten Teppich, mit dem die Halle ausgelegt war, nahm im Vorbeigehen eine Nelke aus dem Korb, trat an den Sarg und starrte dem Toten lange Zeit ins Gesicht. Schließlich legte er seufzend die Blume auf die Brust seines Stiefbruders. Er wandte sich ab. Im Vorbeigehen bemerkte er die nackten Füße, die aus dem schwarzen Anzug des Verstorbenen ragten, ganz wie es Sitte auf den Inseln war. „Abbey Road“, schoss ihm ein skurriler Gedanke durch den Kopf, und: „Paul ist tot.“

‚Golden Slumbers‘ begann von der Musikanlage zu spielen. Bevor Zach in hysterisches Gelächter ausbrechen konnte, näherten sich die Sargträger mit dem Deckel. Er trat beiseite, um ihnen Platz zu machen. Nun erhoben sich auch die anderen Gäste. Als das Holzbehältnis verschlossen war, kamen sie herbei und gruppierten sich um ihn. ‚Golden Slumbers‘ wurde gefolgt von ‚Good Night‘. Die Träger bewegten den Sarg zu der Öffnung links von der Bühne, stellten ihn auf dem Granitpodest ab und traten zurück. Als die Musik verklang, schloss sich der rote Vorhang. Einige der Nachbarn bekreuzigten sich, bis auf Maria jedoch niemand aus der ‚Familie‘. Dann drehten sich die ersten um und verließen die Halle.

Zach, noch immer den Blick auf den Vorhang gerichtet, spürte, wie eine warme Hand sanft die seine ergriff. Es war Maria, die ihn traurig ansah. Er wandte sich ihr zu. Im nächsten Moment lagen sie sich in den Armen, schluchzend, zitternd, weinend.

35) Hier stehe ich, …

„Mrs Wickens, haben Sie Ihren Koffer geliefert bekommen?“, fragte Zach die Sekretärin, als sie auf dem Weg nach draußen an der Empfangstheke vorbeigingen.

„Danke, er kam gestern Nachmittag an – heil, ohne Hinzufügungen oder Weglassungen.“

„Gut. Bei diesem Teil weiß man ja nie. Es scheint Fundbüros zu mögen.“

„Von jetzt an wird er schön auf meinem Dachboden stehen bleiben. Keine Ausflüge mehr nach New York oder Melbourne.“

Veronica und Zach lachten. Sie verabschiedeten sich von der Sekretärin und wandten sich zum Gehen. Dann drehte Zach sich noch einmal um. „Ach, Mrs Wickens,“ sagte er, „haben Sie Ihrem Mann meinen Wunsch nach einem Gespräch weiterleiten können?“

„Gut, dass Sie es erwähnen. Fast hätte ich es vergessen. Er lässt ausrichten, Sie sollen Montag um acht Uhr auf der Wache vorbeischauen.“


Der GT-Motor röhrte, Veronica setzte den Blinker und lenkte den Wagen in den Feierabendverkehr. Die Ampel am Ende der Yewtree Road war auf lange Rot- und kurze Grünphasen eingestellt. Sie näherten sich ihr im Schritttempo.

„Glaubst du ihm?“, fragte Veronica.

„Misstraust du ihm noch immer?“, stellte Zach die Gegenfrage.

„Ich habe mich heute mit der Möglichkeit angefreundet, dass dein erster Eindruck der treffendere war: Miller hat Tiefgang, und deshalb schaut er gern hinter die Fassade. Er kommt mir nun nicht mehr so unheimlich vor. Seine Aussagen passen außerdem haargenau zu Marias Bericht, den ich glaubhaft fand. Und er hat die schwierigen Fragen offen beantwortet.“

„Aber?“

„Aber ich finde es schwer zu glauben, dass ausgerechnet der Fotosammler der Familie sich die Gelegenheit durch die Lappen hat gehen lassen, eines der für ihn interessantesten und wichtigsten Objekte einzupacken. Erinnere dich: Er war laut Maria derjenige, der die Bedeutung des Bildes sofort erkannt hat. Wenn die bisher befragten Personen die Wahrheit gesagt haben, bleiben nur Mr Mustard, Rocky Raccoon und Duchess of Kirkcaldy im Kreis der Verdächtigen – Leute mit völlig anderen Interessengebieten. Ich bin geneigt, das Mädchen auszuschließen, weil ihr klar gewesen sein muss, dass sie sich für Kite zur offensichtlichen Zielscheibe gemacht hätte.“ Veronica überlegte.

Die Ampel schaltete auf Grün, ließ die letzten vor ihnen verbleibenden Fahrzeuge passieren und wechselte erneut zu Rot. Zach schnaufte und verdrehte die Augen.

„Was wäre, wenn es gar keinen Diebstahl gegeben hätte?“, fragte Veronica nun. „Hältst du es für denkbar, dass Kite denselben Trick abzieht, wie beim Manuskript – offiziell gestohlen, aber längst im Campbell‘schen Tresor verstaut?“

„Brillant. Du denkst wie eine echte Mafiosa. Wir hätten damit einen plausiblen Grund, weshalb er die eigene Person von den Ermittlungen ausgenommen sehen möchte. Doch weshalb beauftragte er überhaupt einen Detektiv?“

„Erstens, das würde seine Behauptung glaubhafter erscheinen lassen. Er ruft ‚Haltet den Dieb!‘ und begibt sich damit in die Opferrolle, während sich die Blicke aller Anwesenden suchend von ihm abwenden. Zweitens könnte er mit unserer Hilfe herausbekommen, ob er tatsächlich einem Komplott auf den Leim gegangen ist, wer daran beteiligt war und was die Gruppe erreicht hat.“

Zach brummte. Grimmig starrte er die noch immer rote leuchtende Ampel an. Hinter ihnen hupte jemand so ungeduldig, wie der Detektiv sich fühlte. „Vielleicht müssen wir eine Münze einwerfen, damit das blöde Ding uns durchlässt“, grollte er.


Der Mittfünfziger saß zurückgelehnt im Sessel, ein Bein lässig über das andere geschlagen. Er hatte kurze schwarze Haare und trug T-Shirt und Bluejeans, die nur auf den ersten Blick wie gewöhnliche Straßenkleidung aussahen, in Wirklichkeit jedoch teure Designertextilien waren. Sein Verhalten gab Zach unmissverständlich zur Kenntnis, dass der Mann eine klar geschnittene Vorstellung von der Welt besaß, dass er wusste, was er wollte, dass er es gewohnt war, Anweisungen zu geben, und dass er nicht lange um den heißen Brei herumredete. Rocky Raccoon weigerte sich, seinen bürgerlichen Namen zu nennen.

„Seit meiner Jugend kenne ich nichts anderes als Musik“, sagte er. “Mein Vater war einer dieser Starproduzenten, die man anrief, wenn man garantierte Hits brauchte. Er sorgte dafür, dass ich eine solide Ausbildung als Musiker, Tontechniker und Volkswirt erhielt und benutzte seine Kontakte, um mich im Management eines der größten Labels im Land zu platzieren. Ich habe die Firma über ein Jahrzehnt geleitet, bevor ich mich mit Fünfzig zur Ruhe setzte. Das hier –“ er zeigte mit dem Daumen über die Schulter zur Tür, die in den Laden führte, „– das hier ist mein privater Feldzug, eine mir selbst gestellte Aufgabe, die ich streng getrennt von meiner beruflichen Laufbahn halte. Die beiden schließen sich gegenseitig aus.“

„Ich bin sicher, manche in der Familie sehen das anders. Ich verstehe aber inzwischen, dass das Vorhaben ihrer… Gruppe den Interessen des Establishments, speziell der Musikindustrie, vollständig zuwider läuft. Ist es das, was Sie sagen wollen?“

„Haarscharf. Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, die Masche, mit Hilfe derer die Beatles groß geworden sind, bei jeder einzelnen Kapelle zu reproduzieren, die sie –“, er zeigte nach oben, „– in den Hitparaden platzieren wollten. Qualität spielte keine Rolle; das Schicksal der Musiker spielte keine Rolle; das Wohl des Kunden spielte keine Rolle; gesellschaftliche Folgen spielten keine Rolle. Es lief für mich nicht anders als für Leute in anderen Berufen. Sobald man begreift, dass die klaffende Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit weder zufällig entstand noch auf die Unfähigkeit einzelner Akteure zurückzuführen ist, muss man seine Wahl treffen. Es ist die wichtigste Entscheidung, vor der ein Mensch je stehen wird.“

Zach nickte und fügte hinzu: „Ob man in ihrem Schmierenstück mitwirkt oder das Theater verlässt.“

Rocky Raccoon wiegte den Kopf. „Sehr plakativ gesprochen: ja. Es gibt natürlich Graustufen, aber ich möchte betonen, dass man auf beiden Seiten des Orchestergrabens aktive und passive Rollen spielen kann. Es hat mir nicht gereicht, der Theatertruppe lediglich den Rücken zu kehren. Ich kann unmöglich auf dem Reichtum ausruhen, den ich im Dienst der Maschine angehäuft habe. Da ich nun aus eigener Anschauung weiß, was ich über sie weiß, bleibt mir nur die Wahl, ihr aktiv Widerstand zu leisten.“

