17) Damenbesuch

Zach schneite um sieben in die Küche, in der es angenehm nach einer warmen Morgenmahlzeit roch. Entgegen seiner üblichen Stimmung um diese Uhrzeit grüßte er Veronica fröhlich. „Na, schon wieder die Erste? Hast du nicht gut geschlafen?“, fragte er.

„Vielleicht ein bisschen zu lang,“ entgegnete sie, „aber sonst ganz okay. Wie steht‘s mit dir? Warum bist du so aufgekratzt? Du hast doch den Clown noch gar nicht gefrühstückt, den ich dir servieren wollte.“

„Ich? Aufgekratzt? Dummes Zeug. Ich kann es bloß kaum erwarten, mich in diese aufgabenreiche Woche zu stürzen.“

„Die zufällig mit gut aussehendem Damenbesuch beginnt.“

„Nonsens!“, polterte er.

„Süß, wie er sich windet.“ Sie zwinkerte. Zach zog eine Grimasse und stieß einen Laut aus, der wie „Hrmpf“ klang. Dann ließen sie das Thema ruhen und setzten sich. Veronica erläuterte die Fragen, die sie ihrer Meinung nach Maria Borghese stellen sollten. Es war ihr daran gelegen, einige Zusammenhänge zu klären, die zu beunruhigenden Folgerungen führen konnten. Wenn Maria ihre Arbeit für den Fab Store wahrheitsgemäß geschildert hatte, musste sie irgendwann auf dieselben irritierenden Tatsachen gestoßen sein. Sie sollte zumindest wissen, welchen Fäden zu folgen die Zieglers der Lösung des Geheimnisses um das verschwundene Manuskript und den Tod Paul Campbells näher bringen konnte. Zach erklärte sich einverstanden.

Gegen acht Uhr stiegen sie die Treppen hinab. Das Licht im Hinterzimmer brannte noch und die Tür zum Verkaufsraum, der ebenfalls hell erleuchtet war, stand offen. Ihr frühmorgendliches Selbst hatte beim Rückzug aus dem Gedankensturm wenig Sinn fürs Detail walten lassen, gestand Veronica sich ein. Sogar die Schallplatte, der Taschenspiegel und das kleine rund gerahmte Bild lagen noch dort, wo sie sie zuletzt betrachtet hatte. Der Seitenblick und das spöttische „Tsk tsk!“ ihres Vaters ärgerten sie. Sie war stolz auf ihren kühlen Kopf, den sie normalerweise selbst in emotional anstrengenden Phasen ihrer detektivischen Arbeit zu bewahren verstand. Den Schock, den sie angesichts des Peppers-Codes und seiner Implikationen empfunden hatte, betrachtete sie als Blöße. Sie würde alles daran setzen, die Scharte auszuwetzen.

Maria stand bereits vor der Tür. Sie unterhielt sich mit einer anderen Frau. Als die Türglocke klingelte, unterbrachen die Frauen ihr Gespräch und schauten herüber.

„Bongiorno, Signore Ziegler!“, grüßte Maria Borghese mit typisch italienischer Melodik.

„Guten Morgen“, sagte auch die andere Frau, eine vielleicht Vierzigjährige, deren Stimme und Gebaren an ein kleines Vögelchen erinnerte.

„Guten Morgen, die Damen!“, grüßte Zach gut gelaunt zurück. „Endlich haben wir ordentliches britisches Wetter“, fuhr er nach einem kurzen Fingerzeig auf die trübe Suppe über ihren Köpfen fort. „Der ewige Sonnenschein ging mir schon langsam auf die Nerven.“

Die Frauen lachten heiter und nickten.

„Lassen Sie sich nicht stören. Ich möchte nur mitteilen, dass wir nun bereit sind. Sie dürfen jederzeit hereinkommen, Mrs Borghese.“

„Grazie. Es gibt nichts Wichtiges. Wir sind uns nur zufällig begegnet und haben ein paar Worte gewechselt. Ich bin sofort bei Ihnen.“

Die Frauen verabschiedeten sich mit Wangenküsschen, dann nahm die Italienerin die drei Stufen zum Laden im Eilschritt. Drinnen angekommen grüßte sie die beiden Zieglers erneut. Sie gab zunächst Zach, dann Veronica die Hand. „Signore Ziegler, wie schön, Sie wiederzusehen.“

„Die Freude ist ganz meinerseits, Mrs Borghese. Die Käse-Spaghetti schmeckten ausgezeichnet. Doch wer hätte gedacht, dass Sie zu so viel mehr fähig sind?“

