24) Maxwells Silberhammer

„Mr Ziegler,“ fuhr Kite fort, „vielleicht können Sie mir in Ihrer Eigenschaft als Detektiv behilflich sein.“

Zach schaute erstaunt auf.

„Natürlich habe ich Erkundigungen über Sie eingezogen. Wer kauft schon gern die Katze im Sack?“

„Leute, die Manuskripte in Koffern erwerben?“, flachste Veronica.

„Erkundigungen, soso“, sagte Zach. „Nun, es kommt darauf an, wie der Fall beschaffen ist. Worum geht es und was erwarten Sie von mir?“

„Es geht um ein verschwundenes Dokument.“

„Ich bin nicht sicher, dass wir schon jetzt bereit sind, Memorabilien aufzu…“

„Es handelt sich um eine Fotografie, die mir im Verlauf eines unserer Familientreffen entwendet wurde; vermutlich ein Scherz, der die Grenzen des Zulässigen überschritt und sich daher kaum von allein in Wohlgefallen auflösen wird. Der Kreis der primär Verdächtigen besteht somit aus den Personen, die ich zuvor aufgezählt habe. Ziehen Sie Erkundigungen ein und beschaffen Sie entweder das Foto oder einen dienlichen Hinweis.“

Zach ging die Liste im Geist durch. „Einschließlich Ihnen bestand die Familie bis zum Tod meines Stiefbruders aus zehn Personen, korrekt?“

„Richtig. Ihn und mich können wir ausschließen, also bleiben acht.“

„Wen wir ausschließen können, müssen Sie mir überlassen, andernfalls lehne ich den Auftrag ab. Ich brauche außerdem weitere Informationen: Von welchem Ort, welchem Datum, welchem Zeitfenster, welchem Fotomotiv reden wir? Worin bestanden die Sicherheitsvorkehrungen für das Objekt und wie wurden diese überwunden?“

Der Hüne schwieg einen Moment. Er zog eine Grimasse, kratzte sich mit einem perfekt manikürten Finger an der Nase, dann antwortete er: „Sie werden keine Ermittlungen gegen mich durchführen. PC31 scheidet aus, weil die Tat in genau jener Nacht geschah, als er gestorben ist. Ich hatte anlässlich des Sucherfolgs kurzfristig ein Treffen hier im Schloss anberaumt. Er sollte den Koffer mitbringen, aber er traf nie ein. Wir zeigten uns gegenseitig einige andere Stücke, die wir in der letzten Zeit erworben haben, darunter auch das Foto – ein Motiv aus der Pathologie, das normalerweise in einem Safe aufbewahrt wird; mehr möchte ich darüber nicht sagen. Aus der geplanten Feier entwickelte sich ein weintrunkenes Fest, das bis in die frühen Morgenstunden dauerte. Kurz nach ein Uhr begaben Kirk und ich uns nach oben. Als ich gegen zehn Uhr wieder erwachte, waren bis auf Kirk alle Gäste und das Foto verschwunden.“

„Kirk?“

„Die Duchess of Kirkcaldy.“

„Ach ja. Wenn ich die Lage recht einschätze, werden Sie vermutlich auch zu den Vorgängen da ‚oben‘ keine näheren Angabe machen wollen.“

„Wie genau müssen Sie es wissen?“

„Vergessen Sie‘s. Ich komme vielleicht darauf zurück, falls die Ermittlungen steckenbleiben. Was ist Ihnen meine Arbeit wert?“

„Berechnen Sie Ihren üblichen Satz. Falls es mit Ihrer Hilfe gelingt, das Foto zurückzuholen, verdoppelt das Ihr Gehalt.“

Zach und Veronica verständigten sich wortlos. Dann reichte der Detektiv Kite die Hand und sagte: „Einverstanden. Ich halte Sie wöchentlich auf dem Laufenden.“

„Täglich. Geben Sie dem höchste Priorität. Ich erwarte, dass die Frage in einer Woche vom Tisch ist.“