„Leute wie Kite belächeln Ihre Bemühungen, denn er weiß genau, mehr als neunzig Prozent aller Menschen verstehen nicht, wovon Sie überhaupt reden. Und der größte Teil aller anderen wird Ihnen sagen, dass Sie sich bloß die Finger verbrennen.“

Rocky schnaubte. „Erstens geht es für mich in erster Linie um Ethik, um Wahrhaftigkeit, nicht um Erfolg. Es ist eine Frage des Prinzips. Zweitens versuche ich keineswegs, ‚die Welt zu retten‘, sondern nur meinen Beitrag zu einer gerechten Sache zu leisten, so wie ich zuvor, als Label-Manager, meinen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Maschine geleistet habe. Keins von beidem verlangt mehr von mir, als ein Mensch fähig ist, zu tun.“

„Verstehen Sie mich nicht falsch,“ erwiderte Zach, „ich bin da ganz bei Ihnen. Es interessiert mich einfach, wie Sie die Dinge sehen. Woher beziehen Sie die Kraft, einer weltumspannenden zehntausend Jahre alten Machtpyramide die Stirn zu bieten?“

„Lassen Sie es mich noch einmal mit Martin Luthers Worten sagen: ‚Hier stehe ich; ich kann nicht anders.‘ Dass Unterhaltung Lebenszeit auffrisst – schön. Dass Unterhaltung aus der Konserve unsere Fähigkeit zu eigener Kreativität zerstört – geschenkt. Aber dass massenproduzierte Unterhaltung aus der Konserve die Menschen zunehmend von der Wirklichkeit entfremdet – den natürlichen Grundlagen unserer Existenz, dem gesunden Menschenverstand und sogar von objektiven Tatsachen –, macht mich rasend. Diese Entfremdung war zwar stets Teil unserer Kultur; nun jedoch wird sie gezielt vorangetrieben. Sie und ich gehören derselben Generation an. Schauen Sie nur, wie sehr das Niveau menschlicher Fähigkeiten in den letzten fünfzig Jahren gefallen ist, und es war zuvor schon nicht mehr besonders berauschend: Handwerk, Kunst, technisches Verständnis, Logik, Sprache, Diskussionskultur, Miteinander, Leidensfähigkeit, geistige Gesundheit – um nur ein paar der am meisten betroffenen Bereiche zu nennen – haben im Verlauf unserer Lebenszeit dermaßen abgebaut, dass von Kultur kaum noch die Rede sein kann. Elemente von Vorsatz sollten so langsam auch für jene sichtbar geworden sein, die nicht wie ich direkte Anweisung bekommen haben, meine Bedenken zurückzustellen, erprobte Praktiken über Bord zu werfen und stattdessen tumbe Frontalangriffe gegen das Unterbewusstsein der Leute zu fahren. Doch mit dem Niveau sinkt auch die Fähigkeit, den Verfall überhaupt wahrzunehmen. Ein genialer Plan, gnadenlos ausgeführt.“

„Zu welchem Zweck, glauben Sie?“, fragte Zach.

„Um mit Gewalt ein neues Zeitalter herbeizuführen, das New Age, einen großen Neustart. Aleister Crowley sprach vom Zeitalter des Horus; seine Nachfolger reden vom Zeitalter des Wassermanns, das politisch von einer Neuen Welt-Ordung eingeläutet werden soll; im Prinzip der Weltstaat. Viele fürchten den Freiheitsverlust, den er mit sich bringen wird, aber im Vergleich zu den längerfristigen Zielen der Kontrolleure ist das Kleinkram. Ihre Vordenker imaginieren den Supermann, den Übermenschen, homo deus, eine transhumane neue Herrenrasse, die sich in einem alchemischen Prozess aus dem Staub und der Asche der alten Menschheit erheben soll. Sie kennt kein Schicksal, keinen Zufall, keine höheren Kräfte – ganz zu schweigen von Gott –, sondern nur totale Kontrolle über sämtliche materiellen, sozialen und geistigen Bedingungen des Daseins. Man experimentiert mit elektronisch-biologischen Schnittstellen herum und manipuliert Gene, um auf der einen Seite eine unsterbliche hyperintelligente Superrasse zu züchten und auf der anderen Seite eine Spezies degenerierter Sklaven, die zu keinen eigenen Gedanken mehr fähig ist. Es mag weniger wortreiche Definitionen von Satanismus geben, aber soweit es mich angeht, erfüllt die Ideologie der Herrschenden jede beliebige von ihnen.“

„Ihnen ist natürlich klar, dass Ihre Ansichten, milde ausgedrückt, keinen Popularitätspreis gewinnen werden. Schon Ihr Vokabular wird viele abschrecken.“

„Wie gesagt geht es mir ums Prinzip, um meinen eigenen Erwachensprozess – darum, die Dinge zu sehen, wie sie sind, und dann der erkannten Wahrheit entsprechend zu handeln. Es ist nicht meine Aufgabe, anderen Leuten die Scheuklappen abzunehmen; das liegt in deren Verantwortung. Ich kann nur anmerken, dass jene, die bezüglich des Zustandes der Welt keinen Zorn empfinden, entweder nicht hinsehen oder sich weigern, die Konsequenzen des Gesehenen bis ganz an ihre Ende zu durchdenken. Als Spezies bezahlen wir die Bagatellisierung des Bösen schon heute. Es schmerzt auf vielfache Weise, im einundzwanzigsten Jahrhundert zu leben. Die Qualen aber, die bei fortgesetzter kollektiver Ignoranz noch auf uns zukommen, vermag sich heute niemand vorzustellen.“

„Was meinen Sie damit, dass es schmerzt?“

„Wie viele Dinge tun wir lediglich aus Angst vor negativen Folgen? Oder anders gefragt: Wie viel von dem, was zu Ihrem Alltag gehört – Steuern zahlen, zum Arbeitsplatz pendeln, Vorschriften befolgen, Formulare ausfüllen, an Protestmärschen teilnehmen und so weiter – , würden Sie selbst dann noch betreiben, wenn Sie weder Strafe noch Verlust von Privilegien befürchten müssten? Diese Furcht ist der wichtigste Hinweis, dass wir unser Gleichgewicht als Personen und als Gesellschaften verloren haben. Es geht nur noch um Schmerzvermeidung für das kleine, verletzliche Ich. Wo einst Raum für Größeres und Höheres war, klafft ein riesiges Loch. Mit unseren Ängsten alleingelassen verfallen wir in zwanghaftes Verhalten. Das reicht von kleinen Ticks wie einem Waschzwang über Konsumismus bis hin zu Drogensucht, Psychosen, Depressionen und Suizid. All das sind Schmerzvermeidungsstrategien der menschlichen Psyche.“

It‘s got to be Rock‘n‘Roll / to fill the hole in your soul“, sang Zach eine ABBA-Zeile. „Ich habe übrigens vorige Woche von einer Untersuchung gehört, die zu dem Ergebnis kam, dass fast ein Drittel aller Bürger therapiebedürftig sei. Das klang zunächst wie eine ziemlich große Hausnummer. Aber Sie haben recht, vermutlich müssen wir Zahlen jenseits der neunzig Prozent ansetzen, wenn es um kulturell verursachte psychische Störungen geht.“

Rocky Raccoon hob seine Hand in einer Geste, die Zustimmung bekundete.

„Ich danke für Ihre Offenheit. Ich finde sie… nun, erfrischend trifft es nicht ganz, aber Sie verstehen hoffentlich, was ich meine. Lassen Sie mich auf den Grund zu sprechen zu kommen, dessentwegen ich Sie eigentlich eingeladen habe: die Ereignisse auf dem letzten Treffen der Familie. Darf ich Ihnen hierzu einige Fragen stellen?“

„Tun Sie sich keinen Zwang an.“ Rocky lächelte.

34) Dr Robert

Der orangefarbene Sportwagen bog in die Yewtree Road ein. Nach wenigen hundert Metern blieb er vor dem Haus des Notars Jules R. Miller stehen. Zach und Veronica stiegen aus, gingen den kurzen, von Blumen gesäumten Weg bis zur Vordertür und betraten das Gebäude.

Mrs Wickens, die Sekretärin, begrüßte sie herzlich. „Nehmen Sie im Wartezimmer Platz. Dr Miller kommt in wenigen Minuten aus seiner Besprechung“, fügte sie hinzu.

