37) Schlachtplan

In einer Bar unweit des Krematoriums nahmen die Trauergäste einen Umtrunk ein. Mr und Mrs Wickens hatten sich jedoch bereits in der Aussegnungshalle verabschiedet, Donalds dienstlicher Pflichten wegen, die ihn auch an diesem Sonntag nicht zur Ruhe kommen ließen. Das Verbrechen nehme keinen Urlaub, hatte der Kommissar halb im Scherz gesagt, und seine Frau Mary hatte dabei eine säuerliche Miene gezogen.

Veronica unterhielt sich mit der blonden Frau, die, genau wie Zach vermutet hatte, im Laden gegenüber arbeitete. Ein Auge hielt die junge Detektivin auf ihren Vater gerichtet, der mit Maria Borghese ein paar Meter weiter auf einem Barhocker am Tresen saß. Sie sprachen leise miteinander, steckten dabei immer wieder die Köpfe zusammen oder streichelten einander den Rücken. Veronica freute sich für ihrem Vater, der anscheinend endlich Klarheit gefunden hatte, wie er emotional mit dem Verlust seines Stiefbruders umgehen sollte. Maria, die zwar nie auf dem Stiefel gelebt aber von ihrer Familie eben doch einiges vom heißblütigen Nationalcharakter der Italiener vererbt bekommen hatte, musste der Katalysator gewesen sein. Sie wünschte sich, die ‚Putzhilfe‘, die für sie so viel mehr als nur eine einfache Angestellte geworden war, möge ihnen noch lange erhalten bleiben. Veronica war sie sehr ans Herz gewachsen, und wenn sie die Zeichen recht deutete, ging das auch ihrem Vater so. Sie lächelte.


„Hältst du es für wahrscheinlich, dass sie tatsächlich nach Bath gefahren ist, wie sie am Telefon behauptete?“, fragte Zach Maria. Er schaute zu seiner Tochter hinüber, die mit dieser blonden Frau ein paar Meter entfernt an einem der Tische saß. Sie sah ihn lächelnd an, dann konzentrierte sie sich wieder auf ihre Gesprächspartnerin. Veronica hatte das Durcheinander der letzten beiden Wochen besser verkraftet als er, schien es, und er war heilfroh deswegen. Sie konnten alles miteinander bereden, was emotionale Belastungen für sie beide viel leichter erträglich machte, aber er bemühte sich zur Zeit, ihr die düsteren Gedanken zu ersparen, die ihn häufig quälten. Dankbarerweise war nun Maria in das Leben der Zieglers getreten. Sie konnte nicht nur gut zuhören sondern mochte auch eine echte Stütze für sie werden, wie sich heute gezeigt hatte.

Auf seine Frage antwortete Maria: „Ganz ehrlich, ich glaube es eher nicht. Aber wer weiß, vielleicht wohnt jemand aus ihrer Familie dort. Über die wissen wir rein gar nichts.“

„Wo könnte sie sonst hingegangen sein?“

„Das frage ich mich auch schon die ganze Zeit. Es sind fast vier Wochen vergangen, seit ich sie zuletzt am Telefon sprach. Gestern Nacht kam mir eine Idee.“

„Die da lautet?“

„Die ‚Familie‘ hat einen alten Bauernhof nahe der schottischen Grenze gepachtet. Wir feiern dort einmal im Jahr ein großes Fest zusammen, aber wir nutzen das Haus auch für unsere individuellen Zwecke.“

„Wie ist das geregelt? Haben alle von euch einen Schlüssel?“, hakte Zach nach.

„Man muss das mit Desmond verhandeln. Er verwahrt den Schlüssel und achtet darauf, dass keine Überschneidungen entstehen.“

„Mit anderen Worten: Falls Kirk sich dort aufhält, müsste Desmond es wissen.“

Maria nickte.

„Okay, das hilft mir weiter. Ich werde morgen Vormittag mit ihm über das Familientreffen reden. Bei der Gelegenheit kann ich mich gleich nach Kirk erkundigen. Falls sie nicht auf den Bauernhof gegangen ist, besitzt er vielleicht andere Mittel, sie aufzuspüren.“

Die Italienerin schüttelte den Kopf. „Wenn sie in Schwierigkeiten steckt, dann wegen Mr Kite. Desmond ist ihm treu ergeben. Von dem erfährst du rein gar nichts.“

„Ich muss es versuchen, und sei es nur, um ihn wissen zu lassen, dass jemand ein Auge auf ihre Aktivitäten hat. Die Zeiten, da sie in Liverpool schalten und walten konnten, wie sie wollten, sind ab jetzt vorbei.“

„Spiel nicht ‚Don Camillo und Peppone‘ mit denen, Zach. Diese Typen sind gefährlich.“

„Ich bestehe ebenfalls nicht aus Schokolade.“

„Schade eigentlich“, sagte Maria und nahm seine Hand in die ihre.


Verworrene Träume und wiederholtes Erwachen hatten dafür gesorgt, dass sie beide In der Nacht nur wenig erholsamen Schlaf erhielten. Um sechs Uhr früh rollte Zach schließlich aus dem Bett, ging in die Küche und setzte eine Kanne Kaffee auf. Veronica, die seine Schritte auf dem Gang gehört hatte, gesellte sich ihm wenige Minuten später bei. Im trüben Schein einer heruntergedimmten Lampe hockten sie am Tisch und wärmten sich die Finger an den Tassen – Zach an einer bereits leeren, Veronica an einer noch vollen.

„Bei dem Gedanken an das gefärbte Wasser im Präsidium revoltiert mein Magen“, knurrte der Detektiv.

„So schlimm?“, fragte seine Tochter mitleidig.

„Du hast keine Ahnung, wie schlimm!“ Zach seufzte. „Mir mangelt es an jeglichem Drang, diesen Termin wahrzunehmen. Und das, obwohl es sich um einen der wichtigsten in der ganzen Serie handeln dürfte.“

„Weil Desmond das Foto ursprünglich beschafft hat?“

„Das ist nur einer von mehreren Gründen. Er hat vermutlich zahlreiches andere für Kite ‚organisiert‘. Er hält ihm den Rücken frei, wie wir von Miller gehört haben. Er verwahrt den Schlüssel für das Ferienhaus der Familie, in dem sich Kirk womöglich aufhält. Vor allem aber möchte ich abklären, ob er irgendwie in den Mord an Onkel Paul verwickelt war.“

„Wird er uns wohl kaum einfach so auf die Nase binden.“

„Seine Frau hielt den Zwischenstop in der Stadt zur fraglichen Zeit für harmlos genug. Falls er es anders sieht, wird er eine davon abweichende Geschichte erzählen beziehungsweise sich in Widersprüche verstricken.“

„Ah, jetzt verstehe ich, was du vorhast“, erwiderte Veronica. „Pass auf, ich mache dir einen Vorschlag: Wir arbeiten heute getrennt. Ich übernehme das Wickens-Interview und du knöpfst dir Henry the Horse vor. So können wir dem Kommissar mehr Zeit widmen, während wir sichergehen, dass Henry jemand im Laden antrifft. Ich weiß, dass du dich eh die ganze Woche schon auf das Gespräch mit ihm freust. Außerdem hat er Kirk angeblich damals in die Familie eingeführt. Wenn jemand etwas über ihren Hintergrund oder Verbleib weiß, dann er. Wir dürfen ihn heute auf keinen Fall verpassen.“

Zach grübelte eine halbe Minute. Er stierte auf die leere Tasse nieder, die er zwischen seinen Händen drehte, erst nach links, dann nach rechts, nach links, rechts, links rechts. Als er wieder aufblickte, sagte er: „So vernünftig dein Vorschlag klingt – mich beschleicht ein ungutes Gefühl, dich mit dem Mann allein zu lassen.“

„Traust du mir den Job nicht zu?“

„Ich vertraue niemandem mehr als dir, aber es könnte sein, dass Wickens ein falsches Spiel spielt. Wenn er mit Pauls Tod zu tun hatte…“

„Ach komm schon, was soll mir groß passieren? Ausgerechnet in einer Polizeiwache?“

„Was soll in der Höhle des Löwen schon groß passieren – von allen Orten jener, den Leute wie Wickens vollständig unter Kontrolle haben? Mit all den Typen um dich herum, die ihre moralische Kompetenz aufgegeben haben, um wie Roboter unpersönliche Regeln zu befolgen und wie Sklaven die Befehle ihrer Vorgesetzten unhinterfragt auszuführen?“

Veronica schluckte. „Aus der Warte habe ich das noch nie betrachtet. Ich war der Ansicht, dass ein Polizeigebäude eine Umgebung mit stärker kontrollierten Bedingungen ist als die meisten anderen, abgesehen vielleicht von Militärgeländen und Regierungsvierteln.“

„Ja selbstverständlich sind sie unvergleichlich viel stärker kontrolliert, aber doch nicht, um dich, sondern um sich selbst zu schützen. Wenn jemand mit denen in Konflikt kommt, dann ist er sofort mit dem Gesetz in Konflikt. Wenn deine Aussage gegen ihre steht, glaubt man eher dir oder dem treuen Staatsdiener?“

Seine Tochter schnitt eine Grimasse.

„Wenn einer von denen dich aus dem Verkehr ziehen will, findet er immer einen Grund, dich einzusperren. Und wenn er dich erschießt, so nur, weil du Widerstand geleistet hast – genau wie Mal Evans.“

„Willst du, dass ich zuhause bleibe?“

Zach zögerte. „Nein“, sagte er dann bestimmt. „Gefahren sind Teil unseres Daseins. Den Schwanz einzuziehen und sich in einer Festung zu verschanzen kann nicht die Antwort darauf sein.“

„Also…?“

„Geh hin und versuche, möglichen Schwierigkeiten mit offenen Sinnen zu begegnen. Was unberechenbare Momente betrifft: Vor denen bist du eh nicht gefeit. Man fährt besser, wenn man sie willkommen heißt.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Ich glaube, das ist der wichtigste Unterschied zwischen uns und jenen, die – egal auf welcher Etage – ihren Platz in der Machtpyramide einnehmen: Sie sind Kontroll-Freaks. Sie hassen alles Natürliche, Lebendige, aus dem Moment Geborene, sich frei Entfaltende.“

36) Revolver

„Angesichts Ihrer Erkenntnisse über den größeren Zusammenhang beschlossen Sie, dass Sie an den Kulissen der Unterhaltungsindustrie rütteln mussten. Wenn ich es recht verstehe, arbeiten Sie an einer Art Dokumentationsprojekt…“

„Nun, das ist die eine Hälfte der Unternehmung: interessierten Zeitgenossen Zugang zu authentischen Objekten zu verschaffen und eine halbwegs korrekte Geschichtsschreibung zu ermöglichen. Die andere Hälfte besteht in der juristischen Aufarbeitung. Ich sehe im Moment zwar keine Chance, ein unabhängiges Gericht zu finden, das gegen die Kontrolleure antreten würde, aber die Zeit wird kommen, und dann wollen wir vorbereitet sein.“

„Was hatten Sie sich diesbezüglich vom Familientreffen erhofft?“

„Wir dachten, wir könnten eine Gelegenheit herbeiführen, Mal Evans‘ Memoiren zu kopieren. Wir vermuten, dass seine Beschreibungen Hinweise auf weiterführende Spuren enthalten, etwa zur Frage, wie die Songs geschrieben und aufgenommen wurden oder wie Billy Shears Paul McCartney ersetzte.“

„Wer kam auf die Idee, ein minderjähriges Mädchen als Venus-Fliegenfalle zu benutzen?“

„Das Mädchen selbst. Unser Plan sah vor, Kite mit Alkohol oder Drogen auszuschalten. Kirk war der Ansicht, wir unterschätzten seine Intelligenz. Sie sollte recht behalten.“

„Wider Erwarten blieb PC31 jedoch an diesem Abend dem Treffen fern, und mit ihm das Manuskript. Weshalb machten Sie trotzdem weiter?“

„Kirk ließ sich durch nichts bremsen. Vielleicht ging es ihr mehr um den Sex als um das Beweisstück; vielleicht genoss sie den Kitzel der Gefahr; vielleicht wollte sie sich oder uns etwas beweisen. Ich weiß es nicht. Vom Augenblick ihres Eintreffens flirtete sie heftig drauf los. Ich habe ihr mehrmals signalisiert, dass sie es sein lassen soll, aber sie ignorierte mich einfach.“

„Also stieg sie schließlich mit Kite ins Bett. Was geschah dann?“

„Semolina schlich ihr hinterher. Irgendwann kehrte Sem in den Salon zurück, um uns zu holen. Sie hatte von Kirk ein Foto erhalten. Mustard, Robert und ich haben Aufnahmen gemacht. Dann gingen wir wieder hinunter, während Semolina das Foto zurückzugeben versuchte. Aber sie fand Kirk bewusstlos am Boden des Schlafzimmers liegend vor. Also hat sie mich geholt, um ihr zu helfen, sie aufs Bett zu legen.“

„Wie sah es im Schlafzimmer aus? Ist Ihnen etwas aufgefallen?“

„Völliges Durcheinander; Kleidungsstücke über den Boden verstreut. Kite lag im Tiefschlaf auf dem völlig zerwühlten Bett, Kirk daneben auf dem Boden. Sie sah übel zugerichtet aus – voller blaue Flecke, die Haare zerzaust. Wir hievten sie hoch, dann gingen wir.“

„Haben Sie das Foto irgendwo gesehen?“

„Es lag auf einem der Nachttischchen.“

„Und da lag es noch, nachdem Sie das Zimmer verlassen hatten?“

„Selbstverständlich! Wofür halten Sie mich?“

„Entschuldigen Sie, ich muss die Frage stellen. Das Bild fehlte am folgenden Tag.“

„Wie bitte?“

„Kite sagt, es sei ihm entwendet worden. Er hält es für einen Scherz, der zu weit getrieben wurde, und bat mich, Erkundigungen einzuholen. Hat er Sie nicht zu kontaktieren versucht?“

„Nein. Ich hatte auch keinen Kontakt zu den anderen.“

„Als Semolina und Sie in den Salon zurückgekehrt waren, sprachen Sie den anderen gegenüber davon, was Sie im Schlafzimmer gesehen haben?“

Rocky Raccoon überlegte. Zögernd sagte er: „Ja. Da Sie so fragen, erinnere ich mich, die Szene beschrieben zu haben.“

„Wer hat das Schloss als Letzter verlassen?“

„Ich. Gelegenheit ins Schlafzimmer zurückzugehen hätten aber alle gehabt. Der Ruf der Natur, Sie verstehen?“

„Was halten Sie für wahrscheinlicher: dass Kite lügt oder dass einer von Ihnen sich das Foto heimlich geschnappt und mitgenommen hat?“

„Ich glaube eher, dass Kite lügt, möchte jedoch grundsätzlich nichts ausschließen.“

„Wer von Ihnen, glauben Sie, käme am ehesten dafür infrage?“

„Robert oder Mustard.“

„Weshalb nicht Semolina?“

Rocky verzog den Mund. „Wenn Sie sie seit längerem kennen würden, hätten Sie sich die Frage geschenkt.“

„Was ist mit Kirk? Sie scheint gerade untergetaucht zu sein. Halten Sie es für möglich, dass sie mit dem Foto abgehauen ist?“

Der Ex-Manager zuckte die Schultern. „Sie müsste vor Kite aufgewacht und dann zu Fuß bis zur Hauptstraße zurückgegangen sein. Sie ist zierlich gebaut, daher vermute ich, die K.O.-Tropfen haben sie härter getroffen. Kite war bestimmt vor ihr wach.“

„Er dürfte über das Fehlen des Fotos wenig amüsiert gewesen sein.“

„Und sie über seine Reaktion.“


„Ich dachte, du und ich seien schon ziemlich weit in den Dschungel vorgedrungen“, bemerkte Zach, während seine Tochter, die von der Minibar aus dem Gespräch gelauscht hatte, die Backen blähte.

„Vielleicht ein bisschen zu weit, um den Überblick zu bewahren“, erwiderte sie.

„Ja. Mr Raccoon hat aus den einzelnen Bäumen einen Wald geformt.“

„Raccoon hat geholfen, aus den vielen Bäumen einen Wald zu formen. Ohne die Einsichten, die Henry und Maria mit uns geteilt haben, wäre ich sehr viel skeptischer, was den Wahrheitsgehalt des eben Gehörten angeht.“

„Es geht mir ähnlich. Was hältst du von seiner Aussage zum Familientreffen?“

„Er bestätigt, was die anderen erzählt haben. Alle einschließlich Kite halten Maria für eine ehrliche, integre Frau. Sie ihrerseits vertraut Henry und sie würde auch nicht zugelassen haben, dass Rocky das Foto einfach einsteckte. Es bleiben tatsächlich nur der Bildersammler Dr Robert und der geheimnisvolle Mr Mustard als Verdächtige übrig – vorausgesetzt, Kite behauptet den Diebstahl nicht lediglich. Miller scheint mir vertrauenswürdig. Mustard… nun, seine Geschichte werden wir heute Nachmittag hören.“


Würden sie nicht. Aaron Senfkorn, Nachfahre deutsch-jüdischer Holocaust-Überlebender, in Sammlerkreisen unter dem Pseudonym Mr Mustard bekannt, rief kurz vor ein Uhr am Nachmittag an, um das Treffen mit Zach abzusagen. Er machte einen kurzfristigen unaufschiebbaren Termin geltend, wirkte dabei jedoch über die Maßen verlegen. Zach ahnte, dass der Sammler ihm auszuweichen versuchte, denn der Vorschlag, das Gespräch am Montag nachzuholen, erntete ebenfalls Ausflüchte.

