Zach schneite um sieben in die Küche, in der es angenehm nach einer warmen Morgenmahlzeit roch. Entgegen seiner üblichen Stimmung um diese Uhrzeit grüßte er Veronica fröhlich. „Na, schon wieder die Erste? Hast du nicht gut geschlafen?“, fragte er.
„Vielleicht ein bisschen zu lang,“ entgegnete sie, „aber sonst ganz okay. Wie steht‘s mit dir? Warum bist du so aufgekratzt? Du hast doch den Clown noch gar nicht gefrühstückt, den ich dir servieren wollte.“
„Ich? Aufgekratzt? Dummes Zeug. Ich kann es bloß kaum erwarten, mich in diese aufgabenreiche Woche zu stürzen.“
„Die zufällig mit gut aussehendem Damenbesuch beginnt.“
„Nonsens!“, polterte er.
„Süß, wie er sich windet.“ Sie zwinkerte. Zach zog eine Grimasse und stieß einen Laut aus, der wie „Hrmpf“ klang. Dann ließen sie das Thema ruhen und setzten sich. Veronica erläuterte die Fragen, die sie ihrer Meinung nach Maria Borghese stellen sollten. Es war ihr daran gelegen, einige Zusammenhänge zu klären, die zu beunruhigenden Folgerungen führen konnten. Wenn Maria ihre Arbeit für den Fab Store wahrheitsgemäß geschildert hatte, musste sie irgendwann auf dieselben irritierenden Tatsachen gestoßen sein. Sie sollte zumindest wissen, welchen Fäden zu folgen die Zieglers der Lösung des Geheimnisses um das verschwundene Manuskript und den Tod Paul Campbells näher bringen konnte. Zach erklärte sich einverstanden.
Gegen acht Uhr stiegen sie die Treppen hinab. Das Licht im Hinterzimmer brannte noch und die Tür zum Verkaufsraum, der ebenfalls hell erleuchtet war, stand offen. Ihr frühmorgendliches Selbst hatte beim Rückzug aus dem Gedankensturm wenig Sinn fürs Detail walten lassen, gestand Veronica sich ein. Sogar die Schallplatte, der Taschenspiegel und das kleine rund gerahmte Bild lagen noch dort, wo sie sie zuletzt betrachtet hatte. Der Seitenblick und das spöttische „Tsk tsk!“ ihres Vaters ärgerten sie. Sie war stolz auf ihren kühlen Kopf, den sie normalerweise selbst in emotional anstrengenden Phasen ihrer detektivischen Arbeit zu bewahren verstand. Den Schock, den sie angesichts des Peppers-Codes und seiner Implikationen empfunden hatte, betrachtete sie als Blöße. Sie würde alles daran setzen, die Scharte auszuwetzen.
Maria stand bereits vor der Tür. Sie unterhielt sich mit einer anderen Frau. Als die Türglocke klingelte, unterbrachen die Frauen ihr Gespräch und schauten herüber.
„Bongiorno, Signore Ziegler!“, grüßte Maria Borghese mit typisch italienischer Melodik.
„Guten Morgen“, sagte auch die andere Frau, eine vielleicht Vierzigjährige, deren Stimme und Gebaren an ein kleines Vögelchen erinnerte.
„Guten Morgen, die Damen!“, grüßte Zach gut gelaunt zurück. „Endlich haben wir ordentliches britisches Wetter“, fuhr er nach einem kurzen Fingerzeig auf die trübe Suppe über ihren Köpfen fort. „Der ewige Sonnenschein ging mir schon langsam auf die Nerven.“
Die Frauen lachten heiter und nickten.
„Lassen Sie sich nicht stören. Ich möchte nur mitteilen, dass wir nun bereit sind. Sie dürfen jederzeit hereinkommen, Mrs Borghese.“
„Grazie. Es gibt nichts Wichtiges. Wir sind uns nur zufällig begegnet und haben ein paar Worte gewechselt. Ich bin sofort bei Ihnen.“
Die Frauen verabschiedeten sich mit Wangenküsschen, dann nahm die Italienerin die drei Stufen zum Laden im Eilschritt. Drinnen angekommen grüßte sie die beiden Zieglers erneut. Sie gab zunächst Zach, dann Veronica die Hand. „Signore Ziegler, wie schön, Sie wiederzusehen.“
„Die Freude ist ganz meinerseits, Mrs Borghese. Die Käse-Spaghetti schmeckten ausgezeichnet. Doch wer hätte gedacht, dass Sie zu so viel mehr fähig sind?“
„Obwohl ich dem Koch ein paar Rezepte geschenkt habe, trage ich keine Verantwortung für die Qualität der Speisen im Restaurant. Wenn ich darf, werde ich hier eines Abends original schwäbisches Essen für Sie beide kochen.“
„Wir werden Sie beim Wort nehmen,“ kündigte Zach an, „doch lassen Sie uns zunächst über Geschäftliches reden. Falls Sie als Putzhilfe bei uns anfangen möchten, können sie sofort zu denselben Bedingungen beginnen wie bei Mr Campbell – oder möchten Sie nachverhandeln?“
„Sehr freundlich Signore Ziegler. Ich bin mit dem alten Vertrag zufrieden. Signore Campbell hat die Bezahlung ein Mal im Jahr an die Inflation angepasst. Ich werde täglich den Boden des Ladens wischen, bei Bedarf das Schaufenster putzen und die Einrichtung abstauben. Montags reinige ich das Hinterzimmer und die Wohnung.“
„Ganz wunderbar, Mrs Borghese. Haben Sie zufällig eine Kopie des Vertrags dabei? Ich werde ihn auf meinen Namen neu aufsetzen.“
Die Italienerin öffnete ihre Handtasche, zog einen doppelt zusammengefalteten Briefbogen heraus und reichte ihn dem Detektiv. Zach bemerkte die präzisen, eleganten Bewegungen ihrer Hände. Er nahm das Papier entgegen und gab es ohne hineinzuschauen an seine Tochter weiter. „Kümmerst du dich bitte drum?“
„Klar.“ Veronica zwinkerte der neuen alten Angestellten zu. Maria Borghese erwiderte die Geste mit einem warmen Lächeln.
„Frau Borghese,“ fuhr Zach fort, „Veronica erzählte mir, dass Sie erwähnt hätten, Sie seien mit den Stammkunden des Fab Store vertraut und an den Recherchen zur Beschaffung von Memorabilien beteiligt gewesen. Haben wir Sie da richtig verstanden?“
„Si, Signore Ziegler. Ich habe für Signore Campbell die Abrechnungen geschrieben und seine Unterlagen in Ordnung gehalten. Außerdem bin ich seinen Kundinnen und Kunden allen persönlich begegnet. Manchmal nehmen sie meine Recherchedienste in Anspruch. Ich werde zu Sammlertreffen eingeladen. Daher kenne ich die Gewohnheiten, die Interessen und die Zuverlässigkeit der Leute sehr genau.“
„Wie lief das ab, wenn Sie Mr Campbell halfen, ein Objekt aufzutreiben? Wie darf ich mir das praktisch vorstellen?“
„Ein Kunde oder Signore Campbell kamen mit einer Idee zu mir und fragten mich um Rat. Meistens konnte ich ihnen etwas zu den Erfolgsaussichten oder auch zu einem möglichen Suchweg sagen. Wenn sie Schwierigkeiten hatten, das Objekt zu lokalisieren, setzte ich mich mit Signore Campbell an den Computer im Studierzimmer. Wir ergänzten uns sehr gut dabei, weitere Informationen darüber aufzutreiben. Manchmal musste ich eine Bibliothek oder ein Archiv aufsuchen. Sobald wir dicht genug herangekommen waren, hat Signore Campbell Kontakt zum Eigentümer aufgenommen oder seine Beziehungen spielen lassen, um ihn zu erreichen. Nicht jeder ist offen für solche Anfragen, müssen Sie wissen.“
„Was sprang für Sie dabei heraus?“, wollte Zach wissen.
„Ich bekam fünf Prozent vom Gewinn, und er verschaffte mir Zugang zu jeder Informationsquelle, die ich haben wollte.“
„Das scheint mir wenig, wenn man Ihren Anteil am Erfolg berücksichtigt.“
„Er hat mir mehr angeboten, aber ich wollte das nicht.“
„Sie wollten das nicht???“, mischte sich Veronica ein, der das Erstaunen ins Gesicht geschrieben stand. „Sie haben zwei kleine Jobs, die kaum das Nötigste abwerfen, und sie schlagen die Gelegenheit aus, Ihre Sorgen loszuwerden?“
„Welche Sorgen? Ich rauche nicht, ich trinke nicht, ich habe keine teuren Hobbys. Für die wenigen Verpflichtungen, denen ich nicht ausweichen kann, reicht das Geld allemal. Mehr davon verdirbt nur den Charakter. Ich habe mein Leben so eingerichtet, dass sowohl der Körper als auch der Geist und die Seele zufrieden sein können. Wer glücklich sein möchte, sollte wissen, wann genug genug ist.“
„Verzeihen Sie meine ungläubige Frage. Man trifft Menschen wie Sie nur sehr selten. Wie ich Ihnen gestern erzählt habe, lebten mein Vater und ich bisher ähnlich bescheiden. Wir werden uns bestens verstehen, glaube ich.“
„Das glaube ich auch, Signorina. Man merkt den Menschen an, wie sie zum Materiellen stehen. Deshalb waren Sie mir sofort sympathisch, als Sie ins Restaurant gekommen sind.“
„Das beruht auf Gegenseitigkeit, wie Sie sicher wissen“, warf Zach ein, und Veronica nickte bestätigend.
„Würden Sie sagen, Sie kennen sich mit der Musikszene, speziell den Beatles, besonders gut aus? Oder beruht Ihr Erfolg eher auf Ihrer Recherchemethodik?“
„Beides trifft zu. Das Thema interessiert mich mehr als jedes andere. Die meisten Tatsachen über die Gruppe liegen noch immer in einem fast undurchdringlichen Nebel aus Halbwahrheiten, Schweigen und Mythen verborgen, aber das macht es besonders reizvoll für mich, darin herumzustochern. Ich habe wahrscheinlich jedes Buch, jede Webseite und jeden Artikel gelesen, die es auf Englisch, Italienisch oder Deutsch gibt – und ich vergesse nichts, das ich einmal gelesen habe. Deswegen kann ich übrigens auch Kundenfragen beantworten – zum Beispiel solche wie die da.“ Sie zeigte auf die von Veronica zurückgelassenen Gegenstände neben der Registrierkasse.
Das Gesicht der jungen Frau rötete sich. Einerseits ärgerte sie sich erneut über ihren Mangel an Vorsicht, andererseits empfand sie die Schärfe von Marias Verstand als furchterregend. Da sie sich jedoch ohnehin vorgenommen hatte, den Peppers-Code zum Prüfstein für die Fähigkeiten der Italienerin zu machen, nutzte sie nun die Steilvorlage, um mehr über seine Bedeutung zu erfahren. „Ich habe zwei Fragen,“ sagte sie. „Was besagt der Schriftzug im Spiegel, und weshalb hatte Onkel Paul ihn an der Wand hängen?“
Maria Borghese schwieg eine gefühlte Ewigkeit, während der sie Veronicas Gesicht studierte. Der Detektivin lag es fern, diesem Blick auszuweichen. Nach einer Woche, in der ihre Nachforschungen eine Ungereimtheit um die andere zutage gefördert hatte, wollte sie Antworten haben. Die Spannung im Raum wurde beinahe greifbar. Als die Italienerin schließlich zu sprechen begann, ertönte ihre Stimme ernst und ungewöhnlich tief: „Wir sind gerade dabei, die Türen zum ersten Kreis der Hölle zu öffnen. Ich schlage daher vor, wir gehen nach hinten und setzen uns.“