Vater und Tochter Ziegler kannten den Weg. Sie setzten sich und betrachteten die mit ‚Donna‘ unterzeichneten Gemälde auf der gegenüberliegenden Wand. Eines zeigte Paul McCartney, an seinen dunkelgrünen DB6 gelehnt, ein weiteres porträtierte John Lennon und Yoko Ono Hand in Hand spazieren gehend, und an den Flanken hingen Bilder von George Harrison im Yogi-Sitz und Ringo Starr an seinen Trommeln. Zach stand wieder auf. Er ging hinüber, um sich die darunter angebrachten schwarz-weißen Fotos anzusehen, für die er bei den beiden anderen Besuchen keine Zeit gehabt hatte. Sie zeigten Schnappschüsse und Porträts der vier Beatles, korrespondierend zu den darüber hängenden Gemälden. Jedes Foto entstammte einem anderen Jahr, wie Zach unschwer an den länger werdenden Haaren ablesen konnte. Die Veränderungen bei George und Ringo blieben subtil. Johns Brille änderte sein Erscheinungsbild natürlich viel mehr. Im direkten Vergleich zu früheren Jahren wirkte sein Gesicht in den späten Sechzigern und danach außerdem wesentlich schmaler. Einbildung? Ein natürlicher Prozess? Oder war auch John irgendwann ersetzt worden, temporär oder… wie Paul? Zu Pauls Fotoreihe fiel dem Detektiv nur ein einziges Wort ein: sensationell. Jedes einzelne Bild war eine wirklich gut gelungene Porträtaufnahme, die den Charakter der Person voll zur Geltung brachte. Getrennt betrachtet hätte die Antwort auf die Frage, wen das jeweilige Motiv darstellte, unzweifelhaft immer ‚Paul McCartney‘ lauten müssen. Und genau das verlieh der Reihe Sprengkraft, denn keines der vier Motive zeigte den selben Mann. Unterschiede in Alter, Beleuchtung, Perspektive oder Ausdruck konnten das Auge täuschen, ohne Frage. Aber das waren hier nicht die ausschlaggebenden Faktoren. Es waren die Gesichtsformen und Erkennungsmerkmale selbst, die sich unterschieden: die Nase, die Ohren, der Mund, die Augenbrauen, die Gesichtsform.

„Faszinierend, nicht wahr?“, sagte eine Stimme hinter Zach. Sie gehörte Jules R. Miller, dem Notar, der ‚in Sammlerkreisen‘ als Dr Robert bekannt war. „Man fragt sich ständig, welcher Paul McCartney der echte ist. Haben Sie einen Favoriten? Guten Tag, übrigens.“

„Guten Tag, Dr Miller. Spielt das eine Rolle? Ich komme langsam zu der Ansicht, dass sie wahrscheinlich alle Schauspieler sind. Wenn es einen echten, einen Ur-McCartney gegeben hat, war er ja ebenfalls teilweise Musikdarsteller.“

Miller nickte. „Manches spricht dafür. Es ergibt ökonomisch einfach mehr Sinn. Der Markenname zieht die Kundschaft, nicht das Individuum. Und Hand aufs Herz: Irgendwie wissen wir alle, dass wir nur eine Scheinwelt vorgespielt bekommen, wenn wir die Stars auf der Mattscheibe oder in der Zeitung sehen. Nichts ist real. Trotzdem möchten wir nicht darauf hingewiesen werden. Zusammenstellungen wie diese“ – er deutete auf die Galerie – „suchen Sie bei den sogenannten Qualitätsmedien vergeblich. Bei aller Liebe zur Sensation beißen die Journaillisten niemals die Hand, die sie füttert.“

Mit geschlossenen Augen lebt man bequem…‘“, warf Veronica ein. „Die Beatles gaben die entscheidenden Hinweise ja selbst.“

„Korrekt. Ich glaube aber nicht, dass es lange so bleiben kann. Je mehr die Kontrolleure die Schrauben anziehen, desto unbequemer wird es für das gewöhnliche Volk – und desto mehr Leute erwachen aus ihrem Dornröschenschlaf.“

Zach setzte eine skeptische Miene auf. „Das merke ich zwar auch, speziell seit der Plandemie. Die Verstrickungen zwischen Politik, Wirtschaft, NGOs und Medien sind inzwischen selbst für Blinde sichtbar geworden. Das Problem ist nur, dass so wenige Menschen bereit sind, ihren Lebenswandel an die neuen Erkenntnisse anzupassen und damit ihren Gehaltsscheck zu riskieren.“

Der Notar zuckte die Schultern. „Das liegt nicht in unserer Hand. Im Übrigen sind es vielleicht mehr Menschen, als wir denken. Man kann es nur schwer abschätzen, weil sie aus dem System herausfallen und damit weitgehend unsichtbar werden.“

„Was liegt dann in unserer Hand?“, fragte Veronica.

„Unser eigenes Erwachen“, sprang Zach für den Notar ein. „Sich bewusst in den Prozess der Desillusionierung zu begeben und ihn aktiv voranzutreiben. Es gibt stets noch eine weitere Zwiebelschicht, hinter der sich eine tiefere Wahrheit verbirgt.“

Miller nickte. „Darum, finde ich, ist die Geschichte der Beatles ein solch geeigneter Einstieg in den Ausstieg.“

„Oder auch nicht. Wer sieht schon gern seine Idole vom Sockel gestoßen?“, widersprach die junge Detektivin.

„Wer sieht schon gern, dass die Renten nicht sicher sind? Wer sieht schon gern, wie der Grundrechtekatalog zur Verweigerung der Grundrechte missbraucht wird? Wer sieht schon gern, dass das Nachrichtenmagazin seines Vertrauens ihn jahrzehntelang in die Irre geführt hat? Wer sieht schon gern, dass Mutter Kirche von Satanisten gelenkt wird, oder dass keine Demokratie im Land herrscht, sondern nur ein weiteres Regime in einer zehntausend Jahre alten Reihe solcher Regimes?“, forderte Miller sie heraus. „Niemand sucht sich das Ereignis aus, das dazu führt, dass er aus der fabrizierten Realität herausfällt. Aber eins ist sicher: Der Schmerz missbrauchten Vertrauens und frustrierter Träume lehrt uns, künftig genauer hinzusehen.“

Zach zeigte mit einer bogenförmigen Geste in den Raum. „Haben Sie hiermit vielen Menschen die Falltür nach draußen geöffnet?“

„Wer kann das sagen? Der Impuls, den die Bilder setzen, mag erst Jahre oder Jahrzehnte später zünden. Ich kenne jedoch zahlreiche Leute in Liverpool – auch außerhalb der ‚Familie‘ –, für die Paul McCartneys Tod Fragen an unsere Gesellschaft aufgeworfen hat; Fragen, die von offiziellen Stellen entweder gar nicht oder mit offensichtlichen Lügen beantwortet werden. Vielleicht lassen sie sich noch ein paar Jahre länger irreführen, aber die Wirklichkeit hat einen Fuß bei ihnen in die Tür bekommen. Ihr Ausstieg ist nur eine Frage der Zeit.“

„Ich wünschte, ich könnte Ihre Zuversicht teilen.“ Zach schaute nachdenklich drein.

Veronica trat an dicht vor das Gemälde, auf dem der dunkelgrüne Aston Martin DB6 zu sehen war. „Diese Donna, die die Gemälde geschaffen hat, ist das zufällig die Frau, die in McCartneys Wagen saß?“

Wenn es tatsächlich einen Unfall gab und wenn McCartney diese Anhalterin dabei hatte und wenn sie Donna hieß, dann stimmt sicherlich auch der Rest der Geschichte, das heißt, sie ist damals zusammen mit ihm gestorben“, spekulierte der Notar. „Donna steht der ‚Familie‘ nahe, hält aber Abstand zu Kite. Sie sammelt nicht Altes, sie erschafft Neues. Ich mag den Kontrast zwischen den heiteren Farbgemälden, die den Mythos der Pop-Idole pflegt, und den düsteren Abbildern der Realität. Leider sehen viel zu viele nur die hübschen Farben.“

„Es braucht beides, oder?“, bemerkte Veronica.

Miller warf ihr wieder seinen scharfen, durchdringenden Blick zu, der sie die Male zuvor so sehr gestört hatte. Dann entspannte er seine Gesichtszüge, lächelte sie an und sagte: „Die Weisheit des Alters aus dem Mund der Jugend… Sie haben recht: Schön oder unschön, wir müssen sehen, was ist, statt das, was wir glauben, wünschen, befürchten, vermuten, erschließen, lesen oder hören. Die meisten Leute haben große Probleme zu verstehen, dass die Wirklichkeit realer ist, als alles, was in ihrem Kopf stattfindet.“

„Mr Miller,“ begann Zach.

