47) Nachbeben

Der Notsituation geschuldet hatte Johns Mini Cooper stärker gelitten, als Zach vorhersehen konnte. Die von abrupten Brems- und Abbiegemanövern geplätteten Reifen stellten dabei noch den geringsten Schaden dar. Sie konnten leicht ersetzt werden. Größere Probleme bereitete allerdings die Ausbesserung von Steinschlagspuren am Lack und von Beulen am Unterboden. Dem ideellen Wert, der nur am berühmten Erstbesitzer des Fahrzeugs gemessen wurde, tat dies jedoch keinen Abbruch. Zach sah daher keinen Grund zur Zerknirschung, auch wenn Maria ihn noch nach Monaten mit der Sache aufzog. Sie hing an dem Kleinwagen, dessen Beschaffung so viel Mühe und Geld gekostet hatte. Er aber war nur froh, dass sie getan hatten, was sie konnten, um Veronica zurückzubekommen. Zwar trugen sie rein gar nichts dazu bei, sie heil aus den Fängen Desmonds und Kites zu befreien; das Abzeichen für diese Leistung konnte seine Tochter sich selbst an die Brust heften. Aber die Entführung hätte ein ganz anderes Ende nehmen können, und in dem Fall hätte er sich nie verzeihen können, einfach zuhause vergeblich auf sie gewartet zu haben.

Die vierzehn Stunden im Foltergefängnis – einem Versteck, an dem der Wallace-Sprössling offenbar regelmäßig seinen perversen Neigungen nachging – hatten Veronicas Vertrauen in sich selbst und die Welt schwer angeschlagen. Wochenlang hatte sie kaum ein Wort aus eigenem Antrieb gesprochen. Auf Fragen reagierte sie bloß einsilbig.

Pauls Beisetzung, die nur wenige Stunden nach ihrer Heimkehr stattfand, waren sie alle drei fern geblieben. Sie fühlten sich unendlich müde. Und auch wenn an Schlaf wegen der gerade überstandenen Aufregung nicht zu denken war: Der emotionalen Belastung auf dem Friedhof konnten sie sich unmöglich stellen. Das hatte die Trauergäste zu allerhand Vermutungen verleitet, die nur mit Mühe zerstreut werden konnten, wie ihnen Henry später berichtete.

Desmonds Verschwinden löste mehrere Nachbeben aus, die Veronicas Psyche wiederholt erschütterten. Das Telefon klingelte am Nachmittag jenes Tages, als sie in ein Bettlaken gehüllt wieder im Fab Store ankam, fast ohne Unterbrechung, bis Maria es einfach aussteckte. Molly Jones, die vergeblich versucht hatte, den Verbleib ihres Gatten Desmond in Erfahrung zu bringen, erschien daraufhin am folgenden Morgen vor der Ladentür. Sie betätigte die elektrische Glocke so lange, bis Zach ihr schließlich öffnete. Aufgeregt erfragte sie jedes Detail der Vorkommnisse vom Montag und ließ sich nur mit Mühe davon abbringen, Veronica zu sprechen zu wollen. Gegen Abend berichtete der lokale Sender über den Brand des Hauses; mindestens ein Opfer sei zu beklagen gewesen. „Zu beklagen sind wohl eher die, die diesen Mann beklagen“, brummte Zach, verzichtete mit Rücksicht auf das Befinden seiner Tochter weitere Kommentare. In den Tagen darauf veröffentlichte die Polizei Angaben zu Zahl und Identität der Toten, was der Bekanntheit der Personen wegen eine gewisse Aufregung bei der Bevölkerung erzeugte. Fragen wurden laut, was ein leitender Beamter und ein Angehöriger des Geldadels an solch abgelegenem Ort zu tun hatten. Über die Brandursache wollten die Forensiker der Feuerwehr lange Zeit keine Einschätzung abgeben. Mangels Spuren, die die Anwesenheit Dritter nahelegten, einigte man sich auf die Hypothese, unvorsichtiger Umgang mit offenen Flammen – wahrscheinlich Kerzen – habe Kommissar Wickens und den Philanthropen Campbell das Leben gekostet.

Im Zuge der Ermittlungen wurden auch Veronica und Zachary Ziegler ins Präsidium geladen; sie als letzte der Polizei bekannte Person, die Wickens lebend gesehen hatte, und er, Zach, weil er aufgefallen war, als er sich nach dem Kommissar erkundigt hatte. Die Befragung fand mehr oder weniger für die Akten statt, denn es gab keinen Anlass, eine Verwicklung in den Brand zu vermuten. Veronica behauptete, den Kommissar in einem Parkhaus abgesetzt zu haben und dann getrennter Wege gegangen zu sein. Die Erinnerung an das, was der Mann ihr angetan hatte, schürte die Wut, was ihr half, die Zeugenbefragung zu überstehen, ohne in Weinkrämpfe auszubrechen. Die Warnung ihres Vaters, was geschähe, wenn man sie mit dem Angriff auf einen Staatsdiener in Verbindung brachte, ganz zu schweigen von seiner Tötung, verbot jeden Gedanken daran, die Verletzungen und Erniedrigungen, die ihr die beiden Männer zugefügt hatten, zur Anzeige zu bringen. Soweit es die Menschheit außerhalb ihres Haushalts betraf, hatte derlei nie stattgefunden.

Offiziell gab es auch die hunderten von Leichen nicht, die auf dem Grundstück beim abgebrannten Landhaus gefunden worden waren. Die ältesten schätzte man auf dreitausend Jahre, die jüngsten waren gerade einmal seit wenigen Monaten unter der Erde, wie Maria herausfand, als sie vorsichtig ihre Beziehungen spielen ließ, um mehr über den Stand der Ermittlungen herauszubekommen. Veronica fühlte sich im Licht dieser Nachrichten in der Entscheidung bestätigt, ihr Beinahe-Schicksal als weiteres Opfer einer Ritualmord-Dynastie zu verschweigen. Dass sie in Notwehr gehandelt hatte, als sie die Männer tötete, würde sie andernfalls nicht davor bewahren, aus dem Weg geschafft zu werden. Niemand hatte ein Interesse, dass die Öffentlichkeit erfuhr, dass Satanismus kein Nischenphänomen unter Heavy-Metal-Gruppen darstellte, sondern das Glaubensbekenntnis der Wahl von Menschen mit Rang und Namen war. Am wenigsten wollte es besagte Öffentlichkeit selbst wissen.

Insofern gab es keine Dringlichkeit, die Dokumentation von – wie manche es bezeichneten – Unterhaltungsverbrechen voranzutreiben. Es würde noch lange dauern, ehe man offen über das Problem sprechen können würde. Dennoch machte sich eine gewisse Niedergeschlagenheit unter jenen Familienmitgliedern breit, die gehofft hatten, Kites Sammlung von Beweisstücken für McCartneys Tod anzapfen zu können. Die Objekte würden auf unabsehbare Zeit hinter dicken Tresortüren verschwinden.