„Obwohl ich dem Koch ein paar Rezepte geschenkt habe, trage ich keine Verantwortung für die Qualität der Speisen im Restaurant. Wenn ich darf, werde ich hier eines Abends original schwäbisches Essen für Sie beide kochen.“

„Wir werden Sie beim Wort nehmen,“ kündigte Zach an, „doch lassen Sie uns zunächst über Geschäftliches reden. Falls Sie als Putzhilfe bei uns anfangen möchten, können sie sofort zu denselben Bedingungen beginnen wie bei Mr Campbell – oder möchten Sie nachverhandeln?“

„Sehr freundlich Signore Ziegler. Ich bin mit dem alten Vertrag zufrieden. Signore Campbell hat die Bezahlung ein Mal im Jahr an die Inflation angepasst. Ich werde täglich den Boden des Ladens wischen, bei Bedarf das Schaufenster putzen und die Einrichtung abstauben. Montags reinige ich das Hinterzimmer und die Wohnung.“

„Ganz wunderbar, Mrs Borghese. Haben Sie zufällig eine Kopie des Vertrags dabei? Ich werde ihn auf meinen Namen neu aufsetzen.“

Die Italienerin öffnete ihre Handtasche, zog einen doppelt zusammengefalteten Briefbogen heraus und reichte ihn dem Detektiv. Zach bemerkte die präzisen, eleganten Bewegungen ihrer Hände. Er nahm das Papier entgegen und gab es ohne hineinzuschauen an seine Tochter weiter. „Kümmerst du dich bitte drum?“

„Klar.“ Veronica zwinkerte der neuen alten Angestellten zu. Maria Borghese erwiderte die Geste mit einem warmen Lächeln.

„Frau Borghese,“ fuhr Zach fort, „Veronica erzählte mir, dass Sie erwähnt hätten, Sie seien mit den Stammkunden des Fab Store vertraut und an den Recherchen zur Beschaffung von Memorabilien beteiligt gewesen. Haben wir Sie da richtig verstanden?“

„Si, Signore Ziegler. Ich habe für Signore Campbell die Abrechnungen geschrieben und seine Unterlagen in Ordnung gehalten. Außerdem bin ich seinen Kundinnen und Kunden allen persönlich begegnet. Manchmal nehmen sie meine Recherchedienste in Anspruch. Ich werde zu Sammlertreffen eingeladen. Daher kenne ich die Gewohnheiten, die Interessen und die Zuverlässigkeit der Leute sehr genau.“

„Wie lief das ab, wenn Sie Mr Campbell halfen, ein Objekt aufzutreiben? Wie darf ich mir das praktisch vorstellen?“

„Ein Kunde oder Signore Campbell kamen mit einer Idee zu mir und fragten mich um Rat. Meistens konnte ich ihnen etwas zu den Erfolgsaussichten oder auch zu einem möglichen Suchweg sagen. Wenn sie Schwierigkeiten hatten, das Objekt zu lokalisieren, setzte ich mich mit Signore Campbell an den Computer im Studierzimmer. Wir ergänzten uns sehr gut dabei, weitere Informationen darüber aufzutreiben. Manchmal musste ich eine Bibliothek oder ein Archiv aufsuchen. Sobald wir dicht genug herangekommen waren, hat Signore Campbell Kontakt zum Eigentümer aufgenommen oder seine Beziehungen spielen lassen, um ihn zu erreichen. Nicht jeder ist offen für solche Anfragen, müssen Sie wissen.“

„Was sprang für Sie dabei heraus?“, wollte Zach wissen.

„Ich bekam fünf Prozent vom Gewinn, und er verschaffte mir Zugang zu jeder Informationsquelle, die ich haben wollte.“

„Das scheint mir wenig, wenn man Ihren Anteil am Erfolg berücksichtigt.“

„Er hat mir mehr angeboten, aber ich wollte das nicht.“

„Sie wollten das nicht???“, mischte sich Veronica ein, der das Erstaunen ins Gesicht geschrieben stand. „Sie haben zwei kleine Jobs, die kaum das Nötigste abwerfen, und sie schlagen die Gelegenheit aus, Ihre Sorgen loszuwerden?“

„Welche Sorgen? Ich rauche nicht, ich trinke nicht, ich habe keine teuren Hobbys. Für die wenigen Verpflichtungen, denen ich nicht ausweichen kann, reicht das Geld allemal. Mehr davon verdirbt nur den Charakter. Ich habe mein Leben so eingerichtet, dass sowohl der Körper als auch der Geist und die Seele zufrieden sein können. Wer glücklich sein möchte, sollte wissen, wann genug genug ist.“