Der Notar hob beide Hände abwehrend vor seine Brust. „Bitte nennen Sie mich Robert. Wir sind Mitglieder der Familie; mehr noch: Brüder und Schwestern im Geiste.“

„Okay, Robert. Nennen Sie mich gern Zach. Aber Mitglieder der Familie werden wir wohl nie werden.“

„Kite?“

„Kite.“

Jules Robert Miller seufzte. „Eines baldigen Tages wird es zum Bruch kommen. Viele von uns sind längst nicht mehr damit einverstanden, wohin das Schiff steuert.“

„Das ist uns bereits zu Ohren gekommen. Wenn ich recht verstehe, haben Sie auf der letzten Versammlung Schritte unternommen, die geeignet scheinen, einen solchen Bruch herbeizuführen. Können Sie uns etwas über den Verlauf des Abends erzählen?“

„Nun, es gibt wie gesagt eine Gruppe von Mitgliedern, die andere Vorstellungen davon pflegt, wie mit dem Sammelgut umgegangen werden sollte. Wir möchten das Material zur Dokumentation der Zeitgeschichte der Sechzigerjahre verwenden. Gegebenenfalls wird manches für Prozesse oder Tribunale relevant werden, wenn es gelingen sollte, die Kontrolleure aus dem Sattel zu heben – keine besonders wahrscheinliche Entwicklung der nahen Zukunft, aber wir wollen vorbereitet sein. Es wurde uns jedoch zunehmend offensichtlicher, dass Kite Beweismaterial für Paul McCartneys Ermordung sammelt, um es im Interesse seines Großvaters aus dem Verkehr zu ziehen. Unser Plan für den besagten Abend bestand darin, Kites Wachsamkeit zu schwächen, um Kopien von solchen Stücken anzufertigen.“

„Es ging dabei konkret um Mal Evans‘ Erinnerungen, richtig?“

„Richtig.“

„Wie gedachten Sie, ‚Kites Wachsamkeit zu schwächen‘?“

„Duchess of Kirkcaldy, eines unserer Mitglieder, erklärte sich bereit, sein Interesse auf sich zu ziehen.“

„Ist Ihnen bekannt, dass das Mädchen minderjährig ist?“, fragte Veronica.

„Sicher. Aber es war ihre eigene Idee. Sie hat auf dieser Rolle bestanden, und keiner von uns ist in einer Position, ihr Anordnungen zu erteilen.“

„Sie hätten das Vorhaben abblasen können“, sagte Zach.

„Vor wenigen Minuten haben Sie darüber geklagt, dass zu wenige Menschen bereit sind, für die Wahrheit Opfer zu bringen. Ich hege genau wie Sie meine Zweifel, ob Kirk genügend Lebenserfahrung besaß, die Folgen ihrer Entscheidung abzusehen, aber ich bewundere ihre Entschlossenheit.“

„Die nötige Erfahrung besitzt sie nach jener Nacht bestimmt. Es muss traumatisierend gewesen sein. Hat sich ihr Opfer wenigstens gelohnt?“

„Ich würde das bejahen wollen. Wir konnten ein Foto kopieren, das Paul McCartney auf dem Seziertisch zeigt.“

„Kein Richter würde eine Kopie als Beweismittel akzeptieren. Nicht einmal Ihnen als Sammler würde es genügen. Die Versuchung muss doch groß gewesen sein, das Original einzupacken und mitzunehmen.“

„Wem sagen Sie das? Ich bin ein Sammler seltener Fotografien, aber ich bin auch den anderen Sammlern in der Familie freundschaftlich verbunden. Überdies muss ich als Notar die Gesetze des Königreichs achten. Wenn wir das Bild gestohlen hätten, hätte Kirk das womöglich mit dem Leben bezahlt, und ich könnte von Glück sagen, wenn ich lediglich meine Lizenz verliere.“

„Sie haben das Originalfoto also im Schloss zurückgelassen?“

„Wir haben es nur abfotografiert. Semolina steckte es wieder in seinen Plastikumschlag und gab es Kirk zurück. Wir Männer – Mr Mustard, Rocky Raccoon und ich – haben uns anschließend in den Salon begeben, um auf das Gelingen anzustoßen. Semolina holte kurz darauf Mustard zu Hilfe, weil Kirk bewusstlos am Boden lag. Er berichtete, dass er das Foto auf einem Nachttisch in Kites Schlafzimmer gesehen habe. Kite ahnt bestimmt nicht einmal, dass…“

„Irrtum!“, unterbrach ihn der Detektiv. „Kite weiß davon, denn er sagte mir, dass man ihm das Foto entwendet hat.“

Miller sah schockiert aus.

„Halten Sie es für möglich, dass Mustard das Bild eingesteckt hat? Oder Semolina? Die beiden waren allein; die Gelegenheit war günstig.“

„Für Semolina lege ich meine Hand ins Feuer. Sie würde weder stehlen noch zulassen, dass in ihrer Gegenwart gestohlen wird.“

„Hätten Mr Mustard oder Rocky Raccoon später zurückgehen können, um das Foto zu klauen?“

Miller überlegte, dann zuckte er die Achseln. „Ich nehme es an. Ich habe das Schloss zwanzig Minuten nach Semolina verlassen, kurz nach zwei Uhr. Anschließend – wer weiß, was ihnen in ihrer Trunkenheit eingefallen sein mag.“

„Kite hat sich nicht bei Ihnen nach dem Foto erkundigt?“

„Nein. Er hat keinerlei Kontaktversuch unternommen.“

„Haben Sie seither andere Mitglieder ihrer Gruppe getroffen oder mit ihnen telefoniert? Ist über den Abend gesprochen worden?“

„Nein. Außer Molly, meine Sekretärin, habe ich niemand gesehen. Sie mokierte sich wegen Kirks Aufzug. Das war alles, was wir über jenen Abend austauschten.“

„Sie haben nicht versucht, herauszufinden, wie Kirk die Nacht überstanden hat?“, hakte Veronica nach.

„Ich wählte ihre Nummer mehrfach, aber sie nahm das Gespräch nicht an.“

„Könnte sie in Schwierigkeiten stecken?“

„Wenn es stimmt, was Sie sagen: möglicherweise in den allergrößten. Ich dachte, sie genießt noch ein wenig länger die Annehmlichkeiten auf Wallace Castle.“

„Woher kommt das Mädchen eigentlich?“

„Ich weiß es nicht. Eines Tages war sie einfach da. Ich denke zuweilen, dass sie für jemand ein Auge auf uns gerichtet hält. Aber ist das wahrscheinlich? Sie ist noch so jung…“

„Ich habe schon Pferde kotzen gesehen. Finden Sie es normal, dass man ein tiefes gemeinsames Interesse teilt und einander ‚Familie‘ nennt, aber nicht weiß, wie der andere heißt oder woher er kommt?“

„Sie haben natürlich recht. Zu Ihrem Stiefbruder Paul unterhielt ich ein ungleich intensiveres Verhältnis. Nur – wer könnte ein Interesse an uns haben?“

„Kites Familie, die sich sorgt, mit wem er sein gefährliches Wissen teilt? Ein Freimaurerorden, der Kites Aktivitäten unter Kontrolle halten will? Die Geheimdienste? Über Kite wissen wir ja auch nur das, was er uns erzählt. Er zeigte sich allerdings erstaunlich besorgt, dass ich gegen ihn ermitteln könnte.“

Miller lächelte. „Dass jemand gegen ihn vorgeht, sollen Desmond und ich verhüten. Ich darf Ihnen meiner anwaltlichen Schweigepflicht wegen natürlich keine Angaben zu seinen rechtlichen Angelegenheiten machen, aber ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass wir ein eingespieltes und erfolgreiches Team bilden.“

„Vielleicht wird es Zeit, Loyalitäten zu wechseln.“

„Vielleicht.“

„Gut, Robert. Dann sehen wir uns übermorgen, Sonntag, zur Einäscherung. Soll ich etwas mitbringen oder organisieren? Brauchen Sie Unterstützung?“, erkundigte sich Zach.

„Danke, es ist für alles gesorgt. Ich werde eine kurze Rede halten. Jeder, der möchte, darf sich anschließen und ein paar Worte verlieren. Anschließend gehen wir in eine Bar, um auf Paul anzustoßen. Zwischen elf und zwölf Uhr sind die Feierlichkeiten für den Tag beendet. Wir treffen uns am Dienstag Vormittag auf dem Toxteth Park Cemetary zur Beisetzung wieder.“

„Wie viele Leute werden voraussichtlich teilnehmen?“

„Zur Einäscherung sind nur die engsten Freunde eingeladen. Ich rechne mit zehn bis fünfzehn Personen. Die Beisetzung wurde bereits in der Zeitung annonciert. Viele kannten Paul; mal sehen, wie viele ihm die letzte Ehre erweisen werden.“

31) Fristlos gefeuert

„Gestern statteten wir Mr Kite einen Besuch ab. Wir sprachen über dies und das, unter anderem erwähnte er das letzte Familientreffen. Sie erinnern sich?“

„Aber ja“, antwortete Molly Jones. „Wir haben uns sehr gut unterhalten. Weshalb fragen Sie?“

„Mr Kite hat mich beauftragt, einige Nachforschungen bezüglich eines Gegenstandes anzustellen, der an jenem Abend verschwunden ist“, erklärte Zach. „Können Sie dazu etwas sagen? Ist Ihnen etwas aufgefallen, zum Beispiel ungewöhnliches Verhalten der einen oder anderen Person?“

„Sprechen Sie von dem Manuskript? Das hätte PC31 mitbringen müssen, aber er kam ja dann nicht. Wahrscheinlich dachte er, das Treffen sei verschoben worden.“

„Wie kommen Sie darauf, dass er das dachte? Hat er etwas Entsprechendes gesagt?“

„Ich… weiß nicht“, stotterte die Sekretärin. „Weshalb fragen Sie mich? Stehe ich unter Verdacht?“

„Nein, überhaupt nicht. Sie haben das Schloss verlassen, bevor der Gegenstand abhanden kam. Es geht übrigens um ein Foto. Wurde im Verlauf des Abends über eine solche Aufnahme geredet?“