Mit einem lachenden und einem weinenden Auge nahmen die Zieglers, Rocky, Maria und Henry das Geständnis des Notars auf, dass das Autopsiefoto sich nun doch in seinem Besitz befinde. Sie gingen also – darin bestand die gute Nachricht – nicht mit völlig leeren Händen aus dem fatal verlaufenen Unternehmen heraus, das Familientreffen für ihre Zwecke zu nutzen. Der Preis, den sie dafür bezahlten, war der weitgehende Verlust des Vertrauens in Miller, der zugab, ihre Beute im Auftrag Kites abgefangen zu haben. Obwohl der Notar nie einen Hehl aus seiner juristischen Unterstützung für den Billy-Shears-Nachkommen gemacht hatte, sorgte die Preisgabe dieses Details für große Enttäuschung. Alle waren sich einig, dass die veränderte Lage neue Konzepte erforderte, wie das Projekt vorangetrieben werden sollte.

46) Flucht

Eine Kette mit Bügelschloss hinderte sie am Öffnen des Gatters. Zach stellte den Motor ab, ließ jedoch das Licht brennen, um die Strecke bis zum Haus zu beleuchten. In der Eile ihres Aufbruchs hatten sie vergessen, eine Taschenlampe einzupacken. Der Detektiv und die Italienerin kletterten über das niedrige Tor. Die Zufahrt lag verlassen vor ihnen. Langsam gingen sie auf das Gebäude zu, dessen einziges Stockwerk zum Teil hinter hohem Gras verborgen lag. Die Fenster waren durch schwere Holzläden verbarrikadiert. Nicht der geringste Lichtstrahl war zu sehen. Zach und Maria lauschten in die tiefe, mondlose Nacht, doch außer dem Donnern des Ozeans, der dicht hinter dem ehemaligen Bauernhof an die Klippen brandete, hörten sie keine Geräusche. Nichts deutete auf die Anwesenheit von Menschen hin. Während Zach an die Holzbohlentür klopfte, ging Maria der Fassade entlang und rief laut Kirks und Veronicas Namen. Einige Minuten später stellten sie die Versuche ein. Sie umrundeten das Haus. Maria nahm Zach bei der Hand und führte ihn zielstrebig zu einer steinernen Sitzbank, die aufs Meer hinausblickte. Dort setzten sie sich erschöpft, legten die Arme um einander und schwiegen, Kopf an Kopf.


Veronica humpelte vom Haus weg auf die beiden abgestellten Autos zu. Hinter ihrem Sportwagen stand leicht versetzt der weiße Käfer mit der Nummer LMW 28IF. Sie schaute durch das Seitenfenster. Der Schlüssel steckte. Sollte sie ihn abziehen? Nein, besser keine Spuren ihrer Anwesenheit hinterlassen. Sie hinkte zu ihrem GT. Seine Tür war noch immer unverschlossen; auch hier steckte der Schlüssel neben dem Lenkrad im Zündschloss. Sie ließ sich auf den Fahrersitz fallen, warf das aus Bettlaken improvisierte Seil, mit dem sie durch eines der unvergitterten Fenster im ersten Stock geflüchtet war, in den Fußraum neben sich und startete den Wagen. Vorsichtig steuerte sie rückwärts, dicht an dem weißen Käfer vorbei. Sie achtete peinlichst genau darauf, nur auf dem geschotterten Pfad zu fahren, um keine Reifenabdrücke zu erzeugen. Im Haus würde das Feuer ihre Kleidung und die von ihr hinterlassene DNS vernichten. Wahrscheinlich würde es auch verhindern, dass man herausfand, dass die beiden Männer durch Fremdeinwirkung gestorben waren. Sie hatte keine Gewissensbisse deswegen. Sie hatte in Notwehr gehandelt und sie hoffte außerdem, dass den beiden Folterknechte im Jenseits ihr gerechtes Karma zuteil wurde. Aber sie wollte auf gar keinen Fall mit den Organisationen zu tun bekommen, die die Verbrechen dieser Männer deckten: die Polizei ihrer Majestät und die Illuminaten. Mit unter zwanzig Meilen pro Stunde lenkte sie den Wagen über kaum befestigte Landwege zurück in die Zivilisation.


Sie mochten etwa zwanzig Minuten so auf der Bank gesessen haben. Ein leichter Wind, der nun einsetzte, trug Gischt vom Meer heran, die sie langsam einnässte. Maria berührte Zachs Wange. Mattes Sternenlicht schimmerte in ihren Augen, während die Zeit zu gerinnen schien. Ihre Gesichter näherten sich, vorsichtig, zögernd. Nasenspitzen passierten einander, strichen sacht über die warme Haut ihres Gegenübers, bis seine Lippen sich auf ihre legten.


Erst als sie die M6 Richtung Liverpool erreicht hatte, gestattet sie es sich, aufzuatmen. Nur noch etwa anderthalb Stunden, dann war sie zuhause. Doch so langsam drohte die Müdigkeit sie zu übermannen. Sie nahm die Abfahrt zum nächsten Parkplatz und stellte den GT an einer Stelle ab, an der dichtes Gebüsch die Lichter des vorbeihuschenden Verkehrs vollständig blockierte. Sie verriegelte die Türen von innen, kippte die Sitzlehne nach hinten und fiel sofort in tiefen Schlaf.


„Lass uns umkehren.“ Niemand hatte die Worte ausgesprochen, und doch waren sie sich einig gewesen, dass es an der Zeit war, nach Hause zurückzufahren. Vor der verschlossenen Haustür des alten Gemäuers konnten sie nichts mehr für Kirk tun. Sie hielt sich an einem anderen Ort auf. Wahrscheinlich war sie nie hier gewesen, und dasselbe galt für Veronica. Maria sah keinerlei Anzeichen, dass in den Monaten seit der Sonnenwendfeier jemand das Grundstück betreten hätte.

Der Mini wartete geduldig jenseits des Gatters auf ihre Rückkehr. Seine Frontscheinwerfer brannten noch genau so hell wie vor einer halben Stunde, als sie ihn verlassen hatten. Es war leichtsinnig gewesen, seine Batterie an diesem entlegenen Ort zu beanspruchen, aber er nahm es ihnen nicht übel, sondern sprang sofort an, als Maria den Zündschlüssel drehte. Sie musste über einhundert Yards zurücksetzen, bevor sie eine Stelle erreichte, an der sie den Wagen wenden konnte. Von da an legten sich ihnen – abgesehen vom erbarmungswürdigen Zustand des Feldwegs – keine weiteren Hindernisse in den Weg. Zügig erreichten sie den Motorway gen Süden. Auf halber Strecke bat Zach um eine kurze Rast. Maria steuerte die nächste Ausfahrt an, einen unbeleuchteten Parkplatz. Während der Detektiv kurz zwischen die Büsche trat, um sich zu erleichtern, streckte Marie ausgiebig die vom Fahren verkrampften Glieder. Als Zach zurückkehrte, fragte er: „Sollen wir eine halbe Stunde rasten oder schaffst du den restlichen Weg?“

„Ich halte durch. Lass uns weiterfahren.“

Also stiegen sie wieder ein. Maria startete den Wagen, drückte sacht das Gaspedal und lenkte den Wagen zur M6 zurück. „Halt!“, rief Zach plötzlich. Hektisch stieg sie in die Eisen. Der Mini kam mit quietschenden Reifen zum Stehen. Zach riss die Beifahrertür auf. Schnell legte er die wenigen Schritte bis zu einem orange lackierten Sportwagen zurück, der am Straßenrand abgestellt war, brachte den Kopf ganz nah an dessen Seitenscheibe und schaute hinein. Eine blonde junge Frau starrte halb verschlafen, halb erschreckt zurück – Veronica.