„Verzeihen Sie meine ungläubige Frage. Man trifft Menschen wie Sie nur sehr selten. Wie ich Ihnen gestern erzählt habe, lebten mein Vater und ich bisher ähnlich bescheiden. Wir werden uns bestens verstehen, glaube ich.“

„Das glaube ich auch, Signorina. Man merkt den Menschen an, wie sie zum Materiellen stehen. Deshalb waren Sie mir sofort sympathisch, als Sie ins Restaurant gekommen sind.“

„Das beruht auf Gegenseitigkeit, wie Sie sicher wissen“, warf Zach ein, und Veronica nickte bestätigend.

„Würden Sie sagen, Sie kennen sich mit der Musikszene, speziell den Beatles, besonders gut aus? Oder beruht Ihr Erfolg eher auf Ihrer Recherchemethodik?“

„Beides trifft zu. Das Thema interessiert mich mehr als jedes andere. Die meisten Tatsachen über die Gruppe liegen noch immer in einem fast undurchdringlichen Nebel aus Halbwahrheiten, Schweigen und Mythen verborgen, aber das macht es besonders reizvoll für mich, darin herumzustochern. Ich habe wahrscheinlich jedes Buch, jede Webseite und jeden Artikel gelesen, die es auf Englisch, Italienisch oder Deutsch gibt – und ich vergesse nichts, das ich einmal gelesen habe. Deswegen kann ich übrigens auch Kundenfragen beantworten – zum Beispiel solche wie die da.“ Sie zeigte auf die von Veronica zurückgelassenen Gegenstände neben der Registrierkasse.

Das Gesicht der jungen Frau rötete sich. Einerseits ärgerte sie sich erneut über ihren Mangel an Vorsicht, andererseits empfand sie die Schärfe von Marias Verstand als furchterregend. Da sie sich jedoch ohnehin vorgenommen hatte, den Peppers-Code zum Prüfstein für die Fähigkeiten der Italienerin zu machen, nutzte sie nun die Steilvorlage, um mehr über seine Bedeutung zu erfahren. „Ich habe zwei Fragen,“ sagte sie. „Was besagt der Schriftzug im Spiegel, und weshalb hatte Onkel Paul ihn an der Wand hängen?“

Maria Borghese schwieg eine gefühlte Ewigkeit, während der sie Veronicas Gesicht studierte. Der Detektivin lag es fern, diesem Blick auszuweichen. Nach einer Woche, in der ihre Nachforschungen eine Ungereimtheit um die andere zutage gefördert hatte, wollte sie Antworten haben. Die Spannung im Raum wurde beinahe greifbar. Als die Italienerin schließlich zu sprechen begann, ertönte ihre Stimme ernst und ungewöhnlich tief: „Wir sind gerade dabei, die Türen zum ersten Kreis der Hölle zu öffnen. Ich schlage daher vor, wir gehen nach hinten und setzen uns.“

13) Socken, Mal!

Als Veronica am Sonntag Morgen in den Laden ging, um das Sgt. Pepper-Album unter die Lupe zu nehmen, sah sie vor der Außentür eine Frau stehen. Zuerst wollte sie sie ignorieren, denn sie hatten das Geschäft noch nicht wieder eröffnet. Ihr kam jedoch das Gesicht bekannt vor. Sie trat näher und erkannte die Bedienung aus dem italienischen Restaurant, das sie vor drei Tagen besucht hatten. Die Kellnerin winkte und gab ihr durch Handzeichen zu verstehen, dass sie gern hereinkommen würde. Veronica schloss auf und öffnete.

Die Frau lächelte breit. „Grazie. Wie schön, Sie wiederzusehen, Signorina. Nur ausgerechnet hier… kaufen Sie den Fab Store?“

„Guten Morgen, Frau… äh…“

„Borghese. Maria Borghese.“ Sie trug ein einfaches schwarzes knielanges Kleid, einen kleinen schwarzen Hut und führte eine Handtasche mit.

„Kommen Sie doch herein, Frau Borghese. Mein Name ist übrigens Veronica Ziegler. Ich bin die Nichte von Herrn Campbell.“

„Oh, dann sind Sie die Erbin?“

„Nein, mein Vater. Sie haben ihn ja schon kennengelernt.“

„Si, si. Freundliche Menschen vergesse ich nicht so schnell. Ist er ebenfalls hier?“

„Ja, aber er schläft noch. Kann ich etwas für Sie tun, Frau Borghese?“

„Womöglich. Ich komme mit mehreren Anliegen zu Ihnen. Zunächst einmal möchte ich Ihnen mein Beileid für den Verlust Ihres Verwandten ausdrücken. Signore Campbell war ein feiner Mann, stets korrekt und der Wahrheit verpflichtet. Auch ich trauere um ihn.“

„Danke für Ihr Mitgefühl. Die Umstände seines Todes sind schockierend. Wir fühlen uns sehr beunruhigt.“

„Das kann ich nachvollziehen. So geht es uns allen.“

„Kannten Sie ihn persönlich, Frau Borghese?“

„Jeder hier im Viertel und jeder in Liverpool, der auf unsere Fab Four stolz ist, kannte ihn. Doch ja, ich kannte ihn näher. Wir haben auf mehreren Ebenen zusammengearbeitet. Unter anderem deshalb kam ich hierher.“

„Oh? Ich dachte, Sie verdienen Ihr Einkommen im Restaurant.“

Die Frau schüttelte den Kopf. „Signorina, niemand verdient sein Einkommen in einem Restaurant, oft nicht einmal die Betreiber. Ich habe für Herrn Campbell täglich den Laden gewischt und wöchentlich die Wohnung geputzt.“

„Das hört sich alles andere als nach einem lukrativen Job an.“

„Ein bisschen und ein weiteres bisschen ergeben einen ganzen Bissen. Signore Campbell hat ordentlich bezahlt, und er gab mir manchmal anspruchsvollere Aufträge, von denen wir gut leben konnten.“

„Ihre Kinder und Sie? Von welcher Art Aufträge sprechen Sie?“

„Meine Kinder stehen längst auf eigenen Beinen. Signore Campbell und ich haben zusammen die Archiv- und Internetrecherchen durchgeführt, die die Beschaffung von Memorabilia ermöglichten.“

„Und Sie besuchen uns heute, weil Sie hoffen, Ihre Arbeit wieder aufnehmen zu können, nehme ich an.“

„Das wird selbst unter günstigsten Bedingungen nicht leicht sein. Niemand kann Signore Campbells Gespür für dieses Geschäft und seine persönlichen Beziehungen ersetzen. Aber ich kenne meinen Anteil am Erfolg des Fab Store,“ sagte sie stolz. „Daher hege ich die Hoffnung, dass ein Nachfolger, der nicht ganz auf den Kopf gefallen ist, sich vielleicht einzuarbeiten versteht.“

„Wir haben ähnliche Überlegungen angestellt. Mein Vater und ich führen eine Detektei, die uns zwar nicht reich macht, aber ein ausreichendes Einkommen generiert. Wenn wir den Laden weiterführen sollen, brauchen wir Expertise: Details aus dem Leben der Beatles, oder Kenntnisse der Sammlerszene und des Auktionswesens, um nur einige wenige Punkte zu nennen, in denen es bei uns hapert. Ein gewisser Mr Bishop, den Sie eigentlich auch kennen müssten, hat uns dennoch Mut zugesprochen. Wir sind realistischerweise skeptisch.“

„Ach, Henry the Horse kennen Sie bereits? Ich schätze ihn als einen äußerst ehrenwerten Mann ein. Er hat stets alle Absprachen eingehalten, pünktlich bezahlt und: Ich habe ihn nie bei einer Lüge ertappt. Manche Leute nehmen es mit der Wahrheit nicht so genau, wie Sie bei Ihrer Tätigkeit bestimmt erfahren mussten.“ Maria Borghese zwinkerte.

Veronica bewegte ihre Hände auf eine Weise, die signalisierte, dass es Teil ihres Alltags war. „Die Spreu vom Weizen zu trennen gehört zu unserem Geschäft; anscheinend gehörte es auch zu dem von Onkel Paul.“

Die Frau nickte eifrig. „So ist es. Wir kannten unsere Pappenheimer unter den Kunden, wir mussten aber auch falsche von richtigen Fährten trennen. Es gibt dort draußen viele Leute, die sich wichtig machen wollen, indem sie unhaltbare Behauptungen aufstellen. Da gibt es zum Beispiel jemand auf Hawaii, der den angeblichen Mini von John Lennon für 250.000 Dollar anbietet – mit Papieren. Angeblich sei der Wagen weitgehend im Originalzustand. Selbst wer nur ein bisschen Ahnung von der Materie hat, sieht schnell, dass da etwas nicht stimmt. Wenn man die Seite im Internet Archive zurückverfolgt, fällt auf, dass anfangs keine Papiere erwähnt wurden.“

„Aha, sie waren also am Erwerb von LGF 969D beteiligt.“

„696. Die Nummer des Originals lautet LGF 696D“, korrigierte Mrs Borghese.

„…. wie in Sammlerkreisen bekannt ist!“, ergänzte Veronica, wobei sie den Tonfall des Notars Miller zum Besten gab.

Maria Borghese lachte trocken auf. „Den Herrn haben Sie offensichtlich auch schon kennengelernt. Nun, Signore Campbell und ich konnten die Spur des Autos nachverfolgen. Er ist inzwischen umlackiert worden – noch von John selbst –, aber er hat seine Nummerntafeln all die Jahrzehnte behalten. Der Wagen in Hawaii dagegen trug ein bisher unbekanntes Schild.“

Veronica war von der Detailkenntnis und dem wachen Geist der Frau beeindruckt. Sie fand, hier gab es wenig zu überlegen. Diese Mrs Borghese hatte das Schicksal zu ihnen gesendet. Natürlich konnte die Frage einer Festanstellung nur ihr Vater abschließend beantworten, aber sie hatte ein gutes Gefühl bei dieser Frau. Sie sagte: „Ob wir Sie einstellen werden, muss natürlich der Boss entscheiden.“ Sie grinste schief. „Und es hängt zuallererst davon ab, ob wir den Laden behalten. Aber wir haben uns schon über eine Putzhilfe unterhalten. Ich denke, Sie können morgen um dieselbe Zeit wieder herkommen, um ‚auf Probe‘ zu putzen; natürlich voll bezahlt. Alles Weitere bereden wir später. Was halten Sie davon?“

„Signorina, ich freue mich sehr. Grüßen Sie Ihren verehrten Herrn Vater von mir. Ich hoffe, dass er meine Dienste annimmt – zumindest, bis die Entscheidung über den Laden gefallen ist. Ich nehme doch richtig an, dass Sie da ein Wörtchen mitzureden haben?“

Sie war verdammt schnell von Begriff und sie hatte ein Gespür für Menschliches, dachte Veronica bewundernd. Außerdem fühlte sie sich, wie schon bei ihrer ersten Begegnung im Restaurant, vom sympathischem Wesen der Frau vereinnahmt. Das konnte natürlich Maskerade sein. Notorische Betrüger oder Psychopathen beispielsweise besaßen häufig die Gabe, ihre Opfer zu manipulieren, indem sie sie aushorchten, um ihnen anschließend genau das zu erzählen, was sie hören wollten. Veronicas Bullshit-Detektor hatte nicht ausgeschlagen. Das konnte ein gutes Zeichen sein – oder eine gefährliche Lücke in ihrer Wachsamkeit. Sie entschied sich, dem schönen Schein für heute zu trauen, während sie eine geistige Notiz an sich selbst verfasste, es nicht zu weit damit zu treiben. Ihr Vater hatte ebenfalls einen guten Riecher für schwierige Menschen, wie er sie euphemistisch nannte. Er würde den Versuch, sie über den Tisch zu ziehen, schnell unterbinden – falls es einen solchen gab. Falls Maria Borghese die war, die sie zu sein schien, dann… „Ja, sicher,“ sagte sie. Sie hatte ein Wörtchen mitzureden. Ganz entschieden.


Sie hatte gerade den Fuß auf die erste Treppenstufe gesetzt, da fiel ihr wieder ein, weshalb sie eigentlich in den Verkaufsraum gegangen war. Vor zwei Tagen bereits hatte sie das Sgt. Pepper-Cover in Augenschein nehmen wollen, doch ständig vereinnahmte etwas ihren Geist, bevor sie ihre Absicht realisieren konnte. Am Freitag war es Henry gewesen, am Samstag die Kofferrecherche und heute Mrs Borghese. Im Lichte neuer Fakten flexibel zu bleiben empfand sie einerseits als Stärke, andererseits verleitete es dazu, sich von den Ereignissen in eine atemlose Jagd treiben zu lassen. Was sie seit ihrer Ankunft durch Gespräche und Recherchen erfahren hatten, war sehr erhellend gewesen, in der Tat sogar atemberaubend, wie eine intellektuelle Schnitzeljagd, die von einem Hinweis zum nächsten führte, während der Rest der Realität nahezu völlig ausgeblendet blieb.

Veronica musste schmunzeln, denn es erinnerte sie an einen Cartoon, den sie gesehen hatte: Ein Pokémon-Go-Spieler folgte gesenkten Hauptes den Hinweisen auf dem Display seines Handys – direkt über den Rand einer Klippe. Es waren tatsächlich Unfälle geschehen; jemand hatte daraufhin eine App entwickelt, die das Kamerabild halb transparent überlagerte, damit ihr User wenigstens nicht durch eine ordinäre Bananenschale oder eine Bordsteinkante zu Fall gebracht wurde. Die Verengung des optischen und geistigen Horizonts durch die Spiele-App minderte die Aufmerksamkeit der Anwender jedoch auch in anderer Hinsicht: Buchstäblich unter ihrer Nase wurden ihnen Bewegungsdaten, Konsumvorlieben, Wahrnehmungsgewohnheiten und andere persönliche Daten abgesaugt, um ihr Handy dann mit subtilen Konsumbotschaften zu füttern. So steuerte man die Spieler gezielt hier in einen Imbiss, da in einen Klamottenladen und dort in ein Musikgeschäft, wo sie, oft gegen ihre sonstigen Gewohnheiten, freundlicherweise ein paar Euro, Pfund, Dollar oder Yen hinterließen. Google-Werbung macht sich auf mehr Weisen bezahlt als nur durch Klicks auf einer Suchergebnisseite. Und die Kamera-App hatte die User zum Weiterspielen verleitet, wo eine schmerzhafte Prellung angebracht gewesen wäre, um sie wieder zu sich selbst zu bringen…

Doch was beschwerte sich diese junge Nachwuchsdetektivin? Sie folgte in Gedanken ja ebenfalls schon wieder Brotkrumen und stand im Begriff, ihr Vorhaben aus den Augen zu verlieren. Der menschliche Geist bestand aus einem Sack voller Flöhe, dachte Veronica. Wie hatte ihr Vater es einmal beschrieben? Es bedurfte einiger Übungen und Tricks, um sie beisammen zu halten, damit sie Kunststücke aufführten, statt einen durch lästiges Jucken abzulenken.

So. Und nun würde sie…

„Guten Morgen, Veronica! Du kennst die Strafe für sonntägliches Frühaufstehen!“, donnerte ihr Vater von oben.

„Ja, Dad. Der erste, der aufsteht, macht Frühstück.“

„Hurtig, in die Küche! Stell sicher, dass der Kaffee ordentlich dampft.“

„Sei nett zu mir. Ich werde dich einmal pflegen.“

„Ich habe nicht vor, mein Verfallsdatum zu überschreiten. Außerdem bin ich derjenige, der die Brötchen kaufen gehen wird. Soll ich dir nun etwas Besonderes mitbringen oder nicht?“

„Brezeln, falls du in diesem nordenglischen Kral welche findest. Ansonsten nehme ich, was du erlegst. Du bist der Jäger in der Familie.“

„Ganz recht. Und jetzt runter von der Treppe, damit ich rauskomme.“

„So gehen Sie mir nicht aus dem Haus, Herr Ziegler.“

Zach schaute an seinem zerknitterten Pyjama hinunter. „Was… ach herrje! Da fehlen nur noch die Lockenwickler!“

Veronica prustete. Als sie sich an ihm vorbei drückte, empfahl sie, den Gebrauch von Kamm und Rasiermesser zu erwägen. In Anspielung auf eine Passage aus Malcolm Evans‘ Tagebuch rief sie: „Socken, Mal.“ Ein Pantoffel flog haarscharf an ihr vorbei. Sie eilte kichernd in die Küche, knallte die Tür zu und drehte den Schlüssel um. Ein dumpfes Rumsen verkündete den Einschlag des zweiten Pantoffels. Dann ging der Haushalt seinen sonntagmorgendlichen Pflichten nach.

5) Kraut wider Willen

Auf dem Weg nach oben mussten die drei am Fuß der Treppe einen größeren Fleck eingetrockneter dunkler Flüssigkeit überqueren. Am Boden und auf den ersten drei Stufen waren mit weißer Kreide die Umrisse einer Person markiert. Sie stakten mit weiten Schritten darüber hinweg, dann eilten sie den Rest des Weges hinauf. Die Wohnung erstreckte sich über zwei Stockwerke. Sie zeigte sich so unspektakulär wie der Laden darunter. Die Wände waren in angenehmen blassen Pastellfarben tapeziert, die Möblierung war schlicht aber edel. Weder schien die Wohnung überladen noch wirkte sie spartanisch; sie stellte in ihrer unaufdringlichen Schönheit ein Meisterwerk dar, für das die Welt edelstahlgerahmten Glases einerseits und skandinavischer Billigmöbel andererseits keine Sinne besaß. Zach und Veronica sahen sich befangen um, während der Notar eine Tür nach der anderen öffnete, damit sie hineinschauen konnten. Dann entschuldigte er sich noch einmal bei ihnen; die Pflicht rufe ihn nun. Gemeinsam begaben sie sich wieder in den Laden hinunter.

„Wir danken Ihnen für Ihre Bemühungen,“ ließ Zach ihn wissen, als er ihm die Hand schüttelte. „Ich möchte Sie wirklich nicht länger aufhalten, aber eine Frage hätte ich noch: Wo liegt mein Stiefbruder begraben?“

„Mr Campbell befindet sich in der forensischen Pathologie. Ich erhielt gestern Nachricht von der Mordkommission, dass sein Leichnam nun zur Bestattung freigegeben sei. Entsprechend seiner Anweisungen habe ich die Einäscherung und anschließende Beisetzung auf dem Toxteth Park Cemetary veranlasst. Darf ich Ihnen die Einladung an diese Adresse hier schicken oder haben Sie vor, nach London zurückzukehren?“

Veronica und Zach schauten einander an. Auf ein unauffälliges Handzeichen seiner Tochter hin erklärte der Detektiv, dass sie vorerst in Liverpool bleiben würden und ihm bescheid gäben, falls sie es sich anders überlegen sollten. „Dürfen wir Sie eventuell noch einmal mit Fragen belästigen? Sie wissen schon – es ist immer von Vorteil, wenn man jemand kennt, der mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut ist.“

„Selbstverständlich, Mr Ziegler. Jederzeit. Auf Wiedersehen! Goodbye, Ms Veronica.“

Der Notar hob den Schlüsselbund auf Augenhöhe, dann legte er ihn auf die Ladentheke. Er ging durch die Fronttür, wandte sich nach rechts und verschmolz innerhalb weniger Sekunden mit den seit ihrem Eintreffen merklich zahlreicher gewordenen Fußgängern.

Schweigen breitete sich aus. Veronica beäugte kurz den Postkartenständer, bevor sie zum Bücherregal wanderte, um dessen Inhalt mit schief gelegtem Kopf zu inspizieren. Zach blätterte ohne großes Interesse durch die Vinylscheiben in den Sortierkästen. Nach einer Weile sagte er: „Hast du auch so einen Durst? Komm, lass uns irgendwo hingehen.“

Ein breites Grinsen legte sich auf Veronicas Gesicht. „Zwei Dumme – ein Gedanke,“ stimmte sie zu. „Ich habe auf dem Weg hierher einen Irish Pub gesehen.“


Es wurde dann doch nicht der Pub. Sie ließen sich von Touristen und Feierabendpendlern durch die Fußgängerzone des Cavern-Viertels treiben, vorbei an Restaurants, Andenkenläden, Bekleidungshändlern und um diese Uhrzeit geschlossenen Nachtbars. Schließlich, als sie genug frische Luft getankt hatten, betraten sie eine italienische Gaststätte. Sie nahmen einen Tisch direkt an der Fensterfront, von wo sie das Geschehen draußen weiter verfolgen konnten.

„Die Atmosphäre in Liverpool gefällt mir,“ verkündete Zach.

„Ja, man könnte sich daran gewöhnen. Hier in der Altstadt wird man sein Geld aber schneller los, als wieder welches hereinkommt,“ erwiderte Veronica.

„Das ist nun buchstäblich ein Luxusproblem, für dessen Lösung wir uns jahrelang Zeit nehmen können.“

„Wenn wir wie Rockstars in Hotels wohnen und jeden Abend auf einer Flaniermeile essen gehen, wird es nicht übermäßig lang dauern, Paps. Wir sollten behutsam damit umgehen und uns gut überlegen, wofür wir es ausgeben.“

„Ich bin sehr froh, eine solch verantwortungsvolle Tochter großgezogen zu haben. Aber wir sind gerade erst angekommen. Dein Onkel Paul hat uns ein unglaublich großzügiges Geschenk hinterlassen. Gleichzeitig verbinden sich damit eine ganze Reihe Verpflichtungen und Probleme. Ich denke, es steht uns zu, das Notwendige mit dem Angenehmen zu verbinden.“

Eine etwa fünfzigjährige Frau erschien mit einer Wasserkaraffe und Gläsern, schenkte ein und reichte ihnen die Karte.

„Ob sie auch Käsespätzle haben?“, scherzte Zach auf Deutsch.

„Dad! Mach jetzt keine Faxen. Wir hatten Aufregung genug.“

„Noi, hemmer net,“ mischte sich die Kellnerin in breitestem Schwäbisch ein, „abr probierat Se onsre Käs-Schbageddie; die send fascht genau so guat.“

Vater und Tochter schauten ihr erstaunt ins Gesicht, dann brachen sie in prustendes Lachen aus. Gäste an den Nachbartischen drehten sich neugierig zu ihnen um.

„Von Timbuktu bis Tokyo – die Schwaben sind auch überall anzutreffen,“ frotzelte Zach. „Leider bin ich selbst keiner. Nur im Ländle geboren. Wir unterhalten uns besser auf Hochdeutsch.“

„Kann ich nicht,“ gab die Kellnerin in aufgesetzt königlichem Englisch zurück. Sie grinste breit. „Ich bin übrigens auch keine Schwäbin. Meine Großeltern kamen in den 1960ern als Gastarbeiter von Milano nach Sindelfingen.“

„Und nun sind sie keine Engländerin,“ spann Veronica den Faden weiter.

„Ganz recht. Hier bin ich ‚die Kraut‘, aber das macht mich zu etwas Liebenswertem in den Augen der Leute. In Württemberg wären meine Kinder als Reingeschmeckte aufgewachsen. Im Übrigen liegt Liverpool nicht gerade in Afrika. Hier leben die Leute eben so gut wie im Ländle.“

Zach nickte wissend. Veronica schenkte der Frau ein warmes Lächeln. Diese nahm nun Haltung an, brachte ihren Bestellblock in Anschlag und erkundigte sich in gestelztem Englisch: „Wünscht der geschätzte Herr die Käse-Spaghetti zu ordern?“

„Gerne. Bitte mit geschmelzten Zwiebeln oben drauf. Und ein Bier dazu.“

„Sehr wohl, Sir.“

Veronica bestellte Lasagna und ließ sich Wein empfehlen. Dann verließ die Kellnerin den Tisch.

Zach wechselte das Thema. „Was hältst du von dem guten Doktor?“, erkundigte er sich.

„Miller? Ich weiß nicht. Hast du bemerkt, wie er mich anschaut?“

„Er scheint ein Mensch zu sein, der hinter Fassaden zu sehen versteht.“

„Das ging für meinen Geschmack ein wenig zu tief.“

„Na komm, er blieb streng auf dein Gesicht fixiert. Und du hast dich sehr gut gehalten. Ich denke, du hast den Test bestanden.“

„Den Test?“

„Ich vermute, er versucht herauszufinden, ob wir das Zeug haben, an Pauls Stelle zu treten.“

„Da hege ich so meine Zweifel,“ sagte Veronica. „Keiner von uns kann eine massenproduzierte Schallplatte von einer Rarität unterscheiden, geschweige denn die Geschichte der Beatles in allen Details wiedergeben. ‚In Sammlerkreisen steht die Nummer ‚LGF 969D‘ für einen Wagen, der vor vielen Jahren spurlos von der Bildfläche verschwunden ist‘,“ äffte sie den belehrenden Tonfall des Notars nach.

„696. Lennons Zulassung lautete LGF 696D.“

Veronica verdrehte die Augen.

„Gib dem Mann eine Chance. Der Verlust von Paul war für ihn größer als für uns, das Trostpflaster dagegen bedeutend kleiner. Und unterschätze deinen alten Herrn nicht. Vielleicht finde ich einen Weg, wie wir den Laden weiterlaufen lassen können. Auf seine besondere Weise scheint er für das kulturelle Leben hier ähnlich wichtig zu sein wie der Cavern-Club.“

„Ich kann‘s nicht erklären, weshalb, aber ich habe ein komisches Bauchgefühl bei Miller.“

„Ich möchte mich bald etwas ausführlicher mit ihm über Paul unterhalten. Vielleicht nach der Beerdigung. Ich habe immer noch keine Ahnung, wie er zu dem Mann geworden ist, als der er starb, was ihn bewegt hat, wer seine Freunde waren und all das. Was wir über sein Ende in Erfahrung gebracht haben, ist ebenfalls nicht gerade viel,“ lamentierte Zach.

Veronica griff nach seiner Hand. „Dann lass uns doch in den nächsten Tagen mit der Polizei reden. Die können uns sicher mehr sagen.“

„Gute Idee.“

Die Kellnerin servierte ihre Getränke, lächelte ihnen zu und verkündete, dass das Essen nicht lange auf sich warten lassen würde. Die Stimmung erholte sich deutlich. Sie speisten genussvoll und redeten bis in die späten Abendstunden. Als sie sich auf den Rückweg zum Hotel begaben, herrschte in Liverpools Gassen bereits feuchtfröhliches Partygedränge.