„Nicht unter meinen Ohren.“

„Worüber wurde dann geredet? Gab es Streit? Begehrlichkeiten?“

„Im Gegenteil. Bis auf das schamlose Verhalten dieses Mädchens, Duchess of Kirkcaldy, verlief es recht harmonisch. Wir sprachen über Objekte, die wir künftig für unsere Sammlung sichern wollten, und wir tauschten Anekdoten über McCartney, Lennon und so weiter aus. Bloß dieses… Flittchen! Sie wollte die ganze Zeit nur über unanständige Dinge reden. Wie die sich schon angezogen hat! Ich hatte den Eindruck, am liebsten wäre sie gleich ganz nackt erschienen.“

„Was missfiel Ihnen an ihrem Aussehen?“

„Sie hatte sich in ein knallrotes Domina-Kostüm gezwängt, oben wie unten keinen Inch länger als unbedingt nötig. Meine Mutter hätte mir den Hintern versohlt, wenn ich in dem Alter so rumgelaufen wäre.“

„Vielleicht war sie ja darauf aus, dass einer der Männer das übernahm? Hatten Sie das Gefühl, sie war hinter einer bestimmten Person her?“

„Nein, sie hat mit allen geflirtet – unangenehm aufdringlich.“

„Sind manche der Männer darauf eingegangen?“

„Sie blieben alle höflich aber distanziert. Gottseidank.“

„Ihnen ist also nicht aufgefallen, dass sie irgendwann mit jemand verschwunden wäre – sagen wir, auf die Toilette?“

Molly Jones kratzte sich an der Wange. „Hmm, nein. Ich fände das auch gar zu lächerlich. Sie ist ja noch ein halbes Kind.“

„Wissen Sie, wie alt?“

„Nicht genau. Siebzehn? Keineswegs volljährig.“

„Woher kommt sie eigentlich? Wer hat sie in die Gruppe eingeführt, beziehungsweise wie kam der Kontakt zustande?“

„Wer sie ist, weiß keiner so genau. Henry vielleicht. Der hat sie letztes Jahr in den Laden mitgebracht. Man erzählt sich, sie sei der illegitime Spross eines Adligen und lebe von dessen großzügigen Unterhaltszahlungen.“

„Wann haben Sie das Schloss verlassen und wer war um die Zeit noch anwesend?“

„Puh, schwer zu sagen. Bis auf meinen Mann waren wir alle schon ziemlich angeheitert. Ich habe nicht auf die Uhr geachtet. Vielleicht zwischen zwölf und ein Uhr? Als feststand, dass PC31 nicht mehr vorbeikommen würde. Der Arme. Wäre er zum Treffen gegangen, könnte er noch leben.“ Sie dachte nach. „Seltsam. Da Sie nun fragen, fällt mir auf, dass nur noch wenige Familienmitglieder zugegen waren, als ich mich verabschiedete: Dr Robert, Mr Mustard, Rocky Raccoon und Henry the Horse. Henry sah ebenfalls aus, als wolle er bald aufbrechen.“

„Wo, glauben Sie, befanden sich die anderen?“

„Mr Kite hat sich eine Stunde früher zurückgezogen. Er sagte, er sei müde und gehe nach oben. Auf die anderen habe ich nicht geachtet.“

„Halten Sie es für möglich, dass er mit Semolina und Duchess ‚nach oben‘ ging?“

Molly Jones schaute ihn an, als käme ihr die Idee zum ersten Mal. Sie blieb stumm, zog jedoch eine Grimasse, die andeutete, sie wisse es nicht und wolle es auch nicht wissen.

„Eine letzte Frage: Sind Sie auf direktem Weg nach Hause gefahren oder haben Sie unterwegs irgendwo angehalten?“

„Wir sind über‘s Zentrum gefahren. Mein Mann wollte mit den Kollegen auf dem Präsidium etwas klären. Dann sind wir nach Hause gegangen.“

„Wie lang dauerte das Gespräch?“

„Etwa eine halbe Stunde. Ich bin im Auto eingeschlafen, sobald wir das Schloss verlassen hatten, und nur kurz aufgewacht, als er nahe der Wache hielt.“

„Wann sind Sie zu Hause angekommen?“

„Gegen vier Uhr. Hören Sie, das war nun die dritte ‚letzte Frage‘“, beschwerte sich Molly Jones. „Macht es Ihnen was aus, wenn wir über nettere Dinge reden?“

„Keineswegs. Entschuldigen Sie bitte meine Zudringlichkeit. Ich habe Ihnen noch gar nicht gesagt, wie sehr Sie mir in Ihrem Kleid gefallen.“

Die Sekretärin errötete und schaute zu Boden. „Dankeschön.“

„Sie hat es bei Paul gekauft“, warf Veronica ein, die das gesamte Interview hindurch still auf einem Schemel neben der kleinen Bar gesessen hatte.

„Ist das wahr? Und ich dachte, wir handeln in Musikalien.“

„Im weitesten Sinne ist das Kleid Teil der Geschichte der Beatles“, sagte Molly Jones. „Es gehörte Pattie Boyd…“

„…der ex-Freundin von George Harrison“, ergänzte Zach. „Ihnen steht es mindestens eben so gut.“

Jones errötete erneut. Von ihr unbemerkt tanzten Veronicas Augenbrauen. Zach zwinkerte seiner Tochter zu. Er sagte: „Würde es Ihnen etwas ausmachen, Ihren Mann zu informieren, dass ich gern mit ihm reden würde?“

„Donald? Er weiß bestimmt nicht mehr als ich.“

„Und wenn schon. Dann unterhalten wir uns eben bei einer Tasse Kaffee über das Sammeln oder den neuesten Ermittlungsstand zum Mord an meinem Stiefbruder. Ich kann Ihnen versichern, dass Veronicas Kaffee den im Präsidium bei weitem aus dem Feld schlägt. Möchten Sie ihn probieren?“

„Hört, hört!“, unkte seine Tochter.

„Einverstanden“, erwiderte Molly Jones.

Und so erhielt Ludwig Lederrachen eine weitere Gelegenheit, seine Künste vorzuführen, wenn auch unbezahlt.


Sehr spät am Abend klingelte das Telefon sein klassisches Metallglockengeläut, das den ganzen Tisch zum Schwingen anregte. Veronica hob den Hörer ab. „Anscchluss von Paul Campbell, Ziegler am Apparat.“

„Guten Abend, Veronica. Holen Sie mir Ihren Vater“, sagte eine hyänenhaft klingende Männerstimme.

„Wer spricht dort?“

„Sie wissen genau, wer hier spricht.“

„Ich weiß nur, dass Ihre Kinderstube zu wünschen übrig lässt. Wer spricht dort?“

„Holen Sie mir Ihren Vater an den Apparat!“, sagte die Stimme mit drohendem Unterton.

„Rufen Sie wieder an, wenn Sie Manieren gelernt haben.“ Veronica legte auf.

Zach streckte den Kopf zur Tür herein. „Wer war das?“

„Woher soll ich das wissen? Er wollte seinen Namen nicht nennen. Wahrscheinlich unser spezieller Freund der Schlossbesitzer.“

„Du hast echt Haare auf den Zähnen, dem Mann den Hörer aufzulegen. Ich bin ihm einen Anruf schuldig; erster Report.“

„Schlossbesitzer oder nicht – wenn er meint, mich herumkommandieren zu können, dann gibt‘s nur eine Antwort: Arsch lecken. Du lässt dir seine Gestapo-Manieren ja auch nicht gefallen.“

Zach verdrehte die Augen. Was erwartete er? Er hatte sie so erzogen – und er war zufrieden. Er lachte. „Dann will ich mal anrufen, um mir die Prügel abzuholen.“

„Gib bloß nicht klein bei. Für mein Verhalten stehe ich selbst ein“, sagte Veronica energisch, die Augenbrauen zusammengezogen.

Exakt in jenem Moment, als Zachs Hand über dem Hörer hing, klingelte das Telefon erneut. Er riss ihn von der Gabel und sagte barsch: „Ja!?“

„Mister Ziegler,“ sagte die Stimme am anderen Ende, „ist das Ihre Art, einen Auftrag zu erledigen?“

„Was gefällt Ihnen daran nicht?“

„Ihr Tonfall, zum Beispiel, oder dass man einfach auflegt. Was ist außerdem aus Ihrem versprochenen Tagesbericht geworden?“

„Wenn Sie einen anderen Tonfall wünschen, bekommen Sie ihn, sobald Sie anfangen, respektvoll mit Ihren Gesprächspartnern umzugehen. Ich bin keiner Ihrer Lakaien.“ Der Detektiv sprach langsam, ruhig und ziemlich leise. Vom anderen Ende hörte er kein Geräusch. Als der Anrufer Luft holte, schnitt er ihm das Wort ab: „Soweit es Ihren Auftrag betrifft: Ich war heute mit vorbereitenden Arbeiten beschäftigt, ohne die weitere Ermittlungen nur ein Stochern im Nebel darstellen – und ich habe zwei Zeugen vernommen. Es liegt in der Natur der Sache, dass deren Aussagen erst im Licht weiterer Erkenntnisse einzuordnen sind. Falls Sie in der Lage sind, die Lösung des Falls durch sachdienliche Hinweise zu beschleunigen – etwa, indem Sie die Tatsache erwähnen, dass das fehlende Objekt die ganze Nacht unbeaufsichtigt außerhalb des Safes herumlag –, wäre ich Ihnen sehr dankbar.“

„Ich sagte Ihnen, Sie sollen nicht gegen mich ermitteln!“, bellte Kites Stimme aus dem Hörer.

„Und ich sage Ihnen, dass es so nicht funktioniert. Sie lassen mich meine Arbeit auf meine bewährte Weise erledigen oder Sie suchen sich einen anderen Dummen, der Ihre eklatanten Verstöße gegen Vernunft und Anstand korrigiert.“

„Mit wem haben Sie gesprochen?“

„Das steht in meinem Abschlussbericht am kommenden Dienstag.“

„Sie sind gefeuert!“, schrie Kite ihn an.

„Wie Sie wünschen. Ich mache die Rechnung gleich fertig“, erwiderte Zach und ließ den Hörer auf die Gabel fallen. Das Geräusch und die Vibrationen, die der alte, schwere Festnetzapparat dabei erzeugte, befriedigten ihn zutiefst. Die Körperlichkeit des Vorgangs blieb nur wenig hinter dem Gefühl zurück, dem anmaßenden Anrufer tatsächlich eine schallende Ohrfeige verpasst zu haben. An dem Tag, an dem eine App erschien, die es realitätsgetreu emulieren konnte, würde er seine ablehnende Haltung gegenüber Smartphones vielleicht revidieren.

Veronica blähte die Backen und ließ die Luft langsam zwischen den Lippen entweichen. „Ich fürchte, die großen Aufträge können wir uns aus dem Kopf schlagen, ganz zu schweigen von unserer Aufnahme in die Familie.“

„Ganz recht. Daraus wäre sowieso nichts geworden, weil ich nie vorhatte, sein Schwarzgeld anzunehmen. Im Übrigen wird mir dieser seltsame Club mit seinen dehnbaren Moralvorstellungen immer suspekter. Wie hat Kite Maria und Henry bezeichnet – nicht flexibel genug?“

„Dass er uns keine Aufträge geben wird – okay. Mit unseren bescheidenen Erwartungen ans Einkommen kommen wir bestimmt auch ohne ihn blendend zurecht. Mir kann der Abstand zu dem Typ gar nicht groß genug sein. Dass wir ihn nun gegen uns aufgebracht haben, könnte dagegen das Ende des Fab Store bedeuten.“

„Und darum werde ich den Teufel tun, die Ermittlungen einzustellen. Wir brauchen etwas gegen ihn in der Hand. Was wir von Maria und Molly gehört haben, verschafft uns möglicherweise großkalibrige Munition.“

29) Die Nacht im Schloss

„Konnten Sie hören, was die beiden besprachen?“, erkundigte sich Zach.

„Nein, aber es war offensichtlich, dass Kirk ihre Rolle spielte. Sie feuerte den einen Schuss ab, den sie im Lauf hatte, ohne Garantie, dass der Plan zum Ziel führen würde. Falls Paul nicht mit dem Manuskript auftauchte, würde es keine weitere Gelegenheit geben. Ein zweites Mal würde ihre Masche nicht funktionieren.“

„Und er ist nie aufgetaucht, richtig? Stattdessen wurde er in der selben Nacht ermordet und das Manuskript verschwand.“

Maria Borghese nickte wortlos.

„Was geschah dann?“, fragte Zach.

„Eine halbe Stunde vor Mitternacht flüsterte Kite dem Mädchen etwas ins Ohr. Er verließ den Raum. Zehn Minuten später folgte sie ihm. Ich gab Mr Mustard das vereinbarte Zeichen, dass die heiße Phase des Plans nun anlief und folgte ihr. Ich signalisierte Kirk, dass ich in der Nähe war. Wir stiegen zwei Treppen nach oben, dann wandte sie sich dem rechten Schlossflügel zu und folgte dem Gang bis zu einer Tür in der Wand, an der der er endet. Dort gibt es viele Nischen, Säulen, Vasen und Skulpturen. Ich versteckte mich hinter einer Säule nahe der Tür. Sie zeigte mir den erhobenen Daumen, bevor sie eintrat. Ich musste über eine Stunde lang warten, bevor ich sie wiedersah.“

„Hat Ihnen Kirk erzählt, was sich abspielte? Oder haben Sie gehört, was in der Zeit geschah?“

„Letzteres, zu meinem Bedauern.“ Maria verdrehte die Augen. „Er hat sie ziemlich hart rangenommen. Sie gaben sich außerdem keine Mühe, leise zu sein. Ich wäre am liebsten wieder davongeschlichen, aber ich hatte ihr mein Wort gegeben. Ich fürchtete auch, ihr könnte etwas zustoßen. Es kam schon vor, dass Kite die Kontrolle verlor.“

„Inwiefern verlor er manchmal die Kontrolle?“

„Er… schlägt manchmal zu fest zu.“ Sie schaute zu Boden.

„Hat er auch in jener Nacht fest zugeschlagen?“

„Ich glaube nicht, aber er hat sie, wie gesagt, ziemlich roh behandelt. Als sie die Tür öffnete, sah sie übel zerzaust aus. Ich sah auch blaue Flecken auf Schenkeln und Schultern, aber keine im Gesicht.“

Zach schüttelte missbilligend den Kopf. „Kirk war also unbekleidet, als sie wieder herauskam. Das wird wann gewesen sein? Ein Uhr? Später?“

„Ja, sie war splitterfasernackt, schien sich dessen aber nicht bewusst zu sein. Das war kurz vor halb zwei. Sie reichte mir einen durchsichtigen Plastikumschlag. Er enthielt das Foto aus der Pathologie. Sie sagte, ich solle mich beeilen. Ich fragte sie, was mit Kite sei. Er schlafe, sagte sie. Sie habe ihm die K.O.-Tropfen verabreicht, aber er habe sie einen Schluck aus dem Glas trinken lassen und sie fühle sich unglaublich müde. Dann ging sie wieder hinein.“

„Weiter. Was taten Sie?“

„Ich versteckte den Umschlag in einer der Ziervasen. Dann ging ich zu den anderen in den Salon hinunter. Desmond, Molly und Henry hatten bereits das Haus verlassen, da sie die Hoffnung aufgegeben hatten, Paul werde noch eintreffen. Robert, Rocky und Mustard kehrten mit mir auf den Gang vor dem Schlafzimmer zurück. Ich zeigte ihnen, was Kirk ergattert hatte. ‚Das ist verdammt wenig‘, klagte Mustard. Rocky schien derselben Meinung zu sein. Robert schnauzte, sie hätten keine Ahnung und seien wohl zu betrunken, um zu erkennen, was ihnen da in die Hände gefallen sei.“

„Und dann hat Dr Robert das Bild mitgehen lassen?“, hakte Zach ein.

„Davon weiß ich nichts. Ich habe keine Ahnung wer es mitnahm, und es war auch nicht vorgesehen. Ich erfuhr erst heute von Ihnen, Signore, dass es überhaupt fehlt.“

„Kite hat keine Nachforschungen angestellt? Hat er nicht gefragt, ob Sie etwas wissen, oder Ihnen gar gedroht?“

„Nein.“

„Wenn Sie das Foto nicht stehlen wollten, was wollten Sie mit dem ganzen Spuk dann erreichen?“

„Die Männer machten Mikrofilm-Aufnahmen von Vorder- und Rückseite, anschließend gingen sie zurück nach unten. Ich steckte das Foto wieder in seinen Plastikumschlag und dann in die Vase. Ich klopfte an die Tür. Niemand antwortete. Also ging ich hinein.“

„Was fanden Sie?“

„Kite lag bäuchlings auf der Matratze, wahrscheinlich besinnungslos. Ich sah hinter dem Bett zwei Beine hervorragen, eilte hin und sah, dass Kirk zusammengebrochen war, bevor sie wieder hineinkriechen konnte. Ich warf ein Laken über sie, holte das Foto, legte es auf ihren Nachttisch. Ich wollte sichergehen, dass das erledigt war, damit Kite keinen Verdacht schöpfte. Dann holte ich Mustard, der mir half, das Mädchen aufs Bett zu heben. Anschließend gingen wir hinunter. Robert bestand darauf, dass wir den Erfolg feierten. Also tranken wir eine weiteren Sekt. Dann verabschiedete ich mich. Ich brauchte mehr als eine Stunde, bis ich wieder zuhause ankam, weil ich so langsam fuhr.“

„Wann sind Sie angekommen?“

„Genau um halb vier Uhr. Ich weiß es deshalb, weil ich beim Einparken vor meiner Wohnung aus Versehen die Hupe betätigt habe. Als ich ausstieg, rief eine Nachbarin aus einem Fenster, es sei halb vier; ob ich noch nie etwas von Nachtruhe gehört hätte?“

„Es gab also Zeugen für Ihre Rückkehr. Wann haben die Männer und das Mädchen das Schloss verlassen?“

„Ich weiß es nicht. Wir haben das Thema seither gemieden. Ich versuchte am Sonntag mehrfach, Kirk telefonisch zu erreichen. Sie ging nicht ran. Es gelang mir erst am Montag Abend. Sie klang heiser und antwortete nur lakonisch.“

„Was hat sie gesagt?“

„Es gehe ihr okay. Sie habe viel geschlafen. Sie werde vielleicht ein paar Tage nach Bath an den Strand fahren, um sich zu erholen.“

„Das war alles?“

Maria verzog den Mund. Sie kehrte ihre Handflächen nach oben und ließ sie dann wieder in ihren Schoß fallen.

„Erschien Ihnen Kirks Verhalten auffällig?“

„Ja und nein. Unter den Umständen fand ich es nachvollziehbar, dass eine Sechzehnjährige mitgenommen oder geschockt klingt. Sie war zwar keine Jungfrau mehr, vermute ich, aber ich bezweifle, dass sie schon Erfahrung mit brutalem Sex hatte.“

„Sechzehn, um Himmels Willen!“ Zach legte eine Hand an seine Stirn. Er schloss die Augen und nahm einige tiefe Atemzüge. „Wo finde ich das Mädchen?“

„Wie ich schon sagte hat sie möglicherweise das Haus verlassen. Ich konnte sie seither nicht mehr erreichen und sie hat sich nicht mehr bei mir gemeldet.“ Sie zog eine Geldbörse aus ihrer Handtasche, entnahm ihr eine Visitenkarte und reichte sie dem Detektiv. „Hier, ihre Kontaktdaten.“

Der leerte seine Tasse in einem Zug. Dass ihr Inhalt kalt geworden war, entging seinem Wachbewusstsein. Eintrainierte Reflexe verformten seine Gesichtszüge missbilligend. Er beäugte den bunt bedruckten kleinen Papierstreifen. „Hätten Sie zufällig auch ein Foto von ihr?“

Maria zeigte auf die Karte. „Die Webadresse verweist auf ihr Facebook-Profil.“


Herrlicher Sonnenschein, der durch die großen Maßwerkfenster hereinfiel, wärmte ihr angenehm den Rücken. Sie lag auf dem Bauch, zu voller Länge ausgestreckt. Das Tageslicht blendete sie, als sie die Augen öffnete. Es mochte zehn Uhr oder später sein. Etwas Schweres, von dem sie vermutete, es müsse ein quer über dem Bett liegender Kite sein, drückte auf ihr Gesäß. Sie versuchte, die Arme an sich zu ziehen, um ihren Oberkörper für einen Blick nach hinten aufzurichten – vergeblich. Ihre Hände waren am Gestell des Bettes festgebunden. Als sie daran zerrte, sagte er leise: „Guten Morgen, Prinzessin. Hast du gut geschlafen?“

Er saß rittlings auf ihrem Po, registrierte sie nun, und die Erinnerung an die gewaltsame Behandlung während der Nacht entlockte ihr ein Stöhnen. „Massierst du mir die Schultern?“, bat sie ihn, hoffend, heute umsichtiger behandelt zu werden.

Kite blieb reglos sitzen. Einen Moment später fragte er: „Wo ist es?“

Kirk verstand nicht, was er meinte. „Wo ist was?“, fragte sie zurück.

„Wo ist das Foto?“ Seine Stimme, immer noch leise, klang nun scharf.

„Auf dem Nachttisch, glaube ich“, sagte sie verschlafen.

Ein brutaler Fausthieb in die rechten Rippen trieb ihr die Luft aus de Lunge. Sie schrie laut auf. „Falsche Antwort“, erwiderte er. „Nochmal: Wo ist das Foto?“

Kirk warf den Kopf hin und her. Ihr Blick suchte das Wenige zu erfassen, das ihre Bauchlage sie sehen ließ. „Ich weiß nicht,“ hustete sie, „es müsste doch hier sein.“

Ein weiterer Faustschlag traf sie, diesmal auf der linken Seite. Sie schrie, dann wimmerte sie. „Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. Bitte nicht schlagen, bitte…“ Die nächste Faust landete auf ihrer Wirbelsäule. Sie warf den Kopf zurück, den Mund weit geöffnet, als sie nach Luft schnappte.

Seine linke Hand fuhr ihr ins Haar, zog grob daran, während seine rechte vor ihrem Gesicht auftauchte. Sie hielt einen kurzen zweischneidigen Dolch, dessen Klinge irgendwelche symbolischen Gravuren aufwies. Dann setzte er den Dolch an ihren Hals. „Was hast du getan?“, brüllte er in ohrenbetäubender Lautstärke.

Sie sagte es ihm.

28) Die junge Herzogin und ihr Märchenprinz

Durch die Erkenntnisse aus seinen Recherchen zu Fab-Store-Paul und Beatle-Paul hatte die Ernüchterung über den Zustand des Menschengeschlechts eine neue Dimension bekommen. Zach wusste nun mit Bestimmtheit, dass es das Böse gab. Disney-Comics wollten uns weismachen, das Böse sei ein hässlicher Gnom, der sich mit fiesem Grinsen die Hände rieb, wenn er jemand in die Pfanne hauen konnte. Das Böse war banaler. Es war alltäglicher. Es gedieh in unser aller Gleichgültigkeit gegenüber dem Nächsten, unserem ‚gesunden Egoismus‘, unserem Materialismus, unserem Kuschen vor Autorität. Es gab da jedoch eine Ebene des Bösen, die sich diese Neigungen zunutze machte, ja regelrecht kultivierte, eine Ebene, die davon profitierte und mit kalter Berechnung auf die Schwäche unserer Herzen und unseren Mangel an Rückgrat setzte. Diese Ebene war bevölkert von Psychopathen, Menschen, die über andere Menschen Macht suchten – und sie hatten sie gefunden. Niemand behinderte ihr Streben, vor allem nicht jene, die den Schmerzen aus dem Weg gingen oder, falls das misslungen war, sie mit Alkohol, Musik, Fernsehen, Hobbys, Arbeit, Sex, Shopping oder anderen Drogen betäubten. Den Psychopathen fehlte jede Empathie. Ihnen war das Leid der Anderen egal. Sie benutzten sie als Mittel zum Zweck. Korruption und Misswirtschaft waren noch ihre geringsten Vergehen.

„Es stimmt. Ich war ganz schön dumm“, bekannte Zach schließlich. „Ich war so dumm, die Ammenmärchen der Mainstream-Kultur zu glauben: dass die Polizei dein Freund und Helfer ist; dass wir in der Schule fürs Leben lernen; dass gewählte Regierungen unsere Interessen vertreten; dass der Markt es schon regeln wird; dass Nachrichten über wichtige Ereignisse berichten; dass Romane, Musik, Filme und Computerspiele nur Unterhaltung sind. Ich sollte langsam aufhören, mich zu wundern, warum die Probleme in unserer Gesellschaft nie gelöst werden, sondern stets größere Ausmaße annehmen.“

Maria Borghese nickte wissend. „Menschen wie Sie und ich müssen die Spannung zwischen dem Erzählten und dem Erkannten aushalten – einfach weil uns der Unterschied zwischen den beiden bewusst ist.“

„Damit zu leben finde ich manchmal ganz schön schwierig.“

„Wach zu sein macht das Leben nun mal nicht schöner, nur interessanter.“ Sie lachte trocken. „Ich weiß, Sie sind einer, der der Wahrheit zu ihrem Recht verhelfen will. Das wollen auch einige von uns. Aktiv etwas dafür zu tun steigert das Wohlgefühl ganz erheblich.“

„Glauben Sie, Sie tun genug?“

Maria schaute ihn zum ersten Mal mit zusammengezogenen Augenbrauen an. „Bin ich Gott der Allmächtige? Was eine einzelne Frau oder auch eine Gruppe von Menschen unternehmen kann, wird allein nie genug sein, die Maschine ins Taumeln zu bringen. Was zählt ist unser Leben – wer wir sind und was wir tun. Und soweit es das Tun betrifft, so tue ich, was ich kann. Den Rest besorgt eine höhere Macht.“ Nach einer kurzen Pause: „Kite sammelt Beweise für den Tod des biologischen Paul McCartney. Wenn er zum Clan von Billy Shears gehört, wie er behauptet, dann beabsichtigt er, das Material endgültig aus dem Verkehr zu ziehen.“

„Die Aufklärung des gemeinen Volks scheint kein Programmpunkt auf Kites Agenda zu sein“, sagte Zach.

„Si. Mr Mustard, Dr Robert und Rocky Raccoon haben daher vor einer Weile beschlossen, dass sie zumindest Fotos, Filme oder Kopien von den Beweisen anfertigen werden. Letzten Monat konnten sie die kleine Kirk überzeugen, ihnen zu helfen. Mehrere Tage vor der Versammlung haben sie auch mich eingeweiht. Da das Eintreffen des Koffers mit seinem brisanten Inhalt erwartet wurde, wollten sie die Gelegenheit nutzen, das Manuskript durchzufotografieren, bevor es in Kites Safe verschwindet. Sie planten, Kite entweder unter Drogen zu setzen oder für längere Zeit abzulenken.“

„Sie hätten das Ding direkt bei Paul kopieren können“, unterbrach Paul ihren Redefluss.

„Nein, wir wollten Paul nicht hineinziehen. Er war als Lieferant einfach zu wichtig, als dass wir ihn kompromittieren durften. Wie sich herausstellte, kam am Tag X sowieso alles anders.“

„Erzählen Sie mir von dem Abend. Wer war anwesend?“

„Es war ein Samstag. Ich sammelte Kirk ein und fuhr mit ihr zum Schloss. Wir kamen gegen sieben Uhr dreißig an. Bis auf Henry und Robert, die eine halbe Stunde später eintrafen, sowie PC31 – Paul – waren alle schon da.“

„Alle heißt – wer?“

„Desmond und Molly Jones, Mustard, Rocky und natürlich Kite. Kirk erzählte mir während der Fahrt, dass alles für den Coup vorbereitet war. Die Gruppe hielt es für zu riskant, Kite durch Alkohol oder Medikamente schlafen zu schicken. Die Gefahr, dass sie entdeckt wurden oder der Gastgeber das Treffen vorzeitig beendete, erschien ihnen zu hoch. Plan B sah vor, dass Kirk ihn verführte. Viel gehörte nicht dazu. Es war für alle Beteiligten nur zu offensichtlich, dass er sie haben wollte. Sie sollte unter der Bedingung einwilligen, dass sie das Manuskript genauer ansehen durfte. Dann sollte sie ihm K.O.-Tropfen in den Drink schütten, das Manuskript zum Kopieren herausreichen und es anschließend wieder in Empfang nehmen. Am Ende sollte sie die Tropfen selbst einnehmen, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen.“

„Scheißplan“, kommentierte Zach.

„Ich habe genau dasselbe Wort verwendet, aber sie ließ sich nicht davon abbringen. Da wir nur noch wenige Fahrtminuten vom Schloss entfernt waren, blieb keine Zeit, ihr die Dummheit auszureden. Ich konnte lediglich ihrer Bitte nachgeben, die Kontaktperson vor der Schlafzimmertür zu spielen.“

„So weit, so schlecht. Doch dann liefen die Ereignisse aus dem Ruder.“ Zach formulierte es mehr als Feststellung denn als Frage.


Zu fortgeschrittener Stunde befanden sich Gastgeber und Gäste in einem eben so fortgeschrittenen Stadium der Betrunkenheit. Ungeduld machte sich breit. Immer wieder schlug der eine oder die andere Feiernde vor, Kite solle PC31 anrufen, aber der Schlossherr wiegelte ab. Der Ladenbesitzer werde seine Gründe haben. Wahrscheinlich sei spät noch ein wichtiger Kontakt mit einer Quelle zustande gekommen. Er habe gehört, PC31 sei einem ganz großen Objekt dicht auf der Spur. Also warteten sie und tranken, und Kite ließ den nächsten Gang auffahren. Die Sammler begannen ihre letzten Neuerwerbungen zu präsentieren. Sie rezitierten lange, verworrene Geschichten, wie es ihnen allen Widerständen zum Trotz gelungen war, ihre Beute aufzuspüren. Die Eingeweihten jenes Teils der Familie, die den Plan geschmiedet hatten, Kite der Exklusivität seiner Sammelobjekte zu entledigen, warfen einander zunehmend häufiger nervöse Blicke zu.

Duchess of Kirkcaldy, die einen schulterfreien engen Einteiler aus rotem Leder trug, der knapp unter dem Gesäß endete, und darunter nichts als rote Stöckelschuhe, nutzte jede Gelegenheit, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Während sie den neuesten Klatsch über Stars und Sternchen der Musikszene und deren Sexpraktiken verbreitete, warf sie Mr Kite immer wieder herausfordernde Blicke zu. Der lächelte nur, sagte gar nicht viel, stellte aber von Zeit zu Zeit eine Bemerkung in den Raum, die sie wissen ließ, dass er ihr interessiert zugehört hatte. Nachdem sie das Abendessen beendet und den Speisesalon verlassen hatten, um es sich in einem gemütlich eingerichteten Raum im rückwärtigen Bereich des Schlosses auf Liegestühlen und Diwanen bequem zu machen, ging Kirk zum offenen Angriff über. Während die anderen Sammler lautstark über Yoko Ono und ihre Rolle bei der Trennung der Beatles diskutierten, setzte sie sich eng neben Mr Kite auf eine der mit dicken Kissen gepolsterten Fensterbänke.

„Du hast mir noch gar nicht zum Geburtstag gratuliert“, beschwerte sie sich beim Schlossherrn. Sie strich lasziv eine lange schwarze Locke aus ihrem Gesicht.

„Oh?“ Kites Lautäußerung klang, als habe er gerade eine interessante aber nebensächliche Information erhalten. „Wie lang bin ich überfällig?“

„Dir bleiben noch etwa zwei Stunden, das Schlimmste zu verhindern, und du weißt das ganz genau, du Schuft! Ich sollte eigentlich mit meinen Freundinnen im White Star sitzen und richtig groß feiern. Ich meine – wie oft im Leben wird man volljährig?“

„Ist das wahr? Du feierst heute deinen achtzehnten Geburtstag?“

„Von feiern kann bisher keine Rede sein. Ich sitze in einem alten Kasten, von alten Leuten umgeben – Anwesende selbstverständlich ausgenommen –, wir reden, worüber wir immer reden: die verdammten ollen Beatles, und der Mann, der mich in diese Situation genötigt hat, unternimmt nicht das Geringste, um meine Bedürfnisse zu stillen.“ Sie warf die feuerrot gefärbten Lippen zu einem Schmollmund auf.

„Also, zunächst einmal hat dich niemand gezwungen. Du bist aus freien Stücken hierher gekommen und hast dich sogar noch hübsch in Schale geworfen.“ Er musterte sie demonstrativ vom Kopf bis zu den Füßen und wieder zurück, wobei er die prominenteren Zwischenstationen längerer Blicke würdigte. „Vielleicht habe ich meine Qualitäten als Märchenprinz bisher zu wenig zur Geltung gebracht, doch ich kann dir versichern, ich bin wirklich einer, denn ich wohne schließlich in einem Märchenschloss.“ Er wies auf die Gemäuer um sie herum. „Ich verwehre mich energisch gegen die Bezeichnung ‚alter Kasten‘!“

Kirk, die mehr als einen Kopf kleiner als der Hüne war, lächelte zu ihm auf. Dann lehnte sie sich gegen seine Schulter. Kite legte einen Arm um sie. „Kein alter Kasten,“ sagte sie gnädiger gestimmt, „aber haben die Jungfrauen im Märchen nicht drei Wünsche frei?“

„Drei? Willst du mich ruinieren?“, fragte Kite in gespielter Entrüstung.

„Nun, dann eben zwei.“

„Einen. Das muss genügen.“

„Einen nur?“, fuhr Kirk entrüstet auf. „Einen, als wäre ich zum Tode verurteilt?“ Sie seufzte, legte eine Hand aufs Herz, die andere auf sein Knie, überlegte einen Moment und sagte dann: „Wenn ich morgen sterben müsste…“ Sie hielt inne.

„Ja?“

„Wenn ich morgen sterben müsste, wäre mein letzter Wunsch, Gewissheit darüber zu bekommen, ob auch ER gestorben ist. Du weißt schon: er, Paul. Bitte, lass mich das Manuskript lesen oder irgendeinen anderen Beweis sehen, was mit ihm geschehen ist.“ Duchess of Kirkcaldy schaute Kite halb flehend, halb kokettierend in die Augen.

Die Erektion, deren Entstehen sie in seinem Schritt beobachtet hatte, verlor an Offensive. Dafür bemerkte sie eine größere Härte in seiner Stimme, als er antwortete: „Kein bescheidener Wunsch; ich hoffe, du weißt, was du da verlangst.“

„Gehab dich nicht so furchtbar schottisch“ gurrte sie. „Würdest du einem Mädchen drei bescheidene Wünsche gewähren, müsste sie keinen außergewöhnlichen äußern. Ach bitte, tu mir den Gefallen.“

„Wenn du für die Erfüllung deines Wunsches sterben würdest, wozu wärst du dann noch bereit?“

„Zu allem, was du verlangst“, hauchte Kirk.

„Du wirst bekommen, wonach du verlangst“, beendete Kite das Gespräch, erhob sich und schlenderte mit seinem Sektglas zu der Gruppe schnatternder Sammler hinüber, die im Halbkreis um eine Gemälde John Lennons standen und noch immer heftig diskutierten. Während das Mädchen auf der Fensterbank sitzend zurückblieb – zitternd, ohne zu wissen, ob vor Furcht oder vor Lust – stieß der Schlossherr mit den von Alkohol benebelten Gästen auf Paul Campbell an. Die meisten vermissten ihn schmerzlich, vor allem jene, die im Geiste schon ihre Finger auf das Evans-Manuskript legten. Außer Semolina Pilchard hatte niemand die Szene auf der Fensterbank bemerkt.