„Ich könnte auch bei Ihnen vorbeikommen, wenn Ihnen das lieber ist“, bot Zach an. „Mals Koffer enthielt eine nette Sammlung signierter Autogrammkarten, die ich Ihnen gern zeigen möchte.“

„Nein!“, plärrte es schnell aus der Hörmuschel. Dann, wesentlich sanfter, wie um dem Eindruck entgegenzuwirken, dass er etwas zu verbergen hatte, sagte Mustard: „Nein, äh, danke, das wird nicht nötig sein. Ich werde die, äh, erste Gelegenheit nutzen, Sie in der, hm, kommenden Woche aufzusuchen.“

Mustards Antwort war ein deutlich hörbares Klicken vorausgegangen, das im Grunde der Schalter eines beliebigen Geräts verursacht haben konnte. Die Haare, die sich in Zachs Nacken aufstellten, gaben konkretere Auskunft. Er konnte nicht sagen, weshalb, aber er wusste einfach, dass es sich um den Hahn eines Revolvers handelte. Der Detektiv schüttelte die Intuition als irrational ab. Er wurde langsam paranoid, schalt er sich. Zu Mustard sagte er: „Schön, kommen Sie bitte im Lauf der Woche in den Laden. Warten Sie nicht zu lang. Es gibt einige wichtige Entwicklungen zu besprechen. Und natürlich möchte ich Sie unbedingt kennenlernen.“

„Hm, ja, sicher. Leben Sie wohl.“

„Auf bald“, erwiderte Zach.


Das Krematorium Springwood war ein moderner Zweckbau mit klaren Konturen aus Glas, Stahl und Beton. Der Leichenwagen mit dem ihm folgenden Konvoi der Gäste hielt unter einem Vordach, das etwas mehr Platz bot als sein Gegenstück in Wallace Castle. Miller hatte sechs Träger bestellt, die den offenen Kiefernholzsarg aus dem Fahrzeug zogen und auf ihren Schultern in das Gebäude hineintrugen. Am anderen Ende der kleinen Halle, die sie betraten – dem Aussegnungsraum – befand sich eine Bühne, die rechts und links von roten Vorhängen flankiert wurde. Der linke Vorhang war geöffnet. Dahinter erstreckte sich ein drei auf drei Schritte messender Raum, der bis auf Brusthöhe mit einem Marmorpodest gefüllt war. Auf der Bühne stand mittig ein Rednerpult, davor ein langer niedriger Tisch, auf dem die Träger den Sarg abstellten.

Während aus den Lautsprechern leise die letzten Takte des Beatles-Stücks Long, Long, Long ausklangen, schaute Zach in die Runde. Von den anwesenden Personen kannte er nur etwa die Hälfte: seine Tochter, Miller, Maria, Mr und Mrs Wickens, Bishop und Rocky Raccoon. Fünf weitere Gesichter hatte er noch nie gesehen. Doch, einen Augenblick: Der älteren Dame mit den schulterlangen blonden Locken war er bereits einmal auf der Straße begegnet. Sie gehörte zum Laden gegenüber des Fab Stores, wenn er sich nicht irrte. Müsste er einen Tipp abgeben, waren auch die anderen Trauergäste Nachbarn aus dem Cavern-Viertel.

Der Notar betrat nun die Bühne. Er stellte sich hinter dem Rednerpult auf und blickte geduldig in den Raum. Es verging noch etwa eine Minute, bis auch der Letzte sich gesetzt und alle Gespräche eingestellt hatte. Dann begrüßte Jules Robert Miller die Anwesenden und gab mit gestelzten Worten, denen es jedoch nicht an mitfühlender Wärme fehlte, eine kurze Zusammenfassung von Pauls Leben. Bis auf das Wenige, das er in den vergangenen zwei Wochen über seinen Halbbruder in Erfahrung hatte bringen können, handelte es sich um die Biografie eines für Zach völlig fremden Menschen. Er schaute zum Sarg hinüber, dessen Rand um nur wenige Zentimeter vom Leichnam überragt wurde. Auch die Perspektive war ungünstig. Sein Blick fiel auf die Unterseite von Kinn, Nase und Augenlidern. Ob im Kiefernholzsarg tatsächlich sein Stiefbruder Paul lag – zumal um zwanzig Jahre gealtert, von einem brutalen Mord gezeichnet und vom Tod bereits verfremdet – hätte er nicht zu sagen vermocht. Zachs Gedanken schweiften zurück zu dem Paul, den er um die Jahrtausendwende gekannt hatte, und dann noch weiter zurück zu dem Kinderfreund, den er vor fast fünfzig Jahren dank der zweiten Ehe seines Vaters kennengelernt hatte. Das Ende von Millers Rede ging im Rauschen seiner Erinnerungen unter. Aus den Winkeln seiner nun von Tränen verschleierten Augen bemerkte der Detektiv eine Bewegung. Der Notar trat an den Sarg, legte dem Toten für einige Momente still die linke Hand auf die Schulter und platzierte dann eine Nelke auf dessen Brust. Dann nickte er Henry zu und setzte sich auf einen der Sitzplätze in der vorderen Reihe. Thomas Henry Bishop stand auf. Er ging zum Pult und erzählte einige fröhliche Anekdoten, die die vielen Talente des Ladenbesitzers Paulus Campbell würdigten. Anschließend nahm er eine der Nelken, die in einem Korb nahe der Bühne bereit lagen und gesellte sie der Blume bei, die der Notar auf Pauls Brust hinterlassen hatte. Die anderen Gäste taten es ihm einer nach dem anderen gleich.

Zach saß wie gelähmt auf seinem Platz. Jemand legte ihm eine Hand auf die Schulter. Zögernd drehte er den Kopf, folgte mit Blicken dem Arm nach oben, bis er ein Gesicht ausmachen konnte. Er kannte diese Züge. Er überlegte. Es war…, es war… wer? Henry schaute freundlich auf ihn herab. „Magst du ein paar Worte sprechen?“, fragte er. Der Klang seiner Stimme erschütterte Zach. Nein, wollte er nicht. Doch ohne wahrzunehmen, wie er auf die Bühne gelangt war, hielt er sich nun mit beiden Händen am Pult fest, sein Verstand gleichzeitig leer und zum Platzen gefüllt mit unzähligen Gedanken. Er öffnete den Mund. Die Augen der Trauergemeinde in den Stuhlreihen vor ihm war erwartungsvoll auf ihn gerichtet. Er sprach, ohne zu begreifen, was er da sagte. Zwei Sätze, drei vielleicht; Worte des Dankes an die Ersatzfamilie, die fremde Menschen seinem Stiefbruder in der zweiten Hälfte seines Lebens gewesen waren, würde ihm Veronica später berichten. Dann stieg er herab auf den roten Teppich, mit dem die Halle ausgelegt war, nahm im Vorbeigehen eine Nelke aus dem Korb, trat an den Sarg und starrte dem Toten lange Zeit ins Gesicht. Schließlich legte er seufzend die Blume auf die Brust seines Stiefbruders. Er wandte sich ab. Im Vorbeigehen bemerkte er die nackten Füße, die aus dem schwarzen Anzug des Verstorbenen ragten, ganz wie es Sitte auf den Inseln war. „Abbey Road“, schoss ihm ein skurriler Gedanke durch den Kopf, und: „Paul ist tot.“

‚Golden Slumbers‘ begann von der Musikanlage zu spielen. Bevor Zach in hysterisches Gelächter ausbrechen konnte, näherten sich die Sargträger mit dem Deckel. Er trat beiseite, um ihnen Platz zu machen. Nun erhoben sich auch die anderen Gäste. Als das Holzbehältnis verschlossen war, kamen sie herbei und gruppierten sich um ihn. ‚Golden Slumbers‘ wurde gefolgt von ‚Good Night‘. Die Träger bewegten den Sarg zu der Öffnung links von der Bühne, stellten ihn auf dem Granitpodest ab und traten zurück. Als die Musik verklang, schloss sich der rote Vorhang. Einige der Nachbarn bekreuzigten sich, bis auf Maria jedoch niemand aus der ‚Familie‘. Dann drehten sich die ersten um und verließen die Halle.

Zach, noch immer den Blick auf den Vorhang gerichtet, spürte, wie eine warme Hand sanft die seine ergriff. Es war Maria, die ihn traurig ansah. Er wandte sich ihr zu. Im nächsten Moment lagen sie sich in den Armen, schluchzend, zitternd, weinend.

33) Käferplage

Veronica fühlte sich in ihrem Innersten erschüttert. Die Informationen, die sie von Maria erhielt, verliehen dem, was sie zu wissen glaubte, eine völlig neue Bedeutung. Sie veränderten das Bild, das sie sich von der Welt gemacht hatte, dramatisch. Die Weiterungen, die sich daraus ergaben, konnte sie im Moment natürlich nur schemenhaft absehen, doch ihr Ausmaß mutete schon jetzt monströs an. Etwas in ihr stellte sich quer, wollte nicht wahrhaben, was ein anderer Teil ihres Verstandes als korrekt erkannte. Dass die Wirklichkeit anders beschaffen war, als offizielle Stellen sie darstellten, hatte sie dank langer tiefschürfender Gespräche mit ihrem Vater längst begriffen, aber konnte denn… alles falsch sein, einschließlich ihrer eigenen Erklärung dafür, weshalb so vieles zwischen den Menschen – gelinde gesagt – ungünstig verlief?

Sie unternahm einen schwachen Versuch, Marias Erläuterungen zu relativieren: „Mir scheint das übertrieben. Die meisten Leute, die ich kenne, hegen keine bösen Absichten. Sie wollen nur das Beste für sich, ihre Familie und Nachbarn. Man kann ihnen doch nicht vorwerfen, dass sie Spaß haben oder ihre Jobs behalten möchten.“

„Wir alle wollen das. Es ist völlig natürlich. Aber wenn das alles ist – wenn es jenseits von mir selbst und dem, was zu mir gehört, keine Werte, Tugenden oder Ziele gibt, und wenn ich nicht bereit bin, meinen Vorteil mit dem Wohlergehen anderer in Einklang zu bringen –, dann entsage ich dem Guten. Und ich fördere den Zerfall aller Gemeinschaft. Inzwischen lösen sich nicht mehr nur unsere Gesellschaften und Familien auf, sondern auch der einzelne Mensch als Person: Viele haben keine Ahnung, wer sie sind oder was sie sind. Sie besitzen keine eigene Identität mehr und damit auch keinen eigenen Willen. Sie werden zu Freiwild für jeden Rattenfänger mit genug Geld und Einfluss, der sie für seine Zwecke instrumentalisiert. Sagen Sie mir: Wo stehen wir heute im Vergleich zu den Sechzigern? Sieht es danach aus, als ob der naive Wunsch, es möge mir und den Meinen gut gehen, zu einer besseren Welt geführt hat? Gibt es weniger Verbrechen, Lügen, Kriege, Armut, Ausbeutung und Umweltprobleme? Oder geht der Plan der Olympier auf, das Vertrauen in die alten Strukturen zu zerstören und die Gesellschaft immer mehr zu atomisieren?“

Veronica schüttelte den Kopf. „Sie stellen es so dar, als hätte diese ominöse… Elite… alles unter Kontrolle. Ich kann einfach nicht glauben, dass sie mit solch monströsen Plänen durchkommen könnten. Die Leute würden sich wehren.“

„Oh, die Kontrolleure müssen ihre satanische Zielen nicht einmal hinter dem Berg halten. Alles, was ich Ihnen erzähle – und mehr –, können Sie in Veröffentlichungen von Regierungen, globalistischen NGOs, transatlantischen Thinktanks und so weiter wiederfinden. Der Chef des Weltwirtschaftsforums – selbst eine Marionette – brüstet sich damit, seine Puppen weltweit in Regierungen, Parlamenten und Konzernen sitzen zu haben. Ihre Namen stehen in öffentlich zugänglichen Listen, aber die Bevölkerungen gehen weiterhin schön brav wählen und arbeiten. Erinnern Sie sich; es ist ja gar nicht lang her: Wie viele Leiter von Institutionen, Verwaltungsstellen, Organisationen, Medienhäusern, Gewerkschaften, Kirchen, Verbänden, Kultureinrichtungen, großen Vereinen und Konzernen haben Sie gezählt, die dem Narrativ vom Killervirus widersprochen haben? Wie viele haben Zweifel an der Wirksamkeit der Maßnahmen geäußert? Wie viele haben Bedenken wegen der eklatanten Rechts- und Verfassungsbrüche im Namen der Gesundheit zu Protokoll gegeben oder die massiven Angriffe auf die Menschenwürde verurteilt? Wie viele Maßnahmenverweigerer kennen Sie in Ihrem Umfeld? – Und was geschah mit den wenigen, die es wagten, aufzumucken?“

„Ich…“ Die Stimme der jungen Detektivin versagte.

„Die Olympier haben uns genau dort, wo sie es wollen. Wachen Sie auf, Veronica. Die Welt, in der wir leben, ist kein Zufallsprodukt. Sie wird aktiv gestaltet von Leuten, die Motive, Mittel und Gelegenheit haben, ihre erklärten Ziele durchzusetzen.“


Alright!“, brüllte John Lennon, dann verklangen die letzten verzerrten Gitarrentöne. Zach, der den frühen Nachmittag nutzte, ein paar der besten Gassenhauer der Beatles auszugraben, fühlte sich in seiner Rolle als Diskjockey wie um dreißig Jahre verjüngt. Veronica nahm die Ablenkung dankbar an. Während ihr Vater den Plattenspieler am Verkaufstresen bestückte, tanzte sie die Gänge des Ladens entlang nach hinten und wieder nach vorn. Gemeinsam hatten sie ‚Michelle‘ und ‚All You Need Is Love‘ mitgesungen und zu den aggressiven Tönen von ‚Revolution‘ abgerockt.

„Nach all dem, was ich über sie in Erfahrung gebracht habe, gefällt mir ihre Musik noch immer so gut wie in meiner Jugend“, sagte Zach.

„Und doch fühlt es sich ein wenig anders an“, widersprach Veronica. „Es geht zumindest mir so. Dir nicht?“

„Klar. Da schwingt nun etwas mit, das wir früher nicht gehört haben – besonders, was die Texte angeht. Wenn damals ‚Revolution‘ lief, sprach es meine rebellische Ader an. Du verstehst schon: der Sound, der Titel… Heute bemerke ich erst, dass das Stück eigentlich gar kein Aufwiegler ist. John gibt zu verstehen, dass manche scheinbar revolutionären Handlungen ins Leere laufen, und, naja, wir alle wollen Veränderung; was soll‘s?“

„Ja. Maria erwähnte heute früh so etwas in der Art. Alle schreien ‚Revolution! Revolution!‘, ohne zu wissen, was sie jenseits der Zerstörung der alten Ordnung damit erreichen wollen. Was am Ende im Gedächtnis hängen bleibt, ist der Titel des Stücks und die Unzufriedenheit mit dem eigenen Dasein. Ich vermute, die Beatles hätten ihre Hände in Unschuld gewaschen, wenn ihnen jemand Aufruf zur Rebellion vorgeworfen hätte.“

„Bei mir hat‘s ganz toll funktioniert“, stimmte Zach ihr zu.

„Ist dir übrigens aufgefallen, dass John singt: ‚But when you talk about destruction, don‘t you know that you can count me out… in‘? Was soll das denn aussagen?“

Zach blickte erstaunt auf. „Wirklich?“

„Ja, am Ende der ersten Strophe.“

„Nein, habe ich überhört.“ Er startete den Plattenspieler erneut und legte den Tonarm auf die Einlaufrille der Scheibe. Diesmal wiegte er nur sanft mit dem Kopf im Takt, während er intensiv den Textzeilen folgte. „Tatsächlich!“, brach es aus ihm hervor, als kurz nach Johns Äußerung, dass man nicht auf ihn zählen solle, ein winziges dahingehauchtes Wörtchen das genaue Gegenteil verkündete. „Kreuzdonnerwetter,“ fluchte er, „gibt‘s denn bei diesem Musikverein kein einziges Mal eine klare Aussage?“

Veronica grinste. „Vielleicht solltest du zu den Stones wechseln. Von denen bekommst du Satan, Sex und Drogen ohne alberne Versteckspiele geliefert.“

Zach suchte etwas, das er nach ihr werfen konnte, fand aber nur einen Bleistiftstummel. Veronica fing ihn aus der Luft. Sie legte den Kopf schief und kicherte: „Dann lass dich halt weiter von deiner Käferbande plagen.“


Spät am Abend steckte Veronica ihren Kopf ins Studierzimmer. Zach saß noch immer über seine Karteikarten gebeugt und schrieb Notizen. „Willst du nicht bald ein Ende finden? Es geht auf Mitternacht zu.“

„Was bist du? Die Weltuntergangsuhr?“, scherzte der Detektiv.

„Nein, deine Mutter. Und nun ab ins Bett!“

„Och, jetzt schon?“, quengelte Zach. „Darf ich das hier noch fertig machen?“

„Zachary Archibald!“, donnerte Veronica.

„Na schön. Es geht eh nur um Kleinigkeiten. Sieh mal, das ist der Plan für die Interviews. Ich habe heute die restlichen Zeugen abtelefoniert.“ Er zeigte ihr den Terminkalender.