„Wie Sie wünschen.“

Der Schlossherr zeigte einen zufriedenen Gesichtsausdruck. Er hob sein letztes noch gefülltes Saftglas. „Auf Ihr Wohl.“

Veronica und Zach prosteten zurück. „Auf Ihres.“

Kite erhob sich. „Lassen Sie uns zur Feier des Tages Ihren Wunsch erfüllen. Folgen Sie mir.“

Er führte sie zurück durch den Salon mit dem fünfeckigen Tisch und den schwarzen Sesseln bis zur Tür neben dem gegenüberliegenden Kamin. Sie traten hindurch. Der Grundriss des Saals entsprach dem des Speisesalons, allerdings wurde dieser hier als Bibliothek genutzt. „Fühlen Sie sich wie zuhause“, sagte Kite. Seine linke Hand wies im Halbkreis in den Raum. „Ich bin in zwei Minuten wieder bei Ihnen.“ Er verließ sie durch eine weitere Nebentür am anderen Ende. Zach und Veronica ignorierten den Drang, das während des Essens Gehörte zu diskutieren oder auch nur die Backen zu blähen. Sie mussten davon ausgehen, dass hier, genau wie nebenan, irgendwelche Instrumente auf sie gerichtet waren. Die beiden musterten Boden, Wände und Decken in gespielt gelangweilter Haltung, gaben vor, einmal dieses Gemälde, einmal jenes Buch genauer zu inspizieren.

Ohne besondere Eile schlenderte Zach zu einem Stück hinüber, das an einer Holzvertäfelung zwischen zwei Bücherschränken befestigt war. Er hatte die Form wiedererkannt, ohne sie gleich zuordnen zu können. Das Ding sah aus wie eine mittelalterliche Streitaxt oder eine Art Hellebarde. Am oberen Ende eines armlangen Stiels war ein kreuzförmiges Werkzeug montiert. Eine Seite, kegelförmig, nahm den sich leicht verjüngenden Stiel auf, der linke Flügel bestand aus einem spitzen, handlangen Dorn; oben lief das Objekt in einer dolchartigen Spitze zu. Statt einer Axt formte der rechte Flügel einen Hammer mit gespreizten Ecken. Die Flügel des Kreuzes waren an einem Würfel befestigt, der, wie der Rest der Waffe, wahrscheinlich aus Silber oder versilbertem Metall bestand. Der Stiel war aus einem edlen Rotholz gefertigt – keine Kriegswaffe, sondern für zeremonielle oder symbolische Zwecke gefertigt. Sie sah gefährlich genug aus. Doch wer mochte wissen, welche Schäden man mit einem ernst gemeinten Äquivalent anrichten konnte?

Zachs Blick glitt an dem Ausstellungsstück hinunter. Rechts unterhalb, etwa auf Höhe seiner Schultern, befand sich eine gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografie. Sie zeigte ein Motiv, das er schon einmal gesehen hatte – in einem anderen Wartezimmer, nur wenige Tage zuvor. Nach all den verstörenden Informationen, die er seither aufgenommen hatte, kam es ihm wie ein halbes Leben entfernt vor. Ein formell gekleideter älterer Herr hielt eine auf ein Samtkissen gebettete historische Waffe, vielleicht eine Streitaxt oder einen Kriegshammer. Ihm gegenüber stand John Lennon mit hängenden Schultern, sichtlich übernächtigt. Bei näherer Betrachtung konnte es sich um dasselbe Objekt handeln, das über dem Bild hing. Es war sogar wahrscheinlich, andernfalls ergab die Kombination aus Foto und Ausstellungsstück keinen Sinn. Seine Überlegungen bestätigte die dezente Texttafel, die links, gegenüber dem Foto, unterhalb der Waffe angebracht war. Auf ihr stand:

„Sir Maxwell Knight übergibt John Lennon den McCartney- biétl. 9. November 1966“

Zachs Kinnlade fiel nach unten.

