25) Jenseits von 1984

Der eiförmige weiße Kleinwagen verstopfte noch immer die Durchfahrt unter dem Vordach des Haupteingangs zum Schloss. Während Veronica wenig geschickt die Tür des GT aufzuschließen versuchte, musterte Zach das Nummernschild des Käfers erneut, da er in verschiedenen Datenbanken nach ihm zu suchen gedachte. Schließlich wurde die Beifahrertür von innen entriegelt. Während er einstieg, brauste der Motor auf. Der Sportwagen setzte zurück, bis er die Stelle erreichte, wo die beiden Äste der Zufahrt sich wieder vereinten. Dann schoss er auf Geheiß von Veronicas Stiefel aus dem Hof des Schlosses hinaus, durch den Park und den kleinen Wald bis zur Mauer. Das Tor stand offen. Ohne zu zögern lenkte die Fahrerin den orangefarbenen Blitz auf die Landstraße Richtung Liverpool.

Eine Weile sagte niemand etwas. Veronica verunsicherte die Häufigkeit, mit der sie in der letzten Zeit schockiert worden war. Zach sorgte sich wegen der dunklen Szenerie, die sich aus den neuen Informationen herauszuschälen begann. Nahm er die Million an, die Kite angeboten hatte, betrat er eindeutig kriminelle Gefilde. Der Staat kannte keine Gnade mit jenen Untertanen, die ihm Steuern vorenthielten. Für Leute vom Schlage des Wallace-Schlossherrn war der Staat keine Bedrohung; der Mann gehörte zu jener schmalen Schicht, die den Apparat ihrem Willen gefügig machten. Zach aber wurde erpressbar. Lehnte er das Geld dagegen ab, blieb er ein Außenseiter und war in Liverpool erledigt. Dann konnte er den Fab Store genau so gut schließen. Die beiden Bedingungen, die Kite für ihre Aufnahme in die Familie gestellt hatte, waren praktisch ein und dieselbe. Geschickt eingefädelt. So also wurde man Mitglied einer elitären Loge – und blieb ein Leben lang an sie gekettet. Politik, Justiz, Polizei, Handel, Industrie, Adel, Geheimdienste; schon hier in dieser aufgeblasenen Mittelstadt im englischen Abseits wurde ein holografisches Abbild der mafiösen Durchdringung sämtlicher Leitungspositionen sichtbar, an der klandestine Gruppen unermüdlich weiterwebten.

Tiefenstaat, Freimaurertum, Mafia, Regierungen, Finanzkraken und die industriellen Komplexe, von denen in sozialkritischen Zirkeln allenthalben die Rede war, stellten lediglich unterschiedlich benannte Ausschnitte ein und desselben Netzwerkes dar, das sich unter völligem Ausschluss der weit über neunzigprozentigen Mehrheit an den Gütern der Erde sowie der Arbeitskraft von Mensch, Tier und Maschine bereicherte. Wenn er die Million annahm, baute er an ihrer ‚Neuen Welt-Ordnung‘ mit, dem Projekt zur vollständigen Versklavung der Menschheit. Die meisten Menschen hielten die NWO für eine paranoide Verschwörungstheorie. Dabei machten diejenigen, die sie anstrebten, aus ihren steinernen Herzen keine Mördergrube. Wollte man sie vor Gericht ziehen, würde es an Beweisen nicht im Mindesten mangeln. Aber natürlich lagen auch die höheren Richter im selben Bett wie die niemals Anklagbaren. Letztere waren eine winzige Minderheit, der höchstens einer unter zehntausend Menschen angehörten.

Leider war es ihnen im Lauf der Jahrhunderte gelungen, die Wahrnehmung ihrer Schafherde mit größer werdendem Erfolg nach Belieben zu formen, so dass die Mehrheit die Interessen ihrer Eigentümer, der Hirten und der Schäferhunde völlig selbstverständlich für die eigenen hielt. Schlimmer noch: Sie war sich der Existenz der Eigentümer überhaupt nicht bewusst. Die, die aus glückseliger Unwissenheit erwachten, sahen sich vor eine harte Entscheidung gestellt: entweder auf die ‚Segnungen‘ der Einbettung in den Mastbetrieb zu verzichten und damit aus dem sozialen Kontext, der Herde, weitgehend herauszufallen, oder vorsätzlich Verrat an der eigenen Spezies zu begehen, indem man zugunsten seines Vorankommens andere Schafe vom Ausscheren abhielt. Wer beruflichen oder sozialen Erfolg haben wollte, beugte sich dem Druck. Die ganze Welt war eine verdammte Schaf-Farm, eingeteilt in nationale Pferche unterschiedlicher Größe.