Sie las: „Freitag 14 Uhr: Miller; Samstag 9 Uhr: Rocky; 13 Uhr: Mustard; Sonntag 9 Uhr: Paul; Montag 10 Uhr: Henry. – Okay, wir werden also zügig durchkommen, trotzdem bleibt genug Luft für vertiefende Recherchen… oder Verschnaufpausen. Was geschieht am Sonntag?“

„Der Postbote brachte heute einen Brief von Miller. Pauls Einäscherung ist für neun Uhr angesetzt.“

„Oh…“ Sie schwieg einen Augenblick. Dann fragte sie: „Ich war noch nie bei so etwas dabei. Ist das gruselig anzusehen?“

„Nein. Wir werden am offenen Sarg Abschied nehmen – also im konkreten Fall erst einmal ‚Hallo‘ sagen. Zwanzig Jahre… davor gruselt mich am meisten.“

Veronica nickte. Sie hatte schon Erfahrungen mit dem Tod gesammelt, sogar Leichen angefasst. Pauls Anblick würde sie wohl nicht schockieren. Aber sie konnte sich vorstellen, dass es besonders bedrückend für ihren Vater sein musste, nach so langer Zeit der Trennung nur noch einem Toten zu begegnen.

„Danach wird die Kiste verschlossen und verschwindet durch eine Öffnung“, fuhr Zach fort. „In ein paar Tagen bekommen wir die Asche in einer Urne überreicht; alles sehr sauber und antiseptisch. Es ist kein Vergleich zu dem, was ich in Varanasi gesehen habe. Dort verbrennen sie die Leichen offen auf Holzstößen und streuen die Asche danach in den Ganges. Du kannst alles ganz genau beobachten.“

„Eines Tages werde ich es mir ansehen. Doch gerade jetzt…“

„Gerade jetzt brauchen wir keinen weiteren Nervenkitzel. Ganz meine Meinung.“ Er klappte den Bildschirm in die Tischfläche zurück und erhob sich. „Zeit, etwas Ruhe zu finden.“

Sie verließen das Studierzimmer. Veronica hielt vor ihrer Tür inne. Ohne sich umzudrehen sagte sie: „Gute Nacht, John-Boy.“

Zach lächelte. „Gute Nacht, Elizabeth.“


„Guten Morgen, Signore Ziegler“, grüßte Maria ihren Arbeitgeber am Freitag Morgen. „Heute sind sie aber früh auf den Beinen. Haben Sie etwas vor?“

„Guten Morgen, Mrs Borghese. Ja, ich habe tatsächlich Termine, aber erst am Nachmittag. Ich schlief ein wenig unruhig. Da dachte ich, der Tag nimmt einen besseren Anfang, wenn ich etwas tue, statt mir das Kreuz platt zu liegen. Übrigens…“

„Si, Signore?“

„Was halten Sie davon, wenn wir uns die Höflichkeiten schenken uns beim Vornamen anreden?“

„Einverstanden.“

„Ich auch,“ rief Veronica, die gerade aus dem Hinterzimmer zu ihnen gestoßen war. „Veronica.“ Sie streckte der Italienerin die Hand hin. Die ergriff sie, schüttelte sie ein Mal und sagte: „Maria.“

„Nenn mich Zach“, sagte der Detektiv und streckte ihr ebenfalls die Hand hin. Maria reichte die ihre. Die beiden sahen sich einen Moment länger in die Augen, als die Etikette es erlaubte. Ein Hauch von Röte flog über Zachs Gesicht. Maria lächelte verträumt. Schließlich lösten sie die Hände.

„Steht heute etwas Besonderes an?“, erkundigte Maria sich.

„Du kochst uns allen einen schönen starken Kaffee“, kommandierte Zach. „Und währenddessen erzählst du uns, wie du zu deinem kuriosen Spitznamen gekommen bist.“

„Semolina Pilchard?“

Zach und Veronica nickten in perfektem Einklang, als folgten sie einer Choreographie. Maria lachte amüsiert. „Das ist schnell erklärt“, antwortete sie. „Er stammt aus dem Song ‚I am the Walrus‘ und verballhornt laut John den Namen eines englischen Polizisten, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, bekannte Musiker bei Drogendelikten zu erwischen.“

„Sowohl du als auch Onkel Paul führten Polizistennamen. Zufall?“, erkundigte sich Veronica.

Maria zuckte mit den Schultern. „Wir beide waren die Schnüffler der Familie, und wie die beiden Charaktere aus den Songs waren wir gut bei dem, was wir taten. Es passte gewissermaßen.“

32) Gestern und heute

Veronica begann den Morgen mit einer kleinen Recherche. Molly Jones hatte am Vortag sehr seltsam reagiert, als Zach gescherzt hatte, der Koffer eigne sich fast für die Aufnahme eines Menschen. Die Sekretärin hatte das Album ‚Yesterday and Today‘ erwähnt und sich geschüttelt. Veronica kannte den Titel nicht, ging aber wie selbstverständlich davon aus, dass es sich um ein Beatles-Werk handelte. Sie blätterte durch die LP-Sortierkästen des Ladens. Sie fand drei Exemplare des Albums. Eines zeigte drei der Pilzköpfe um einen auf seiner kleinsten Seitenfläche stehenden Kistenkoffer geschart. Der Deckel war geöffnet und im Inneren saß Paul McCartney. Obwohl die Gesichter der vier Musiker keine Trauer ausdrückten, stellte Veronicas Imagination die Verbindung zu einem Sarg oder dem Verscharren eines Leichnams her. Sie suchte auf der Rückseite des Covers nach dem Copyright-Datum. Da, 1966. Yesterday and Today‘ musste eine der letzten Veröffentlichungen gewesen sein, an denen der biologische Paul McCartney mitgewirkt hatte. Im Gegensatz zu Molly Jones war sie nicht der Meinung, dass der dort abgebildete Koffer dem von Jane Asher glich, verstand jedoch ihre instinktive Reaktion auf den Scherz ihres Vaters.

Die Hüllen der beiden anderen LPs zeigten ein völlig anderes Bild: Die Beatles trugen weiße Arbeitskittel. Man hatte sie mit etwas garniert, das auf den ersten Blick wie Leichenteile aussah. Bei näherer Betrachtung erkannte sie, dass es sich um Körperteile aus der Tierschlachtung sowie lebensgroße nackte Baby-Plastikpuppen handelte, deren Köpfe nicht mehr auf den Rümpfen saßen. Die vier Musiker schienen die Metzgerszene zu genießen. Sie strahlten und grinsten, als habe ihnen jemand einen guten Witz erzählt. McCartney saß genau im Zentrum. Das Motiv stach schockierend aus der ihr bekannten Parade biederer Sechzigerjahre-Produktionen heraus. Das Spiel mit Ekel und Gewalt als Verkaufsargument trieben eigentlich Punk- und Metal-Bands, zehn beziehungsweise zwanzig Jahre später. Nicht einmal die Stones hatten Vergleichbares gewagt.

Veronica stellte fest, dass Onkel Paul die Scheibe mit dem Kofferbild für vergleichsweise kleines Geld verkaufte, für das Metzger-Ding hingegen Mondpreise im fünfstelligen Bereich aufrief. Sie leitete daraus ab, dass der Koffer die reguläre Version schmückte, die Schlachter-Clique eine limitierte, zensierte oder nur regional verkäufliche, jedenfalls rare Version. Sie wunderte sich erneut über die bizarren Dinge, die allenthalben zum Vorschein kamen, wenn man ein wenig am glänzenden Lack der Fab Four kratzte.

Ein Geräusch an der Ladentür ließ Veronica herumfahren. Ihr Nervenkostüm hatte gelitten, seit sie in Liverpool angekommen waren, stellte sie fest. Sie sah Maria, die den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte und gerade im Begriff stand, sich selbst einzulassen. Veronica winkte ihr, während sie sich in Bewegung setzte, um ihr zu öffnen. Die Italienerin zog den Schlüssel wieder ab. „Guten Morgen, Signorina Veronica“, sagte sie dankbar.

„Guten Morgen, Maria. Überpünktlich wie immer.“

„Störe ich?“

„Im Gegenteil. Ich kann Gesellschaft heute ganz gut gebrauchen.“

„Haben Sie schlecht geträumt?“

„Danke der Nachfrage. Ich hätte Anlass dazu gehabt.“

Maria sah die Schallplatten, die die Detektivin auf den Sortierkisten liegen gelassen hatte. „Na, da kann einem aber auch schlecht werden, wenn man den Tag mit solchen Szenen beginnt.“

Veronica schnaubte. „Können Sie mir erklären, weshalb eine angeblich für Frieden und Liebe stehende Band sich in einer derart morbiden Aufmachung fotografieren lässt?“

„Von wegen, morbide – Avant-Garde! So lautet zumindest die gängige Erklärung.“

„Morbide und geschmacklos. Wie lautet die zweitgängigste Erklärung?“

Maria warf ihr einen listigen Blick zu und fragte zurück: „Wie kommen Sie darauf, dass es die gibt?“

„Weil das, was in den Zeitschriften und Büchern über die Beatles steht, mehr Löcher enthält als ein Schweizer Käse, mehr Widersprüche aufweist als ein falsches Geständnis, und weil ich bisher für jede solche Story eine besser zu den Tatsachen passende gefunden habe.“

„Schön beobachtet. Wie wär‘s dann hiermit: Die Beatles hatten die Nase voll davon, dass ihre Alben für US-Veröffentlichungen von der Plattenfirma verhackstückt wurden. Capitol Records hat sie gekürzt, umgestellt und mit anderen ihrer Werke kombiniert. In diesem Fall hat das Label einige Songs vom noch nicht erschienenen ‚Revolver‘-Album mit Stücken von den beiden Vorgängern auf ‚Yesterday and Today‘ gepresst. Das ‚Butcher-Cover‘, wie es von Kennern genannt wird, sollte ein visueller Protest werden. Der Schuss ging nach hinten los; die schon ausgelieferten Chargen mussten nach massiven Beschwerden von Händlern und Kunden zurückgerufen und neu verpackt werden. Die Band hat aber zumindest erreicht, dass ‚Yesterday and Today‘ das letzte solche Produkt blieb.“

„Grimms Märchen, die Zweite. Als ob die PR-Leute des Labels keine Ahnung hatten, welch eklatanten Tabubruch sie begingen! Waren sie auf Schockwirkung aus? Schließlich ist auch schlechte Presse gute Werbung.“

Maria wiegte den Kopf. „Es gibt hier zwei sehr interessante Umstände, die gegen eine simple PR-Aktion sprechen – und für eine tiefer gehende Manipulation. Ad 1: Yesterday and Today wurde am 15.6.‘66 veröffentlicht. Nehmen wir eine einfache numerologische Operation vor: Eins plus fünf ergibt sechs, für all jene, denen die drei weiteren Sechsen nicht genügen. Vier mal sechs ergibt 24. Zwei plus vier ergibt wieder…“

„Sechs! Hol‘s der Teufel.“

„Nur eins von vielen Beispielen, in denen die Veröffentlichung an Daten mit esoterischer Bedeutung stattfand. Ad 2: Im August, vier Tage vor Beginn der US-Tour erschienen drüben sowohl das Album ‚Revolver‘ als auch die Single-Auskopplung ‚Eleanor Rigby / Yellow Submarine‘. Von den insgesamt vierzehn Songs spielten sie wie viele live? Was glauben Sie?“

„Die Bands, auf deren Konzerten ich war, haben stets mehr als die Hälfte, manchmal sogar alle Lieder von ihrer neuesten Scheibe gespielt.“

„Die Beatles spielten keinen einzigen aktuellen Song, nur zwei vom Vorgänger ‚Rubber Soul‘, und neun alte Kamellen, darunter zwei Coverstücke.“

Veronica runzelte die Stirn. „Ich bin zwar keine PR-Spezialistin; vielleicht hat man den Zweck von Öffentlichkeitsarbeit in den Sechzigern auch anders verstanden als heute, aber aus meiner Sicht wurde bei der Vermarktung von ‚Revolver‘ Murks gebaut. ‚Yesterday and Today‘ fraß Aufmerksamkeit und Kaufkraft auf. Gleichzeitig sorgte das Butcher-Cover für einen Skandal, der bestimmt manche von ihrer Beatlemania kurierte. Und zu guter Letzt wird das neue Material überhaupt nicht live gespielt? Was sollte die Tour überhaupt bringen?“

„Wie ich schon sagte, es sieht mehr nach Massenmanipulation aus. Die Beatles wurden über Monate ins Bewusstsein der Konsumenten gepresst. Ein Compilation-Album, eine Single, eine neue LP, Interviews, Zeitungsberichte, Skandalnachrichten, Tour… Die simplen Melodien und albernen Teenie-Liebestexte der frühen Alben gingen gut ins Ohr; ‚Revolver‘ klang weniger gefällig, die neuen Stücke waren wesentlich komplexer. Also hat man sie weggelassen, um die Stimmung bis zum 29. August, dem Tag des allerletzten Konzerts vor einem Massenpublikum, nochmals richtig aufzuheizen. Dreizehn Tage später stirbt McCartney; eine neue Ära beginnt, in der die Band Psychedelic-Musik schreibt, deren Texte fast ausschließlich aus unterschwelligen Botschaften bestanden, und in der ihre Mitglieder offen den Gebrauch von Hasch und LSD befürworten.“

„Verstehe,“ sagte Veronica, „Die Fans und die Radio hörende Bevölkerung vollzogen die Lockerung der Moralvorstellungen mit, denn wenn‘s ihre Lieblinge, die vier netten Jungs aus Liverpool, gut fanden, musste es cool sein. Dann folgte der Sommer der Liebe, Flower Power, Vietnam-Proteste, New Age – was gibt es daran auszusetzen? War das nicht eine Verbesserung gegenüber dem verkrusteten, verklemmten Zustand vorher?“

„Relativ gesehen schon, aber es geht den Olympiern nicht um Reformen. Billy Shears schreibt in seinen Memoiren, dass es ihr Ziel sei, die alte Ordnung komplett zu zerstören, um ihre neue Weltordnung wie Phoenix aus der Asche daraus erstehen zu lassen. Institutionen, Traditionen, Religionen, Nationen und so weiter – Konzepte, die dem Leben einen Halt und einen Rahmen geben – sollen ihrer Grundlagen beraubt und aufgelöst werden. Dann folgt ‚der Große Neustart‘. Die Unterhaltungsindustrie spielt eine wesentliche Rolle im Zerstörungswerk, weil sie zum einen für harmlos gehalten wird, zum anderen jedoch ihre Inhalte tief ins Unterbewusste des Menschen einpflanzt. Gerade junge Menschen, die sowohl formbar sind als auch gern gegen die herkömmlichen Normen rebellieren, können auf diesem Weg leicht für die Sache der Olympier eingespannt werden. Billy schreibt, die Beatles und die Rolling Stones seien gezielt aufgebaut und eingesetzt worden, um Barrieren zu brechen.“

„Wer sind diese Olympier? Halten die sich für Götter? Was wollen sie von uns?“, wunderte sich Veronica.

„Die Kontrolleure nennen sich so. Sie entstammen uralten Blutlinien, Dynastien, die Jahrtausende in die Vergangenheit zurückreichen, vielleicht sogar bis zum Beginn der Zivilisation. Sie bedienen sich der Illuminati, diese bedienen sich der Freimaurer, und letztere bedienen sich der gesellschaftlichen Hierarchien, um die gewöhnliche Bevölkerung zu lenken. Letztlich geht es um die Schaffung eines neuen Menschen, einer künstlichen Spezies – unsterblich, allwissend, allmächtig –, die den Göttern, der Natur, ja dem gesamten Universum trotzen kann.“

„Größenwahn, wie er im Lehrbuch steht.“

„Psychopathen und Soziopathen, Signorina, wenn man es in psychologischen Begriffen ausdrücken will; Satanisten, wenn man es aus religiöser Sicht betrachtet. Falls es stimmt, was Billy Shears schreibt, sind nicht nur die oberen Ränge der Freimaurer und die Illuminaten Satanisten. Die Olympier selbst glauben, dass Luzifer die Welt regiert.“

„Jetzt verstehe ich so langsam, weshalb Mr Kite sagte, McCartney habe es verdient, Luzifer übergeben zu werden. Er meinte buchstäblich eine Opferung, richtig?“

„Si. Ich deutete es vor ein paar Tagen schon einmal an.“

„John Lennons Spruch, er habe seine Seele an den Teufel verkauft, muss man dann ebenfalls wörtlich nehmen, oder?“

„So ist es. Manche glauben, es geschah am 27. Dezember 1960, als das erste Mal ein Beatlemania-ähnlicher hysterischer Ausbruch auf einem ihrer Konzerte entstand; Billy nennt den 24. Oktober 1963. Es spielt keine Rolle. Paul und John, und vielleicht auch George, sagten Dinge, deren Tragweite sie in ihrem jugendlichen Leichtsinn kaum abschätzen konnten. Geld, Mädchen, Ruhm, Einfluss – der Teufel gibt dir alles, wenn du ihm im Gegenzug deinen größten Schatz versprichst: deine unsterbliche Seele.“

„Ich mag das Wort ‚Gott‘ nicht; es ist überfrachtet mit Vorstellungen, die ich nicht teile“, sagte Veronica, „aber ich glaube, es gibt etwas Höheres, eine ordnende Kraft, die das Leben liebt. Die Seele ist es, die uns lebendig macht, oder?“

Maria nickte.