„Faszinierend, nicht wahr?“, ertönte hinter seiner linken Schulter die Hyänenstimme des Schlossherrn.

Der Detektiv zuckte zusammen. Er drehte sich um und trat einen Schritt zur Seite. Sein rechter Zeigefinger deutete auf den Hammer. „Was, zur Hölle, ist das da?“

Kite setzte ein sardonisches Lächeln auf. „Wie die Inschrift angibt, handelt es sich um einen biétl. Das Wort entstammt dem Altenglischen und bezeichnet einen Hammer; in diesem Fall ein rituelles Objekt, das für Beatles-Sammler mit okkultem Wissen um die Band so etwas wie den heiligen Gral darstellt. Ist Ihnen das Datum aufgefallen?“

„Neunter November – 9/11. Wollen Sie andeuten, die Waffe stünde im Zusammenhang mit McCartneys Ableben? Ich dachte, er sei bei einem Autounfall am 11.9.1966 gestorben?“

„So geht die Rede. Sie geben die offizielle Version der Beatles-Geschichte für diejenigen wieder, die Gründe haben, der für die breite Masse publizierten offiziellen Geschichte keinen Glauben zu schenken. Die Kombination aus elf und neun hat numerologisch eine ganz besondere Bedeutung. Wenn Sie die Weltgeschichte daraufhin abklopfen, werden Sie in ihrem Zusammenhang zahlreiche der wichtigsten Ereignisse stattfinden sehen: Am 9.11.1918 die Revolution gegen den deutschen Kaiser, die den Krieg zugunsten der Alliierten beendete, selbigen Tags 1989 die Öffnung der Berliner Mauer, die für den Fall der kommunistischen Regime in Osteuropa von besonderer Bedeutung war; am 11.9.1973 begann mit dem Putsch General Pinochets gegen den chilenischen Präsidenten Salvador Allende die Übernahme der Welt durch den Neoliberalismus. Dies nur, um ein paar der bekannteren Beispiele zu nennen.“

„Wie kommt ein dem gegenüber unbedeutender Musiker ins Spiel?“, fragte Veronica, die sich den beiden zugesellt hatte.

„Der beliebteste Musiker innerhalb der erfolgreichsten Musikgruppe der Welt“, verbesserte Kite, „und damit ein wesentliches Element in der Transformation familienbasierter Nationen zu den Ansammlungen hyper-individualistischer Atome, wie wir sie heute kennen. Die zersetzende Wirkung der Rockmusik, allen voran die der Beatles und der Stones, auf herkömmliche Moralvorstellungen wird selbst von ihren ärgsten Kritikern gern unterschätzt. Diese Bands propagierten die Lockerung der Sexualmoral, untergruben den Glauben an Gott und staatliche Institutionen, popularisierten den Missbrauch von Hasch und LSD, bagatellisierten Satanismus, pulverisierten jede klare Vorstellung davon, was Ethik, Philosophie oder Kunst zu leisten hatten, und sie beeinflussten ein Milliardenpublikum. Paul McCartney verdiente es, Luzifer an jenem besonderen September-Datum übergeben zu werden.“

„Also gab es keinen Unfall“, schloss Zach. „Er wurde ganz einfach erschlagen.“

„Formulieren wir es so: Wenn es um historische Daten geht, überlässt man nichts dem Zufall. Maxwells Silberhammer sorgte dafür, dass Paul wie vorgesehen starb.“

Veronica drehte den Kopf der Waffe zu und verzog angeekelt das Gesicht. „Ich glaub‘, ich kotz‘ gleich!“, nuschelte sie fast unhörbar.

„Max Knight übergab das gute Stück, desinfiziert und von allen Spuren gereinigt, zwei Monate später an John… als Andenken beziehungsweise als Warnung. Aber wer weiß: Vielleicht ist auch dies nur eine wohlfeile Geschichte, eine Fassade vor einer Fassade vor einer Fassade… Kommen Sie, ich zeige Ihnen, was Sie sehen wollten.“

Kite legte den dicken Lederordner, den er in der Hand gehalten hatte, zwei Regalabteile entfernt auf ein Lesepult. Er schlug ihn an einer mit einer Seidenschleife markierten Stelle auf, ungefähr nach einem Drittel der Seiten. „Nicht anfassen! Lesen Sie gern langsam, sorgfältig, aber Sie werden keine weitere Seite zu Gesicht bekommen. Faksimiles dieser Textstelle kann man an mehreren Adressen im Internet finden, wenn man weiß, wonach man sucht. Es sollte Beweis genug sein, dass wir das Original vor uns haben.“

Zach trat näher. Die Seite war einseitig eng mit Schreibmaschinenschrift bedeckt. Er schätzte den Text auf etwa fünfhundert Wörter. Das Papier war fleckig und vergilbt. Am breiten oberen Rand trug es von Hand aufgetragen die Inschrift ‚146 –‘. Mehr als ein Drittel der Zeilen umrahmte eine Linie. Das von ihr gebildete Feld war doppelt durchgestrichen. Weitere Ergänzungen und Streichungen in Handschrift verliehen der Seite den Entwurfscharakter, den man von einem Buchmanuskript erwartete.

Der Detektiv begann zu lesen: Ein gewisser George Kelly und seine Frau seien wegen etwas, das Evans ihnen im Auftrag von Brian – Epstein? – sagte, unglücklich und verließen Cavendish. Am folgenden Tag sei Paul eingetroffen; alle seien zugegen gewesen – es folgte eine Liste von Vornamen – und seien erstaunt und aufgeregt gewesen… ‚Sie haben in Nairobi ganze Arbeit geleistet‘, las er, ‚Nun ging es also wirklich los. Es fühlte sich an, als ob wir ihn schon immer gekannt hätten.‘ Darauf folgte das durchgestrichene Feld von circa zwanzig Zeilen, in dem von weiteren Reaktionen der Anwesenden berichtet wurde. Unter anderem ging es um Strawberry Fields Forever, das John ihm, später wohl, rückwärts vorgespielt hatte. ‚Welch eine Art, eine Geschichte zu erzählen‘, begeisterte Evans sich.

Dem durchgestrichenen Feld folgten zuletzt sieben Zeilen. Hier erwähnte er eine Klinik in Kenia, zu der er Paul begleitet habe, und dass dieser nun einen falschen Oberlippenbart brauche. Dann brach der Text mitten im Satz ab, um auf der folgenden Seite seine Fortsetzung zu finden. Ohne nachzudenken hob Zach die Hand, um umzublättern. Sanft drückte der Hüne seinen Arm nieder.

„Das sollte Motivation genug sein, den Fab Store wieder zu eröffnen, Mr Ziegler. Nehmen Sie mein Angebot an; eine Million Pfund, bar, steuerfrei.“ Kite schaute ihm eindringlich ins Gesicht. „Kommen Sie, Sie haben heute enorm viel Neues erfahren. Lassen Sie uns in ein oder zwei Wochen wieder treffen, wenn Sie alles verarbeitet haben. Dann wissen wir außerdem mehr, was aus dem verschwundenen Foto geworden ist.“ Er legte Zach eine Hand in den Rücken und führte ihn sanft zur Haupttür in der Mitte der langen Seite des Saals. Der Detektiv, erschüttert, leistete keinen Widerstand.

18) Die Tür zum ersten Kreis der Hölle

Die Worte der Italienerin hatten Veronica in jenen verwirrten Zustand zurückgeworfen, in der sie sich bei der Entdeckung des Peppers-Codes am frühen Morgen befunden hatte. Die Kakophonie der Stimmen in ihrem Kopf betäubte sie und hinderte sie daran, einen klaren Gedanken zu fassen. Wie in Trance packte sie die Schallplatte, den kleinen runden Rahmen und den Taschenspiegel zusammen und folgte ihrem Vater und Maria nach hinten in den Raum, in dem ihr Onkel ermordet worden war. Sie schloss die Tür. Ein runder Fleck auf der Tapete daneben markierte die Stelle, an der der runde Rahmen gehangen hatte. Einen Moment lang war ihr Geist völlig leer. Dann schaute sie auf ihre Hände hinab. Sie sah das kleine Bild… Und jetzt?… Sie hängte es an seinen Platz zurück. Ihre Augen lasen den Schriftzug: „I ONEI X HE ◊ DIE“, lasen ihn erneut: „I ONEI X HE ◊ DIE“, erneut: „I ONEI X HE ◊ DIE“, erneut. „I ONEI X HE ◊ DIE.“

Sie drehte sich um. Maria Borghese setzte sich gerade in den Sessel. Ihr Vater ließ sich auf das Sofa nieder. Seine freudige Stimmung war innerhalb von Sekunden völlig verflogen. Sein Gesicht wirkte aschfahl. Veronica glaubte zu wissen, was in ihm vorging. Sie standen wieder an jenem finsteren Abgrund, von dem Henry gesprochen hatte, und ihm graute davor, was sie darin entdecken mochten.

„Signorina, Signore Ziegler,“ begann die Italienerin zu sprechen, „ich bin ein Mensch, der sich bemüht, die Dinge realistisch zu betrachten. Ich enthalte mich übertriebener Darstellungen. Davon hängt der Erfolg meiner Arbeit ab. Verstehen Sie daher, was ich nun zu sagen habe, nicht als aufgeblasene Wichtigtuerei. Dies sind Tatsachen von höchster Brisanz. Wenn Sie sie in ihrer vollen Bedeutung erfasst haben, werden Sie die Welt nie wieder so sehen können, wie weit über neunzig Prozent der Leute da draußen.“

Betretene Stille.

„Ich hätte mir gewünscht, unseren ersten Tag der Zusammenarbeit leichtherziger zu verbringen. Welch ein Unglück, mit der Tür derart ins Haus fallen zu müssen. Vielleicht ist es aber so am besten, denn Sie werden von nun an ohnehin fast täglich damit befasst sein.“ Maria Borghese legte wieder eine Pause ein. Schließlich beugte sie sich vor. Von einem zur anderen schauend fragte sie: „Haben Sie je das Gerücht gehört, dass Paul McCartney tot sein soll?“

Veronica stöhnte leise. „Ich habe es geahnt!“

Zachs Kopf hüpfte mehrfach auf und ab. „Erst vorgestern hat mich der Chef der Mordkommission mit der Nase darauf gestoßen. Ich bin mir fast sicher, es schon vor Jahrzehnten gehört aber nicht ernst genommen zu haben.“

„Hat er das?“, fragte Maria erstaunt.

„Ja. Er tat den Gedanken als Revolvergeschichte ab.“

„Der gute Desmond gehört zu jenen, die es besser wissen müssten. Ich behaupte darüber hinaus, dass er es tatsächlich besser weiß.“

„Moment mal, Sie wollen sagen, dass hinter den Gerüchten mehr steckt als Sensationsgier?“ Veronica.

Statt einer Antwort schloss die Italienerin langsam die Augen und öffnete sie dann ebenso langsam wieder.

„Aber… wie geht das? Wir haben mit dieser Idee gespielt, weil ihre Enthüllung natürlich den besten Grund abgegeben hätte, Mal Evans und andere Plappermäuler aus dem Verkehr zu ziehen. Wenn ich überlege, wie das praktisch vonstatten gehen soll, einen globalen Superstar durch ein Double zu ersetzen, versagt jedoch meine Vorstellungskraft. Milliarden Menschen richteten täglich ihre Augen auf diese Person. Irgendwer hätte Alarm geschlagen.“

„Milliarden Menschen richteten ihre Augen auf mediale Bilder, unter denen ‚Paul McCartney‘ geschrieben stand. Sie sahen, was man ihnen zu sehen aufgetragen hatte. Obgleich man verschiedene Bilder von Beatle Paul nebeneinander legen kann, die belegen, dass im Lauf der Jahre mehrere Doubles eingesetzt wurden, sehen die Leute bis heute, was sie zu sehen erwarten. Die Verwendung von Doppelgängern ist in Politik und Unterhaltung seit langem gängige Praxis. Stalin und Saddam dürften die bekanntesten Beispiele hierfür darstellen. Auch gefälschte Film- und Fotoaufnahmen sind weder eine Selten- noch eine Besonderheit. Denken Sie an all die Prominenten, die in echt ganz anders aussehen als auf den Hochglanzseiten der Modemagazine. In Zeiten von Photoshop und Deep Fakes geraten authentische Bilddokumente langsam in die Minderheit. Der leiblichen Person kommen dagegen nur sehr, sehr wenige Leute nahe genug, um Unterschiede wahrnehmen zu können.“

„Okay, aber weshalb spielen eben jene wenigen alle mit? Weshalb sagt niemand: ‚Das ist nicht unser Vater‘? ‚Das ist nicht mein alter Freund‘?“

„Die Antwort hierauf mag für verschiedene Zeugen verschieden lauten. Evans‘ Schicksal ist vielleicht die extremste Variante. Man muss bedenken, dass einflussreiche Menschen es häufig vorziehen, unter ihresgleichen zu bleiben, in einer Art geschlossenem Club, in dem jeder weiß, wann er dichtzuhalten hat. Kontrolle über die Presse kann verhindern, dass unliebsame Nachrichten die Runde machen. Familienmitglieder werden das Andenken ihres Verwandten nicht durch Skandale beschmutzen wollen. Geschäftspartner haben Verluste zu befürchten, wenn bekannt wird, dass die Gans, die goldene Eier für sie legte, gestorben ist. Die Regierung könnte Unruhen und Selbstmordwellen befürchten. Gründe mitzuspielen gibt es also genug. Viel faszinierender finde ich, dass sowohl die Band als auch ihr nahe stehende Personen unzählige dezente Hinweise gegeben haben – wie das Cover des Sgt. Peppers Albums –, die entweder nie vom Mainstream aufgegriffen worden sind oder einfach als Unsinn abgestempelt wurden.“

Zach richtete sich auf. „Das ist ein Punkt, der mir widersprüchlich vorkommt. Es erscheint mir unlogisch, dass man einerseits im Geheimen einen fliegenden Wechsel hinlegt, möglicherweise inklusive der Beseitigung unliebsamer Zeugen, und gleichzeitig, buchstäblich mit Pauken und Trompeten, die Neuigkeiten bekannt macht.“

„Auch hierfür mag es verschiedene Gründe geben“, erläuterte Maria Borghese. „Man mag gehofft haben, dass man die Öffentlichkeit langsam auf die schlechten Nachrichten vorbereiten kann. Oder es könnte sich um ein Katz- und Mausspiel handeln, bei dem unter Beweis gestellt werden sollte, was unter der Nase der Öffentlichkeit alles möglich ist. Die Band wird zur Verschwiegenheit verpflichtet worden sein, nutzte jedoch jede Möglichkeit, die Wahrheit unter dem Deckmantel der Fiktion hinauszuposaunen. Und vielleicht spielte auch die Eitelkeit des Ersatzmannes eine Rolle, der der Nachwelt zur Kenntnis geben wollte, wer in Wirklichkeit hinter der genialen Musik der Spätphase der Beatles steckte.“

„All diese vielen ‚Vielleichts‘,“ beschwerte sich Veronica. „Weiß man denn nichts Konkretes? Wann und wie soll McCartney gestorben sein? Wer ist der Mann, der ihn ersetzt haben soll?“

„Nun, was man konkret weiß, können Sie in allen gängigen Biografien nachlesen. Die Beatles legten am 29. August 1966 das letzte Konzert ihrer Geschichte im Candlestick Park in San Francisco hin und kehrten am folgenden Tag nach London zurück. Sie ließen verlauten, dass sie nicht mehr live auftreten wollten. Die vier Musiker widmeten sich sofort unterschiedlichen Projekten. Bis zur Veröffentlichung des Sgt.-Peppers-Albums im Mai 1967 gaben sie nur sehr wenige Interviews und traten so selten im Fernsehen auf, dass ein Gerücht die Runde machte, die Beatles hätten sich aufgelöst. Das Fanmagazin The Beatles Book Monthly reagierte im Februar 1967 auf ein weiteres Gerücht: Dass Paul McCartney am 7. Januar bei einem Unfall auf der vereisten Autobahn M1 ums Leben gekommen sein soll, sei völlig unwahr, schrieben sie. Der Beatles-Pressesprecher habe bekannt gegeben, dass er den Musiker am Telefon gesprochen habe. Paul habe mitgeteilt, dass sein schwarzer Mini-Cooper heil in der Garage stehe.“

„Und das war gelogen“, warf Zach halb fragend, halb feststellend ein.

„Aber nein, die Meldung, dass die Gerüchte falsch waren, entsprach der Wahrheit. Sie ist ein Paradebeispiel der Irreführung durch falsche Fährten, eine Nebelkerze, wie sie im Buche steht. Es geschah nicht am 7. Januar 1967, sondern am 11. September 1966, weniger als zwei Wochen nach der Rückkehr aus den USA. Paul McCartney besaß keinen schwarzen sondern einen lindgrünen Austin Mini, des weiteren einen silberblauen Aston Martin DB5 und einen dunkelgrünen Aston Martin DB6 – den Unfallwagen. Er verunglückte nicht auf der M1, sondern auf der Dewsbury Road, einer kurvigen Landstraße. Das Gerücht über Pauls Tod am 7.1.67 auf der M1 in einem schwarzen Mini Cooper ist tatsächlich völlig aus der Luft gegriffen.“

Der Detektiv schnaubte. „Brillant formuliert, man muss es eingestehen. Was macht Sie nun so sicher, dass Ihre Version der Geschichte die richtige ist?“

„Wir haben den Mann, der den Toten ersetzte.“

„Jetzt wird‘s spannend“, sagte Zach. „Wie heißt er denn?“

Die Italienerin grinste. „Er nennt sich Sir Paul McCartney.“

Zach stieß ein bellendes Lachen aus. Veronica kicherte. „Kein Scheiß!“, witzelte sie.

Maria Borghese fiel in ihr Lachen mit ein. Dann fuhr sie fort: „Das Titelstück des Sgt.-Peppers-Albums nennt uns seinen Namen: Billy Shears. Zumindest ist das einer seiner Namen. Er ist nicht nur ‚der Mann mit den tausend Stimmen‘, wie wir vom Song The Fool On The Hill erfahren, ein großartiger Stimmimitator, sondern auch ein Mensch mit zahlreichen Namen, darunter William Wallace Campbell, William Shepherd, Billy Pepper, Apollo Wermouth, Vivian Stanshall und Phil Ackrill. Später kamen neben der Persona McCartney weitere hinzu, beispielsweise Percy ‚Thrills‘ Thrillington. Im Film Magical Mystery Tour verrät er uns, dass er 1937 geboren wurde und somit fünf Jahre älter ist als der echte Paul. Billy macht gelinde gesagt wenig Hehl daraus, dass er für einen toten Mann eingesprungen ist. Das fängt bei der Begräbnisszene auf dem Peppers-Album an, das unter seiner Regie entstanden ist – den Code mit dem Todesdatum haben Sie ja schon entdeckt, Signorina –, zieht sich ab diesem Zeitpunkt wie ein roter Faden durch hunderte von Textstellen in Songs, kommt ständig in zweideutigen Interviewäußerungen zum Vorschein und findet seinen Höhepunkt in einer fast siebenhundert-seitigen Autobiografie, die an Offenheit kaum zu überbieten ist.“

„Sie machen Witze!“, staunte Veronica. „Einer der bekanntesten Männer der Welt schreibt seine Memoiren, aber niemand nimmt das Geständnis zur Kenntnis, dass Sir Paul eigentlich Billy Shears – oder wie auch immer – heißt?“

„Signorina Veronica, er verkauft das Buch natürlich nicht unter seinem Beatles-Namen. Das würde ihm mit Sicherheit große rechtliche Schwierigkeiten eintragen, wie er im Text betont. Der Titel lautet The Memoirs of Billy Shears, wurde von einem gewissen Thomas E. Uharriet ‚kodiert‘, und behauptet im Impressum, ein fiktiver historischer Roman zu sein. Im Text dagegen bezieht er sich immer wieder auf ‚diesen sogenannten Roman‘, eine Literaturform, die er habe wählen müssen, um Tacheles reden zu können. Dank dieser Konstruktion kann er jederzeit glaubhaft behaupten, es sei alles nur fiktiv – eine reine Erfindung.“

„Nun, vielleicht ist es das. Woher wissen wir, dass die Memoirs keine Erfindung dieses sogenannten Kodierers sind?“, hakte Zach nach.

„Das Buch erschien seit 2009 in vier Auflagen. Es trägt das Bild McCartneys auf dem Umschlag, legt dem Musiker Worte in den Mund, unterstellt ihm Mitwisserschaft an einem Verbrechen und zitiert mehr als zulässig aus den Texten seiner Kompositionen. In vierzehn Jahren hat Sir Paul nie rechtliche Schritte dagegen eingeleitet. Der Verlag heißt Peppers Press. Mit ein bisschen Recherche erfährt man schnell, dass es sich um eines der vielen Tochterunternehmen von Macca Corp. handelt, dem Konzern, der Sir Pauls Aktivitäten den Rahmen gibt. Der Kodierer ist Geschäftsführer des Verlages. Das Buch erschien am selben Tag wie die Neuauflage der Beatles-Remasters und wird zusammen mit Sir Pauls offiziellem Buch The Lyrics promotet, das vor zwei Jahren veröffentlicht wurde.“

„Okay, starke Indikatoren für die Annahme, dass es sich bei Sir Paul und Billy Shears um dieselbe Person handelt“, gestand Veronica zu. „Was ist mit handfesten Beweisen?“

„McCartneys Gesichtsgeometrie hat sich von Mitte 1966 bis Anfang 1967 stark verändert. Manches kann auf Operationen und Implantate zurückgeführt werden, manches andere aber auch nicht. Sein Gesicht ist länger geworden, die Ohren ebenfalls; sie stehen nun weniger ab, sind am unteren Ende nicht mehr mit der Wange verbunden und unterscheiden sich in weiteren Details, die man nicht umoperieren kann. Seine Gesamtgröße ist um etliche Zoll länger geworden. Die Augen seiner Freundin Jane Asher befanden sich vorher über der Höhe seines Mundes, später auf Kinnhöhe. Im Vergleich zu Mal Evans war er ursprünglich einen halben Kopf kleiner als der Roadie, später fehlte wenig und er wäre ihm ebenbürtig gewesen. Als die Beatles noch zusammen auftraten, waren George, Paul und John ungefähr gleich groß. Spätere Fotos und Filme zeigen deutliche Größenunterschiede zwischen dem falschen Paul und den anderen. Das fängt schon bei Front und Rückseite des Peppers-Covers an. Überzeugen Sie sich selbst!“

12) