47) Nachbeben

Der Notsituation geschuldet hatte Johns Mini Cooper stärker gelitten, als Zach vorhersehen konnte. Die von abrupten Brems- und Abbiegemanövern geplätteten Reifen stellten dabei noch den geringsten Schaden dar. Sie konnten leicht ersetzt werden. Größere Probleme bereitete allerdings die Ausbesserung von Steinschlagspuren am Lack und von Beulen am Unterboden. Dem ideellen Wert, der nur am berühmten Erstbesitzer des Fahrzeugs gemessen wurde, tat dies jedoch keinen Abbruch. Zach sah daher keinen Grund zur Zerknirschung, auch wenn Maria ihn noch nach Monaten mit der Sache aufzog. Sie hing an dem Kleinwagen, dessen Beschaffung so viel Mühe und Geld gekostet hatte. Er aber war nur froh, dass sie getan hatten, was sie konnten, um Veronica zurückzubekommen. Zwar trugen sie rein gar nichts dazu bei, sie heil aus den Fängen Desmonds und Kites zu befreien; das Abzeichen für diese Leistung konnte seine Tochter sich selbst an die Brust heften. Aber die Entführung hätte ein ganz anderes Ende nehmen können, und in dem Fall hätte er sich nie verzeihen können, einfach zuhause vergeblich auf sie gewartet zu haben.

Die vierzehn Stunden im Foltergefängnis – einem Versteck, an dem der Wallace-Sprössling offenbar regelmäßig seinen perversen Neigungen nachging – hatten Veronicas Vertrauen in sich selbst und die Welt schwer angeschlagen. Wochenlang hatte sie kaum ein Wort aus eigenem Antrieb gesprochen. Auf Fragen reagierte sie bloß einsilbig.

Pauls Beisetzung, die nur wenige Stunden nach ihrer Heimkehr stattfand, waren sie alle drei fern geblieben. Sie fühlten sich unendlich müde. Und auch wenn an Schlaf wegen der gerade überstandenen Aufregung nicht zu denken war: Der emotionalen Belastung auf dem Friedhof konnten sie sich unmöglich stellen. Das hatte die Trauergäste zu allerhand Vermutungen verleitet, die nur mit Mühe zerstreut werden konnten, wie ihnen Henry später berichtete.

Desmonds Verschwinden löste mehrere Nachbeben aus, die Veronicas Psyche wiederholt erschütterten. Das Telefon klingelte am Nachmittag jenes Tages, als sie in ein Bettlaken gehüllt wieder im Fab Store ankam, fast ohne Unterbrechung, bis Maria es einfach aussteckte. Molly Jones, die vergeblich versucht hatte, den Verbleib ihres Gatten Desmond in Erfahrung zu bringen, erschien daraufhin am folgenden Morgen vor der Ladentür. Sie betätigte die elektrische Glocke so lange, bis Zach ihr schließlich öffnete. Aufgeregt erfragte sie jedes Detail der Vorkommnisse vom Montag und ließ sich nur mit Mühe davon abbringen, Veronica zu sprechen zu wollen. Gegen Abend berichtete der lokale Sender über den Brand des Hauses; mindestens ein Opfer sei zu beklagen gewesen. „Zu beklagen sind wohl eher die, die diesen Mann beklagen“, brummte Zach, verzichtete mit Rücksicht auf das Befinden seiner Tochter weitere Kommentare. In den Tagen darauf veröffentlichte die Polizei Angaben zu Zahl und Identität der Toten, was der Bekanntheit der Personen wegen eine gewisse Aufregung bei der Bevölkerung erzeugte. Fragen wurden laut, was ein leitender Beamter und ein Angehöriger des Geldadels an solch abgelegenem Ort zu tun hatten. Über die Brandursache wollten die Forensiker der Feuerwehr lange Zeit keine Einschätzung abgeben. Mangels Spuren, die die Anwesenheit Dritter nahelegten, einigte man sich auf die Hypothese, unvorsichtiger Umgang mit offenen Flammen – wahrscheinlich Kerzen – habe Kommissar Wickens und den Philanthropen Campbell das Leben gekostet.

Im Zuge der Ermittlungen wurden auch Veronica und Zachary Ziegler ins Präsidium geladen; sie als letzte der Polizei bekannte Person, die Wickens lebend gesehen hatte, und er, Zach, weil er aufgefallen war, als er sich nach dem Kommissar erkundigt hatte. Die Befragung fand mehr oder weniger für die Akten statt, denn es gab keinen Anlass, eine Verwicklung in den Brand zu vermuten. Veronica behauptete, den Kommissar in einem Parkhaus abgesetzt zu haben und dann getrennter Wege gegangen zu sein. Die Erinnerung an das, was der Mann ihr angetan hatte, schürte die Wut, was ihr half, die Zeugenbefragung zu überstehen, ohne in Weinkrämpfe auszubrechen. Die Warnung ihres Vaters, was geschähe, wenn man sie mit dem Angriff auf einen Staatsdiener in Verbindung brachte, ganz zu schweigen von seiner Tötung, verbot jeden Gedanken daran, die Verletzungen und Erniedrigungen, die ihr die beiden Männer zugefügt hatten, zur Anzeige zu bringen. Soweit es die Menschheit außerhalb ihres Haushalts betraf, hatte derlei nie stattgefunden.

Offiziell gab es auch die hunderten von Leichen nicht, die auf dem Grundstück beim abgebrannten Landhaus gefunden worden waren. Die ältesten schätzte man auf dreitausend Jahre, die jüngsten waren gerade einmal seit wenigen Monaten unter der Erde, wie Maria herausfand, als sie vorsichtig ihre Beziehungen spielen ließ, um mehr über den Stand der Ermittlungen herauszubekommen. Veronica fühlte sich im Licht dieser Nachrichten in der Entscheidung bestätigt, ihr Beinahe-Schicksal als weiteres Opfer einer Ritualmord-Dynastie zu verschweigen. Dass sie in Notwehr gehandelt hatte, als sie die Männer tötete, würde sie andernfalls nicht davor bewahren, aus dem Weg geschafft zu werden. Niemand hatte ein Interesse, dass die Öffentlichkeit erfuhr, dass Satanismus kein Nischenphänomen unter Heavy-Metal-Gruppen darstellte, sondern das Glaubensbekenntnis der Wahl von Menschen mit Rang und Namen war. Am wenigsten wollte es besagte Öffentlichkeit selbst wissen.

Insofern gab es keine Dringlichkeit, die Dokumentation von – wie manche es bezeichneten – Unterhaltungsverbrechen voranzutreiben. Es würde noch lange dauern, ehe man offen über das Problem sprechen können würde. Dennoch machte sich eine gewisse Niedergeschlagenheit unter jenen Familienmitgliedern breit, die gehofft hatten, Kites Sammlung von Beweisstücken für McCartneys Tod anzapfen zu können. Die Objekte würden auf unabsehbare Zeit hinter dicken Tresortüren verschwinden.

Mit einem lachenden und einem weinenden Auge nahmen die Zieglers, Rocky, Maria und Henry das Geständnis des Notars auf, dass das Autopsiefoto sich nun doch in seinem Besitz befinde. Sie gingen also – darin bestand die gute Nachricht – nicht mit völlig leeren Händen aus dem fatal verlaufenen Unternehmen heraus, das Familientreffen für ihre Zwecke zu nutzen. Der Preis, den sie dafür bezahlten, war der weitgehende Verlust des Vertrauens in Miller, der zugab, ihre Beute im Auftrag Kites abgefangen zu haben. Obwohl der Notar nie einen Hehl aus seiner juristischen Unterstützung für den Billy-Shears-Nachkommen gemacht hatte, sorgte die Preisgabe dieses Details für große Enttäuschung. Alle waren sich einig, dass die veränderte Lage neue Konzepte erforderte, wie das Projekt vorangetrieben werden sollte.

40) Gefesselt

Hecken und niedrige Natursteinmauern behinderten die Sicht. Der Weg führte mehrere Kilometer lang einspurig über holprige Traktorpfade. Im tief liegenden GT war von der Landschaft wenig zu sehen. Er rollte wegen seiner zu geringen Bodenfreiheit außerdem lediglich in Fahrradgeschwindigkeit seinem Ziel entgegen. Wer hier draußen lebte, sollte besser in keine Situation geraten, die schnelle Hilfe von außen erforderte, dachte Veronica. Bis Krankenwagen, Polizei oder Feuerwehr einträfen, hätte sich das Problem von selbst erledigt, wenn auch nicht notwendigerweise zum Guten. Doch schließlich deutete Desmond auf eine Öffnung in dem Wall, dem sie seit einigen Minuten schon gefolgt waren. Sie bog ab, und da war es: das Ferienhaus der ‚Familie‘.

Seine Form lies auf ein historisches Bauernhaus schließen, dessen Erbauer wohlhabend gewesen sein mussten, denn es besaß sowohl einen großzügigen Grundriss als auch ein zweites Stockwerk. Es war gut in Schuss gehalten worden; der Dachstuhl hing nicht durch, die Schindeln glänzten im Sonnenlicht, die Wände standen gerade und waren sauber verputzt. Doch das Gebäude sah verlassen aus. Die Holzläden an den Fenstern des Erdgeschosses waren sämtlich geschlossen. Keine Wäsche hing zum Trocknen auf der Leine, kein Fahrzeug stand im Hof.

Das Gefühl von weiträumiger Einsamkeit war mit Händen zu greifen. Wenn man ein bisschen Abstand zur Zivilisation brauchte, konnte dieser Ort Balsam für die geschundene Seele bieten. Doch sie suchten ja nicht das Alleinsein, sondern eine junge Menschin, die seit einem Monat aus Liverpool verschwunden war. Wenn sie sich hier draußen befand, verheimlichte sie ihre Anwesenheit sogar vor jenen, die sich zufällig in diese gottverlassene Gegend verirrten. Und wer an einem ohnehin versteckt liegenden Ort seine Spuren verwischte, hatte Grund zur Furcht. Veronica spürte Kribbeln im Bauch, das Kitzeln einer Intuition, die wenig Gutes verhieß. Es gelang ihr auf den wenigen Metern, die der GT brauchte, um auszurollen und stehen zu bleiben, jedoch nicht, eine Ursache dafür zu ergründen. Sie stellte den Motor ab.

Sie öffneten die Fahrzeugtüren nicht sofort aus, sondern blieben einen Augenblick sitzen. und lauschten den Geräuschen, die durch die heruntergekurbelten Seitenfenster hereindrangen. Abgesehen vom Knacken des Motors, der abzukühlen begann, hörten sie lediglich einige Singvögel und das Säuseln eines leichten Windes. Ihre Augen suchten die Hausfront und die nähere Umgebung ab, doch an dem Eindruck von Verlassenheit änderte sich nichts. Veronica sah Desmond fragend an. Er schaute zurück, dann deutete er durch eine Kopfbewegung an, sie sollten zur Haustür gehen. Also stiegen sie aus. Veronica zog das halblange schwarze Kleid glatt, das vom Sitzen zerknittert war.

Langsam näherten sie sich der Eingangstür, die die Längsseite mittig in zwei gleich große Hälften teilte. Dem wuchtigen Rahmen und der groben Machart der Tür nach zu urteilen musste sie dem Ansturm eines Rammbocks standhalten können. Der Polizist griff in eine der Taschen seiner ärmellosen Strickjacke. Ein Sicherheitsschlüssel kam zum Vorschein. Er steckte ihn ins Schloss und drehte zwei Mal. Ein leises Klickern verkündete, dass der Mechanismus den Weg freigeben würde. Das Türblatt gab dem Druck der Schultern des Mannes sofort nach. Es schwang ohne Geräusch nach innen und zeigte sich im Profil genau so kräftig, wie Veronica vermutet hatte. Desmond trat ein; die Detektivin folgte ihm dichtauf. Er schloss die Tür sofort wieder. Sie rastete mit sattem Ton ein.

Sie befanden sich in einem Gang, der, wie es für sie aussah, durch das ganze Haus bis zur rückwärtigen Außenmauer verlief, wo eine weitere massive Tür wieder nach draußen führte. Rechts und links gingen je zwei Türen ab. Zwischen ihnen sah Veronica auf der linken Seite eine Treppe nach oben und direkt gegenüber eine eben solche nach unten führen. Eine dünne Staubschicht bedeckte den Boden. Nichts wies darauf hin, dass das Haus derzeit eine Bewohnerin hatte. Sie wollte sich eben zu Desmond umdrehen, um ihn zu fragen, weshalb keine der Türen eine Klinke besaß, da traf sie ein harter Schlag an der linken Schläfe. Sie rollte die Augen nach oben und fiel bewusstlos zu Boden.


Gegen halb zwei verließen Henry und Maria den Laden. Beide umarmten Zach noch einmal und sprachen ihm Mut zu. Der Detektiv brütete weitere zwanzig Minuten über der Geschichte von Mustards Tod, bevor ihm einfiel, dass Veronica aufs Polizeirevier gefahren war. Sie sollte eigentlich längst zurückgekehrt sein. Da er es nicht länger allein aushielt, schnappte er eine Jacke und ging zu Fuß zur Wache. So würde er nebenbei vielleicht Gelegenheit erhalten, ein paar Worte mit Wickens zu wechseln, der ihm, wenn er darüber sprechen durfte, bestimmt mehr über Mustards Tod erzählen konnte als das Lokalradio. Doch an der Rezeption teilte ihm ein junger Polizist mit, dass der Kommissar und Veronica bereits am frühen Morgen das Haus mit unbekanntem Ziel verlassen hatten. Über den Stand der Ermittlungen zum Selbstmord des reichen Sammlers dürfe er nichts sagen. Es werde aber nach Rückkehr des Kommissars eine offizielle Verlautbarung geben.

„Sagten Sie ‚Selbstmord‘?“ fragte Zach verdutzt.

„Tut mir leid, ich darf Ihnen wirklich keine weiteren Auskünfte erteilen.“

Zach schaute den jungen Uniformierten zweifelnd an, dann machte er kehrt, um nach Hause zurück zu gehen. Ein Gefühl der Beklemmung nistete sich in seinem Geist ein. Wo befanden sich Wickens und Veronica? Redeten sie noch immer miteinander? Er glaubte eher, dass sie schon getrennter Wege gingen. Wickens mochte sich zwecks Ermittlungen am Tatort befinden; Veronica wollte ein paar Besorgungen erledigen. Sie bummelt womöglich gerade durch die Innenstadt und konnte jederzeit wieder im Laden eintreffen. Er beschleunigte seine Schritte. Doch als er den Fab Store in den Rainford Gardens betrat, fand er das Gebäude verlassen vor. Zach beschloss, noch ein wenig zu warten. Er setzte zwei Tassen Kaffee auf, die er, als die Brühe durchgezogen war, umgehend hinunterstürzte. Er ging zum Telefon neben der Registrierkasse, nahm den Hörer ab und rief Molly Jones, Wickens‘ Frau, an ihrem Arbeitsplatz bei Notar Miller an.

„Mrs Wickens, guten Tag. Hier spricht Zachary Ziegler.“

Good day, Mr Ziegler“, flötete die Sekretärin. „Was können wir für Sie tun?“

„Mrs Wickens, entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich suche nach Ihrem Mann. Auf der Wache teile man mir mit, er habe das Gebäude in der Frühe verlassen. Wissen Sie zufällig, wohin er gegangen ist?“

„Nein, da kann ich Ihnen leider nicht helfen. Er sagt mir selten, was er tagsüber unternimmt. Das bringt sein Beruf so mit sich, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sie hatten doch einen Termin mit ihm. Ist er nicht erschienen?“

„Eine andere Verpflichtung kam mir dazwischen. Veronica ging an meiner statt zum Gespräch. Seither sind die beiden verschwunden.“

„Ach, die werden schon wieder auftauchen. Machen Sie sich keine Sorgen“, erwiderte die Sekretärin gut gelaunt.

„Wahrscheinlich haben Sie recht“, erwiderte Zach. „Haben Sie übrigens heute die Lokalnachrichten gehört?“

„Dazu hatte ich keine Zeit. Es war viel Betrieb bei uns. Wie hoch hat der FC Liverpool gewonnen?“

„Keine Ahnung. Ich meinte die Meldung über Mr Mustard.“

„Mustard? Hält er wieder peinliche Reden über Corbyns angeblichen Antisemitismus?“

„Kaum. Er wurde gestern Nacht erschossen.“

„Erschossen?“, quiekste es aus dem Schellack-Hörer.

Zach nickte. Dann fiel ihm ein, dass sie es nicht sehen konnte. Er sagte: „Ja. Es kam kurz nach zehn Uhr im Radio. Wissen Sie, ob er sich Feinde gemacht hat?“

„Zeigen Sie mir einen Juden, der keine Feinde hat. Aber gleich erschießen? Wer macht den so etwas?“

„Wir werden es früh genug erfahren, hoffe ich. Schalten Sie das Radio ein. Die Polizei will bald eine Stellungnahme abgeben.“

„Mache ich. Mr Ziegler, ich muss nun leider das Gespräch beenden. Soeben sind Kunden eingetreten. Richten Sie Veronica Grüße von mir aus, wenn sie zurückkehrt. Auf Wiedersehen!“

„Auf Wiedersehen, Mrs Wickens.“ Er legte auf.

Zach knirschte mit den Zähnen. „Verdammt!“, knurrte er. Seine beiden aussichtsreichsten Versuche, etwas über Veronicas Verbleib und den Mustard-Fall herauszufinden, waren ohne Ergebnis geblieben. Was nun?


Ein stechender Schmerz in ihrem Kopf war das erste, was sie bei der Wiederkehr ihres Bewusstseins begrüßte. Ihre Augenlider fühlten sich geschwollen an, daher entschied sie, dass sie diese erst einmal geschlossen halten würde. Sie prüfte den Zustand ihres Körpers, indem sie ihre Aufmerksamkeit von der pochenden Schläfe abwandte und langsam der Wirbelsäule entlang nach unten schickte. Sie lag auf der Seite, unter ihr eine Strohmatte. Gesicht und Hals meldeten keine Probleme. Die rechte Schulter fühlte sich an, als habe sie einen Boxhieb erhalten, schien abgesehen davon jedoch okay zu sein. Als ihr geistiges Auge bei den Handgelenken ankam, bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Sie… war gefesselt! Ein Alarmsignal raste durch die Arme ins Gehirn. Die junge Frau erwachte schockartig aus ihrer Benommenheit. Sie riss die Lider auf und betrachtete ihre Hände, die durch einen kräftigen Lederstreifen in Gebetsstellung zusammengebunden waren. Ein dort angeknoteter Kälberstrick wand sich von ihr fort über den Boden, um in etwa einem Meter Entfernung wie eine Kobra in die Höhe zu steigen. Mehr konnte sie aus ihrer Position nicht erkennen.

Es herrschte schummriges Zwielicht in dem Raum, dessen holzvertäfelten Wände nur wenige Meter entfernt aufragten. Wie spät mochte es sein? Veronica versuchte die Lichtquelle auszumachen. Langsam drehte sie sich auf den Rücken. Sie stöhnte laut. Ihr Kopf drohte zu explodieren. Als der sternenbesetzte Himmel vor ihren Augen sich wieder auflöste, folgte ihr Blick dem Seil nach oben. Was war das? Sie sah, dass es um mehrere Rollen geschlungen war, die an einem Haken von der Balkendecke herabhingen. Jenseits davon fiel es wieder dem Boden entgegen. Die Auflösung des Bildrätsels lag gefühlt in Griffweite, aber verborgen durch einen Nebel aus Kopfschmerzen und Desorientiertheit.

Die Lichtquelle! Sie hatte doch herausfinden wollen, woher das Licht kam, in der Hoffnung, die Tageszeit abschätzen zu können. Unter Vermeidung jeglicher anderer Bewegungen lies sie langsam den Blick kreisen. Es gab zwei Fenster auf der einen Seite des Raums. Die Dämmerung war schon weit fortgeschritten, doch die Reste von Tageslicht am schwarzblauen Himmel und tauchten alles in geisterhaftes Grau. Dann hatte sie also den ganzen Tag bewusstlos dagelegen… „Desmond!“, war ihr nächster Gedanke. Er hatte sie in diese Einöde gelockt und dann niedergeschlagen. Warum? Wollte er sie umbringen, weil sie ihm auf die Spur gekommen war? Panik flammte auf und ließ sogleich wieder nach. Das hätte er längst erledigen können. Er wollte etwas von ihr, brauchte sie noch für etwas, das zu ergründen im Moment zu viel Geisteskraft von ihr erfordert hätte. Sie ließ den Gedanken fahren und wandte sich erneut dem Problem ihrer gefesselten Hände zu. Als sie diese vor ihr Gesicht hob, bemerkte sie dahinter eine Gestalt an der Stelle, wo das Seil von den mysteriösen Rollen bis zum Boden hing. Ihre Umrisse glichen jenen des Polizisten.

Bis jetzt hatte er reglos außerhalb des Gesichtskreises der jungen Frau gestanden und still beobachtet, wie sie langsam wieder zu Bewusstsein gelangte. Als deutlich wurde, dass sie ihn bemerkt hatte, erhob er seine Stimme.„Ah, Miss Schlaumeier ist aufgewacht. Ich habe mich schon gesorgt, dass der Schlag ein wenig zu hart gewesen sein könnte“, sagte er höhnisch.

35) Hier stehe ich, …

„Mrs Wickens, haben Sie Ihren Koffer geliefert bekommen?“, fragte Zach die Sekretärin, als sie auf dem Weg nach draußen an der Empfangstheke vorbeigingen.

„Danke, er kam gestern Nachmittag an – heil, ohne Hinzufügungen oder Weglassungen.“

„Gut. Bei diesem Teil weiß man ja nie. Es scheint Fundbüros zu mögen.“

„Von jetzt an wird er schön auf meinem Dachboden stehen bleiben. Keine Ausflüge mehr nach New York oder Melbourne.“

Veronica und Zach lachten. Sie verabschiedeten sich von der Sekretärin und wandten sich zum Gehen. Dann drehte Zach sich noch einmal um. „Ach, Mrs Wickens,“ sagte er, „haben Sie Ihrem Mann meinen Wunsch nach einem Gespräch weiterleiten können?“

„Gut, dass Sie es erwähnen. Fast hätte ich es vergessen. Er lässt ausrichten, Sie sollen Montag um acht Uhr auf der Wache vorbeischauen.“


Der GT-Motor röhrte, Veronica setzte den Blinker und lenkte den Wagen in den Feierabendverkehr. Die Ampel am Ende der Yewtree Road war auf lange Rot- und kurze Grünphasen eingestellt. Sie näherten sich ihr im Schritttempo.

„Glaubst du ihm?“, fragte Veronica.

„Misstraust du ihm noch immer?“, stellte Zach die Gegenfrage.

„Ich habe mich heute mit der Möglichkeit angefreundet, dass dein erster Eindruck der treffendere war: Miller hat Tiefgang, und deshalb schaut er gern hinter die Fassade. Er kommt mir nun nicht mehr so unheimlich vor. Seine Aussagen passen außerdem haargenau zu Marias Bericht, den ich glaubhaft fand. Und er hat die schwierigen Fragen offen beantwortet.“

„Aber?“

„Aber ich finde es schwer zu glauben, dass ausgerechnet der Fotosammler der Familie sich die Gelegenheit durch die Lappen hat gehen lassen, eines der für ihn interessantesten und wichtigsten Objekte einzupacken. Erinnere dich: Er war laut Maria derjenige, der die Bedeutung des Bildes sofort erkannt hat. Wenn die bisher befragten Personen die Wahrheit gesagt haben, bleiben nur Mr Mustard, Rocky Raccoon und Duchess of Kirkcaldy im Kreis der Verdächtigen – Leute mit völlig anderen Interessengebieten. Ich bin geneigt, das Mädchen auszuschließen, weil ihr klar gewesen sein muss, dass sie sich für Kite zur offensichtlichen Zielscheibe gemacht hätte.“ Veronica überlegte.

Die Ampel schaltete auf Grün, ließ die letzten vor ihnen verbleibenden Fahrzeuge passieren und wechselte erneut zu Rot. Zach schnaufte und verdrehte die Augen.

„Was wäre, wenn es gar keinen Diebstahl gegeben hätte?“, fragte Veronica nun. „Hältst du es für denkbar, dass Kite denselben Trick abzieht, wie beim Manuskript – offiziell gestohlen, aber längst im Campbell‘schen Tresor verstaut?“

„Brillant. Du denkst wie eine echte Mafiosa. Wir hätten damit einen plausiblen Grund, weshalb er die eigene Person von den Ermittlungen ausgenommen sehen möchte. Doch weshalb beauftragte er überhaupt einen Detektiv?“

„Erstens, das würde seine Behauptung glaubhafter erscheinen lassen. Er ruft ‚Haltet den Dieb!‘ und begibt sich damit in die Opferrolle, während sich die Blicke aller Anwesenden suchend von ihm abwenden. Zweitens könnte er mit unserer Hilfe herausbekommen, ob er tatsächlich einem Komplott auf den Leim gegangen ist, wer daran beteiligt war und was die Gruppe erreicht hat.“

Zach brummte. Grimmig starrte er die noch immer rote leuchtende Ampel an. Hinter ihnen hupte jemand so ungeduldig, wie der Detektiv sich fühlte. „Vielleicht müssen wir eine Münze einwerfen, damit das blöde Ding uns durchlässt“, grollte er.


Der Mittfünfziger saß zurückgelehnt im Sessel, ein Bein lässig über das andere geschlagen. Er hatte kurze schwarze Haare und trug T-Shirt und Bluejeans, die nur auf den ersten Blick wie gewöhnliche Straßenkleidung aussahen, in Wirklichkeit jedoch teure Designertextilien waren. Sein Verhalten gab Zach unmissverständlich zur Kenntnis, dass der Mann eine klar geschnittene Vorstellung von der Welt besaß, dass er wusste, was er wollte, dass er es gewohnt war, Anweisungen zu geben, und dass er nicht lange um den heißen Brei herumredete. Rocky Raccoon weigerte sich, seinen bürgerlichen Namen zu nennen.

„Seit meiner Jugend kenne ich nichts anderes als Musik“, sagte er. “Mein Vater war einer dieser Starproduzenten, die man anrief, wenn man garantierte Hits brauchte. Er sorgte dafür, dass ich eine solide Ausbildung als Musiker, Tontechniker und Volkswirt erhielt und benutzte seine Kontakte, um mich im Management eines der größten Labels im Land zu platzieren. Ich habe die Firma über ein Jahrzehnt geleitet, bevor ich mich mit Fünfzig zur Ruhe setzte. Das hier –“ er zeigte mit dem Daumen über die Schulter zur Tür, die in den Laden führte, „– das hier ist mein privater Feldzug, eine mir selbst gestellte Aufgabe, die ich streng getrennt von meiner beruflichen Laufbahn halte. Die beiden schließen sich gegenseitig aus.“

„Ich bin sicher, manche in der Familie sehen das anders. Ich verstehe aber inzwischen, dass das Vorhaben ihrer… Gruppe den Interessen des Establishments, speziell der Musikindustrie, vollständig zuwider läuft. Ist es das, was Sie sagen wollen?“

„Haarscharf. Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, die Masche, mit Hilfe derer die Beatles groß geworden sind, bei jeder einzelnen Kapelle zu reproduzieren, die sie –“, er zeigte nach oben, „– in den Hitparaden platzieren wollten. Qualität spielte keine Rolle; das Schicksal der Musiker spielte keine Rolle; das Wohl des Kunden spielte keine Rolle; gesellschaftliche Folgen spielten keine Rolle. Es lief für mich nicht anders als für Leute in anderen Berufen. Sobald man begreift, dass die klaffende Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit weder zufällig entstand noch auf die Unfähigkeit einzelner Akteure zurückzuführen ist, muss man seine Wahl treffen. Es ist die wichtigste Entscheidung, vor der ein Mensch je stehen wird.“

Zach nickte und fügte hinzu: „Ob man in ihrem Schmierenstück mitwirkt oder das Theater verlässt.“

Rocky Raccoon wiegte den Kopf. „Sehr plakativ gesprochen: ja. Es gibt natürlich Graustufen, aber ich möchte betonen, dass man auf beiden Seiten des Orchestergrabens aktive und passive Rollen spielen kann. Es hat mir nicht gereicht, der Theatertruppe lediglich den Rücken zu kehren. Ich kann unmöglich auf dem Reichtum ausruhen, den ich im Dienst der Maschine angehäuft habe. Da ich nun aus eigener Anschauung weiß, was ich über sie weiß, bleibt mir nur die Wahl, ihr aktiv Widerstand zu leisten.“

„Leute wie Kite belächeln Ihre Bemühungen, denn er weiß genau, mehr als neunzig Prozent aller Menschen verstehen nicht, wovon Sie überhaupt reden. Und der größte Teil aller anderen wird Ihnen sagen, dass Sie sich bloß die Finger verbrennen.“

Rocky schnaubte. „Erstens geht es für mich in erster Linie um Ethik, um Wahrhaftigkeit, nicht um Erfolg. Es ist eine Frage des Prinzips. Zweitens versuche ich keineswegs, ‚die Welt zu retten‘, sondern nur meinen Beitrag zu einer gerechten Sache zu leisten, so wie ich zuvor, als Label-Manager, meinen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Maschine geleistet habe. Keins von beidem verlangt mehr von mir, als ein Mensch fähig ist, zu tun.“

„Verstehen Sie mich nicht falsch,“ erwiderte Zach, „ich bin da ganz bei Ihnen. Es interessiert mich einfach, wie Sie die Dinge sehen. Woher beziehen Sie die Kraft, einer weltumspannenden zehntausend Jahre alten Machtpyramide die Stirn zu bieten?“

„Lassen Sie es mich noch einmal mit Martin Luthers Worten sagen: ‚Hier stehe ich; ich kann nicht anders.‘ Dass Unterhaltung Lebenszeit auffrisst – schön. Dass Unterhaltung aus der Konserve unsere Fähigkeit zu eigener Kreativität zerstört – geschenkt. Aber dass massenproduzierte Unterhaltung aus der Konserve die Menschen zunehmend von der Wirklichkeit entfremdet – den natürlichen Grundlagen unserer Existenz, dem gesunden Menschenverstand und sogar von objektiven Tatsachen –, macht mich rasend. Diese Entfremdung war zwar stets Teil unserer Kultur; nun jedoch wird sie gezielt vorangetrieben. Sie und ich gehören derselben Generation an. Schauen Sie nur, wie sehr das Niveau menschlicher Fähigkeiten in den letzten fünfzig Jahren gefallen ist, und es war zuvor schon nicht mehr besonders berauschend: Handwerk, Kunst, technisches Verständnis, Logik, Sprache, Diskussionskultur, Miteinander, Leidensfähigkeit, geistige Gesundheit – um nur ein paar der am meisten betroffenen Bereiche zu nennen – haben im Verlauf unserer Lebenszeit dermaßen abgebaut, dass von Kultur kaum noch die Rede sein kann. Elemente von Vorsatz sollten so langsam auch für jene sichtbar geworden sein, die nicht wie ich direkte Anweisung bekommen haben, meine Bedenken zurückzustellen, erprobte Praktiken über Bord zu werfen und stattdessen tumbe Frontalangriffe gegen das Unterbewusstsein der Leute zu fahren. Doch mit dem Niveau sinkt auch die Fähigkeit, den Verfall überhaupt wahrzunehmen. Ein genialer Plan, gnadenlos ausgeführt.“

„Zu welchem Zweck, glauben Sie?“, fragte Zach.

„Um mit Gewalt ein neues Zeitalter herbeizuführen, das New Age, einen großen Neustart. Aleister Crowley sprach vom Zeitalter des Horus; seine Nachfolger reden vom Zeitalter des Wassermanns, das politisch von einer Neuen Welt-Ordung eingeläutet werden soll; im Prinzip der Weltstaat. Viele fürchten den Freiheitsverlust, den er mit sich bringen wird, aber im Vergleich zu den längerfristigen Zielen der Kontrolleure ist das Kleinkram. Ihre Vordenker imaginieren den Supermann, den Übermenschen, homo deus, eine transhumane neue Herrenrasse, die sich in einem alchemischen Prozess aus dem Staub und der Asche der alten Menschheit erheben soll. Sie kennt kein Schicksal, keinen Zufall, keine höheren Kräfte – ganz zu schweigen von Gott –, sondern nur totale Kontrolle über sämtliche materiellen, sozialen und geistigen Bedingungen des Daseins. Man experimentiert mit elektronisch-biologischen Schnittstellen herum und manipuliert Gene, um auf der einen Seite eine unsterbliche hyperintelligente Superrasse zu züchten und auf der anderen Seite eine Spezies degenerierter Sklaven, die zu keinen eigenen Gedanken mehr fähig ist. Es mag weniger wortreiche Definitionen von Satanismus geben, aber soweit es mich angeht, erfüllt die Ideologie der Herrschenden jede beliebige von ihnen.“

„Ihnen ist natürlich klar, dass Ihre Ansichten, milde ausgedrückt, keinen Popularitätspreis gewinnen werden. Schon Ihr Vokabular wird viele abschrecken.“

„Wie gesagt geht es mir ums Prinzip, um meinen eigenen Erwachensprozess – darum, die Dinge zu sehen, wie sie sind, und dann der erkannten Wahrheit entsprechend zu handeln. Es ist nicht meine Aufgabe, anderen Leuten die Scheuklappen abzunehmen; das liegt in deren Verantwortung. Ich kann nur anmerken, dass jene, die bezüglich des Zustandes der Welt keinen Zorn empfinden, entweder nicht hinsehen oder sich weigern, die Konsequenzen des Gesehenen bis ganz an ihre Ende zu durchdenken. Als Spezies bezahlen wir die Bagatellisierung des Bösen schon heute. Es schmerzt auf vielfache Weise, im einundzwanzigsten Jahrhundert zu leben. Die Qualen aber, die bei fortgesetzter kollektiver Ignoranz noch auf uns zukommen, vermag sich heute niemand vorzustellen.“

„Was meinen Sie damit, dass es schmerzt?“

„Wie viele Dinge tun wir lediglich aus Angst vor negativen Folgen? Oder anders gefragt: Wie viel von dem, was zu Ihrem Alltag gehört – Steuern zahlen, zum Arbeitsplatz pendeln, Vorschriften befolgen, Formulare ausfüllen, an Protestmärschen teilnehmen und so weiter – , würden Sie selbst dann noch betreiben, wenn Sie weder Strafe noch Verlust von Privilegien befürchten müssten? Diese Furcht ist der wichtigste Hinweis, dass wir unser Gleichgewicht als Personen und als Gesellschaften verloren haben. Es geht nur noch um Schmerzvermeidung für das kleine, verletzliche Ich. Wo einst Raum für Größeres und Höheres war, klafft ein riesiges Loch. Mit unseren Ängsten alleingelassen verfallen wir in zwanghaftes Verhalten. Das reicht von kleinen Ticks wie einem Waschzwang über Konsumismus bis hin zu Drogensucht, Psychosen, Depressionen und Suizid. All das sind Schmerzvermeidungsstrategien der menschlichen Psyche.“

It‘s got to be Rock‘n‘Roll / to fill the hole in your soul“, sang Zach eine ABBA-Zeile. „Ich habe übrigens vorige Woche von einer Untersuchung gehört, die zu dem Ergebnis kam, dass fast ein Drittel aller Bürger therapiebedürftig sei. Das klang zunächst wie eine ziemlich große Hausnummer. Aber Sie haben recht, vermutlich müssen wir Zahlen jenseits der neunzig Prozent ansetzen, wenn es um kulturell verursachte psychische Störungen geht.“

Rocky Raccoon hob seine Hand in einer Geste, die Zustimmung bekundete.

„Ich danke für Ihre Offenheit. Ich finde sie… nun, erfrischend trifft es nicht ganz, aber Sie verstehen hoffentlich, was ich meine. Lassen Sie mich auf den Grund zu sprechen zu kommen, dessentwegen ich Sie eigentlich eingeladen habe: die Ereignisse auf dem letzten Treffen der Familie. Darf ich Ihnen hierzu einige Fragen stellen?“

„Tun Sie sich keinen Zwang an.“ Rocky lächelte.

31) Fristlos gefeuert

„Gestern statteten wir Mr Kite einen Besuch ab. Wir sprachen über dies und das, unter anderem erwähnte er das letzte Familientreffen. Sie erinnern sich?“

„Aber ja“, antwortete Molly Jones. „Wir haben uns sehr gut unterhalten. Weshalb fragen Sie?“

„Mr Kite hat mich beauftragt, einige Nachforschungen bezüglich eines Gegenstandes anzustellen, der an jenem Abend verschwunden ist“, erklärte Zach. „Können Sie dazu etwas sagen? Ist Ihnen etwas aufgefallen, zum Beispiel ungewöhnliches Verhalten der einen oder anderen Person?“

„Sprechen Sie von dem Manuskript? Das hätte PC31 mitbringen müssen, aber er kam ja dann nicht. Wahrscheinlich dachte er, das Treffen sei verschoben worden.“

„Wie kommen Sie darauf, dass er das dachte? Hat er etwas Entsprechendes gesagt?“

„Ich… weiß nicht“, stotterte die Sekretärin. „Weshalb fragen Sie mich? Stehe ich unter Verdacht?“

„Nein, überhaupt nicht. Sie haben das Schloss verlassen, bevor der Gegenstand abhanden kam. Es geht übrigens um ein Foto. Wurde im Verlauf des Abends über eine solche Aufnahme geredet?“

„Nicht unter meinen Ohren.“

„Worüber wurde dann geredet? Gab es Streit? Begehrlichkeiten?“

„Im Gegenteil. Bis auf das schamlose Verhalten dieses Mädchens, Duchess of Kirkcaldy, verlief es recht harmonisch. Wir sprachen über Objekte, die wir künftig für unsere Sammlung sichern wollten, und wir tauschten Anekdoten über McCartney, Lennon und so weiter aus. Bloß dieses… Flittchen! Sie wollte die ganze Zeit nur über unanständige Dinge reden. Wie die sich schon angezogen hat! Ich hatte den Eindruck, am liebsten wäre sie gleich ganz nackt erschienen.“

„Was missfiel Ihnen an ihrem Aussehen?“

„Sie hatte sich in ein knallrotes Domina-Kostüm gezwängt, oben wie unten keinen Inch länger als unbedingt nötig. Meine Mutter hätte mir den Hintern versohlt, wenn ich in dem Alter so rumgelaufen wäre.“

„Vielleicht war sie ja darauf aus, dass einer der Männer das übernahm? Hatten Sie das Gefühl, sie war hinter einer bestimmten Person her?“

„Nein, sie hat mit allen geflirtet – unangenehm aufdringlich.“

„Sind manche der Männer darauf eingegangen?“

„Sie blieben alle höflich aber distanziert. Gottseidank.“

„Ihnen ist also nicht aufgefallen, dass sie irgendwann mit jemand verschwunden wäre – sagen wir, auf die Toilette?“

Molly Jones kratzte sich an der Wange. „Hmm, nein. Ich fände das auch gar zu lächerlich. Sie ist ja noch ein halbes Kind.“

„Wissen Sie, wie alt?“

„Nicht genau. Siebzehn? Keineswegs volljährig.“

„Woher kommt sie eigentlich? Wer hat sie in die Gruppe eingeführt, beziehungsweise wie kam der Kontakt zustande?“

„Wer sie ist, weiß keiner so genau. Henry vielleicht. Der hat sie letztes Jahr in den Laden mitgebracht. Man erzählt sich, sie sei der illegitime Spross eines Adligen und lebe von dessen großzügigen Unterhaltszahlungen.“

„Wann haben Sie das Schloss verlassen und wer war um die Zeit noch anwesend?“

„Puh, schwer zu sagen. Bis auf meinen Mann waren wir alle schon ziemlich angeheitert. Ich habe nicht auf die Uhr geachtet. Vielleicht zwischen zwölf und ein Uhr? Als feststand, dass PC31 nicht mehr vorbeikommen würde. Der Arme. Wäre er zum Treffen gegangen, könnte er noch leben.“ Sie dachte nach. „Seltsam. Da Sie nun fragen, fällt mir auf, dass nur noch wenige Familienmitglieder zugegen waren, als ich mich verabschiedete: Dr Robert, Mr Mustard, Rocky Raccoon und Henry the Horse. Henry sah ebenfalls aus, als wolle er bald aufbrechen.“

„Wo, glauben Sie, befanden sich die anderen?“

„Mr Kite hat sich eine Stunde früher zurückgezogen. Er sagte, er sei müde und gehe nach oben. Auf die anderen habe ich nicht geachtet.“

„Halten Sie es für möglich, dass er mit Semolina und Duchess ‚nach oben‘ ging?“

Molly Jones schaute ihn an, als käme ihr die Idee zum ersten Mal. Sie blieb stumm, zog jedoch eine Grimasse, die andeutete, sie wisse es nicht und wolle es auch nicht wissen.

„Eine letzte Frage: Sind Sie auf direktem Weg nach Hause gefahren oder haben Sie unterwegs irgendwo angehalten?“

„Wir sind über‘s Zentrum gefahren. Mein Mann wollte mit den Kollegen auf dem Präsidium etwas klären. Dann sind wir nach Hause gegangen.“

„Wie lang dauerte das Gespräch?“

„Etwa eine halbe Stunde. Ich bin im Auto eingeschlafen, sobald wir das Schloss verlassen hatten, und nur kurz aufgewacht, als er nahe der Wache hielt.“

„Wann sind Sie zu Hause angekommen?“

„Gegen vier Uhr. Hören Sie, das war nun die dritte ‚letzte Frage‘“, beschwerte sich Molly Jones. „Macht es Ihnen was aus, wenn wir über nettere Dinge reden?“

„Keineswegs. Entschuldigen Sie bitte meine Zudringlichkeit. Ich habe Ihnen noch gar nicht gesagt, wie sehr Sie mir in Ihrem Kleid gefallen.“

Die Sekretärin errötete und schaute zu Boden. „Dankeschön.“

„Sie hat es bei Paul gekauft“, warf Veronica ein, die das gesamte Interview hindurch still auf einem Schemel neben der kleinen Bar gesessen hatte.

„Ist das wahr? Und ich dachte, wir handeln in Musikalien.“

„Im weitesten Sinne ist das Kleid Teil der Geschichte der Beatles“, sagte Molly Jones. „Es gehörte Pattie Boyd…“

„…der ex-Freundin von George Harrison“, ergänzte Zach. „Ihnen steht es mindestens eben so gut.“

Jones errötete erneut. Von ihr unbemerkt tanzten Veronicas Augenbrauen. Zach zwinkerte seiner Tochter zu. Er sagte: „Würde es Ihnen etwas ausmachen, Ihren Mann zu informieren, dass ich gern mit ihm reden würde?“

„Donald? Er weiß bestimmt nicht mehr als ich.“

„Und wenn schon. Dann unterhalten wir uns eben bei einer Tasse Kaffee über das Sammeln oder den neuesten Ermittlungsstand zum Mord an meinem Stiefbruder. Ich kann Ihnen versichern, dass Veronicas Kaffee den im Präsidium bei weitem aus dem Feld schlägt. Möchten Sie ihn probieren?“

„Hört, hört!“, unkte seine Tochter.

„Einverstanden“, erwiderte Molly Jones.

Und so erhielt Ludwig Lederrachen eine weitere Gelegenheit, seine Künste vorzuführen, wenn auch unbezahlt.


Sehr spät am Abend klingelte das Telefon sein klassisches Metallglockengeläut, das den ganzen Tisch zum Schwingen anregte. Veronica hob den Hörer ab. „Anscchluss von Paul Campbell, Ziegler am Apparat.“

„Guten Abend, Veronica. Holen Sie mir Ihren Vater“, sagte eine hyänenhaft klingende Männerstimme.

„Wer spricht dort?“

„Sie wissen genau, wer hier spricht.“

„Ich weiß nur, dass Ihre Kinderstube zu wünschen übrig lässt. Wer spricht dort?“

„Holen Sie mir Ihren Vater an den Apparat!“, sagte die Stimme mit drohendem Unterton.

„Rufen Sie wieder an, wenn Sie Manieren gelernt haben.“ Veronica legte auf.

Zach streckte den Kopf zur Tür herein. „Wer war das?“

„Woher soll ich das wissen? Er wollte seinen Namen nicht nennen. Wahrscheinlich unser spezieller Freund der Schlossbesitzer.“

„Du hast echt Haare auf den Zähnen, dem Mann den Hörer aufzulegen. Ich bin ihm einen Anruf schuldig; erster Report.“

„Schlossbesitzer oder nicht – wenn er meint, mich herumkommandieren zu können, dann gibt‘s nur eine Antwort: Arsch lecken. Du lässt dir seine Gestapo-Manieren ja auch nicht gefallen.“

Zach verdrehte die Augen. Was erwartete er? Er hatte sie so erzogen – und er war zufrieden. Er lachte. „Dann will ich mal anrufen, um mir die Prügel abzuholen.“

„Gib bloß nicht klein bei. Für mein Verhalten stehe ich selbst ein“, sagte Veronica energisch, die Augenbrauen zusammengezogen.

Exakt in jenem Moment, als Zachs Hand über dem Hörer hing, klingelte das Telefon erneut. Er riss ihn von der Gabel und sagte barsch: „Ja!?“

„Mister Ziegler,“ sagte die Stimme am anderen Ende, „ist das Ihre Art, einen Auftrag zu erledigen?“

„Was gefällt Ihnen daran nicht?“

„Ihr Tonfall, zum Beispiel, oder dass man einfach auflegt. Was ist außerdem aus Ihrem versprochenen Tagesbericht geworden?“

„Wenn Sie einen anderen Tonfall wünschen, bekommen Sie ihn, sobald Sie anfangen, respektvoll mit Ihren Gesprächspartnern umzugehen. Ich bin keiner Ihrer Lakaien.“ Der Detektiv sprach langsam, ruhig und ziemlich leise. Vom anderen Ende hörte er kein Geräusch. Als der Anrufer Luft holte, schnitt er ihm das Wort ab: „Soweit es Ihren Auftrag betrifft: Ich war heute mit vorbereitenden Arbeiten beschäftigt, ohne die weitere Ermittlungen nur ein Stochern im Nebel darstellen – und ich habe zwei Zeugen vernommen. Es liegt in der Natur der Sache, dass deren Aussagen erst im Licht weiterer Erkenntnisse einzuordnen sind. Falls Sie in der Lage sind, die Lösung des Falls durch sachdienliche Hinweise zu beschleunigen – etwa, indem Sie die Tatsache erwähnen, dass das fehlende Objekt die ganze Nacht unbeaufsichtigt außerhalb des Safes herumlag –, wäre ich Ihnen sehr dankbar.“

„Ich sagte Ihnen, Sie sollen nicht gegen mich ermitteln!“, bellte Kites Stimme aus dem Hörer.

„Und ich sage Ihnen, dass es so nicht funktioniert. Sie lassen mich meine Arbeit auf meine bewährte Weise erledigen oder Sie suchen sich einen anderen Dummen, der Ihre eklatanten Verstöße gegen Vernunft und Anstand korrigiert.“

„Mit wem haben Sie gesprochen?“

„Das steht in meinem Abschlussbericht am kommenden Dienstag.“

„Sie sind gefeuert!“, schrie Kite ihn an.

„Wie Sie wünschen. Ich mache die Rechnung gleich fertig“, erwiderte Zach und ließ den Hörer auf die Gabel fallen. Das Geräusch und die Vibrationen, die der alte, schwere Festnetzapparat dabei erzeugte, befriedigten ihn zutiefst. Die Körperlichkeit des Vorgangs blieb nur wenig hinter dem Gefühl zurück, dem anmaßenden Anrufer tatsächlich eine schallende Ohrfeige verpasst zu haben. An dem Tag, an dem eine App erschien, die es realitätsgetreu emulieren konnte, würde er seine ablehnende Haltung gegenüber Smartphones vielleicht revidieren.

Veronica blähte die Backen und ließ die Luft langsam zwischen den Lippen entweichen. „Ich fürchte, die großen Aufträge können wir uns aus dem Kopf schlagen, ganz zu schweigen von unserer Aufnahme in die Familie.“

„Ganz recht. Daraus wäre sowieso nichts geworden, weil ich nie vorhatte, sein Schwarzgeld anzunehmen. Im Übrigen wird mir dieser seltsame Club mit seinen dehnbaren Moralvorstellungen immer suspekter. Wie hat Kite Maria und Henry bezeichnet – nicht flexibel genug?“

„Dass er uns keine Aufträge geben wird – okay. Mit unseren bescheidenen Erwartungen ans Einkommen kommen wir bestimmt auch ohne ihn blendend zurecht. Mir kann der Abstand zu dem Typ gar nicht groß genug sein. Dass wir ihn nun gegen uns aufgebracht haben, könnte dagegen das Ende des Fab Store bedeuten.“

„Und darum werde ich den Teufel tun, die Ermittlungen einzustellen. Wir brauchen etwas gegen ihn in der Hand. Was wir von Maria und Molly gehört haben, verschafft uns möglicherweise großkalibrige Munition.“

30) Jane Ashers Koffer

Dank Maria und Henry kannte Zach nun die Adressdaten aller Mitglieder der ‚Familie‘. Die Bezeichnung, die er für eine Gruppe von Memorabiliensammlern anfangs nur seltsam gefunden hatte, nahm in seinen Ohren inzwischen düstere Untertöne an. Die vermeintlichen Hobbyisten mit ihren etwas zu großen Budgets entpuppten sich vor dem Hintergrund seiner neuesten Informationen als eine Art Loge. Die Gruppe besaß einen autoritären Anführer, der Pflichten einer nicht näher bestimmten Natur einfordern konnte, und sie verfolgte eine vom öffentlichen Interesse losgelöste Agenda. Noch am Sonntag hatte der Detektiv geglaubt, Bedingungen vorgeben zu können, unter denen eine Zusammenarbeit des Fab Store mit der Familie möglich würde. Drei Tage später sah es so aus, als bestätige sich Henrys Warnung, dass es Kite war, der den Ton angab. Zach konnte entweder seinen Prinzipien treu bleiben, was dazu führen würde, dass der Schlossherr dem Laden die Kundschaft und damit die wirtschaftliche Grundlage abspenstig machte; nebenbei würde Kite natürlich das Manuskript nicht bezahlen, da er es offiziell nie erhalten hatte. Oder Zach kassierte die Million Schwarzgeld, wurde in den inneren Kreis aufgenommen, würde sich vermutlich dumm und dämlich verdienen – und gab dem Paten selbst die Mittel in die Hand, ihn für den Rest seines Lebens zu schikanieren.

Diese Entscheidung fiel im erstaunlich leicht. Er brauchte Kites Geld nicht. Er konnte einfach Pauls Millionenerbe einstecken und nach London zurückkehren. Die Frage, ob er den Fiskus schädigte, wenn er die Kohle annahm, spielte keine Rolle; Steuern waren aus seiner Sicht von Schutzgelderpressung nur dadurch zu unterscheiden, dass der Staat mehr bewaffnete Gangster unterhielt. Aber er würde eher auf jeden Zugewinn verzichten, als nach der Pfeife anderer Leute zu tanzen – insbesondere von Leuten vom Schlage dieses William Wallace Campbell.

Das leitete Zachs Gedanken zu dem Ermittlungsauftrag zurück, den der Schlossherr ihm erteilt hatte. Kite hatte das Foto aus den Akten irgendeiner Behörde entwenden lassen – und war dann seinerseits von Leuten bestohlen worden, die eine Revision der gefälschten Bandgeschichte anstrebten, wenn man Maria Glauben schenkte. Sowohl die Behörde als auch Kite hatten gegen Naturrecht verstoßen. Erstere hatten die Bevölkerung über die Identität des Toten belogen, letzterer hatte sich angeeignet, was ihm nicht freiwillig gegeben wurde. Die Gruppe, der Maria angehörte, besaß aus demselben Grund ebenfalls kein Recht, das Objekt an sich zu nehmen, außer man betrachtete sie als Teil jener von der Behörde betrogenen Bevölkerung; dann konnte man ihnen zugute halten, dass sie ihre verletzten Rechte wieder herstellten. Sein Herz schlug für für ihre Sache, auch wenn er das, was zwischen Kirk und Kite geschehen war, entsetzlich fand. Tatsächlich bewunderte er die Bereitschaft dieser Menschen, aus freien Stücken persönliche Opfer für etwas zu bringen, an das sie glaubten. Es waren die Angepassten, Duckmäuser und Hasenfüße, die Tyrannen wie Kite den Weg ebneten und an der Macht hielten.

Aber Zach hatte nun einmal Kites Auftrag angenommen. Er würde ermitteln – und er würde entscheiden, wie viel davon das Familienoberhaupt erfahren durfte. Der Detektiv prüfte seine Prioritätenliste. Wie erwartet gab es Verschiebungen. Er hatte geplant, Henry einzuladen, dem er genau wie Maria ein gewisses Vertrauen entgegenbrachte. Doch der ältere Mann hatte das Schloss verlassen, bevor Kirk das Autopsiefoto ihren Helfern übergab. Vermutlich konnte er wenig zur Klärung der Vorgänge an jenem Abend beitragen. Statt Henry würde Zach nun Dr Robert anrufen – den Notar. Er griff zu dem schwarzen, Schellack-gepanzerten Telefon und gab über dessen Wählscheibe die Nummer der Kanzlei ein. Fasziniert beobachtete er, wie die Scheibe nach jeder Ziffer von einer Feder getrieben langsam wieder in ihre Ausgangsstellung zurückglitt. Es erinnerte ihn an Honig, der von einem Löffel troff.

„Notariat Dr Jules R. Miller; Wickens am Apparat. Was kann ich für Sie tun?“, meldete sich die Stimme der Sekretärin.

Wickens? So hieß doch der Leiter der Mordkommission, wunderte sich der Detektiv. Miller hatte die Sekretärin ‚Mrs Jones‘ genannt, als er ihr die Erbunterlagen übergab. Was ging hier vor? „Guten Tag, Mrs Jones“, versucht er also sein Glück. „Hier spricht Zachary Ziegler, der Nachlassnehmer von Paulus Campbell.“

Die Frau am anderen Ende der Leitung gab durch nichts zu erkennen, dass seine Anrede inkorrekt sein könnte. Stattdessen flötete sie: „Guten Tag, Mr Ziegler. Steht alles zu Ihrer Zufriedenheit?“

„Danke der Nachfrage. Meine Tochter und ich sind in Liverpool geblieben, um die Bedingungen für eine Weiterführung des Ladens zu prüfen. Es gefällt uns ausgenommen gut in der Stadt.“

„Das freut mich sehr. Ich werde ihnen wohl bald einen Besuch abstatten müssen, um den bestellten Koffer abzuholen.“

Zach stutzte. Dann erkundigte er sich: „Sind Sie zufällig Mrs Molly Jones?“

Die Stimme am Telefon lachte vergnügt. „Ich würde eher sagen: vorsätzlich. Schließlich habe ich den Namen als mein Sammlerpseudonym gewählt.“

Zach stimmte in ihr Lachen ein. „Ach so. Na, das trifft sich aber gut. Ich wollte Sie schon seit einigen Tagen ansprechen, aber Sie wissen ja, wie es so geht, wenn man in eine Situation wie die meine geworfen wird…“

„Aber ja doch, Mr Ziegler. Ich verstehe Sie vollkommen. Wenn Sie mehr Zeit brauchen…“

„Ganz und gar nicht. Bitte kommen Sie baldmöglichst in den Laden. Ich möchte mich ohnehin ein wenig mit Ihnen unterhalten – über Paul und die Familie.“

„Gern. Wenn Sie möchten, gleich heute nach Feierabend, sagen wir: sechs Uhr. Ich habe im Zentrum zu tun.“

„Hervorragend. Da wäre eine weitere Bitte. Auch wenn es mir ungemein Freude bereitet, mit Ihnen zu plaudern, so habe ich eigentlich aus einem anderen Grund angerufen. Ich müsste dringend mit dem Notar sprechen. Können Sie mir einen Termin vereinbaren?“ Zach hörte das Rascheln umgeblätterter Seiten; hin, her, und wieder hin.

„Passt Ihnen Freitag, 14 Uhr?“


Viertel nach sechs Uhr abends läutete die elektrische Klingel. Veronica ging die Treppen hinunter, um zu sehen, wer vor der Ladentür stand. Sie erkannte die Gestalt der Notariatssekretärin sofort und beeilte sich, das Schloss zu entriegeln. „Mrs Jones, einen schönen guten Abend. Was führt Sie zu uns?“

Die Mittvierzigerin trat ein. Veronica schloss sofort wieder ab.

„Guten Abend, Miss Ziegler. Ihr Vater rief am Vormittag in der Kanzlei an. Wir haben bei der Gelegenheit vereinbart, dass ich gleich heute vorbeikomme, um die bestellte Ware abzuholen.“

Die Kleidung der Frau – ein fessellanges Kleid aus leichtem blassgelbem Baumwollstoff, das viel Schlüsselbein enthüllte, großformatiger Modeschmuck im Ohr und Mokassins an den Füßen – gefiel Veronica ausgesprochen gut. Gleichzeitig hatte sie den Eindruck, einer nicht ganz zeitgemäßen Erscheinung gegenüber zu stehen. Dazu trug auch das zu einem Kranz geflochtene Haar bei. „Sie sind Kundin bei uns?“, fragte sie überrascht.

Während Veronica hinter die Theke ging, um das Warenbuch zu holen, sagte Mrs Jones: „Und hoffe, es bleiben zu können. Mr Campbells Dienste schlugen jeden Bestellkatalog. Ich wüsste gar nicht, was ich ohne den Fab Store anziehen sollte.“

Die Detektivin hielt erstaunt inne. „Wie meinen Sie das? Sie sehen doch wunderbar aus.“

„Danke“, erwiderte die Besucherin mit einem dankbaren Lächeln. „Ich sagte es ja. Das Kleid und den Schmuck hat Mr Campbell besorgt, nachdem ich die Sachen in einer alten Nachrichtensendung gesehen hatte. Sie gehörten Pattie Boyd, George Harrisons Freundin.

Nun fiel bei Veronica der Groschen. „Sie sammeln Kleidungsstücke aus den Sechzigern.“

„Das Meiste stammt aus den Sechzigern, aber ich lasse mir eigentlich alles Mögliche beschaffen, das mit den Freundinnen und Frauen der vier ex-Beatles zu tun hat: Schmuck, Schatullen, Perücken, Haushaltsgegenstände, Kleider – einfach alles. Statt ins Einkaufszentrum kam ich in den Fab Store, wenn ich etwas brauchte. Mein Haushalt ist weitgehend mit solchen Dingen ausgestattet.“

„Wie originell. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass das mit der Zeit ins Geld geht.“

Mrs Jones zuckte die Achseln. „Wofür soll man‘s sonst ausgeben? Wenn wir gehen, nehmen wir nur unsere Seelen mit.“

Veronica, die inzwischen das Warenbuch gefunden und auf den Tresen gelegt hatte, enthielt sich eines Kommentars. Wer wusste, welche Tragödien verhindert hatten, dass es bei den Jones‘s niemand gab, dem sie den Wohlstand eines erfolgreichen Berufslebens weitergeben konnten? Stattdessen fragte sie: „Was haben Sie bestellt, und auf welchen Namen, bitte?“

„Einen Koffer; für Molly Jones.“

Veronicas Zeigefinger fuhr die letzten Einträge entlang. „Ah, hier.“ Sie stutzte, erneut überrascht, als sie erkannte, dass es Mal Evans‘ Koffer sein musste, der hier gemeint war. „Das muss ein Fehler sein“, murmelte sie.

„Was denn?“

„Wir haben momentan nur einen Koffer auf Lager. Er gehörte Mal Evans, dem Roadie.“

„Das ist er. Mal hat ihn von Jane Asher ‚geerbt‘. Sie ließ ihn zurück, als sie McCartneys Haushalt verließ.”

„Wie können Sie das wissen? Der Koffer ist für so lange Zeit verschollen gewesen, dass alle glaubten, er sei ein Mythos.“

Molly Jones lächelte. „Nicht alle, und definitiv nicht mehr, seit er 2004 wieder aufgetaucht ist. Schauen Sie nach: Janes Initialen stehen neben den Schnallen eingraviert.“

Veronica starrte der Sekretärin für einen Moment ins Gesicht, dann packte sie das Warenbuch und die Vertragsformulare. „Kommen Sie mit.“ Sie ging zwischen den Warentischen auf die Tür des Hinterzimmers zu und durch sie hindurch. Molly Jones folgte ihr. Veronica öffnete den Safe. Der Koffer – mehr Kiste als Reisetasche – stand mittig auf dem Boden. Sie zog ihn heraus und inspizierte den Verschluss, der tatsächlich aus zwei Schnallen bestand, neben denen sie links ein ‚J‘ und rechts ein ‚A‘ in verschnörkelter Schrift eingraviert sah. Sie legte das Trumm flach hin. Es leistete keinen Widerstand, als sie an den Schnallen zog. Der Deckel ließ sich ohne Probleme öffnen. Innen war der Koffer mit einer Samtpolsterung ausgeschlagen, die einmal golden geglänzt haben musste, nun jedoch zu einem trüb gelblichen Braun verblasst war. In- wie auswärtig zeigte er deutliche Abnutzungsspuren: Abgestoßene Ecken, Macken, Risse und Flecken ließen ihn eher unansehnlich wirken.

„Wenn man nicht wüsste, welch bewegte Geschichte er hinter sich hat, würde man auf dem Flohmarkt vielleicht zwanzig Pfund dafür hinlegen“, sagte Molly Jones, als ob sie Veronicas Gedanken erraten hätte.

„Einschließlich des alten Krempels darin“, ergänzte Veronica. „Und nun wechselt das Behältnis allein für zwölftausend Pfund Sterling die Besitzerin.“

„Kleingeld im Vergleich zum Wert einiger der Objekte, die es über die Jahrzehnte rettete. Verrückt, oder? Sagen Sie, dürfte ich vielleicht einen Blick darauf werfen?“

„Das kann ich nicht entscheiden, Mrs Jones. Manche Ihrer Kollegen widersprachen solchen Bitten.“

„Schade eigentlich.“

„Mhm. Aber ich hoffe, der Koffer entspricht Ihren Vorstellungen. Werden Sie ihn übernehmen?“

„Welch eine Frage.“

„Nur der Fairness halber. Es könnte ja sein, dass der wirkliche Gegenstand von den Spezifikationen des bestellten Objekts abweicht.“

„Nein, er erfüllt meine Erwartungen voll und ganz.“

„Helfen Sie mir; ich bin neu im Handelsgeschäft. Wie lange kann der Kunde die Ware ohne Angabe von Gründen zurücksenden?“, erkundigte sich Veronica mit einem Zwinkern.

„Und riskieren, dass das gute Stück für weitere fünfzig Jahre im Keller eines Freimaurers verschwindet?“ fragte die Sekretärin trocken zurück.

Veronica lachte laut auf. Sie trat an die Treppe und rief nach ihrem Vater. „Mr Ziegler wird die Übergabe vornehmen. Setzen Sie sich doch.“

Die Sekretärin hatte sich kaum gesetzt, als Zachs Schritte auf den Stufen über ihnen ertönten. „Mrs Jones,“ rief er ihr aus halber Höhe zu, „wie schön, dass Sie so schnell vorbeigekommen sind.“

„Die Freude ist meinerseits“, erwiderte sie. „Es hat entsetzlich lange gedauert, den Koffer aufzuspüren. Ich konnte es kaum erwarten, ihn endlich einmal zu berühren.“

„Er ist groß genug, sich darin für ein Schläfchen einzurollen“, scherzte Zach.

„Nun, da sie‘s erwähnen – er sieht dem Exemplar auf Yesterday and Today ein bisschen ähnlich.“ Sie schüttelte sich.

Die Zieglers warfen einander verstohlene Blicke zu. „Keine Ahnung“, signalisierten sie sich gegenseitig. Veronica reichte ihrem Vater den Block mit den Vertragsformularen. Der öffnete die Seite, auf der die Beschaffung des Koffers vereinbart war. Er legte das Dokument vor Mrs Jones auf das Tischchen. Sie unterschrieb die Empfangsbestätigung.

„Wie werden Sie ihn nach Hause bringen? Soll ich einen Transportdienst beauftragen?“, fragte Zach.

„Ja bitte. Setzen Sie es auf die Rechnung.“

„Geht auf‘s Haus“, wehrte Zach ab. „Ich hätte allerdings ein paar Fragen, die ich Ihnen stellen möchte.“

„Um was geht es?“