„Ich glaube aber nicht an den Teufel. Der wurde doch nur erfunden, um den Menschen Gehorsam beizubringen.“

Die Italienerin lachte trocken. „Ich würde mich hüten, ihn zu unterschätzen. Erstens besitzt das Böse eine eigene Dynamik, eine Kraft, die dem Guten, dem Göttlichen, entgegen gerichtet ist. So wie Christus das Fleisch gewordene Gute darstellt, personifiziert der Teufel das Böse. Sie können sich die beiden Seiten in ganz verschiedenen Worten, Bildern und Konzepten zurechtlegen, aber ihre Existenz als solche bleibt davon unberührt.“

„Verstehe. Jede Kultur formt ihre eigenen Mythen, um die Kräfte zu erklären, die ihr Dasein beeinflussen.“

„Si, Signorina Veronica. Deshalb spielt es – zweitens – keine Rolle, ob Sie den Teufel, Satan oder Luzifer für real halten oder nicht. Was zählt ist vielmehr, dass die Olympier und ihre Untergebenen an ihn glauben, denn es hat Auswirkungen auf alles, was sie tun. Paul McCartney mag den Teufel für einen Witz gehalten haben, fiel aber dennoch dem Silberhammer der Satansdiener zum Opfer. Da sie global alle Machtstrukturen kontrollieren, stimmt Billys Aussage, dass Luzifer die Welt beherrscht; ob im übertragenen oder wörtlichen Sinn, bleibt sich gleich.“

Im Gesicht der jungen Detektivin zeigte sich Betroffenheit.

„Es gibt hierbei noch einen dritten Aspekt, der genau wie die beiden anderen von der Mehrzahl unserer Zeitgenossen abgestritten und daher überhaupt nicht beachtet wird. Die Riten, Opfer und Beschwörungsformeln des religiösen Satanismus sind nicht der Kern seiner Lehre. Das sind sie bei keiner Religion. Der Lohn des Satanisten sind weltliche Güter. Mit anderen Worten: Er glaubt an den radikalen Materialismus und verankert den Menschen daher in der rein physisch-rationalen Ebene, die seinem niederen Ego-Bewusstsein entspricht. Wenn wir bedenken, wie die Wirklichkeit in den Medien gezeichnet wird, wie Geld alle Bereiche der Gesellschaft dominiert, was die Leute allgemein für erstrebenswert halten und wer in ihrem Leben die Hauptrolle spielt – nämlich nur sie selbst –, dann können wir ohne Einschränkung festhalten, dass die Mehrzahl der Menschen Materialisten und Egoisten sind. De facto handeln sie wie Satanisten.“

29) Die Nacht im Schloss

„Konnten Sie hören, was die beiden besprachen?“, erkundigte sich Zach.

„Nein, aber es war offensichtlich, dass Kirk ihre Rolle spielte. Sie feuerte den einen Schuss ab, den sie im Lauf hatte, ohne Garantie, dass der Plan zum Ziel führen würde. Falls Paul nicht mit dem Manuskript auftauchte, würde es keine weitere Gelegenheit geben. Ein zweites Mal würde ihre Masche nicht funktionieren.“

„Und er ist nie aufgetaucht, richtig? Stattdessen wurde er in der selben Nacht ermordet und das Manuskript verschwand.“

Maria Borghese nickte wortlos.

„Was geschah dann?“, fragte Zach.

„Eine halbe Stunde vor Mitternacht flüsterte Kite dem Mädchen etwas ins Ohr. Er verließ den Raum. Zehn Minuten später folgte sie ihm. Ich gab Mr Mustard das vereinbarte Zeichen, dass die heiße Phase des Plans nun anlief und folgte ihr. Ich signalisierte Kirk, dass ich in der Nähe war. Wir stiegen zwei Treppen nach oben, dann wandte sie sich dem rechten Schlossflügel zu und folgte dem Gang bis zu einer Tür in der Wand, an der der er endet. Dort gibt es viele Nischen, Säulen, Vasen und Skulpturen. Ich versteckte mich hinter einer Säule nahe der Tür. Sie zeigte mir den erhobenen Daumen, bevor sie eintrat. Ich musste über eine Stunde lang warten, bevor ich sie wiedersah.“

„Hat Ihnen Kirk erzählt, was sich abspielte? Oder haben Sie gehört, was in der Zeit geschah?“

„Letzteres, zu meinem Bedauern.“ Maria verdrehte die Augen. „Er hat sie ziemlich hart rangenommen. Sie gaben sich außerdem keine Mühe, leise zu sein. Ich wäre am liebsten wieder davongeschlichen, aber ich hatte ihr mein Wort gegeben. Ich fürchtete auch, ihr könnte etwas zustoßen. Es kam schon vor, dass Kite die Kontrolle verlor.“

„Inwiefern verlor er manchmal die Kontrolle?“

„Er… schlägt manchmal zu fest zu.“ Sie schaute zu Boden.

„Hat er auch in jener Nacht fest zugeschlagen?“

„Ich glaube nicht, aber er hat sie, wie gesagt, ziemlich roh behandelt. Als sie die Tür öffnete, sah sie übel zerzaust aus. Ich sah auch blaue Flecken auf Schenkeln und Schultern, aber keine im Gesicht.“

Zach schüttelte missbilligend den Kopf. „Kirk war also unbekleidet, als sie wieder herauskam. Das wird wann gewesen sein? Ein Uhr? Später?“

„Ja, sie war splitterfasernackt, schien sich dessen aber nicht bewusst zu sein. Das war kurz vor halb zwei. Sie reichte mir einen durchsichtigen Plastikumschlag. Er enthielt das Foto aus der Pathologie. Sie sagte, ich solle mich beeilen. Ich fragte sie, was mit Kite sei. Er schlafe, sagte sie. Sie habe ihm die K.O.-Tropfen verabreicht, aber er habe sie einen Schluck aus dem Glas trinken lassen und sie fühle sich unglaublich müde. Dann ging sie wieder hinein.“

„Weiter. Was taten Sie?“

„Ich versteckte den Umschlag in einer der Ziervasen. Dann ging ich zu den anderen in den Salon hinunter. Desmond, Molly und Henry hatten bereits das Haus verlassen, da sie die Hoffnung aufgegeben hatten, Paul werde noch eintreffen. Robert, Rocky und Mustard kehrten mit mir auf den Gang vor dem Schlafzimmer zurück. Ich zeigte ihnen, was Kirk ergattert hatte. ‚Das ist verdammt wenig‘, klagte Mustard. Rocky schien derselben Meinung zu sein. Robert schnauzte, sie hätten keine Ahnung und seien wohl zu betrunken, um zu erkennen, was ihnen da in die Hände gefallen sei.“

„Und dann hat Dr Robert das Bild mitgehen lassen?“, hakte Zach ein.

„Davon weiß ich nichts. Ich habe keine Ahnung wer es mitnahm, und es war auch nicht vorgesehen. Ich erfuhr erst heute von Ihnen, Signore, dass es überhaupt fehlt.“

„Kite hat keine Nachforschungen angestellt? Hat er nicht gefragt, ob Sie etwas wissen, oder Ihnen gar gedroht?“

„Nein.“

„Wenn Sie das Foto nicht stehlen wollten, was wollten Sie mit dem ganzen Spuk dann erreichen?“

„Die Männer machten Mikrofilm-Aufnahmen von Vorder- und Rückseite, anschließend gingen sie zurück nach unten. Ich steckte das Foto wieder in seinen Plastikumschlag und dann in die Vase. Ich klopfte an die Tür. Niemand antwortete. Also ging ich hinein.“

„Was fanden Sie?“

„Kite lag bäuchlings auf der Matratze, wahrscheinlich besinnungslos. Ich sah hinter dem Bett zwei Beine hervorragen, eilte hin und sah, dass Kirk zusammengebrochen war, bevor sie wieder hineinkriechen konnte. Ich warf ein Laken über sie, holte das Foto, legte es auf ihren Nachttisch. Ich wollte sichergehen, dass das erledigt war, damit Kite keinen Verdacht schöpfte. Dann holte ich Mustard, der mir half, das Mädchen aufs Bett zu heben. Anschließend gingen wir hinunter. Robert bestand darauf, dass wir den Erfolg feierten. Also tranken wir eine weiteren Sekt. Dann verabschiedete ich mich. Ich brauchte mehr als eine Stunde, bis ich wieder zuhause ankam, weil ich so langsam fuhr.“

„Wann sind Sie angekommen?“

„Genau um halb vier Uhr. Ich weiß es deshalb, weil ich beim Einparken vor meiner Wohnung aus Versehen die Hupe betätigt habe. Als ich ausstieg, rief eine Nachbarin aus einem Fenster, es sei halb vier; ob ich noch nie etwas von Nachtruhe gehört hätte?“

„Es gab also Zeugen für Ihre Rückkehr. Wann haben die Männer und das Mädchen das Schloss verlassen?“

„Ich weiß es nicht. Wir haben das Thema seither gemieden. Ich versuchte am Sonntag mehrfach, Kirk telefonisch zu erreichen. Sie ging nicht ran. Es gelang mir erst am Montag Abend. Sie klang heiser und antwortete nur lakonisch.“

„Was hat sie gesagt?“

„Es gehe ihr okay. Sie habe viel geschlafen. Sie werde vielleicht ein paar Tage nach Bath an den Strand fahren, um sich zu erholen.“

„Das war alles?“

Maria verzog den Mund. Sie kehrte ihre Handflächen nach oben und ließ sie dann wieder in ihren Schoß fallen.

„Erschien Ihnen Kirks Verhalten auffällig?“

„Ja und nein. Unter den Umständen fand ich es nachvollziehbar, dass eine Sechzehnjährige mitgenommen oder geschockt klingt. Sie war zwar keine Jungfrau mehr, vermute ich, aber ich bezweifle, dass sie schon Erfahrung mit brutalem Sex hatte.“

„Sechzehn, um Himmels Willen!“ Zach legte eine Hand an seine Stirn. Er schloss die Augen und nahm einige tiefe Atemzüge. „Wo finde ich das Mädchen?“

„Wie ich schon sagte hat sie möglicherweise das Haus verlassen. Ich konnte sie seither nicht mehr erreichen und sie hat sich nicht mehr bei mir gemeldet.“ Sie zog eine Geldbörse aus ihrer Handtasche, entnahm ihr eine Visitenkarte und reichte sie dem Detektiv. „Hier, ihre Kontaktdaten.“

Der leerte seine Tasse in einem Zug. Dass ihr Inhalt kalt geworden war, entging seinem Wachbewusstsein. Eintrainierte Reflexe verformten seine Gesichtszüge missbilligend. Er beäugte den bunt bedruckten kleinen Papierstreifen. „Hätten Sie zufällig auch ein Foto von ihr?“

Maria zeigte auf die Karte. „Die Webadresse verweist auf ihr Facebook-Profil.“


Herrlicher Sonnenschein, der durch die großen Maßwerkfenster hereinfiel, wärmte ihr angenehm den Rücken. Sie lag auf dem Bauch, zu voller Länge ausgestreckt. Das Tageslicht blendete sie, als sie die Augen öffnete. Es mochte zehn Uhr oder später sein. Etwas Schweres, von dem sie vermutete, es müsse ein quer über dem Bett liegender Kite sein, drückte auf ihr Gesäß. Sie versuchte, die Arme an sich zu ziehen, um ihren Oberkörper für einen Blick nach hinten aufzurichten – vergeblich. Ihre Hände waren am Gestell des Bettes festgebunden. Als sie daran zerrte, sagte er leise: „Guten Morgen, Prinzessin. Hast du gut geschlafen?“

Er saß rittlings auf ihrem Po, registrierte sie nun, und die Erinnerung an die gewaltsame Behandlung während der Nacht entlockte ihr ein Stöhnen. „Massierst du mir die Schultern?“, bat sie ihn, hoffend, heute umsichtiger behandelt zu werden.

Kite blieb reglos sitzen. Einen Moment später fragte er: „Wo ist es?“

Kirk verstand nicht, was er meinte. „Wo ist was?“, fragte sie zurück.

„Wo ist das Foto?“ Seine Stimme, immer noch leise, klang nun scharf.

„Auf dem Nachttisch, glaube ich“, sagte sie verschlafen.

Ein brutaler Fausthieb in die rechten Rippen trieb ihr die Luft aus de Lunge. Sie schrie laut auf. „Falsche Antwort“, erwiderte er. „Nochmal: Wo ist das Foto?“

Kirk warf den Kopf hin und her. Ihr Blick suchte das Wenige zu erfassen, das ihre Bauchlage sie sehen ließ. „Ich weiß nicht,“ hustete sie, „es müsste doch hier sein.“

Ein weiterer Faustschlag traf sie, diesmal auf der linken Seite. Sie schrie, dann wimmerte sie. „Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. Bitte nicht schlagen, bitte…“ Die nächste Faust landete auf ihrer Wirbelsäule. Sie warf den Kopf zurück, den Mund weit geöffnet, als sie nach Luft schnappte.

Seine linke Hand fuhr ihr ins Haar, zog grob daran, während seine rechte vor ihrem Gesicht auftauchte. Sie hielt einen kurzen zweischneidigen Dolch, dessen Klinge irgendwelche symbolischen Gravuren aufwies. Dann setzte er den Dolch an ihren Hals. „Was hast du getan?“, brüllte er in ohrenbetäubender Lautstärke.

Sie sagte es ihm.

28) Die junge Herzogin und ihr Märchenprinz

Durch die Erkenntnisse aus seinen Recherchen zu Fab-Store-Paul und Beatle-Paul hatte die Ernüchterung über den Zustand des Menschengeschlechts eine neue Dimension bekommen. Zach wusste nun mit Bestimmtheit, dass es das Böse gab. Disney-Comics wollten uns weismachen, das Böse sei ein hässlicher Gnom, der sich mit fiesem Grinsen die Hände rieb, wenn er jemand in die Pfanne hauen konnte. Das Böse war banaler. Es war alltäglicher. Es gedieh in unser aller Gleichgültigkeit gegenüber dem Nächsten, unserem ‚gesunden Egoismus‘, unserem Materialismus, unserem Kuschen vor Autorität. Es gab da jedoch eine Ebene des Bösen, die sich diese Neigungen zunutze machte, ja regelrecht kultivierte, eine Ebene, die davon profitierte und mit kalter Berechnung auf die Schwäche unserer Herzen und unseren Mangel an Rückgrat setzte. Diese Ebene war bevölkert von Psychopathen, Menschen, die über andere Menschen Macht suchten – und sie hatten sie gefunden. Niemand behinderte ihr Streben, vor allem nicht jene, die den Schmerzen aus dem Weg gingen oder, falls das misslungen war, sie mit Alkohol, Musik, Fernsehen, Hobbys, Arbeit, Sex, Shopping oder anderen Drogen betäubten. Den Psychopathen fehlte jede Empathie. Ihnen war das Leid der Anderen egal. Sie benutzten sie als Mittel zum Zweck. Korruption und Misswirtschaft waren noch ihre geringsten Vergehen.

„Es stimmt. Ich war ganz schön dumm“, bekannte Zach schließlich. „Ich war so dumm, die Ammenmärchen der Mainstream-Kultur zu glauben: dass die Polizei dein Freund und Helfer ist; dass wir in der Schule fürs Leben lernen; dass gewählte Regierungen unsere Interessen vertreten; dass der Markt es schon regeln wird; dass Nachrichten über wichtige Ereignisse berichten; dass Romane, Musik, Filme und Computerspiele nur Unterhaltung sind. Ich sollte langsam aufhören, mich zu wundern, warum die Probleme in unserer Gesellschaft nie gelöst werden, sondern stets größere Ausmaße annehmen.“

Maria Borghese nickte wissend. „Menschen wie Sie und ich müssen die Spannung zwischen dem Erzählten und dem Erkannten aushalten – einfach weil uns der Unterschied zwischen den beiden bewusst ist.“

„Damit zu leben finde ich manchmal ganz schön schwierig.“

„Wach zu sein macht das Leben nun mal nicht schöner, nur interessanter.“ Sie lachte trocken. „Ich weiß, Sie sind einer, der der Wahrheit zu ihrem Recht verhelfen will. Das wollen auch einige von uns. Aktiv etwas dafür zu tun steigert das Wohlgefühl ganz erheblich.“

„Glauben Sie, Sie tun genug?“

Maria schaute ihn zum ersten Mal mit zusammengezogenen Augenbrauen an. „Bin ich Gott der Allmächtige? Was eine einzelne Frau oder auch eine Gruppe von Menschen unternehmen kann, wird allein nie genug sein, die Maschine ins Taumeln zu bringen. Was zählt ist unser Leben – wer wir sind und was wir tun. Und soweit es das Tun betrifft, so tue ich, was ich kann. Den Rest besorgt eine höhere Macht.“ Nach einer kurzen Pause: „Kite sammelt Beweise für den Tod des biologischen Paul McCartney. Wenn er zum Clan von Billy Shears gehört, wie er behauptet, dann beabsichtigt er, das Material endgültig aus dem Verkehr zu ziehen.“

„Die Aufklärung des gemeinen Volks scheint kein Programmpunkt auf Kites Agenda zu sein“, sagte Zach.

„Si. Mr Mustard, Dr Robert und Rocky Raccoon haben daher vor einer Weile beschlossen, dass sie zumindest Fotos, Filme oder Kopien von den Beweisen anfertigen werden. Letzten Monat konnten sie die kleine Kirk überzeugen, ihnen zu helfen. Mehrere Tage vor der Versammlung haben sie auch mich eingeweiht. Da das Eintreffen des Koffers mit seinem brisanten Inhalt erwartet wurde, wollten sie die Gelegenheit nutzen, das Manuskript durchzufotografieren, bevor es in Kites Safe verschwindet. Sie planten, Kite entweder unter Drogen zu setzen oder für längere Zeit abzulenken.“

„Sie hätten das Ding direkt bei Paul kopieren können“, unterbrach Paul ihren Redefluss.

„Nein, wir wollten Paul nicht hineinziehen. Er war als Lieferant einfach zu wichtig, als dass wir ihn kompromittieren durften. Wie sich herausstellte, kam am Tag X sowieso alles anders.“

„Erzählen Sie mir von dem Abend. Wer war anwesend?“

„Es war ein Samstag. Ich sammelte Kirk ein und fuhr mit ihr zum Schloss. Wir kamen gegen sieben Uhr dreißig an. Bis auf Henry und Robert, die eine halbe Stunde später eintrafen, sowie PC31 – Paul – waren alle schon da.“

„Alle heißt – wer?“

„Desmond und Molly Jones, Mustard, Rocky und natürlich Kite. Kirk erzählte mir während der Fahrt, dass alles für den Coup vorbereitet war. Die Gruppe hielt es für zu riskant, Kite durch Alkohol oder Medikamente schlafen zu schicken. Die Gefahr, dass sie entdeckt wurden oder der Gastgeber das Treffen vorzeitig beendete, erschien ihnen zu hoch. Plan B sah vor, dass Kirk ihn verführte. Viel gehörte nicht dazu. Es war für alle Beteiligten nur zu offensichtlich, dass er sie haben wollte. Sie sollte unter der Bedingung einwilligen, dass sie das Manuskript genauer ansehen durfte. Dann sollte sie ihm K.O.-Tropfen in den Drink schütten, das Manuskript zum Kopieren herausreichen und es anschließend wieder in Empfang nehmen. Am Ende sollte sie die Tropfen selbst einnehmen, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen.“

„Scheißplan“, kommentierte Zach.

„Ich habe genau dasselbe Wort verwendet, aber sie ließ sich nicht davon abbringen. Da wir nur noch wenige Fahrtminuten vom Schloss entfernt waren, blieb keine Zeit, ihr die Dummheit auszureden. Ich konnte lediglich ihrer Bitte nachgeben, die Kontaktperson vor der Schlafzimmertür zu spielen.“

„So weit, so schlecht. Doch dann liefen die Ereignisse aus dem Ruder.“ Zach formulierte es mehr als Feststellung denn als Frage.


Zu fortgeschrittener Stunde befanden sich Gastgeber und Gäste in einem eben so fortgeschrittenen Stadium der Betrunkenheit. Ungeduld machte sich breit. Immer wieder schlug der eine oder die andere Feiernde vor, Kite solle PC31 anrufen, aber der Schlossherr wiegelte ab. Der Ladenbesitzer werde seine Gründe haben. Wahrscheinlich sei spät noch ein wichtiger Kontakt mit einer Quelle zustande gekommen. Er habe gehört, PC31 sei einem ganz großen Objekt dicht auf der Spur. Also warteten sie und tranken, und Kite ließ den nächsten Gang auffahren. Die Sammler begannen ihre letzten Neuerwerbungen zu präsentieren. Sie rezitierten lange, verworrene Geschichten, wie es ihnen allen Widerständen zum Trotz gelungen war, ihre Beute aufzuspüren. Die Eingeweihten jenes Teils der Familie, die den Plan geschmiedet hatten, Kite der Exklusivität seiner Sammelobjekte zu entledigen, warfen einander zunehmend häufiger nervöse Blicke zu.

Duchess of Kirkcaldy, die einen schulterfreien engen Einteiler aus rotem Leder trug, der knapp unter dem Gesäß endete, und darunter nichts als rote Stöckelschuhe, nutzte jede Gelegenheit, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Während sie den neuesten Klatsch über Stars und Sternchen der Musikszene und deren Sexpraktiken verbreitete, warf sie Mr Kite immer wieder herausfordernde Blicke zu. Der lächelte nur, sagte gar nicht viel, stellte aber von Zeit zu Zeit eine Bemerkung in den Raum, die sie wissen ließ, dass er ihr interessiert zugehört hatte. Nachdem sie das Abendessen beendet und den Speisesalon verlassen hatten, um es sich in einem gemütlich eingerichteten Raum im rückwärtigen Bereich des Schlosses auf Liegestühlen und Diwanen bequem zu machen, ging Kirk zum offenen Angriff über. Während die anderen Sammler lautstark über Yoko Ono und ihre Rolle bei der Trennung der Beatles diskutierten, setzte sie sich eng neben Mr Kite auf eine der mit dicken Kissen gepolsterten Fensterbänke.

„Du hast mir noch gar nicht zum Geburtstag gratuliert“, beschwerte sie sich beim Schlossherrn. Sie strich lasziv eine lange schwarze Locke aus ihrem Gesicht.

„Oh?“ Kites Lautäußerung klang, als habe er gerade eine interessante aber nebensächliche Information erhalten. „Wie lang bin ich überfällig?“

„Dir bleiben noch etwa zwei Stunden, das Schlimmste zu verhindern, und du weißt das ganz genau, du Schuft! Ich sollte eigentlich mit meinen Freundinnen im White Star sitzen und richtig groß feiern. Ich meine – wie oft im Leben wird man volljährig?“

„Ist das wahr? Du feierst heute deinen achtzehnten Geburtstag?“

„Von feiern kann bisher keine Rede sein. Ich sitze in einem alten Kasten, von alten Leuten umgeben – Anwesende selbstverständlich ausgenommen –, wir reden, worüber wir immer reden: die verdammten ollen Beatles, und der Mann, der mich in diese Situation genötigt hat, unternimmt nicht das Geringste, um meine Bedürfnisse zu stillen.“ Sie warf die feuerrot gefärbten Lippen zu einem Schmollmund auf.

„Also, zunächst einmal hat dich niemand gezwungen. Du bist aus freien Stücken hierher gekommen und hast dich sogar noch hübsch in Schale geworfen.“ Er musterte sie demonstrativ vom Kopf bis zu den Füßen und wieder zurück, wobei er die prominenteren Zwischenstationen längerer Blicke würdigte. „Vielleicht habe ich meine Qualitäten als Märchenprinz bisher zu wenig zur Geltung gebracht, doch ich kann dir versichern, ich bin wirklich einer, denn ich wohne schließlich in einem Märchenschloss.“ Er wies auf die Gemäuer um sie herum. „Ich verwehre mich energisch gegen die Bezeichnung ‚alter Kasten‘!“

Kirk, die mehr als einen Kopf kleiner als der Hüne war, lächelte zu ihm auf. Dann lehnte sie sich gegen seine Schulter. Kite legte einen Arm um sie. „Kein alter Kasten,“ sagte sie gnädiger gestimmt, „aber haben die Jungfrauen im Märchen nicht drei Wünsche frei?“

„Drei? Willst du mich ruinieren?“, fragte Kite in gespielter Entrüstung.

„Nun, dann eben zwei.“

„Einen. Das muss genügen.“

„Einen nur?“, fuhr Kirk entrüstet auf. „Einen, als wäre ich zum Tode verurteilt?“ Sie seufzte, legte eine Hand aufs Herz, die andere auf sein Knie, überlegte einen Moment und sagte dann: „Wenn ich morgen sterben müsste…“ Sie hielt inne.

„Ja?“

„Wenn ich morgen sterben müsste, wäre mein letzter Wunsch, Gewissheit darüber zu bekommen, ob auch ER gestorben ist. Du weißt schon: er, Paul. Bitte, lass mich das Manuskript lesen oder irgendeinen anderen Beweis sehen, was mit ihm geschehen ist.“ Duchess of Kirkcaldy schaute Kite halb flehend, halb kokettierend in die Augen.

Die Erektion, deren Entstehen sie in seinem Schritt beobachtet hatte, verlor an Offensive. Dafür bemerkte sie eine größere Härte in seiner Stimme, als er antwortete: „Kein bescheidener Wunsch; ich hoffe, du weißt, was du da verlangst.“

„Gehab dich nicht so furchtbar schottisch“ gurrte sie. „Würdest du einem Mädchen drei bescheidene Wünsche gewähren, müsste sie keinen außergewöhnlichen äußern. Ach bitte, tu mir den Gefallen.“

„Wenn du für die Erfüllung deines Wunsches sterben würdest, wozu wärst du dann noch bereit?“

„Zu allem, was du verlangst“, hauchte Kirk.

„Du wirst bekommen, wonach du verlangst“, beendete Kite das Gespräch, erhob sich und schlenderte mit seinem Sektglas zu der Gruppe schnatternder Sammler hinüber, die im Halbkreis um eine Gemälde John Lennons standen und noch immer heftig diskutierten. Während das Mädchen auf der Fensterbank sitzend zurückblieb – zitternd, ohne zu wissen, ob vor Furcht oder vor Lust – stieß der Schlossherr mit den von Alkohol benebelten Gästen auf Paul Campbell an. Die meisten vermissten ihn schmerzlich, vor allem jene, die im Geiste schon ihre Finger auf das Evans-Manuskript legten. Außer Semolina Pilchard hatte niemand die Szene auf der Fensterbank bemerkt.

27) Kaspertheater

Spät am Abend hatte sich Zach doch noch aufgerafft, seine Aufgabenliste nach Prioritäten zu ordnen und den einzelnen Punkten ein Zeitbudget zuzuordnen. Da Semolina morgen in aller Frühe zum Putzen im Laden eintreffen würde, stand ihre Befragung ganz oben auf der Liste. Das fand er günstig, denn er vertraute ihr; er glaubte, sie würde wahrheitsgemäß auf seine Erkundigungen antworten. Überdies besaß sie eine scharfe Beobachtungsgabe. Daher hoffte er, dass ihre Aussagen den Einstieg in den Fall erleichterten. Eine bessere Interviewpartnerin konnte er kaum finden.

Was sie zu sagen hatte, würde möglicherweise, wenn nicht sogar wahrscheinlich, die Reihenfolge seiner Liste verändern. Dennoch musste er die Ermittlungen geordnet angehen. Er brauchte eine Aufstellung von Eröffnungsfragen, und bei der Gelegenheit würde er auch gleich für jeden Zeugen beziehungsweise Verdächtigen eine Karteikarte anlegen; auf ihr sollten die bekannten Informationen zur Person stehen und offene Fragen vermerkt werden. Das war ein mechanischer, wenig anspruchsvoller Vorgang, aber er half dabei, Ordnung im Datenwust zu halten, der erfahrungsgemäß schnell entstehen würde, und damit Zeit beim Wiederauffinden gesammelter Informationen zu sparen.

Er begann, die Karteikarten mit Hilfe des Warenbuchs, den Notizen aus dem Gespräch mit Henry und den Erinnerungen an Mr Kites Aussagen zu erstellen.


Viertel vor acht Uhr am nächsten Morgen ging Zach in den Laden hinunter, um Maria abzufangen, bevor sie ihre Arbeit begann. Sie besaß ihren eigenen Schlüssel, so dass sie jederzeit kommen und gehen konnte, ohne auf die Anwesenheit Paul Campbells angewiesen zu sein. Die Zieglers sahen keinen Grund, weshalb sie das Arrangement ändern sollten. Wenn Paul ihr vertraut hatte, konnten auch sie es. Wie an den beiden vorangegangenen Tagen traf die Italienerin zehn Minuten früher ein. Sie hatte ein freundliches Lächeln im Gesicht und grüßte Zach eher herzlich als höflich.

„Signora,“ sagte der Detektiv in gespielt italienischem Akzent, die zweite Silbe des Wortes betonend und mit jener überschwänglich südländischen Sprachmelodik, die er bei Maria aufgeschnappt hatte. „Wasse kaan ich Gutes für Sie tuun?“

Die Putzhilfe gab ihm einen Klaps auf den Unterarm und beäugte ihn spitzbübisch. „Ach, Sie! Malträtieren Sie die Sprache meiner Eltern nicht. Sonst rede ich Sie in Zukunft nur noch auf Schwäbisch an, Signore Ziegler.“

Zach tat erschreckt. Ein reumütiger Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. „Bloß nicht. Ich würde Ihr italienisch gefärbtes Englisch vermissen.“

„Na dann – Haben Sie heute einen besonderen Wunsch, was ich tun soll, oder spule ich mein normales Programm ab?“

„Ich hatte nicht den Eindruck, dass Sie Ihre Arbeit wie ein Roboter verrichten, Maria. Aber ich hege tatsächlich einen Wunsch. Kommen Sie nach hinten. Setzen wir uns. Es geht um ein ernstes Thema.“

Als sie im Hinterzimmer Platz genommen hatten, Zach im Sessel, Maria Borghese auf dem Sofa, sagte der Detektiv: „Veronica und ich haben gestern William Wallace Campbell besucht…“

„Ich weiß“, erwiderte die Italienerin.

„Sie wissen es? Woher?“

„Henry hat mir davon erzählt. Was in der Familie vor sich geht, bleibt zwar in der Familie, aber dort pflanzt es sich mit Überschallgeschwindigkeit fort.“

„Schön. Zuerst würde ich gern wissen, ob es zwischen meinem Stiefbruder und diesem… Campbell-Clan irgendwelche verwandtschaftlichen Beziehungen gibt.“

Veronica kam aus der Wohnung herunter, grüßte Maria herzlich und warf die Kaffeemaschine an. Dann setzte sie sich still auf die Treppe, um das Gespräch aus dem Hintergrund zu verfolgen.

„Meines Wissens nicht“, fuhr die Italienerin fort. „Campbell ist hier ein so häufiger Familienname wie Müller, Meyer oder Schmidt in Deutschland.“

„Beruhigend. Er führte sich auf, als sei der Fab Store nach ihm benannt.“

„Si, das kann er gut.“

„Ich habe nach dem, was er sonst noch alles gesagt hat, tausend weitere Fragen. Die muss ich leider zurückstellen, denn Mr Kite hat mir einen dringenden Auftrag erteilt. Ich hoffe, Sie können mir dabei helfen.“

„Sicher, Signore. Welches Objekt sollen wir denn jetzt für ihn auftreiben?“

„Ein… Foto. Es handelt sich jedoch nicht um einen Auftrag für den Laden, sondern für mich in meiner Eigenschaft als Privatdetektiv.“

„Ach so? Wie kann ich helfen?“

„Kite sagte mir, dass am Abend des 30. April ein Familientreffen in seinem Schloss stattgefunden habe. Alle außer meinem Stiefbruder seien zugegen gewesen. An jenem Abend sei ein Foto aus seiner Sammlung abhanden gekommen. Können Sie mir etwas über den Gegenstand erzählen? Und wie verlief das Treffen?“

Die Italienerin hatte während seiner Worte überrascht die Augen aufgerissen, sich dann aber schnell wieder gefasst. Sie antwortete: „Normalerweise kommen wir alle halbe Jahre zusammen, um unsere neuesten Fundstücke herumzuzeigen. Üblicherweise koordinieren wir da auch weitere Beutezüge, um gezielt Lücken im Bestand zu füllen. Dieses Treffen galt jedoch dem Koffer, den Paul und ich nach monatelanger komplizierter Suche und endlosen Verhandlungen endlich nach Liverpool bringen konnten. Alle waren schon ganz gespannt. Das Objekt besitzt einen gewissen Kultstatus, nachdem es so lang verschollen war, sowie wegen seines Inhalts.“

„Was meinen Sie mit Lücken im Bestand?“, fragte Zach.

„Die Gegenstände sind zwar Privateigentum, aber wir sehen unsere Sammelaktivität als gemeinsame Bemühung, eine Art virtuelles Museum oder Dokumentationsprojekt aufzubauen.“

„Es gibt doch schon ein Beatles-Museum. Reicht das nicht? Was spricht dagegen, diesem zuzuarbieten?“

Maria Borghese verzog das Gesicht. „Signore Ziegler, nach allem, was Sie erfahren haben, glauben Sie da wirklich, das Beatles-Museum von Liverpool habe irgendein Interesse an unseren Memorabilien? Die spielen doch Kaspertheater für Familien mit Kindern. Den Hippies präsentieren sie die heile Welt der Sechziger, als der Dorfpolizist noch keine Ahnung hatte, wie Dope riecht oder wie ein Trip aussieht.“

„Und was spielen Sie? Schattenboxen?“, ereiferte sich Zach, doch es tat ihm sofort leid. „Entschuldigen Sie, Signora. Ich möchte nicht unhöflich sein. Auf mich macht dieses – wie nannten Sie es? – virtuelle Museum den Eindruck eines elitären Egotrips reicher Säcke wie dieses Mr Kite. Es entzieht sich meinem Verständnis, was eine integre Frau wie Sie darin zu suchen hat.“

„Schon gut. Ein paar von uns sind wie Kite, andere träumen tatsächlich von einem Dokumentationszentrum, in dem eines Tages die dunklen Seiten der Musikindustrie aufgearbeitet werden. Sowohl Ihr Stiefbruder als auch Henry und ich sind uns derselben bewusst. Die Zeit, wenn wir unser Wissen auf formelle Weise weitergeben können, liegt womöglich in ferner Zukunft. Im Moment müssen wir leider mit den selben Beschränkungen leben, die auch 9/11-Truther, ‚Covid-Leugner‘, ‚NWO-Spinner‘ und andere sogenannte ‚Verschwörungstheoretiker‘ betreffen. Am sichersten sind die Forschungen und die Sammlungen daher in privaten Händen aufgehoben.“

„Wie Sie es erklären, wird mir Ihr Anliegen verständlicher“, lenkte Zach ein. „Es könnte sogar sein, dass Sie recht haben. Auch einige der anderen Wissenschaften sind auf diese Weise entstanden. Ein paar Scharlatane sammeln Mumien, ein paar Idealisten sieben den Sand nach alten Knochen, ein paar Diebe plündern Gräber, ein paar Romantiker lesen antike Texte, ein paar Imperialisten schmücken sich mit historischen Federn fremder Völker. Es wird mehr zerstört als bewahrt, aber am Ende haben wir Archäologie, Anthropologie, Ethnologie, Historiografie und Soziologie als ordentliche Fächer, und die großen katalogisierten und dokumentierten Sammlungen im British Museum und anderswo.“ Er schwieg einen Moment. Dann sagte er: „Was war denn nun auf dem Foto zu sehen, das Kite angeblich gestohlen wurde?“

„Hat er es Ihnen nicht gesagt?“

„Sagen Sie mir, was es darstellt“, wich er der Beantwortung ihrer Gegenfrage aus.

Die Maschine spotzte und spuckte die letzten Tropfen kochenden Wassers über dem Kaffeepulver aus. Veronica schenkte drei Tassen ein, servierte ihrem Vater und Maria jeweils eine davon und setzte sich mit der dritten zurück auf die Treppe.

„Es handelt sich um eine Aufnahme aus der Pathologie. Man sieht die nackten Schultern und den Kopf eines toten Mannes – zumindest sieht man, was vom Kopf noch übrig ist. Er ist weiß, hat dunkle Haare, keinen Bart. Er macht den Eindruck, als sei er jung gestorben, aber sein Alter war ohne Gesicht natürlich schwer zu schätzen…“ Langsam fügte sie hinzu: „Der Schädel war durch den Schlag mit einem stumpfen Gegenstand bis zum Gaumen hinunter gespalten.“

„Uh, grausig. Konnten Sie an irgend etwas erkennen, wer der Tote war?“

„Nein. Der Leichnam war zwar weitgehend von Blut und Hirnmasse gereinigt worden, aber ich entdeckte keinerlei Anhaltspunkte für eine Identifizierung. Es gibt zwei Datenpunkte, die eine gewisse Hypothese stützen…“

„Sie glauben, dass man ihn auf dem Bild sieht?“

„Kite konzentriert seine Sammelaktivität auf Paul-ist-tot-Material; Punkt eins. Punkt zwei: Sie können dasselbe Bild für einen Sekundenbruchteil in einem der Videoclips zum Song 1882 sehen – McCartneys Song 1882.“

„Billy hat das Autopsiefoto eines Mannes mit gespaltenem Schädel in einem Promo-Video gezeigt?“

„Si. Bis es aus dem Verkehr gezogen wurde. Sie müssen die 2:31 lange Version ansehen. Bei 1:59 blitzt es kurz auf. Bevor man begreift, was es darstellt, flackern drei weitere Bilder über den Bildschirm. Das ganze Machwerk steckt voll seltsamer, scheinbar unzusammenhängender Bilder und Symbole. Da unterscheidet es sich in nichts von den Streifen zahlreicher namhafter Kollegen, die den MTV-Kids ins Unterbewusstsein gepumpt werden.“

„Ich will gar nicht daran denken, was das in deren Köpfen anrichtet. Woher kennen Sie das Foto? Hat Kite es auf dem Treffen herumgezeigt?“

„Die meisten von uns kannten es aus dem Musikvideo. Da wir den Tod des biologischen Paul McCartney für gegeben erachten, klopfen wir jede neue Veröffentlichung im Umfeld der Beatles nach Hinweisen ab. Kite hat sich den Originalabzug des Fotos schon Jahre früher beschafft, sagt er. Er prahlt gern damit, hat uns aber nie einen Blick darauf gewährt.“

„Haben nicht Sie und mein Stiefbruder es besorgt?“

„Nein, er hat Desmond darauf angesetzt.“

„Desmond Jones? Donald Wickens, der Polizist?“

„Genau der. Er besitzt Drähte bis ganz nach oben. Er weiß wahrscheinlich sogar, wo Paul McCartney den Unfall hatte.“

Zach schnaubte. „Er wollte mich überzeugen, dass ich ganz schön dumm sei, Ammenmärchen wie die Doppelgängertheorie zu glauben.“

„Natürlich. Es ist sein Job.“

Der Detektiv überlegte einen Moment, ob er schockiert sein oder sich in Marias gelassenes ‚Natürlich‘ ergeben sollte. Er entschied sich für die zweite Option. Er hatte während seiner Laufbahn als privater Ermittler zu viel erlebt, um Illusionen über das Gute im Menschen zu hegen. Er glaubte an dieses Gute, o ja. Jeder neue Erdenbürger wurde damit geboren; und dann wurde er Tag für Tag unbarmherzig in Formen geprügelt, auf denen Wörter wie ‚Arbeitskraft‘, ‚Konsument‘, ‚Steuerzahler‘, ‚Bürger‘ oder ‚Kanonenfutter‘ standen. Er wurde so lang niedergeknüppelt, bis jeder Knochen seines Rückgrats gebrochen und er zu benommen oder weichgekocht war, um für etwas geradezustehen, das nicht der Schmerzvermeidung diente. Nur wenige Menschen waren heutzutage zu mehr fähig.

20) Der letzte Beatle

Nachdem die Italienerin das Hinterzimmer gereinigt hatte, stieg sie die Treppen hinauf, um die Wohnung zu putzen. In der Küche traf sie Veronica, die mit einer Tasse Tee am Tisch saß. Sie entschuldigte sich für die Störung und teilte ihr mit, dass sie ihre Arbeit in den anderen Zimmern fortsetzen würde. Veronica schüttelte jedoch den Kopf und lud sie ein, sich zu ihr zu setzen. „Möchten Sie auch einen Darjeeling?“, fragte sie. Sie machte Anstalten, sich zu erheben, um eine Tasse aus dem Schrank zu nehmen.

„Bleiben Sie sitzen, Veronica.“ Maria öffnete das Fach mit den Gläsern und Tassen und nahm einen der Humpen heraus. Der zeigte eine Karikatur von Ringo; darunter stand: ‚Der letzte Beatle.‘ „Meine“, sagte sie, und als die Detektivin sie erstaunt ansah, ergänzte sie: „Ihr Onkel und ich verstanden uns sehr gut…“ Sie schien die Worte im Geiste auf ihre Wirkung zu prüfen. „Ich war jeden Tag zum Putzen hier. Wir diskutierten manchmal stundenlang über mögliche Suchwege, um ein Objekt wiederzufinden – oft genug genau hier, an diesem Tisch.“

Ein mitfühlender Ausdruck legte sich auf Veronicas Gesicht. „Die eigene Tasse am Arbeitsplatz aufzubewahren stellt kein Verbrechen dar.“ Sie schenkte Tee in den Ringo-Humpen. „Sie vermissen ihn, hm?“

Maria Borghese schloss ihre Finger um das sich erhitzende Gefäß. Sie nickte, sagte jedoch nichts weiter. Die beiden Frauen nippten eine Weile still an ihren Tassen. Schließlich begann die Italienerin: „Ich war ungefähr in Ihrem Alter, Anfang zwanzig. Ich hatte eine Tochter, gerade ein Jahr, und einen Freund, den ich heiraten wollte. Er stammte von der Alb. Wir studierten in Tübingen, er Medizin, ich Bibliothekswesen. Seine Familie gab mir ständig das Gefühl, dass ich als Katholikin und Gastarbeiterkind nicht dazugehörte. Die Leute beschweren sich, dass die Katholische Kirche fürchterlich altmodisch sei, und da ist ja auch etwas dran; aber im Vergleich zur Engstirnigkeit vieler Protestanten in Deutschland verhalten sich italienische Katholiken geradezu liberal. Ich hielt es nur mit Mühe aus und wollte fort, aber ich blieb, um mein Studium abzuschließen, und natürlich meinem Freund zuliebe. Mit der Zeit wurde mir klar, dass er es vermied, über unsere gemeinsame Zukunft zu sprechen. Er wich ganz besonders der Erörterung unserer Hochzeit aus. Irgendwann stellte ich ihn zur Rede. Er gestand mir, dass seine Eltern gegen mich eingestellt waren und dass er einfach unsere formlose Freundschaft weiterführen wollte. Ich sagte, dass ich das unserer Tochter gegenüber nicht fair fand. Ich hatte eine Stelle bei einem Dokumentationsprojekt in Liverpool in Aussicht; also schlug ich vor, wir könnten nach England gehen, er könnte sein Studium dort abschließen, und dann könnten wir heiraten.“

Die Italienerin betrachtete eine Weile ihr schaukelndes Spiegelbild im Tee. Dann schaute sie auf. „Er weigerte sich. Also habe ich einfach meine Sachen gepackt und bin abgereist. Ich nahm die Stelle bei dem Projekt an; sie stellten ein Buch zur Geschichte populärer Musik in Liverpool zusammen. Ich war verantwortlich für die Bibliografie. Ich produzierte eine Liste von Zeitschriftenartikeln für sie, die, glaube ich, ihresgleichen suchte, doch leider zerstritten sich die Projektleiter, bevor das Werk veröffentlicht werden konnte. Eines Tages erhielt ich den Kündigungsbrief, aber der Beatles-Virus hatte mich längst befallen. Die Widersprüche in der offiziellen Story faszinierten mich über alle Maßen, also begann ich, mich tiefer in die Bandgeschichte einzulesen. Die meisten Buchautoren schwelgten in kritikloser Heldenverehrung. Das Internet befand sich gerade erst im Entstehen. Da war ebenfalls nur wenig zu finden – oftmals von mehr Enthusiasmus als von Sachkenntnis getragen. Also suchte ich nach Zeitzeugen.“

Maria nahm einen Schluck aus ihrer Tasse, hob den Blick zur Decke. Sie fort: „Auch da stieß ich überwiegend auf Menschen, die die Beatles auf ein Podest stellten oder gar zu Göttern der Rockmusik erhoben, aber es gab ein paar, deren Erinnerungen mir reflektierter schienen. Langsam formte sich ein Bild, das die Sechzigerjahre in einem weniger verklärten Licht zeichnete. Ich begann zu verstehen, dass Musik auf dieselbe Weise zum Showbiz gehört wie die Schauspielerei. Das gilt bis heute. Es kommt auf die vermittelte Attitüde an. Die weit überwiegende Zahl der Gruppen und Solomusiker erhielten ihre Verträge mit den Labels für ihr Aussehen und ihr Auftreten, nicht für ihre Qualitäten als Songschreiber oder Künstler. Die Firmen heuerten damals professionelle Songschreiber und Sessionmusiker an, um Platten aufzunehmen. Alle Profis aus der Zeit bestätigten, dass die wenigsten Major-Bands auf ihren eigenen Alben spielten. Hinter den meisten großen Namen der Sechziger und Siebziger standen Studioorchester wie die Wrecking Crew oder Mietmusiker wie der Trommler Bernard Purdie, der behauptet, auf über 20 Stücken der Beatles zu spielen. Ringo Starr sei an den ersten Alben der Band überhaupt nicht beteiligt gewesen.“

„Sie meinen, die Beatles waren vom ersten Tag an fake?“

„Ein hartes Wort. Innerhalb der Szene war das Musikdarstellertum keine Schande sondern der Normalfall. Die Masse der Konsumenten verlangte nach dem schönen Schein, nach Vielfalt der Stile und Ausdrucksformen. Sie identifizierten sich mit Elvis, Fats Domino, den Beatles oder Aretha Franklin, aber letztlich hörten sie immer wieder dieselben Musiker in stets neuer Verpackung. Die Hülle einer Schallplatte erfüllt genau die Funktion, die das Wort ‚Cover‘ benennt: Sie verdeckt den realen Produktionsprozess und bemäntelt ihn mit einem ‚Image‘, einer Scheinwirklichkeit.“

Veronica seufzte. „Das hat also funktioniert wie in der Politik. Wer blühende Landschaften verspricht, wird gewählt. Wer wahrheitsgemäß berichtet, wie‘s aussieht, landet im Abseits.“

„Der Sturz der Monkees war für die gesamte Szene eine Warnung, den Schein des begnadeten Talents unter allen Umständen zu wahren. Purdie erwähnte, dass er nicht nur für seine handwerklichen Dienste fürstlich entlohnt worden sei sondern auch für sein Schweigen.“

„Okay, aber was die Beatles von den anderen unterschied, war vor allem ihre Fähigkeit, tolle Songs zu schreiben, die selbst fünfzig bis sechzig Jahren später noch die Menschen begeistern. Bis heute sagen viele Bands, dass die Pilzköpfe sie am meisten beeinflusst hätten.“

„Als Ihr Onkel Paul Anfang der 2000er in Liverpool ankam und seinen Laden eröffnete, freundete ich mich sofort mit ihm an. Im Gegensatz zu diesen ganzen Andenkenläden und Rockschuppen im Cavern-Viertel, die die Idolverehrung ihrer touristischen Kundschaft bedienen, folgte er einem völlig anderen Konzept. Er wollte wissen, was damals wirklich geschah, denn das eröffnete ihm neue Fährten, die verloren geglaubte Unikate wieder zutage fördern halfen. Die Pädophilie-Affäre in der BBC hatte seinen Blick für die dunklen Ecken der Musikindustrie geschärft. An der Behauptung, jemand könne ein ganzes Album mit über einem Dutzend Stücken in ein paar Stunden rundfunkreif einspielen, hegte er schon immer seine Zweifel. Er wusste, wie viel Arbeit es kostete, professionell klingende Arrangements zu erzeugen. Den Nachweis, dass es sich bei der offiziellen Story von den angeblich genialen Beatles nur um eine Schneewittchengeschichte handelt, lieferten jedoch andere, und erst sehr viel später. Ein gewisser Mike Williams nahm die Chronologie der Aufnahmen für das Album Rubber Soul auseinander. Die Behauptung, die Beatles hätten sechzehn Songs in 30 Tagen geschrieben, eingeübt, eingespielt, gemischt und produziert, ist seiner Erfahrung als Musiker zufolge völlig unglaubwürdig. Technisch unmöglich wird die Geschichte, wenn man bedenkt, dass für die Veröffentlichung lediglich drei weitere Wochen zur Verfügung standen. Das war nur machbar, wenn außer dem Pressen und Verpacken der Vinylscheiben nichts mehr zu tun blieb. Das hieß, die Labels und das Cover mussten fertig gedruckt sein, und das setzte voraus, dass die Titel der Songs, ihre Spiellänge und Anordnung bekannt waren – Wochen oder Monate bevor die Beatles, angeblich mit leeren Händen, ins Studio gingen.“

„Häh?“ Veronica schüttelte den Kopf. „Wer spielt dann auf dem Album? Und wenn alles Fake ist, wieso überhaupt ins Studio gehen? Warum gibt man nicht von vorn herein eine glaubwürdigere Chronologie an?“

„Die Beatles nahmen 1965 das Album Help! auf, gingen auf Tour, und standen für einen Film vor der Kamera. Der Öffentlichkeit war bekannt, wo sie sich zu jeder beliebigen Zeit aufhielten. Fürs Songschreiben und Aufnehmen blieb ihnen nach ihrer Ochsentour keine Zeit, denn zu Weihnachten musste eine weitere Scheibe, Rubber Soul, in den Läden stehen, um das Produkt The Beatles kommerziell maximal auszuschlachten. Sie selbst sagten, sie seien ausgebrannt gewesen und hätten keine Songs in Reserve gehabt, die sie hätten einbringen können. Der Weihnachtstermin ließ sich nur halten, wenn die Stücke fertig geschrieben und die Instrumente weitgehend eingespielt waren, als die Beatles ins Studio gingen. Sehr wahrscheinlich haben sie dort kaum mehr getan, als die Gesänge beigesteuert. Ihnen blieben pro Stück gerade einmal ein oder zwei Tage Zeit, es perfekt hinzubekommen.“

„Was ist mit den Credits? Lennon-McCartney?“

„Lassen Sie mich aus einem Mersey Beat-Artikel zitieren, der kurz vor den Aufnahmen zu ihrem ersten Album im September 1962 erschien: ‚Die Beatles werden nach London fliegen, um in den EMI-Studios aufzunehmen. Sie werden Stücke einspielen, die sie von ihrem Aufnahmeleiter George Martin erhalten haben und die eigens für die Gruppe geschrieben worden sind.‘ Der selbe George Martin erzählte später in Interviews, dass er in der Band weder die künstlerischen noch die handwerklichen Fähigkeiten gegeben sah, die es seiner Ansicht nach für einen Erfolg gebraucht hätte.“

Veronica stand der Mund offen.

Maria Borghese lächelte. „Natürlich sind das alles keine gerichtsfesten Beweise, aber starke Indizien. Die hochtrabenden Behauptungen der offiziellen Story hingegen sind durch überhaupt nichts belegt. Niemand hat bezeugt, die Jungs Stücke schreiben zu sehen. Von den Aufnahmeterminen gibt es kein Filmmaterial. Die wenigen Fotos sehen gestellt aus. Von den einhundert Songs, die sie angeblich bis zu ihrer ersten Scheibe geschrieben haben sollen, finden offiziell nur eine Hand voll Verwendung; vom Rest sind nicht einmal die Titel bekannt. Fast die Hälfte des Materials, das sie live und auf Schallplatten zum besten geben, besteht aus Coverstücken, und das bleibt so bis zum letzten Konzert 1966. Es ändert sich erst, als mit Billy Shears ein ausgebildeter, erfahrener Studiomusiker McCartneys Platz einnimmt. Darum hatte Signore Campbell die Peppers-Skulptur und das Rubber Soul-Bild im Schaufenster angebracht. Sie symbolisieren die beiden großen Lügen um diese Band: dass sie Ausnahmetalente gewesen seien, die Hits auf Kommando ausspucken konnten, und dass sie von Anfang bis Ende die selben vier Freunde geblieben seien. Die Beatles waren das Produkt einer Industrie, die massenkompatible Illusionen verkaufte.“

„Es gab also ein virtuelles Fließband, das Hits nach Plan produzierte, und die Verkaufsfronten waren die Bands“, spann Veronica den Faden weiter.

„Nicht gab – gibt!“, erwiderte die Italienerin. Wenn sich junge Musiker heute wundern, weshalb sie trotz unbestreitbarer Fähigkeiten nicht weiterkommen, liegt es daran, dass es für die Labels in der Regel teurer wird, wenn sie wilde Talente fördern, als wenn sie den Nachwuchs selbst züchten. Die einen sind schwer zu kontrollieren, denn sie besitzen Kreativität und einen eigenen Willen, diese zu entwickeln; die anderen sind willenlose, abhängige Werkzeuge in den Händen einer Maschinerie, die sie in vorgefertigte Formen pressen und mit einem konstruierten Image versehen kann.“

Veronica zog ein säuerliches Gesicht. „Mir haben die Sechziger, die ich aus dem Fernsehen kenne, besser gefallen.“ Sie leerte ihre Tasse, schaute das Bild McCartneys darauf an und sagte angeekelt: „Bäääh!“

„Bä-ä-äh!“, korrigierte Maria sie im Tonfall eines blökenden Schafs.

Die beiden Frauen sahen sich gegenseitig an, dann begannen sie zu lachen.

„Wirklich? Bä-ä-äh? Was macht Sie so sicher?“

„Ich habe die Tasse für Paul anfertigen lassen. Sie war mein letztes Geburtstagsgeschenk an ihn…“ Maria seufzte. „Sie kennen die dargestellte Szene nicht?“

„Würde ich sonst fragen?“

„Sir Paul stellte sich bei einer Veranstaltung in Moskau den Fragen einiger Reporter. Jemand wollte wissen, ob er echt oder ein Double sei. Er antwortete, das könne er nicht sagen, es sei ein Geheimnis. Als er kurz darauf den Platz verließ, drehte er sich nochmals um und meckerte ziemlich überzeugend ins Mikrofon.“

„Bizarr! Und was sollte das?“

„Manche meinen, es sei eine herablassende Geste gegenüber den ‚sheeple‘, den Schafmenschen gewesen, die sich von den Massenmedien einseifen lassen, aber das ergibt keinen Sinn. Wenn man weiß, dass einer der Namen des Doubles William Shepherd, also Schäfer, lautet, bekommt man auf die Frage des Reporters eine klare Antwort.“

Veronica schaute noch immer zweifelnd drein. „Maria, wenn ich Ihnen zuhöre, komme ich mir dumm vor, diese Dinge nicht selbst schon längst entdeckt zu haben. Mein Vater und ich haben vor ein paar Tagen versucht, mehr über Mal Evans‘ Archiv herauszufinden, und sind dabei auf ähnlich skandalöse Zustände gestoßen. Einerseits sieht es nach einer regelrechten Desinformationskampagne aus, andererseits könnte der Anschein auf eine Reihe von Missverständnissen, Missinterpretationen und ungeschickten Äußerungen zurückzuführen sein. Die Sache ist wirklich riesig, wenn man die ganzen Implikationen bedenkt. Verstehen Sie, was ich meine?“

„Wie viele Aussagen wie die in Moskau brauchen Sie, bevor Sie zu der Ansicht gelangen, dass er sich nicht lediglich ungeschickt verhalten hat? Drei? Sechs? Zehn? Ich kann Ihnen wenigstens ein Dutzend davon zeigen. Sir Paul ist oft zur Doppelgängertheorie befragt worden. Jedes Mal antwortet er zweideutig, statt sich klar von der Behauptung zu distanzieren. Es gibt fast eben so viele belegte Äußerungen von engen Freunden und Kollegen, die ihn mit ‚Billy‘ oder ‚William‘ anreden oder von McCartney in der Vergangenheitsform sprechen. Er hier –“ sie zeigte auf die Ringo-Karikatur auf ihrer Tasse, „behauptet von sich, der letzte lebende Beatle zu sein. McCartneys Bruder Mike sagte einmal, er habe Paul zuletzt auf dessen Beerdigung gesehen. Ab wann werden aus vermeintlichen Missverständnissen Einsichten? Ich verstehe Ihre Befürchtungen nur zu gut, Signorina. Es geht nicht um die John White Band aus Chickenham, sondern um die größte und bis heute einflussreichste Musikgruppe der Geschichte. Es handelt sich ‚bloß‘ um Unterhaltung, doch wenn hier unter den Augen der interessierten Weltöffentlichkeit solche Stunts abgezogen werden konnten, was geschieht dann an weniger beachteten Stellen, die wirklich von Bedeutung sind? Die Antwort auf diese Frage erschüttert das gesamte Bild, das man sich von der Welt gemacht hat. Es hat mein Weltbild erschüttert. Es schmerzt; glauben Sie mir, ich weiß das. Aber sie müssen sich entscheiden, was Ihnen wichtiger ist: die hübsche Fassade Ihres Denkgebäudes oder die Integrität seiner Substanz.“

19) Und täglich grüßt der Peppers-Code

Zach nahm das Sgt. Peppers-Album zur Hand, um es eingehend zu studieren, drehte es, um auch die andere Seite zu betrachten und nickte dann. Er reichte es an Veronica weiter. Auch diese konnte nicht umhin, den Beschreibungen Maria Borgheses zuzustimmen.

„Das ist aber noch längst nicht alles. Halten Sie sich fest: Eine DNA-Probe Sir Pauls, die wegen einer Vaterschaftsklage aus Deutschland genommen wurde, stimmte nicht mit einer Probe aus den frühen Sechzigern überein. Eine Handschriftenanalyse belegte, dass die Unterschriften aus den Sechzigern und den Achtzigern nicht von derselben Person stammen – die spätere hat ein Rechtshänder gezeichnet; Paul war jedoch Linkshänder. Eine Stimmanalyse kam zum gleichen Schluss: nicht derselbe Mann. Als Sir Paul 1980 in Japan wegen Drogendelikten festgenommen wurde, stellten die Beamten fest, dass seine Fingerabdrücke nicht denen entsprachen, die 1960 im Zusammenhang mit einer Anzeige wegen Brandstiftung in Hamburg genommen wurden.“

„Atemberaubend. Wieso befindet sich der Mann dann noch auf freiem Fuß?“

„Die Klage in Deutschland wurde als verjährt zurückgewiesen. In Japan hat die britische Regierung zu seinen Gunsten eingegriffen. Die unabhängigen Untersuchungen zu Stimme und Aussehen wurden von den sogenannten Qualitätsmedien nur punktuell aufgegriffen und schnell wieder fallengelassen. All jene, die trotz allem nicht locker lassen, erledigt in den Augen der Weltöffentlichkeit das Wörtchen ‚Verschwörungstheorie‘.“

„Mit dem sind wir spätestens seit 2020 bestens vertraut. Es ist infam, aber Sie haben recht“, stimmte Zach zu. „Es spielt keine Rolle mehr, was man belegen und beweisen kann. Sobald man der Mehrheit widerspricht – die unhinterfragt glaubt, was die Massenmedien ihnen erzählen – wird man als Spinner abgestempelt; als ob Wahrheit das Ergebnis von Volksabstimmungen wäre.“

Maria Borghese hatte den Detektiv aufmerksam angeblickt, während er sprach. Sie fragte: „Und Sie, Signore Ziegler? Auf welcher Seite stehen Sie? Schlägt Ihr Herz für die Mehrheit oder für die Minderheit? Stimmt die offizielle Story oder haben die Infokrieger mit ihrer alternativen Sicht auf die Dinge recht?“

„Ich habe keinen Einsatz in diesem Spiel. Mich interessiert die Wahrheit, egal wohin sie mich führt. Sie besitzt keine zwei Seiten, sie macht keine Kompromisse. Wir alle sehen die Wirklichkeit durch unsere persönliche Brille und kommunizieren das, was wir von ihr wahrnehmen, solange es unsere persönliche Agenda fördert. Es ist unvermeidlich, weil es menschlich ist. Daher kann die Verantwortung für meinen Geist – für Wahrnehmung, Verarbeitung, Erinnerung und Weitergabe sinnlicher Eindrücke – immer, ohne Ausnahme, nur bei mir selbst liegen. Mein Herz schlägt für die, die sich aufrichtig Mühe geben, nach dieser Einsicht zu leben. Der Rest kann mit seinen Glaubensbekenntnissen von mir aus zum Teufel gehen.“

„Genau das tut er, glauben Sie mir. Genau das tut er buchstäblich. Aber sparen wir uns das Gespräch für einen anderen Tag auf. Ich bin höchst erfreut, in Ihnen Geschwister im Geiste gefunden zu haben. Ich hege keine Zweifel, dass wir wunderbar zusammenarbeiten werden. Sie sind würdige Nachfolger Signore Campbells.“

„Danke Maria – ich darf Sie doch so nennen, oder?“, sagte Veronica. „Wir fühlen uns Ihnen ähnlich verbunden. Ich werde natürlich meine eigenen Nachforschungen anstellen müssen. Wenn es stimmt, was Sie uns eben mitgeteilt haben, ändert das alles. Die Antwort auf meine ursprünglichen Fragen steht jedoch noch offen.“

„Sicher – Veronica“, antwortete die Italienerin mit einem sanften Lächeln. „Sie möchten wissen, was der Code auf der Basstrommel besagt?“

„Ja. Und weshalb Onkel Paul ihn an die Wand gehängt hat.“

„Unter dem Porträt des jungen Paul McCartney, wohlgemerkt. ‚I ONEI X‘ steht für 11 IX, den elften September – ein wichtiges Datum in der freimaurerischen Numerologie. Zufälle kommen in den Kreisen nicht vor. Diese Leute planen für Jahrhunderte im Voraus. Ein Todesfall am 11.9. stellt eine rituelle Opferung dar. ‚HE ◊ DIE‘ erklärt sich selbst, ist jedoch leicht inkorrekt. Die Raute zeigt auf Billy Shears, den lebendigen McCartney-Darsteller, nicht auf den verstorbenen Paul McCartney – ganz im Gegensatz zu dem Arrangement Ihres Onkels.“ Sie deutete mit dem Daumen über die Schulter auf die Wand neben der Tür. „Signore Campbell arbeitete unter der Prämisse, dass der Peppers-Code die Wahrheit sagt. Das machte es einfacher, die ausgefallenen Wünsche seiner Kunden zu erfüllen, die fast alle der Überzeugung sind, dass Paul McCartney 1966 starb. Er hat mir nie gesagt, weshalb er das Bild aufgehängt hat, aber ich glaube, es sollte ihn täglich… zwicken.“

„Sie sagten doch, McCartney sei bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Wie passt ein Unfall zu einer geplanten Opferung?“, warf Zach ein.

„Als ich in Deutschland zur Schule ging, durchliefen wir ein Verkehrstraining für Fahrradfahrer. Ein paar Polizisten zeigten uns, wie man Unfälle vermeidet. Ich erinnere mich noch genau an den Titel einer Broschüre, die sie damals ausgeteilt haben: Unfall ist nie Zufall! Das gilt um so mehr, als der Fahrer des DB6 an sein schicksalhaftes Ende glaubte, und als seinem Schicksal möglicherweise nachgeholfen wurde, wie die Shears-Memoiren andeuten.“

Veronica schüttelte den Kopf. „Bei aller Liebe zur Wahrheit, ich glaube, wir haben heute Früh mehr erfahren, als wir in solch kurzer Zeit verarbeiten können. Ich habe tausend neue Fragen, aber mir platzt gleich die Schädeldecke weg. Lasst uns das Thema wechseln und eine Kleinigkeit essen.“

Der Detektiv und die Italienerin stimmten zu. Während die beiden über Einzelheiten der Zusammenarbeit diskutierten, holte Veronica Saft und Sandwiches aus der Küche. Als sie sich schließlich wieder gesetzt hatte, nahm sie sich lediglich eine kleine Käseecke, an der sie herumzuknabbern begann. Dem Gespräch folgte sie nur mit einem Ohr. Ihre Gedanken befanden sich hunderte Meilen entfernt, auf einer mondbeschienenen, von alten Bäumen gesäumten kurvigen Landstraße.


Kurz nach zehn Uhr desselben Montag Morgens schneite wie erwartet auch Thomas Henry Bishop alias Henry the Horse herein. Maria Borghese putzte gerade das Hinterzimmer. Der Boden des Ladens, den die Italienerin gewischt hatte, glänzte noch feucht. Henry nahm den Hut ab, grüßte die beiden Zieglers gut gelaunt und stellte fest: „Wie ich sehe, haben Sie eine Reinigungskraft gefunden.“

„Wir hatten Glück und konnten das Vertragsverhältnis mit Pauls Putzhilfe übernehmen“, erwiderte Zach.

„Oh, dann arbeitet Semolina also weiterhin hier? Ich freue mich sehr für sie. Sie werden sehen, die Frau ist ein Schatz!“

„Semolina? Wer ist Semolina?“, fragte Zach verwundert. „Nein, unsere Aushilfe heißt Maria Borghese.“

Henry lachte verlegen. „Entschuldigen Sie, dass ich Verwirrung stifte. Maria ist natürlich ein geschätztes Mitglied unserer Familie und führt als solches den Namen Semolina Pilchard. Sie haben sich noch gar nicht mit ihr über die Beatles unterhalten?“

„Sie haben keinen Ahnung… doch, vermutlich haben Sie mehr Ahnung als wir, schließlich haben Sie uns vor den dunklen Ecken der Bandhistorie gewarnt. Wir sind jedoch in der Kürze der Zeit noch nicht dazu gekommen, mit Maria über die Sammlerszene in Liverpool zu sprechen.“

„Tun Sie das, Zachary. Ich vertraue Semolinas Urteil uneingeschränkt. Da ich gerade hier bin, werde ich gerne auch selbst Auskunft erteilen.“

„Nun, wir hatten gestern Morgen das zweifelhafte Vergnügen, einer der Kreaturen von Mr Kite zu begegnen. Er lud uns für heute auf Kites Schloss ein.“

„Dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Ich komme gerade von meinem montäglichen Frühstück zurück und möchte Ihnen lediglich mitteilen, dass der Betrag für die Bänder angewiesen ist.“

„Sehr freundlich von Ihnen, danke!“, erwiderte Zach. „Konnten die Aufnahmen denn Ihre Erwartungen erfüllen?“

„Über die Maßen. Die Gespräche zwischen den Musikern fand ich äußerst kurzweilig. Sie arbeiteten tatsächlich an zwei unbekannten Stücken. Die Entscheidung, sie nicht auf das Album zu packen, war gerechtfertigt, aber wer weiß, was aus ihnen geworden wäre, wenn die Jungs noch ein wenig länger daran gefeilt hätten.“

„Die Beatles waren genial. Mir fällt kein anderes Wort dafür ein.“

„Die Musik ist zweifelsohne großartig, aber das Schreiben ist den Jungs nicht leicht gefallen. Es gibt genügend Hinweise, dass vieles aus der Feder von Ghostwritern stammt und ein guter Teil der Aufnahmen von Sessionmusikern eingespielt worden ist.“

Zach stöhnte. „Henry, nimm‘s mir nicht übel, aber wir haben von Maria – Semolina – heute eine volle Breitseite abbekommen. Veronica und ich werden das erst einmal verifizieren und verarbeiten müssen, bevor wir uns auf weitere Hiobsbotschaften einlassen können.“

„Selbstverständlich. Gut Ding will Weile haben, Zachary. Falls Sie den Fab Store weiterführen, bleibt Ihnen viel Zeit, die weniger erfreulichen Anblicke hinter der schönen Kulisse zu erkunden. Wie haben Sie sich denn nun entschieden? Werden Sie den Laden wieder aufmachen?“

„Ja, wir werden mit Semolinas Hilfe und dank Pauls Grundstock an Waren und Ersparnissen in der Lage sein, den Versuch zu wagen. Immerhin sind wir schon drei Mitgliedern der Familie begegnet, und morgen lernen wir das vierte kennen.“

„Ach morgen erst? Ich dachte, Sie wurden für heute eingeladen. Wann werden Sie denn in Wallace Castle erwartet?“

„Ich habe den Termin auf morgen um elf Uhr verschoben.“

Henry zeigte ein beeindrucktes Gesicht. „Sie sind äußerst couragiert, Zachary. Das gefällt mir. Strapazieren Sie die Geduld des Maestro jedoch nicht zu sehr. Er besitzt nur einen begrenzten Sinn für Humor.“

„Maestro? Wohl eher Zirkusdirektor, dem Clown nach zu urteilen, den er vorgeschickt hat.“

„Wie ich bereits andeutete, verfügt Kite über familiäre Verbindungen und finanzielle Mittel, die es angeraten sein lassen, ihn nicht unnötig zu reizen. Behalten Sie im Auge, dass er mit seinen Aufträgen wohl den größten Teil von Pauls Umsatz generiert hat. Und er greift anderen Sammlern gelegentlich unter die Arme, was Ihnen letztlich ebenfalls zugute kommt.“

„Schon gut. Ich kann es lediglich nicht leiden, wenn man mich einschüchtern und herumkommandieren will.“

„Hat der Bote Ihnen mitgeteilt, worin der Grund oder Anlass der Einladung besteht?“

„Nein. Wir können jedoch sicher sein, dass er über das Manuskript reden will.“

„Er wird auch wissen wollen, wie es mit dem Fab Store weitergeht. An seiner Stelle würde ich vorzufühlen versuchen, mit wem ich es künftig zu tun habe.“

„Würden Sie. So so…“ Zach zwinkerte. Sein rechter Zeigefinger richtete sich auf den älteren Mann, der Daumen fuhr herab wie der gespannte Hahn eines Revolvers.

Bishops Augen weiteten sich. „Erwischt. Zugegebenermaßen bin ich Kite ausnahmsweise eine Nasenlänge voraus.“

„Und Sie stellen sich etwas geschickter an. Wissen Sie, Henry, ich habe kein Problem damit, schlauen Menschen die Früchte ihrer Bemühungen zu überlassen. Es geht mir jedoch entschieden gegen den Strich, wenn jemand eine Agent-Smith-Nummer abzieht.“

18) Die Tür zum ersten Kreis der Hölle

Die Worte der Italienerin hatten Veronica in jenen verwirrten Zustand zurückgeworfen, in der sie sich bei der Entdeckung des Peppers-Codes am frühen Morgen befunden hatte. Die Kakophonie der Stimmen in ihrem Kopf betäubte sie und hinderte sie daran, einen klaren Gedanken zu fassen. Wie in Trance packte sie die Schallplatte, den kleinen runden Rahmen und den Taschenspiegel zusammen und folgte ihrem Vater und Maria nach hinten in den Raum, in dem ihr Onkel ermordet worden war. Sie schloss die Tür. Ein runder Fleck auf der Tapete daneben markierte die Stelle, an der der runde Rahmen gehangen hatte. Einen Moment lang war ihr Geist völlig leer. Dann schaute sie auf ihre Hände hinab. Sie sah das kleine Bild… Und jetzt?… Sie hängte es an seinen Platz zurück. Ihre Augen lasen den Schriftzug: „I ONEI X HE ◊ DIE“, lasen ihn erneut: „I ONEI X HE ◊ DIE“, erneut: „I ONEI X HE ◊ DIE“, erneut. „I ONEI X HE ◊ DIE.“

Sie drehte sich um. Maria Borghese setzte sich gerade in den Sessel. Ihr Vater ließ sich auf das Sofa nieder. Seine freudige Stimmung war innerhalb von Sekunden völlig verflogen. Sein Gesicht wirkte aschfahl. Veronica glaubte zu wissen, was in ihm vorging. Sie standen wieder an jenem finsteren Abgrund, von dem Henry gesprochen hatte, und ihm graute davor, was sie darin entdecken mochten.

„Signorina, Signore Ziegler,“ begann die Italienerin zu sprechen, „ich bin ein Mensch, der sich bemüht, die Dinge realistisch zu betrachten. Ich enthalte mich übertriebener Darstellungen. Davon hängt der Erfolg meiner Arbeit ab. Verstehen Sie daher, was ich nun zu sagen habe, nicht als aufgeblasene Wichtigtuerei. Dies sind Tatsachen von höchster Brisanz. Wenn Sie sie in ihrer vollen Bedeutung erfasst haben, werden Sie die Welt nie wieder so sehen können, wie weit über neunzig Prozent der Leute da draußen.“

Betretene Stille.

„Ich hätte mir gewünscht, unseren ersten Tag der Zusammenarbeit leichtherziger zu verbringen. Welch ein Unglück, mit der Tür derart ins Haus fallen zu müssen. Vielleicht ist es aber so am besten, denn Sie werden von nun an ohnehin fast täglich damit befasst sein.“ Maria Borghese legte wieder eine Pause ein. Schließlich beugte sie sich vor. Von einem zur anderen schauend fragte sie: „Haben Sie je das Gerücht gehört, dass Paul McCartney tot sein soll?“

Veronica stöhnte leise. „Ich habe es geahnt!“

Zachs Kopf hüpfte mehrfach auf und ab. „Erst vorgestern hat mich der Chef der Mordkommission mit der Nase darauf gestoßen. Ich bin mir fast sicher, es schon vor Jahrzehnten gehört aber nicht ernst genommen zu haben.“

„Hat er das?“, fragte Maria erstaunt.

„Ja. Er tat den Gedanken als Revolvergeschichte ab.“

„Der gute Desmond gehört zu jenen, die es besser wissen müssten. Ich behaupte darüber hinaus, dass er es tatsächlich besser weiß.“

„Moment mal, Sie wollen sagen, dass hinter den Gerüchten mehr steckt als Sensationsgier?“ Veronica.

Statt einer Antwort schloss die Italienerin langsam die Augen und öffnete sie dann ebenso langsam wieder.

„Aber… wie geht das? Wir haben mit dieser Idee gespielt, weil ihre Enthüllung natürlich den besten Grund abgegeben hätte, Mal Evans und andere Plappermäuler aus dem Verkehr zu ziehen. Wenn ich überlege, wie das praktisch vonstatten gehen soll, einen globalen Superstar durch ein Double zu ersetzen, versagt jedoch meine Vorstellungskraft. Milliarden Menschen richteten täglich ihre Augen auf diese Person. Irgendwer hätte Alarm geschlagen.“

„Milliarden Menschen richteten ihre Augen auf mediale Bilder, unter denen ‚Paul McCartney‘ geschrieben stand. Sie sahen, was man ihnen zu sehen aufgetragen hatte. Obgleich man verschiedene Bilder von Beatle Paul nebeneinander legen kann, die belegen, dass im Lauf der Jahre mehrere Doubles eingesetzt wurden, sehen die Leute bis heute, was sie zu sehen erwarten. Die Verwendung von Doppelgängern ist in Politik und Unterhaltung seit langem gängige Praxis. Stalin und Saddam dürften die bekanntesten Beispiele hierfür darstellen. Auch gefälschte Film- und Fotoaufnahmen sind weder eine Selten- noch eine Besonderheit. Denken Sie an all die Prominenten, die in echt ganz anders aussehen als auf den Hochglanzseiten der Modemagazine. In Zeiten von Photoshop und Deep Fakes geraten authentische Bilddokumente langsam in die Minderheit. Der leiblichen Person kommen dagegen nur sehr, sehr wenige Leute nahe genug, um Unterschiede wahrnehmen zu können.“

„Okay, aber weshalb spielen eben jene wenigen alle mit? Weshalb sagt niemand: ‚Das ist nicht unser Vater‘? ‚Das ist nicht mein alter Freund‘?“

„Die Antwort hierauf mag für verschiedene Zeugen verschieden lauten. Evans‘ Schicksal ist vielleicht die extremste Variante. Man muss bedenken, dass einflussreiche Menschen es häufig vorziehen, unter ihresgleichen zu bleiben, in einer Art geschlossenem Club, in dem jeder weiß, wann er dichtzuhalten hat. Kontrolle über die Presse kann verhindern, dass unliebsame Nachrichten die Runde machen. Familienmitglieder werden das Andenken ihres Verwandten nicht durch Skandale beschmutzen wollen. Geschäftspartner haben Verluste zu befürchten, wenn bekannt wird, dass die Gans, die goldene Eier für sie legte, gestorben ist. Die Regierung könnte Unruhen und Selbstmordwellen befürchten. Gründe mitzuspielen gibt es also genug. Viel faszinierender finde ich, dass sowohl die Band als auch ihr nahe stehende Personen unzählige dezente Hinweise gegeben haben – wie das Cover des Sgt. Peppers Albums –, die entweder nie vom Mainstream aufgegriffen worden sind oder einfach als Unsinn abgestempelt wurden.“

Zach richtete sich auf. „Das ist ein Punkt, der mir widersprüchlich vorkommt. Es erscheint mir unlogisch, dass man einerseits im Geheimen einen fliegenden Wechsel hinlegt, möglicherweise inklusive der Beseitigung unliebsamer Zeugen, und gleichzeitig, buchstäblich mit Pauken und Trompeten, die Neuigkeiten bekannt macht.“

„Auch hierfür mag es verschiedene Gründe geben“, erläuterte Maria Borghese. „Man mag gehofft haben, dass man die Öffentlichkeit langsam auf die schlechten Nachrichten vorbereiten kann. Oder es könnte sich um ein Katz- und Mausspiel handeln, bei dem unter Beweis gestellt werden sollte, was unter der Nase der Öffentlichkeit alles möglich ist. Die Band wird zur Verschwiegenheit verpflichtet worden sein, nutzte jedoch jede Möglichkeit, die Wahrheit unter dem Deckmantel der Fiktion hinauszuposaunen. Und vielleicht spielte auch die Eitelkeit des Ersatzmannes eine Rolle, der der Nachwelt zur Kenntnis geben wollte, wer in Wirklichkeit hinter der genialen Musik der Spätphase der Beatles steckte.“

„All diese vielen ‚Vielleichts‘,“ beschwerte sich Veronica. „Weiß man denn nichts Konkretes? Wann und wie soll McCartney gestorben sein? Wer ist der Mann, der ihn ersetzt haben soll?“

„Nun, was man konkret weiß, können Sie in allen gängigen Biografien nachlesen. Die Beatles legten am 29. August 1966 das letzte Konzert ihrer Geschichte im Candlestick Park in San Francisco hin und kehrten am folgenden Tag nach London zurück. Sie ließen verlauten, dass sie nicht mehr live auftreten wollten. Die vier Musiker widmeten sich sofort unterschiedlichen Projekten. Bis zur Veröffentlichung des Sgt.-Peppers-Albums im Mai 1967 gaben sie nur sehr wenige Interviews und traten so selten im Fernsehen auf, dass ein Gerücht die Runde machte, die Beatles hätten sich aufgelöst. Das Fanmagazin The Beatles Book Monthly reagierte im Februar 1967 auf ein weiteres Gerücht: Dass Paul McCartney am 7. Januar bei einem Unfall auf der vereisten Autobahn M1 ums Leben gekommen sein soll, sei völlig unwahr, schrieben sie. Der Beatles-Pressesprecher habe bekannt gegeben, dass er den Musiker am Telefon gesprochen habe. Paul habe mitgeteilt, dass sein schwarzer Mini-Cooper heil in der Garage stehe.“

„Und das war gelogen“, warf Zach halb fragend, halb feststellend ein.

„Aber nein, die Meldung, dass die Gerüchte falsch waren, entsprach der Wahrheit. Sie ist ein Paradebeispiel der Irreführung durch falsche Fährten, eine Nebelkerze, wie sie im Buche steht. Es geschah nicht am 7. Januar 1967, sondern am 11. September 1966, weniger als zwei Wochen nach der Rückkehr aus den USA. Paul McCartney besaß keinen schwarzen sondern einen lindgrünen Austin Mini, des weiteren einen silberblauen Aston Martin DB5 und einen dunkelgrünen Aston Martin DB6 – den Unfallwagen. Er verunglückte nicht auf der M1, sondern auf der Dewsbury Road, einer kurvigen Landstraße. Das Gerücht über Pauls Tod am 7.1.67 auf der M1 in einem schwarzen Mini Cooper ist tatsächlich völlig aus der Luft gegriffen.“

Der Detektiv schnaubte. „Brillant formuliert, man muss es eingestehen. Was macht Sie nun so sicher, dass Ihre Version der Geschichte die richtige ist?“

„Wir haben den Mann, der den Toten ersetzte.“

„Jetzt wird‘s spannend“, sagte Zach. „Wie heißt er denn?“

Die Italienerin grinste. „Er nennt sich Sir Paul McCartney.“

Zach stieß ein bellendes Lachen aus. Veronica kicherte. „Kein Scheiß!“, witzelte sie.

Maria Borghese fiel in ihr Lachen mit ein. Dann fuhr sie fort: „Das Titelstück des Sgt.-Peppers-Albums nennt uns seinen Namen: Billy Shears. Zumindest ist das einer seiner Namen. Er ist nicht nur ‚der Mann mit den tausend Stimmen‘, wie wir vom Song The Fool On The Hill erfahren, ein großartiger Stimmimitator, sondern auch ein Mensch mit zahlreichen Namen, darunter William Wallace Campbell, William Shepherd, Billy Pepper, Apollo Wermouth, Vivian Stanshall und Phil Ackrill. Später kamen neben der Persona McCartney weitere hinzu, beispielsweise Percy ‚Thrills‘ Thrillington. Im Film Magical Mystery Tour verrät er uns, dass er 1937 geboren wurde und somit fünf Jahre älter ist als der echte Paul. Billy macht gelinde gesagt wenig Hehl daraus, dass er für einen toten Mann eingesprungen ist. Das fängt bei der Begräbnisszene auf dem Peppers-Album an, das unter seiner Regie entstanden ist – den Code mit dem Todesdatum haben Sie ja schon entdeckt, Signorina –, zieht sich ab diesem Zeitpunkt wie ein roter Faden durch hunderte von Textstellen in Songs, kommt ständig in zweideutigen Interviewäußerungen zum Vorschein und findet seinen Höhepunkt in einer fast siebenhundert-seitigen Autobiografie, die an Offenheit kaum zu überbieten ist.“

„Sie machen Witze!“, staunte Veronica. „Einer der bekanntesten Männer der Welt schreibt seine Memoiren, aber niemand nimmt das Geständnis zur Kenntnis, dass Sir Paul eigentlich Billy Shears – oder wie auch immer – heißt?“

„Signorina Veronica, er verkauft das Buch natürlich nicht unter seinem Beatles-Namen. Das würde ihm mit Sicherheit große rechtliche Schwierigkeiten eintragen, wie er im Text betont. Der Titel lautet The Memoirs of Billy Shears, wurde von einem gewissen Thomas E. Uharriet ‚kodiert‘, und behauptet im Impressum, ein fiktiver historischer Roman zu sein. Im Text dagegen bezieht er sich immer wieder auf ‚diesen sogenannten Roman‘, eine Literaturform, die er habe wählen müssen, um Tacheles reden zu können. Dank dieser Konstruktion kann er jederzeit glaubhaft behaupten, es sei alles nur fiktiv – eine reine Erfindung.“

„Nun, vielleicht ist es das. Woher wissen wir, dass die Memoirs keine Erfindung dieses sogenannten Kodierers sind?“, hakte Zach nach.

„Das Buch erschien seit 2009 in vier Auflagen. Es trägt das Bild McCartneys auf dem Umschlag, legt dem Musiker Worte in den Mund, unterstellt ihm Mitwisserschaft an einem Verbrechen und zitiert mehr als zulässig aus den Texten seiner Kompositionen. In vierzehn Jahren hat Sir Paul nie rechtliche Schritte dagegen eingeleitet. Der Verlag heißt Peppers Press. Mit ein bisschen Recherche erfährt man schnell, dass es sich um eines der vielen Tochterunternehmen von Macca Corp. handelt, dem Konzern, der Sir Pauls Aktivitäten den Rahmen gibt. Der Kodierer ist Geschäftsführer des Verlages. Das Buch erschien am selben Tag wie die Neuauflage der Beatles-Remasters und wird zusammen mit Sir Pauls offiziellem Buch The Lyrics promotet, das vor zwei Jahren veröffentlicht wurde.“

„Okay, starke Indikatoren für die Annahme, dass es sich bei Sir Paul und Billy Shears um dieselbe Person handelt“, gestand Veronica zu. „Was ist mit handfesten Beweisen?“

„McCartneys Gesichtsgeometrie hat sich von Mitte 1966 bis Anfang 1967 stark verändert. Manches kann auf Operationen und Implantate zurückgeführt werden, manches andere aber auch nicht. Sein Gesicht ist länger geworden, die Ohren ebenfalls; sie stehen nun weniger ab, sind am unteren Ende nicht mehr mit der Wange verbunden und unterscheiden sich in weiteren Details, die man nicht umoperieren kann. Seine Gesamtgröße ist um etliche Zoll länger geworden. Die Augen seiner Freundin Jane Asher befanden sich vorher über der Höhe seines Mundes, später auf Kinnhöhe. Im Vergleich zu Mal Evans war er ursprünglich einen halben Kopf kleiner als der Roadie, später fehlte wenig und er wäre ihm ebenbürtig gewesen. Als die Beatles noch zusammen auftraten, waren George, Paul und John ungefähr gleich groß. Spätere Fotos und Filme zeigen deutliche Größenunterschiede zwischen dem falschen Paul und den anderen. Das fängt schon bei Front und Rückseite des Peppers-Covers an. Überzeugen Sie sich selbst!“