Gehörte Kite zur Kaste der Eigentümer? Eher unwahrscheinlich‚ vermutete Zach. ‚Nutznießer‘ hatte auf der Visitenkarte des Schlossherrn gestanden. Seine Familie musste relativ weit oben bei den Schäfern rangieren. Als Nachkomme von William Braveheart Wallace in der dreißigsten Generation hatte er alten schottischen Adel beansprucht. Er hatte von seinem ‚Großvater und den verbliebenen drei Beatles‘ gesprochen, behauptete also, der Enkel Sir Pauls, genauer gesagt von Billy Shears alias William Shepherd zu sein. Shepherd, der Schäfer. Namen waren nicht immer Schall und Rauch.

„Dad?“

Zach schrak aus seinen Gedanken auf. Durch die Windschutzscheibe sah er die ersten Häuser am Stadtrand von Liverpool. Die Landschaft war vor seinen offenen Augen an ihm vorbeigezogen, ohne dass er sie wahrgenommen hatte. „Ja, was gibt‘s, Kiddo?“, fragte er zurück.

„Wer ist dieser Maxwell Knight?“

„Wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, war er der Leiter des MI-5, Inlandsgeheimdienst ihrer Majestät, der Königin von England. Man sagt, er sei das Vorbild für die M-Personalie in den James-Bond-Filmen gewesen. Wie es scheint, haben ihn auch die Beatles in einem Song verewigt.“

„Glaubst du, dass der alte Knacker auf dem Foto Paul McCartney diesen Hammer über den Schädel ziehen konnte?“

„Das halte ich für den am wenigsten wahrscheinlichen Hergang – es sei denn, er hatte Helfer, die Paul festhielten. Der mochte vom Unfall noch benommen gewesen sein, aber er war ein junger, kräftiger Mann von Mitte Zwanzig.“ Zach grübelte ein paar Augenblicke, bevor er weitersprach. „Ich werde mir immer unsicherer, was von all den… Fakten… überhaupt mit der Wirklichkeit Verbindung hat. In gewissem Sinne befinden wir uns vierzig Jahre jenseits von 1984. Das Wahrheitsministerium veränderte die Geschichtsschreibung zwar fortlaufend, aber es gab in Orwells Roman zu jedem Zeitpunkt nur eine gültige Version davon. Das war das Fundament der Herrschaft der Partei. In unserer Welt dagegen gibt es so viele nebeneinander stehende Wahrnehmungen und übereinander liegende Schichten der Realität, dass niemand sagen kann, was tatsächlich geschah.“

„Ja. Nach allem, was wir wissen, sagt keine Quelle ‚die Wahrheit, die ganze Wahrheit, und nichts als die Wahrheit‘. Gibt es sie überhaupt?“

„Sicher, und mit dem passenden geistigen Werkzeug lässt sie sich oft auch finden. Das beinhaltet, dass du neben den Medien auch deiner eigenen Wahrnehmung misstrauen musst, weil sie von dem Ozean an Unwissen, Filtern, Linsen, Falschinformationen, dysfunktionalen Denkmustern und mangelnder Weisheit geprägt wird, in dem wir alle schwimmen. Wenn du es allerdings in unbedarfter Weise, ohne das Werkzeug versuchst, wirst du paranoid. Dann rennst du dir in einem Irrgarten das Hirn blutig, dessen Wände aus Propaganda, Einbildung und Verschwörungstheorien gebaut sind. So kann man nicht leben.“

Veronica gluckste, als habe sie einen besonders fiesen Witz gehört. „Das erinnert mich an ein Zitat von Robert Anton Wilson aus der Einleitung zu seinem Buch Das Lexikon der Verschwörungstheorien. Er beschreibt so ungefähr, was du gerade erläutert hast, und kommt zu dem Schluss, dass Hunde wahrscheinlich die einzigen Leute sind, die dem Menschen überhaupt noch trauen, aber ihm sei aufgefallen, dass selbst die Hunde neuerdings Zweifel hegten.“

Ihr Vater warf den Kopf zurück und lachte lauthals. Veronica fiel mit ein. Es war wieder so weit: Sie sahen die Absurdität der Welt beide zugleich in völliger Klarheit. Der Kaiser war splitterfasernackt, eine Witzfigur mit Hühnerbrust, O-Beinen und einem winzig kleinen Schniedel. Sie steuerte den GT an den Straßenrand, damit sie sich in aller Hysterie ausschütten konnten. Humor befreite die belagerte Seele.


In den Rainford Gardens angekommen stieg Veronica zielstrebig die Treppen hinauf. Ein Gedanke ging ihr im Kopf herum, den sie am Tisch in Onkel Pauls Studierzimmer zu verifizieren suchte. Die Geschwindigkeit, in der der Rechner betriebsbereit war, überraschte sie noch immer, aber sie ließ sich nicht ablenken. Sie rief Quellen zu Freimaurerei und Numerologie auf, um einen Überblick zu bekommen. Die Darstellungen verwirrten sie mehr, als dass sie Orientierung gaben. Manche beschrieben die Freimaurer als einen Club schrulliger Männer, die Geld für wohltätige Zwecke sammelten und alten Damen über die Straße halfen. Andere stellten sie als sinistre Geheimniskrämer dar, die Regierungen und sonstige mächtige Organisationen unterwanderten. Wieder andere sahen in ihnen Diener Satans, die kleine Kinder in schwarzen Messen opferten. Sie waren in Orden beziehungsweise Logen organisiert, aber sie fand daneben zahlreiche Gruppen und Körperschaften, denen nachgesagt wurde, sie seien freimaurerische Frontorganisationen.

Sie suchte nach einer Verbindung zu den Beatles, wurde mit Treffern überschüttet, fand jedoch wenig, das konkrete Hinweise auf eine Mitgliedschaft gab. Freimaurersymbolik zog sich jedoch in auffälliger Häufigkeit unverhohlen von den frühesten Tagen bis zur Gegenwart durch. Albencover und Fotos waren regelrecht gespickt damit. Immer wieder tauchten außerdem Verbindungen zu Ordensgründer Aleister Crowley auf. Als sie entdeckte, dass er gleich zwei Mal auf dem Titelbild des Sgt.-Peppers-Albums vertreten war, stieß sie halb amüsiert, halb beunruhigt Luft durch die Nase aus. Dieses Ding schien wirklich der Dreh- und Angelpunkt in der ganzen Beatles-Geschichte zu sein.

Dann probierte sie, den Einstieg über die Numerologie zu erhalten, doch auch hier kam sie nicht weiter. Es gab verschiedene Systeme in verschiedenen Kulturen, die sich teilweise überlappten. Eng damit verbunden waren Kabbalistik, Astrologie, Tarot, Okkultismus und natürlich das Freimaurertum. Die Sache schien ihr alles andere als trivial. Ohne konkrete Anhaltspunkte würde sie Monate brauchen, sich tief genug einzuarbeiten.

Sie überlegte. Es forderte Überwindung, die Nachforschungen aufzunehmen, die sie nun in Angriff nahm. Veronica vermutete hier den direktesten Zugang zu der Frage, die sie beschäftigte: War der Wechsel geplant gewesen, und wenn ja, weshalb? Erst gestern hatte Maria sie mehrfach erwähnt, dass es im Grunde – besonders bei den Freimaurern – keine Zufälle gab. Sie hatte ausdrücklich darauf hingewiesen, ein Todesfall am 11.9. mache eine rituelle Opferung höchst wahrscheinlich; auch Billy Shears habe das in den Raum gestellt. Trotzdem war sie durch die Worte Mr Kites heute wie von einem Hammerschlag getroffen worden: „John und Paul hatten einen faustischen Handel abgeschlossen, und Paul hat den Preis dafür gezahlt.“

Die Detektivin holte tief Luft. Zunächst musste sie das Feld abstecken. Um was ging es konkret? Was verstand man unter einem ‚faustischen Handel‘? Die Suchmaschinentreffer lieferten mehrere alternative Bezeichnungen zu ihrem Suchbegriff, darunter ‚faustischer Pakt‘ und ‚Teufelspakt‘. Sie überflog natürlich den Wikipedia-Artikel. Auch die vierte Szene aus Goethes Drama Faust stand weit oben in der Liste. Veronica las ihn sorgfältiger. Faust, ein Mann von großer Neugier und noch größerem Ehrgeiz, geplagt jedoch von allerlei Ängsten, entsagt Gott, von dem er sich verlassen fühlt. Er verschreibt seine Seele dem Teufel, der in Gestalt des Dämons Mephistopheles in sein Haus eingedrungen ist und ihm verspricht:

Ich will mich hier zu deinem Dienst verbinden, / Auf deinen Wink nicht rasten und nicht ruhn; / Wenn wir uns drüben wiederfinden, / So sollst du mir das gleiche tun.

Veronica glaubte nicht an den Teufel. Sie vermutete in ihm einen Buhmann, den man benutzte, um Kindern Wohlverhalten beizubringen oder Narren die Furcht zu lehren. Trotzdem lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken, als sie die Zeilen las. Goethes detailversessene Beobachtungsgabe der menschlichen Psyche verdankte das Werk seine bleibende Faszinationskraft über zwei Jahrhunderte hinweg. Hatte er den Teufel für wirklich gehalten? Oder war Mephisto lediglich eine allegorische Figur, ein Symbol für… was?

Ihr fiel auf, dass Mephisto Fausts Seele forderte, nicht sein Leben. Das mochte eine vielleicht entscheidende Differenz zum Fall McCartney darstellen. Mephisto konnte warten, denn egal, wie viele Jahre Faust am Leben blieb, gegen die Ewigkeit des Jenseits blieben sie verschwindend gering. Die Mörder Pauls schienen es dagegen eilig gehabt zu haben. Das Opfer durfte nur 24 Jahre alt werden. Veronica fütterte die Suchmaschine nun mit Beatles & Faust, dann mit Beatles & Teufelspakt. Sie stieß auf einen Artikel, der sie regelrecht elektrisierte. Mit einer Deutlichkeit, die kaum zu wünschen übrig ließ, legte er John Lennon die Worte in den Mund: „Ich habe meine Seele an den Teufel verkauft“. Als Quelle gab er ‚Joseph Niezgoda‘ an.

Es dauerte nur Sekunden, bevor sie auf eine ausführlichere Referenz stieß: The Lennon Prophecy, ein Buch, das „eine Neuprüfung der Todeshinweise bei den Beatles“ vornahm. Das musste eigentlich im Bestand des Ladens oder einer der beiden Hausbibliotheken vorhanden sein. Sie schaute sich im Raum um. Wo war die Musikabteilung? Ah, dort drüben. Sie ging ans Regal, überflog die Titel auf den Buchrücken und hatte den zweihundertseitigen Band schnell gefunden. Sie hoffte, dass er ein Register besaß – Uff! Glück gehabt. Die Zahl der Verweise auf Teufel, Satan und Faust war hoch, doch sie hatte erneut Glück. Bereits einer der ersten Indexeinträge, die sie nachschlug, führte sie zum Zitat. Laut Niezgoda hatte John Lennon es Mitte der 1960er auf dem Höhepunkt der Beatlemania seinem Freund Tony Sheridan gegenüber geäußert. Der Autor gab sogar eine Quelle an: Ray Colemans Definitive Lennon-Biografie, Seite 348. Die reinste Schnitzeljagd! Stünde die Bibliothek ihres Onkels nicht in Griffweite, könnte eine saubere Recherche Tage oder Wochen dauern. Sie stellte den Niezgoda zurück an seinen Platz und überflog die Buchrücken erneut.

Da! Sie zog den Coleman heraus, schlug die angegebene Seite auf, und… konnte das Zitat nicht finden. Sie las die gesamte Seite mehrfach, überflog auch den Text davor und danach – nichts! Und nun? Hatte Niezgoda fantasiert? Sie prüfte das Impressum des Buchs. Nach einer Weile bemerkte sie endlich, dass sie die Ausgabe eines anderen Verlages in Händen hielt. Nun warf sie einen Blick ins Register; der Verweis dort führte sie zu einer gänzlich anderen Seitennummer, aber hier war es: Um den unglaublichen Erfolg seiner Band zu erklären, sagte John zu Tony: „Ich habe meine Seele an den Teufel verkauft.“ Er solle den Satz angeblich nur nebenbei geäußert haben, aber Tony habe sofort verstanden, was John meinte. Woher das Zitat stammte, gab Coleman nicht an. Aus Aussagen an anderer Stelle wurde klar, dass der Autor den Beatles häufig persönlich begegnet war, und so konnte Veronica nur vermuten, dass Coleman als Ohrenzeuge berichtete. Der sechszeilige Absatz, der die Begebenheit beschrieb, stand darüber hinaus in keiner Kontinuität mit den umliegenden Teilen des Kapitels, in dem es um ‚Geld‘ ging. Ob John Lennon den Teufel aus Jux, im übertragenen Sinn oder im Ernst erwähnte, ließ sich so nicht feststellen. Nur im Zusammenhang mit den anderen Indizien trug der isolierte Datenpunkt zum Entstehen eines Bildes bei. Dass zahlreiche weitere Musiker und Schauspieler von Bob Dylan über Jimmy Page, James Hetfield und Katie Perry bis Eminem teils in identischen Worten die Quelle ihres Erfolges benannten, wie Veronica herausfand, verlieh John Lennons Zitat jedoch ein höheres Gewicht.

In Gedanken versunken saß sie im Pilotensmöbel an Pauls Arbeitstisch und überlegte, wie sie weiter vorgehen sollte. Da vernahm sie eine Stimme aus dem unteren Stockwerk, deren fröhlicher Klang ihr Gefühl von Bedrückung zu verspotten schien. Daher verstand sie zunächst nicht, was sie hörte. Als sie sich auf das Geräusch konzentrierte, drang schließlich zu ihr durch, dass jemand lachte; völlig hysterisch lachte.

24) Maxwells Silberhammer

„Mr Ziegler,“ fuhr Kite fort, „vielleicht können Sie mir in Ihrer Eigenschaft als Detektiv behilflich sein.“

Zach schaute erstaunt auf.

„Natürlich habe ich Erkundigungen über Sie eingezogen. Wer kauft schon gern die Katze im Sack?“

„Leute, die Manuskripte in Koffern erwerben?“, flachste Veronica.

„Erkundigungen, soso“, sagte Zach. „Nun, es kommt darauf an, wie der Fall beschaffen ist. Worum geht es und was erwarten Sie von mir?“

„Es geht um ein verschwundenes Dokument.“

„Ich bin nicht sicher, dass wir schon jetzt bereit sind, Memorabilien aufzu…“

„Es handelt sich um eine Fotografie, die mir im Verlauf eines unserer Familientreffen entwendet wurde; vermutlich ein Scherz, der die Grenzen des Zulässigen überschritt und sich daher kaum von allein in Wohlgefallen auflösen wird. Der Kreis der primär Verdächtigen besteht somit aus den Personen, die ich zuvor aufgezählt habe. Ziehen Sie Erkundigungen ein und beschaffen Sie entweder das Foto oder einen dienlichen Hinweis.“

Zach ging die Liste im Geist durch. „Einschließlich Ihnen bestand die Familie bis zum Tod meines Stiefbruders aus zehn Personen, korrekt?“

„Richtig. Ihn und mich können wir ausschließen, also bleiben acht.“

„Wen wir ausschließen können, müssen Sie mir überlassen, andernfalls lehne ich den Auftrag ab. Ich brauche außerdem weitere Informationen: Von welchem Ort, welchem Datum, welchem Zeitfenster, welchem Fotomotiv reden wir? Worin bestanden die Sicherheitsvorkehrungen für das Objekt und wie wurden diese überwunden?“

Der Hüne schwieg einen Moment. Er zog eine Grimasse, kratzte sich mit einem perfekt manikürten Finger an der Nase, dann antwortete er: „Sie werden keine Ermittlungen gegen mich durchführen. PC31 scheidet aus, weil die Tat in genau jener Nacht geschah, als er gestorben ist. Ich hatte anlässlich des Sucherfolgs kurzfristig ein Treffen hier im Schloss anberaumt. Er sollte den Koffer mitbringen, aber er traf nie ein. Wir zeigten uns gegenseitig einige andere Stücke, die wir in der letzten Zeit erworben haben, darunter auch das Foto – ein Motiv aus der Pathologie, das normalerweise in einem Safe aufbewahrt wird; mehr möchte ich darüber nicht sagen. Aus der geplanten Feier entwickelte sich ein weintrunkenes Fest, das bis in die frühen Morgenstunden dauerte. Kurz nach ein Uhr begaben Kirk und ich uns nach oben. Als ich gegen zehn Uhr wieder erwachte, waren bis auf Kirk alle Gäste und das Foto verschwunden.“

„Kirk?“

„Die Duchess of Kirkcaldy.“

„Ach ja. Wenn ich die Lage recht einschätze, werden Sie vermutlich auch zu den Vorgängen da ‚oben‘ keine näheren Angabe machen wollen.“

„Wie genau müssen Sie es wissen?“

„Vergessen Sie‘s. Ich komme vielleicht darauf zurück, falls die Ermittlungen steckenbleiben. Was ist Ihnen meine Arbeit wert?“

„Berechnen Sie Ihren üblichen Satz. Falls es mit Ihrer Hilfe gelingt, das Foto zurückzuholen, verdoppelt das Ihr Gehalt.“

Zach und Veronica verständigten sich wortlos. Dann reichte der Detektiv Kite die Hand und sagte: „Einverstanden. Ich halte Sie wöchentlich auf dem Laufenden.“

„Täglich. Geben Sie dem höchste Priorität. Ich erwarte, dass die Frage in einer Woche vom Tisch ist.“

„Wie Sie wünschen.“

Der Schlossherr zeigte einen zufriedenen Gesichtsausdruck. Er hob sein letztes noch gefülltes Saftglas. „Auf Ihr Wohl.“

Veronica und Zach prosteten zurück. „Auf Ihres.“

Kite erhob sich. „Lassen Sie uns zur Feier des Tages Ihren Wunsch erfüllen. Folgen Sie mir.“

Er führte sie zurück durch den Salon mit dem fünfeckigen Tisch und den schwarzen Sesseln bis zur Tür neben dem gegenüberliegenden Kamin. Sie traten hindurch. Der Grundriss des Saals entsprach dem des Speisesalons, allerdings wurde dieser hier als Bibliothek genutzt. „Fühlen Sie sich wie zuhause“, sagte Kite. Seine linke Hand wies im Halbkreis in den Raum. „Ich bin in zwei Minuten wieder bei Ihnen.“ Er verließ sie durch eine weitere Nebentür am anderen Ende. Zach und Veronica ignorierten den Drang, das während des Essens Gehörte zu diskutieren oder auch nur die Backen zu blähen. Sie mussten davon ausgehen, dass hier, genau wie nebenan, irgendwelche Instrumente auf sie gerichtet waren. Die beiden musterten Boden, Wände und Decken in gespielt gelangweilter Haltung, gaben vor, einmal dieses Gemälde, einmal jenes Buch genauer zu inspizieren.

Ohne besondere Eile schlenderte Zach zu einem Stück hinüber, das an einer Holzvertäfelung zwischen zwei Bücherschränken befestigt war. Er hatte die Form wiedererkannt, ohne sie gleich zuordnen zu können. Das Ding sah aus wie eine mittelalterliche Streitaxt oder eine Art Hellebarde. Am oberen Ende eines armlangen Stiels war ein kreuzförmiges Werkzeug montiert. Eine Seite, kegelförmig, nahm den sich leicht verjüngenden Stiel auf, der linke Flügel bestand aus einem spitzen, handlangen Dorn; oben lief das Objekt in einer dolchartigen Spitze zu. Statt einer Axt formte der rechte Flügel einen Hammer mit gespreizten Ecken. Die Flügel des Kreuzes waren an einem Würfel befestigt, der, wie der Rest der Waffe, wahrscheinlich aus Silber oder versilbertem Metall bestand. Der Stiel war aus einem edlen Rotholz gefertigt – keine Kriegswaffe, sondern für zeremonielle oder symbolische Zwecke gefertigt. Sie sah gefährlich genug aus. Doch wer mochte wissen, welche Schäden man mit einem ernst gemeinten Äquivalent anrichten konnte?

Zachs Blick glitt an dem Ausstellungsstück hinunter. Rechts unterhalb, etwa auf Höhe seiner Schultern, befand sich eine gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografie. Sie zeigte ein Motiv, das er schon einmal gesehen hatte – in einem anderen Wartezimmer, nur wenige Tage zuvor. Nach all den verstörenden Informationen, die er seither aufgenommen hatte, kam es ihm wie ein halbes Leben entfernt vor. Ein formell gekleideter älterer Herr hielt eine auf ein Samtkissen gebettete historische Waffe, vielleicht eine Streitaxt oder einen Kriegshammer. Ihm gegenüber stand John Lennon mit hängenden Schultern, sichtlich übernächtigt. Bei näherer Betrachtung konnte es sich um dasselbe Objekt handeln, das über dem Bild hing. Es war sogar wahrscheinlich, andernfalls ergab die Kombination aus Foto und Ausstellungsstück keinen Sinn. Seine Überlegungen bestätigte die dezente Texttafel, die links, gegenüber dem Foto, unterhalb der Waffe angebracht war. Auf ihr stand:

„Sir Maxwell Knight übergibt John Lennon den McCartney- biétl. 9. November 1966“

Zachs Kinnlade fiel nach unten.

„Faszinierend, nicht wahr?“, ertönte hinter seiner linken Schulter die Hyänenstimme des Schlossherrn.

Der Detektiv zuckte zusammen. Er drehte sich um und trat einen Schritt zur Seite. Sein rechter Zeigefinger deutete auf den Hammer. „Was, zur Hölle, ist das da?“

Kite setzte ein sardonisches Lächeln auf. „Wie die Inschrift angibt, handelt es sich um einen biétl. Das Wort entstammt dem Altenglischen und bezeichnet einen Hammer; in diesem Fall ein rituelles Objekt, das für Beatles-Sammler mit okkultem Wissen um die Band so etwas wie den heiligen Gral darstellt. Ist Ihnen das Datum aufgefallen?“

„Neunter November – 9/11. Wollen Sie andeuten, die Waffe stünde im Zusammenhang mit McCartneys Ableben? Ich dachte, er sei bei einem Autounfall am 11.9.1966 gestorben?“

„So geht die Rede. Sie geben die offizielle Version der Beatles-Geschichte für diejenigen wieder, die Gründe haben, der für die breite Masse publizierten offiziellen Geschichte keinen Glauben zu schenken. Die Kombination aus elf und neun hat numerologisch eine ganz besondere Bedeutung. Wenn Sie die Weltgeschichte daraufhin abklopfen, werden Sie in ihrem Zusammenhang zahlreiche der wichtigsten Ereignisse stattfinden sehen: Am 9.11.1918 die Revolution gegen den deutschen Kaiser, die den Krieg zugunsten der Alliierten beendete, selbigen Tags 1989 die Öffnung der Berliner Mauer, die für den Fall der kommunistischen Regime in Osteuropa von besonderer Bedeutung war; am 11.9.1973 begann mit dem Putsch General Pinochets gegen den chilenischen Präsidenten Salvador Allende die Übernahme der Welt durch den Neoliberalismus. Dies nur, um ein paar der bekannteren Beispiele zu nennen.“

„Wie kommt ein dem gegenüber unbedeutender Musiker ins Spiel?“, fragte Veronica, die sich den beiden zugesellt hatte.

„Der beliebteste Musiker innerhalb der erfolgreichsten Musikgruppe der Welt“, verbesserte Kite, „und damit ein wesentliches Element in der Transformation familienbasierter Nationen zu den Ansammlungen hyper-individualistischer Atome, wie wir sie heute kennen. Die zersetzende Wirkung der Rockmusik, allen voran die der Beatles und der Stones, auf herkömmliche Moralvorstellungen wird selbst von ihren ärgsten Kritikern gern unterschätzt. Diese Bands propagierten die Lockerung der Sexualmoral, untergruben den Glauben an Gott und staatliche Institutionen, popularisierten den Missbrauch von Hasch und LSD, bagatellisierten Satanismus, pulverisierten jede klare Vorstellung davon, was Ethik, Philosophie oder Kunst zu leisten hatten, und sie beeinflussten ein Milliardenpublikum. Paul McCartney verdiente es, Luzifer an jenem besonderen September-Datum übergeben zu werden.“

„Also gab es keinen Unfall“, schloss Zach. „Er wurde ganz einfach erschlagen.“

„Formulieren wir es so: Wenn es um historische Daten geht, überlässt man nichts dem Zufall. Maxwells Silberhammer sorgte dafür, dass Paul wie vorgesehen starb.“

Veronica drehte den Kopf der Waffe zu und verzog angeekelt das Gesicht. „Ich glaub‘, ich kotz‘ gleich!“, nuschelte sie fast unhörbar.

„Max Knight übergab das gute Stück, desinfiziert und von allen Spuren gereinigt, zwei Monate später an John… als Andenken beziehungsweise als Warnung. Aber wer weiß: Vielleicht ist auch dies nur eine wohlfeile Geschichte, eine Fassade vor einer Fassade vor einer Fassade… Kommen Sie, ich zeige Ihnen, was Sie sehen wollten.“

Kite legte den dicken Lederordner, den er in der Hand gehalten hatte, zwei Regalabteile entfernt auf ein Lesepult. Er schlug ihn an einer mit einer Seidenschleife markierten Stelle auf, ungefähr nach einem Drittel der Seiten. „Nicht anfassen! Lesen Sie gern langsam, sorgfältig, aber Sie werden keine weitere Seite zu Gesicht bekommen. Faksimiles dieser Textstelle kann man an mehreren Adressen im Internet finden, wenn man weiß, wonach man sucht. Es sollte Beweis genug sein, dass wir das Original vor uns haben.“

Zach trat näher. Die Seite war einseitig eng mit Schreibmaschinenschrift bedeckt. Er schätzte den Text auf etwa fünfhundert Wörter. Das Papier war fleckig und vergilbt. Am breiten oberen Rand trug es von Hand aufgetragen die Inschrift ‚146 –‘. Mehr als ein Drittel der Zeilen umrahmte eine Linie. Das von ihr gebildete Feld war doppelt durchgestrichen. Weitere Ergänzungen und Streichungen in Handschrift verliehen der Seite den Entwurfscharakter, den man von einem Buchmanuskript erwartete.

Der Detektiv begann zu lesen: Ein gewisser George Kelly und seine Frau seien wegen etwas, das Evans ihnen im Auftrag von Brian – Epstein? – sagte, unglücklich und verließen Cavendish. Am folgenden Tag sei Paul eingetroffen; alle seien zugegen gewesen – es folgte eine Liste von Vornamen – und seien erstaunt und aufgeregt gewesen… ‚Sie haben in Nairobi ganze Arbeit geleistet‘, las er, ‚Nun ging es also wirklich los. Es fühlte sich an, als ob wir ihn schon immer gekannt hätten.‘ Darauf folgte das durchgestrichene Feld von circa zwanzig Zeilen, in dem von weiteren Reaktionen der Anwesenden berichtet wurde. Unter anderem ging es um Strawberry Fields Forever, das John ihm, später wohl, rückwärts vorgespielt hatte. ‚Welch eine Art, eine Geschichte zu erzählen‘, begeisterte Evans sich.

Dem durchgestrichenen Feld folgten zuletzt sieben Zeilen. Hier erwähnte er eine Klinik in Kenia, zu der er Paul begleitet habe, und dass dieser nun einen falschen Oberlippenbart brauche. Dann brach der Text mitten im Satz ab, um auf der folgenden Seite seine Fortsetzung zu finden. Ohne nachzudenken hob Zach die Hand, um umzublättern. Sanft drückte der Hüne seinen Arm nieder.

„Das sollte Motivation genug sein, den Fab Store wieder zu eröffnen, Mr Ziegler. Nehmen Sie mein Angebot an; eine Million Pfund, bar, steuerfrei.“ Kite schaute ihm eindringlich ins Gesicht. „Kommen Sie, Sie haben heute enorm viel Neues erfahren. Lassen Sie uns in ein oder zwei Wochen wieder treffen, wenn Sie alles verarbeitet haben. Dann wissen wir außerdem mehr, was aus dem verschwundenen Foto geworden ist.“ Er legte Zach eine Hand in den Rücken und führte ihn sanft zur Haupttür in der Mitte der langen Seite des Saals. Der Detektiv, erschüttert, leistete keinen Widerstand.