43) Neumond

Maria und Zach loggten in mehrere weitere Online-Dienste ein, um herauszufinden, ob Kirk in den letzten vier Wochen Lebenszeichen beziehungsweise Hinweise hinterlassen hatte, wo sie sich gerade aufhielt. Ihre Konten auf verschiedenen sozialen Medien zeigten den gesamten Mai hindurch keinerlei Aktivitäten. Schließlich sahen der Detektiv und die Italienerin einander resigniert an. Stumm stellten sie dieselbe Frage: Was nun? Schließlich war Zach aufgestanden. „Gehen wir“, sagte er.

„Wohin?“, fragte Maria.

„Nach Norden natürlich. Zu eurer Hütte, oder was das ist. Mangels weiterer Anhaltspunkte halte ich das für besser, als hier herumzusitzen und die Fingernägel zu zerkauen.“

„Wie stellst du dir das vor?“, protestierte Maria. „Da hält kein Bus vor dem Haus. Von der nächstgelegenen Ortschaft fährt man eine halbe Stunde, und von Liverpool bis dort hin braucht man mit dem Auto mindestens drei bis vier Stunden – wenn man eines hätte.“

„Wir haben eins“, sagte Zach. „Komm mit.“

Maria folgte ihm aus dem Studierzimmer hinaus, den Flur entlang und die Treppen hinab. „Ich dachte, Veronica hat den Opel mitgenommen“, rief sie ihm hinterher.

„Hat sie“, antwortete Zach, der einen Schlüssel aus der Hosentasche fischte. Er schloss den Tresor auf, griff in eines der Regale und hielt Maria einen Wagenschlüssel unter die Nase.

„Johns Mini Cooper!“, hauchte sie mit großen Augen. „Das kannst du nicht machen.“

Zach zuckte mit den Schultern. „Wenn es um Veronica geht, nehme ich keine falschen Rücksichten.“ Er schnitt Maria, die den hohen Preis des Autos ins Feld führte, das Wort ab. „Ich bin ein sicherheitsbewusster Fahrer. Dem Mini wird nichts passieren. Bloß schade, dass er nur so wenige Meilen pro Stunde macht.“


„Man sagt, das Haus wurde über einer alten druidischen Kultstätte errichtet“, erzählte Kite im Plauderton. „Man sagt auch, dass sie hier Menschen geopfert haben. Bei Ausgrabungen sind tatsächlich ein Ringwall um das Haus und darunter ein unidentifizierbares quadratisches Fundament gefunden worden.“ Während er all das erläuterte, legte Kite seine Jacke auf dem Stuhl unter dem linken Fenster ab und öffnete die Knöpfe seines Hemdes. Er ging hinter ihr vorbei zu dem Schränkchen – kein Tischchen – unter dem rechten Fenster und entnahm ihm fünf Kerzenständer, eine Streichholzschachtel, eine Art Nierenschale und einen schwarzen Kapuzenumhang. Die Utensilien legte er auf das Bett. Er kam zurück und zog ihr mit einem Ruck die Strohmatte unter den Füßen weg.

„Hey!“ rief Veronica, die mit dem vollen Gewicht in die Lederriemen um ihre Handgelenke fiel. Während sie wieder auf ihre Füße zu gelangen versuchte, bemerkte sie die eingeritzten Symbole, die die Matte bisher verdeckt hatte. Sie stand beziehungsweise hing im Zentrum eines Pentagramms.

Kite fuhr mittlerweile fort, das Hemd abzulegen. „Heute Nacht sollst du meine Braut sein“, sagte er. „Das Ritual erfordert, dass wir uns passend kleiden – ich mich um, du dich aus.“ Er kicherte sein Hyänenkichern. „Keine Sorge, ich helfe dir natürlich.“ Er wandte sich dem Bett zu. Die Hose fiel, die Unterwäsche folgte.

Veronica schauderte. Die geballte Kraft, die der Riese verkörperte, schien ihr beim Anblick seiner Muskeln plötzlich unüberwindlich. Für einen Moment verzagte sie, rief sich aber sofort zur Ordnung. Sie würde ihn besiegen! Sie würde ihn besiegen, weil sie musste.

Er streifte den schwarzen Kapuzenumhang über. Dann begann er, die Kerzen anzuzünden und verteilte sie in gleichen Abständen um das Pentagramm. „Ich bin fertig,“ verkündete er fröhlich. „Nun bist du an der Reihe.“ Vor ihr bei der letzten Kerze kniend schaute er zu ihr auf. Das Flackern der Flammen verwandelte sein Gesicht unter der Haube für einen Moment in die Fratze eines Dämons. „Bleib genau so stehen!“, befahl Kite. „Du siehst perfekt aus.“ Als hätte sie eine Wahl!

Langsam erhob er sich. Wieder ging er zu dem Schränkchen, wo er den Dolch, den er dort abgelegt hatte, ergriff. Er trat hinter sie und kniete nieder. Veronica spürte ein Zupfen am unteren Saum ihres Kleids. Ein Geräusch zerreißenden Textils. Der Druck, den der Stoff auf ihre Oberschenkel ausgeübt hatte, schwand. Kite führte die scharfe Klinge langsam weiter entlang ihrer Körpermitte nach oben und beendete die Bewegung erst, als er ihren Nacken erreicht hatte. Das schwarze Kleid, nur noch an ihren Schultern hängend, verhüllte sie nun lediglich von vorn. Kite zog an den Bändeln ihres Bikini-Oberteils und durchtrennte sie mit schnellen Schnitten. Dasselbe wiederholte er bei ihrem Höschen. Zufrieden betrachtete er sein Werk. Furcht stieg in Veronica auf. Nie in ihrem Leben war sie so schutzlos ausgeliefert gewesen.

„Unsere… Gäste… sind normalerweise sehr viel jünger als du“, sagte er. Seine Stimme klang raubkatzenhaft. „Für dein hohes Alter hast du dich recht gut in Schuss gehalten. Schau dir nur diese schönen Muskeln an!“ Er sagte es fast bewundernd. Seine Finger strichen über ihre Rippen. Dann glitten sie ihrer Wirbelsäule entlang. Die junge Frau nahm alle Kraft zusammen, um nicht aufzuschreien. Ihre Angst überwältigte sie fast, doch sie wusste, was geschähe, wenn sie ihr nachgab. Der Riese sprach es für sie aus: „Im Moment meiner höchsten Lust wirst du sterben.“ Der Zeigefinger seiner Linken fuhr über ihre Halsschlagader.

Bitte, bitte, bleib da nicht stehen!, flehte Veronica still. Alles hing nun davon ab, dass sie ihn sehen konnte. Wenn er einfach so fortfuhr, wäre ihr jede Möglichkeit genommen, ihn zu erledigen.

Er tat ihr den Gefallen. Kite schritt langsam um sie herum, baute sich vor ihr auf und hob den Dolch direkt vor ihre Augen. Im Kerzenschein schimmerten Ornamente auf der kurzen und rasiermesserscharfen Doppelklinge. Sie würdigte diese jedoch keines zweiten Blickes, sondern schaute daran vorbei in die Augen des Psychopathen, die im Schatten der Haube fast nur durch ein Glitzern auszumachen waren. Vorsichtig beugte sie die Knie, bis ihr Körper mit seinem vollen Gewicht am Seil hing. Ihre Gelenke schmerzten schlimm. Dennoch nahm sie eine S-Haltung ein, die Künstler aller Epochen in Gemälden und Skulpturen abgebildet hatten. Sie hoffte es wirkte verführerisch genug, ihn über ihre Anspannung hinwegzutäuschen.

Ihr Plan ging auf. Mit der rechten Hand des Hünen verließ der Dolch den Raum zwischen ihren Gesichtern. Seine Linke streckte er nach dem Halsausschnitt des lose an ihr herabhängenden Kleides aus, während der dazugehörige Fuß des Mannes ihn einen Schritt näher an Veronica herantrug. Blitzschnell spannte sie ihre Muskeln, zog ihre noch immer zusammengebundenen Beine ruckartig in eine Hockstellung und rammte ihm die Knie mit aller Macht in die Hoden. Ein heiserer Schrei entrang sich ihrer Kehle. Fast im selben Moment kollabierte Kite. Er schlug mit der Nase hart gegen ihre Schulter und ging mit einem lauten Grunzen zu Boden, wo er in Embryonalstellung liegen blieb. Reflexhaft hatte er beide Hände zu Fäusten geballt in seinen Schritt gepresst, in der linken die Reste ihres schwarzen Kleides, in der rechten den Dolch. Dass die Klinge tief ins Fleisch seiner Schenkel schnitt, schien er nicht zu bemerken.

Greller Schmerz durchzuckte auch die junge Frau. Ihre Handgelenke bluteten nun, die Schulter explodierte regelrecht in Schmerzen, und auch die Knie beschwerten sich. Es fiel ihr schwer, sich auf die Pendelbewegung zu konzentrieren, in die sie durch den Angriff geraten war. Sie musste einen weiteren Schlag ausführen, und er musste präzise sitzen. Nach einer gefühlten Ewigkeit stand sie endlich still. Der Perversling wendete ihr den Kopf zu, um sie anzuschauen. Wenn sie nicht schnell handelte, würde er den Körper folgen lassen und sich auf den Rücken drehen. Danach befände er sich wahrscheinlich außerhalb ihrer Reichweite. Erneut spannte sie die Muskeln, zog vorsichtig die Knie an und verharrte für den Bruchteil einer Sekunde in dieser Stellung. Sie zielte – und sie genoss den Augenblick. Dann schossen die mit einem Lederband zusammengeknoteten Beine senkrecht nach unten. Wieder schrie sie. Ihre Fersen bohrten sich in seine Kehle, die mit einem undefinierbaren Geräusch nachgab. Kite riss die Augen auf und auch den Mund, doch eine Lautäußerung war ihm nun verwehrt. Die Hände um den Hals gelegt zuckte er noch einige Sekunden. Ein leises Gurgeln sollte das Letzte sein, was der dreißigste Nachfahr von William Braveheart Wallace von sich gab. Veronicas innere Uhr tickte zwanzig weitere Sekunden, bevor sie 0:00 Uhr meldete. Neumond.


Der Vorbesitzer hatte Lennons Mini Cooper nicht nur fahrtauglich sondern gut in Schuss gehalten. Der Kleinwagen brummte mit neunzig Meilen die Stunde über die M6 nach Norden, der schottischen Grenze entgegen. Fast zwei Stunden lang beglückte sie der Asphaltstrang mit freier Fahrt, doch dann verdichtete sich der Verkehr zusehends, wurde immer langsamer und kam schließlich ganz zum Stillstand. Da es kurz vor Mitternacht war, schaltete Zach das altertümliche Radio ein, in der Hoffnung, die Nachrichten enthielten Informationen über das Ausmaß der Behinderung. Während sie im Schritttempo weiterschlichen, verkündete die Sprecherin eine Meldung zum Tod des Aaron S., eines reichen Bürgers und Kulturförderers der Stadt Liverpool. Die Polizei von Liverpool habe bekannt gegeben, dass sie vorbehaltlich letzter forensischer Untersuchungen nun ‚mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit‘ von einem Suizid ausging. Mr S. habe sich am Sonntag Abend mit einer kleinkalibrigen Waffe selbst in den Kopf geschossen und sei auf der Stelle verstorben. Als Motiv würden finanzielle Schwierigkeiten vermutet.

Zach und Maria schauten einander vielsagend an. „In den Hinterkopf, gleich zwei Mal! Schon klar!“, meinte der Detektiv.

„Von finanziellen Schwierigkeiten kann ebenfalls keine Rede sein. Mustard hat die Suche nach Mal Evans‘ Koffer mit hunderttausend Pfund vorfinanziert“, merkte die Italienerin an. „Was geht hier vor?“

„Meinst du, er könnte derjenige gewesen sein, der McCartneys Autopsiefoto mitgehen hat lassen?“

Maria schaute ihn betroffen an. „Ich halte nicht viel von Kite und traue ihm kein bisschen weiter, als ich sehen kann. Er ist ein grober und manchmal brutaler Mensch; aber… Mord? Ich weiß nicht.“

„Mangels Verwicklung in andere kriminelle Machenschaften, von denen wir nichts wissen – wer sonst sollte ein Interesse an Mustards Tod haben und in der Lage sein, die polizeilichen Ermittlungen zu beeinflussen?“

Die Italienerin rieb nervös die Hände aneinander. Sie schaute missmutig in die Rücklichter des zähfließenden Verkehrs vor ihnen. Gerade wollte sie wieder zu reden beginnen, da unterbrach der Detektiv sie mit einer schnellen Geste. Er drehte am Lautstärkeregler des Radios, das inzwischen vermehrt rauschte. Er justierte die Frequenz nach, bis er mit der Qualität der Übertragung zufrieden war, gerade rechtzeitig, dass sie die Verkehrsmeldung für die M6 hören konnten. Ein Unfall hatte beide Fahrbahnen in nördlicher Richtung blockiert. Nur der Standstreifen stand für die Weiterfahrt zur Verfügung. Fahrzeuge stauten sich bereits auf fast zehn Meilen. Verkehrsteilnehmer wurden gebeten, den Streckenabschnitt weiträumig zu umfahren.

Zach fluchte, dann riss er das Steuer herum und schoss am Fahrbahnrand an den stehenden Autos vorbei. Ein Hupkonzert folgte dem Mini. Zweihundert Yards weiter drängelte er sich an einer Ausfahrt in eine Lücke zwischen zwei anderen Verkehrsteilnehmern, die den Motorway verließen.

13) Socken, Mal!

Als Veronica am Sonntag Morgen in den Laden ging, um das Sgt. Pepper-Album unter die Lupe zu nehmen, sah sie vor der Außentür eine Frau stehen. Zuerst wollte sie sie ignorieren, denn sie hatten das Geschäft noch nicht wieder eröffnet. Ihr kam jedoch das Gesicht bekannt vor. Sie trat näher und erkannte die Bedienung aus dem italienischen Restaurant, das sie vor drei Tagen besucht hatten. Die Kellnerin winkte und gab ihr durch Handzeichen zu verstehen, dass sie gern hereinkommen würde. Veronica schloss auf und öffnete.

Die Frau lächelte breit. „Grazie. Wie schön, Sie wiederzusehen, Signorina. Nur ausgerechnet hier… kaufen Sie den Fab Store?“

„Guten Morgen, Frau… äh…“

„Borghese. Maria Borghese.“ Sie trug ein einfaches schwarzes knielanges Kleid, einen kleinen schwarzen Hut und führte eine Handtasche mit.

„Kommen Sie doch herein, Frau Borghese. Mein Name ist übrigens Veronica Ziegler. Ich bin die Nichte von Herrn Campbell.“

„Oh, dann sind Sie die Erbin?“

„Nein, mein Vater. Sie haben ihn ja schon kennengelernt.“

„Si, si. Freundliche Menschen vergesse ich nicht so schnell. Ist er ebenfalls hier?“

„Ja, aber er schläft noch. Kann ich etwas für Sie tun, Frau Borghese?“

„Womöglich. Ich komme mit mehreren Anliegen zu Ihnen. Zunächst einmal möchte ich Ihnen mein Beileid für den Verlust Ihres Verwandten ausdrücken. Signore Campbell war ein feiner Mann, stets korrekt und der Wahrheit verpflichtet. Auch ich trauere um ihn.“

„Danke für Ihr Mitgefühl. Die Umstände seines Todes sind schockierend. Wir fühlen uns sehr beunruhigt.“

„Das kann ich nachvollziehen. So geht es uns allen.“

„Kannten Sie ihn persönlich, Frau Borghese?“

„Jeder hier im Viertel und jeder in Liverpool, der auf unsere Fab Four stolz ist, kannte ihn. Doch ja, ich kannte ihn näher. Wir haben auf mehreren Ebenen zusammengearbeitet. Unter anderem deshalb kam ich hierher.“

„Oh? Ich dachte, Sie verdienen Ihr Einkommen im Restaurant.“

Die Frau schüttelte den Kopf. „Signorina, niemand verdient sein Einkommen in einem Restaurant, oft nicht einmal die Betreiber. Ich habe für Herrn Campbell täglich den Laden gewischt und wöchentlich die Wohnung geputzt.“

„Das hört sich alles andere als nach einem lukrativen Job an.“

„Ein bisschen und ein weiteres bisschen ergeben einen ganzen Bissen. Signore Campbell hat ordentlich bezahlt, und er gab mir manchmal anspruchsvollere Aufträge, von denen wir gut leben konnten.“

„Ihre Kinder und Sie? Von welcher Art Aufträge sprechen Sie?“

„Meine Kinder stehen längst auf eigenen Beinen. Signore Campbell und ich haben zusammen die Archiv- und Internetrecherchen durchgeführt, die die Beschaffung von Memorabilia ermöglichten.“

„Und Sie besuchen uns heute, weil Sie hoffen, Ihre Arbeit wieder aufnehmen zu können, nehme ich an.“

„Das wird selbst unter günstigsten Bedingungen nicht leicht sein. Niemand kann Signore Campbells Gespür für dieses Geschäft und seine persönlichen Beziehungen ersetzen. Aber ich kenne meinen Anteil am Erfolg des Fab Store,“ sagte sie stolz. „Daher hege ich die Hoffnung, dass ein Nachfolger, der nicht ganz auf den Kopf gefallen ist, sich vielleicht einzuarbeiten versteht.“

„Wir haben ähnliche Überlegungen angestellt. Mein Vater und ich führen eine Detektei, die uns zwar nicht reich macht, aber ein ausreichendes Einkommen generiert. Wenn wir den Laden weiterführen sollen, brauchen wir Expertise: Details aus dem Leben der Beatles, oder Kenntnisse der Sammlerszene und des Auktionswesens, um nur einige wenige Punkte zu nennen, in denen es bei uns hapert. Ein gewisser Mr Bishop, den Sie eigentlich auch kennen müssten, hat uns dennoch Mut zugesprochen. Wir sind realistischerweise skeptisch.“

„Ach, Henry the Horse kennen Sie bereits? Ich schätze ihn als einen äußerst ehrenwerten Mann ein. Er hat stets alle Absprachen eingehalten, pünktlich bezahlt und: Ich habe ihn nie bei einer Lüge ertappt. Manche Leute nehmen es mit der Wahrheit nicht so genau, wie Sie bei Ihrer Tätigkeit bestimmt erfahren mussten.“ Maria Borghese zwinkerte.

Veronica bewegte ihre Hände auf eine Weise, die signalisierte, dass es Teil ihres Alltags war. „Die Spreu vom Weizen zu trennen gehört zu unserem Geschäft; anscheinend gehörte es auch zu dem von Onkel Paul.“

Die Frau nickte eifrig. „So ist es. Wir kannten unsere Pappenheimer unter den Kunden, wir mussten aber auch falsche von richtigen Fährten trennen. Es gibt dort draußen viele Leute, die sich wichtig machen wollen, indem sie unhaltbare Behauptungen aufstellen. Da gibt es zum Beispiel jemand auf Hawaii, der den angeblichen Mini von John Lennon für 250.000 Dollar anbietet – mit Papieren. Angeblich sei der Wagen weitgehend im Originalzustand. Selbst wer nur ein bisschen Ahnung von der Materie hat, sieht schnell, dass da etwas nicht stimmt. Wenn man die Seite im Internet Archive zurückverfolgt, fällt auf, dass anfangs keine Papiere erwähnt wurden.“

„Aha, sie waren also am Erwerb von LGF 969D beteiligt.“

„696. Die Nummer des Originals lautet LGF 696D“, korrigierte Mrs Borghese.

„…. wie in Sammlerkreisen bekannt ist!“, ergänzte Veronica, wobei sie den Tonfall des Notars Miller zum Besten gab.

Maria Borghese lachte trocken auf. „Den Herrn haben Sie offensichtlich auch schon kennengelernt. Nun, Signore Campbell und ich konnten die Spur des Autos nachverfolgen. Er ist inzwischen umlackiert worden – noch von John selbst –, aber er hat seine Nummerntafeln all die Jahrzehnte behalten. Der Wagen in Hawaii dagegen trug ein bisher unbekanntes Schild.“

Veronica war von der Detailkenntnis und dem wachen Geist der Frau beeindruckt. Sie fand, hier gab es wenig zu überlegen. Diese Mrs Borghese hatte das Schicksal zu ihnen gesendet. Natürlich konnte die Frage einer Festanstellung nur ihr Vater abschließend beantworten, aber sie hatte ein gutes Gefühl bei dieser Frau. Sie sagte: „Ob wir Sie einstellen werden, muss natürlich der Boss entscheiden.“ Sie grinste schief. „Und es hängt zuallererst davon ab, ob wir den Laden behalten. Aber wir haben uns schon über eine Putzhilfe unterhalten. Ich denke, Sie können morgen um dieselbe Zeit wieder herkommen, um ‚auf Probe‘ zu putzen; natürlich voll bezahlt. Alles Weitere bereden wir später. Was halten Sie davon?“

„Signorina, ich freue mich sehr. Grüßen Sie Ihren verehrten Herrn Vater von mir. Ich hoffe, dass er meine Dienste annimmt – zumindest, bis die Entscheidung über den Laden gefallen ist. Ich nehme doch richtig an, dass Sie da ein Wörtchen mitzureden haben?“

Sie war verdammt schnell von Begriff und sie hatte ein Gespür für Menschliches, dachte Veronica bewundernd. Außerdem fühlte sie sich, wie schon bei ihrer ersten Begegnung im Restaurant, vom sympathischem Wesen der Frau vereinnahmt. Das konnte natürlich Maskerade sein. Notorische Betrüger oder Psychopathen beispielsweise besaßen häufig die Gabe, ihre Opfer zu manipulieren, indem sie sie aushorchten, um ihnen anschließend genau das zu erzählen, was sie hören wollten. Veronicas Bullshit-Detektor hatte nicht ausgeschlagen. Das konnte ein gutes Zeichen sein – oder eine gefährliche Lücke in ihrer Wachsamkeit. Sie entschied sich, dem schönen Schein für heute zu trauen, während sie eine geistige Notiz an sich selbst verfasste, es nicht zu weit damit zu treiben. Ihr Vater hatte ebenfalls einen guten Riecher für schwierige Menschen, wie er sie euphemistisch nannte. Er würde den Versuch, sie über den Tisch zu ziehen, schnell unterbinden – falls es einen solchen gab. Falls Maria Borghese die war, die sie zu sein schien, dann… „Ja, sicher,“ sagte sie. Sie hatte ein Wörtchen mitzureden. Ganz entschieden.


Sie hatte gerade den Fuß auf die erste Treppenstufe gesetzt, da fiel ihr wieder ein, weshalb sie eigentlich in den Verkaufsraum gegangen war. Vor zwei Tagen bereits hatte sie das Sgt. Pepper-Cover in Augenschein nehmen wollen, doch ständig vereinnahmte etwas ihren Geist, bevor sie ihre Absicht realisieren konnte. Am Freitag war es Henry gewesen, am Samstag die Kofferrecherche und heute Mrs Borghese. Im Lichte neuer Fakten flexibel zu bleiben empfand sie einerseits als Stärke, andererseits verleitete es dazu, sich von den Ereignissen in eine atemlose Jagd treiben zu lassen. Was sie seit ihrer Ankunft durch Gespräche und Recherchen erfahren hatten, war sehr erhellend gewesen, in der Tat sogar atemberaubend, wie eine intellektuelle Schnitzeljagd, die von einem Hinweis zum nächsten führte, während der Rest der Realität nahezu völlig ausgeblendet blieb.

Veronica musste schmunzeln, denn es erinnerte sie an einen Cartoon, den sie gesehen hatte: Ein Pokémon-Go-Spieler folgte gesenkten Hauptes den Hinweisen auf dem Display seines Handys – direkt über den Rand einer Klippe. Es waren tatsächlich Unfälle geschehen; jemand hatte daraufhin eine App entwickelt, die das Kamerabild halb transparent überlagerte, damit ihr User wenigstens nicht durch eine ordinäre Bananenschale oder eine Bordsteinkante zu Fall gebracht wurde. Die Verengung des optischen und geistigen Horizonts durch die Spiele-App minderte die Aufmerksamkeit der Anwender jedoch auch in anderer Hinsicht: Buchstäblich unter ihrer Nase wurden ihnen Bewegungsdaten, Konsumvorlieben, Wahrnehmungsgewohnheiten und andere persönliche Daten abgesaugt, um ihr Handy dann mit subtilen Konsumbotschaften zu füttern. So steuerte man die Spieler gezielt hier in einen Imbiss, da in einen Klamottenladen und dort in ein Musikgeschäft, wo sie, oft gegen ihre sonstigen Gewohnheiten, freundlicherweise ein paar Euro, Pfund, Dollar oder Yen hinterließen. Google-Werbung macht sich auf mehr Weisen bezahlt als nur durch Klicks auf einer Suchergebnisseite. Und die Kamera-App hatte die User zum Weiterspielen verleitet, wo eine schmerzhafte Prellung angebracht gewesen wäre, um sie wieder zu sich selbst zu bringen…

Doch was beschwerte sich diese junge Nachwuchsdetektivin? Sie folgte in Gedanken ja ebenfalls schon wieder Brotkrumen und stand im Begriff, ihr Vorhaben aus den Augen zu verlieren. Der menschliche Geist bestand aus einem Sack voller Flöhe, dachte Veronica. Wie hatte ihr Vater es einmal beschrieben? Es bedurfte einiger Übungen und Tricks, um sie beisammen zu halten, damit sie Kunststücke aufführten, statt einen durch lästiges Jucken abzulenken.

So. Und nun würde sie…

„Guten Morgen, Veronica! Du kennst die Strafe für sonntägliches Frühaufstehen!“, donnerte ihr Vater von oben.

„Ja, Dad. Der erste, der aufsteht, macht Frühstück.“

„Hurtig, in die Küche! Stell sicher, dass der Kaffee ordentlich dampft.“

„Sei nett zu mir. Ich werde dich einmal pflegen.“

„Ich habe nicht vor, mein Verfallsdatum zu überschreiten. Außerdem bin ich derjenige, der die Brötchen kaufen gehen wird. Soll ich dir nun etwas Besonderes mitbringen oder nicht?“

„Brezeln, falls du in diesem nordenglischen Kral welche findest. Ansonsten nehme ich, was du erlegst. Du bist der Jäger in der Familie.“

„Ganz recht. Und jetzt runter von der Treppe, damit ich rauskomme.“

„So gehen Sie mir nicht aus dem Haus, Herr Ziegler.“

Zach schaute an seinem zerknitterten Pyjama hinunter. „Was… ach herrje! Da fehlen nur noch die Lockenwickler!“

Veronica prustete. Als sie sich an ihm vorbei drückte, empfahl sie, den Gebrauch von Kamm und Rasiermesser zu erwägen. In Anspielung auf eine Passage aus Malcolm Evans‘ Tagebuch rief sie: „Socken, Mal.“ Ein Pantoffel flog haarscharf an ihr vorbei. Sie eilte kichernd in die Küche, knallte die Tür zu und drehte den Schlüssel um. Ein dumpfes Rumsen verkündete den Einschlag des zweiten Pantoffels. Dann ging der Haushalt seinen sonntagmorgendlichen Pflichten nach.

3) Tiefgarage

„Zwick mich!“, sagte Veronica, als sie wieder im Wagen saßen, die Yewtree Road verließen und nach Süden zu ihrem Hotel steuerten. „Autsch!“, kreischte sie. Der GT vollführte einen kleinen Schlenker. Ein entgegenkommendes Auto blendete die Scheinwerfer auf. „Das ist ja ganz und gar unglaublich.“

„Bis letzte Woche bist du in ausgelatschten Tennisschuhen herumgerannt, und plötzlich kannst du dir so viele Stöckels leisten wie einst Imelda Marcos,“ lachte Zach.

„Und genauso unverdient. Bis letzte Woche kannte ich keinen Onkel Paul; du hast dich im Streit von ihm getrennt, ihn seit zwanzig Jahren nicht gesehen, weißt weder, wie er gestorben ist noch wo er begraben liegt, aber von einem Tag auf den anderen macht er dich zum Millionär. Das ist ein kleines bisschen beunruhigend, oder?“

„Nur so lange, bis diese Fragen geklärt sind. Dr. Miller wird uns schon morgen alles erzählen, und dann…“

„Und dann was?“, bohrte Veronica. „Hängst du unsere Detektei an den Nagel, um alte Autogrammkarten berühmter Musiker an Touristen in Hawaii-Hemden zu verkaufen?“

„Wohl kaum. Dafür fehlt mir die Geduld. Andererseits…“ Er überlegte. „Paul wird sein Vermögen sicher nicht mit Kleinkram gemacht haben. Die Immobilie mitten im Stadtzentrum war sicher enorm teuer. Ihr Kauf hätte sich nur gelohnt, wenn der Laden auch in großem Maßstab Gewinn abzuwerfen versprach. Er wird Raritäten und Unikate gehandelt haben: Cobains letzte Gitarre, die Kulissen vom Pepper-Album der Beatles oder irgendwelche Beethoven-Manuskripte. Dafür spricht auch, dass sich der geschätzte Verkaufswert der noch vorhandenen Waren auf über drei Millionen Pfund beläuft.“

„Man muss sich in der Materie gut auskennen, um aus altem Schrott Geld herauszuschlagen,“ wandte Veronica ein. „Im Gegensatz zu Briefmarken gibt es für seltene Memorabilien bestimmt keine Kataloge oder Preislisten. Du brauchst eine gute Nase, um geeignetes Material aufzuspüren und musst Kontakte zu Sammlern pflegen, um abschätzen zu können, was man an wen für wie viel Kohle weiterverscherbeln kann. Onkel Paul hatte von seiner Zeit beim Sender her bestimmt erstklassige Verbindungen in die Szene. Wir hingegen werden jemand damit beauftragen müssen, den Laden weiterzuführen oder abzuwickeln, sonst verwandelt sich diese Goldgrube in ein schwarzes Loch.“

Zach nickte. „Da hast du wahrscheinlich recht. Aber schauen wir uns die Sache doch erst einmal an, ehe wir voreilige Schlüsse ziehen.“

„Yep. Ich bin dafür, dass wir an der nächsten Pizzeria halten und ordentlich Ballast aufnehmen. Ich komme mir vor, als schwebte ich einige Zentimeter über dem Boden. Mir schwirrt der Kopf.“

„Rate mal, wem noch,“ grunzte Zach.


Am nächsten Morgen schliefen die beiden aus. Sie ließen das Hotelfrühstück sausen – zur Enttäuschung all jener, die gehofft hatten, einen weiteren Auftritt Ludwig Lederrachens erleben zu dürfen – und suchten stattdessen einen Pub auf, der Brunch servierte. Nachdem sie ausgiebig gespeist hatten, steuerte Veronica den Wagen wieder in die Yewtree Road. Mrs Jones ließ sie ein und übergab ihnen einen Ordner mit Unterlagen sowie ein Inventarverzeichnis mit der Aufschrift ‚Campbell‘s Fab Store‘. „Nehmen Sie doch einen Augenblick Platz.“ Sie deutete auf den Eingang zum Wartezimmer. „Dr. Miller wird in wenigen Minuten mit den Haustürschlüsseln eintreffen.“

Zach legte die Papiere auf einen Stuhl neben Veronica, die sich gesetzt hatte. Wieder packte ihn eine seltsame Unruhe. Er begann, wie bereits am Vortag, die Fotos zu inspizieren, die in solch scharfem atmosphärischen Kontrast zu den heiteren Gemälden über ihnen standen: Eines zeigte die vier Pilzköpfe in schwarze Kutten gekleidet, die Gesichter weitgehend im Schatten der Kapuzen verborgen. Auf dem nächsten sah man einen Mann, dessen Gesicht von Bandagen verdeckt war, vor einer Kulisse mit exotischen Pflanzen stehen, zusammen mit einer Person, die eine Hornbrille trug und ihn um fast einen Kopf überragte. Auf einem weiteren Foto präsentierte ein formell gekleideter älterer Herr eine auf ein Samtkissen gebettete historische Waffe, vielleicht eine Streitaxt oder ein Kriegshammer. Ihm gegenüber stand John Lennon mit hängenden Schultern, sichtlich übernächtigt.

Zach wollte seine Tochter fragen, was sie über die Szenen dachte, wurde aber, genau wie am Vortag, unterbrochen – diesmal von Veronica selbst, die das Inventarbuch studiert hatte. „Phantastisch!, Du wirst staunen, was Onkel Paul alles in seinem Laden angeboten hat,“ sagte sie aufgeregt. „Die Trümmer der Gitarre, die Jimi Hendrix auf dem Isle of Man-Festival gespielt hat; ein Zombie-Kostüm namens Eddie, mit dem jemand auf Iron Maidens Killers-Tour über die Bühne wankte; eine Perücke von Tina Turner aus der Zeit mit Ike. Und ja, tausende von Autogrammkarten, alte Ausgaben von Musikzeitschriften, signierte Plektren, Vinylscheiben und anderer Klimbim, aber die wertvollsten Stücke stammen fast alle von den Beatles. Er hat sie auf Bestellung beschafft. Hier, das sind die Namen der Käufer, dahinter der vereinbarte Preis. Wären wir nicht solche Intelligenzbestien würde ich sagen, wir haben mehr Glück als Verstand.“ Sie grinste. Dann bemerkte sie seine Miene. „Was ist?“

Die Tür ging auf, Dr. Miller trat ein.


Sie folgten dem SUV des Notars in die Innenstadt von Liverpool. Die Straßen waren um diese Zeit nur mäßig befahren, so dass sie es in einer Dreiviertelstunde schafften. Statt ihnen einfach nur die Schlüssel zu Laden, Wohnung und Fahrzeug zu überreichen, hatte Dr. Miller angeboten, die Räumlichkeiten für sie zu öffnen. Es gebe einiges zu beachten, sagte er, das er ihnen vor Ort zeigen werde, und er wolle auch seinem Versprechen nachkommen, etwas über die Umstände von Mr Campbells Tod zu erzählen. Und so bogen sie schließlich in die Victoria Street ein, rollten über eine steile Rampe in eine Tiefgarage und fädelten in die ziemlich engen Nischen ein. Es gab nur wenige freie Plätze, so dass die beiden Fahrzeuge in einiger Distanz zu einander standen. Parkplätze, erklärte Dr. Miller, nachdem sie schließlich gemeinsam über eine Treppe auf Straßenniveau zurückgekehrt waren, seien Mangelware so nahe am Touristenzentrum. Es gebe jedoch reservierte Buchten für die Anwohner. Auf einer solchen stehe auch Mr Campbells Wagen. Ob sie ihn gleich sehen wollten?

„Ist es weit?“, fragte Veronica.

„Nein, er befindet sich auf dem Weg zum Laden,“ erwiderte der Notar.

„Dann zeigen Sie uns den Weg,“ meinte Zach.

Über den unscheinbaren Nebeneingang eines Restaurants betraten sie ein Treppenhaus, das sie wieder unter die Erde führte. Durch eine Stahltür gelangten sie auf ein weiteres Parkdeck – ausschließlich für Anlieger –, in dessen entlegenstem Eck sie eine verschlossene Garage erwartete.

Zach sah Miller fragend an. „Ist das nicht ein bisschen übertrieben für einen alten Wagen?“

Miller lachte. „Nicht irgendeinen alten Wagen – einen der Austin Mini Cooper S, die Epstein 1965 für die Beatles besorgt hat! Das Fahrzeug wurde von Harold Radford den Sonderwünschen des Käufers angepasst und wäre schon allein deshalb kein Besitz, den man unbeaufsichtigt am Straßenrand stehen lässt.“ Er zückte einen Schlüsselbund, öffnete das Garagenschloss, drehte am Knauf und riss das Rolltor auf. Ohne nennenswertes Geräusch glitt es nach oben, bis es in eine Haltestellung geriet. Hinter der Öffnung war automatisch eine Serie von Wandlampen angegangen. Sie tauchten einen kastenförmigen Kleinwagen, dessen salbeigrünes Heck ihnen zugewandt war, in warmes Licht. Der cremefarbene Lack des Dachs glänzte wie neu.

„Nett,“ ließ Zach mit einer Stimme vernehmen, der man eine gewisse Enttäuschung anmerken konnte. „Hat im Inventar nicht ‚Aston‘ gestanden?“

Miller lachte erneut. „Nein, Austin. Sie haben einen Aston Martin erwartet, einen DB5, wie James Bond ihn in ‚Goldfinger‘ fuhr, nur silberblau? McCartneys Aston Martin?“

„So ungefähr,“ gab Zach zurück.

„Der würde mir auch gefallen. Er ist leider in festen Händen, seit er vor vier, fünf Jahren für fast anderthalb Millionen Pfund in einer Auktion den Besitzer wechselte. Ich gebe zu, der würde zu Ihnen passen – und zu dem Sportwagen, den Ihre Tochter fährt.“ Wieder warf der Notar Veronica diesen eindringlichen Blick zu. Veronica starrte zurück.

„Wissen Sie, welchem der Beatles der Mini gehört hat?“, unterbrach Zach das Augenduell.

Miller musterte ihn für ein paar Sekunden, ohne eine Miene zu verziehen. „In Sammlerkreisen“ – er betonte das Wort auf eine Weise, die eine viel kleinere Personengruppe andeutete, als es normalerweise bezeichnete – „steht die Nummer ‚LGF 696D‘ für einen Wagen, der vor vielen Jahren spurlos von der Bildfläche verschwunden ist; nun, nicht ganz spurlos. Mr Campbell hat seine Beziehungen spielen lassen und ihn vor drei Jahren wieder aufgetrieben. Er steht mit einem Schätzwert von 183.000 Pfund im Inventar – angelehnt an den Erlös der Auktion, in der McCartneys Exemplar im September 2018 unter den Hammer kam. Aber Mr Campbell war weder dumm noch ungeduldig. Er konnte warten…“

„Warten? Worauf?“, warf Veronica ein.

„Darauf, dass der richtige Mann in sein Leben trat,“ erläuterte Miller. Er seufzte. „Die Welt ist so kurzatmig geworden. Für einen schnellen Riss verwerfen die Leute oft ihre gesamte Zukunft. Und wenn sie den kleinen Vorteil, den sie auf Kosten langfristigem Wohlstand einheimsen konnten, verspielt haben, stehen sie allein und mit leeren Händen da. Paulus Campbell war nicht so. Er war Teil von etwas Größerem, und er handelte vorausschauend. Und er wusste, man muss nur lange genug warten, bis der richtige Sammler zum richtigen Zeitpunkt erscheint – jemand, der ein Medienereignis oder einen Jahrestag zum Anlass nimmt, um sich John Lennons Mini Cooper zum gleichen Preis zu leisten, wie andere für Paul McCartneys Aston Martin DB5 bezahlt haben.“

„Das ist nicht Ihr Ernst?“ Zach hob skeptisch eine Braue.

„Es war Mr Campbells Erfolgsgeheimnis. Es funktionierte bei jedem einzelnen Stück, das er aufspürte, um es weiterzuverkaufen.“

„Nur, dass er dieses Mal zu lang gewartet hat.“

„Nun, er konnte ja nicht wissen, dass er so schnell aus dem Leben gerissen würde. Und hätte er gewusst, dass man ihn ermordet, hätte ihm der Erlös aus einem schnellen Verkauf auch nichts genützt.“

„Da haben sie natürlich re… Wie bitte? Sagten Sie gerade ‚ermordet‘?“

„Mein Beileid, Herr Ziegler, das ist leider das Schicksal, das der Herr Ihrem Stiefbruder zugemessen hat.“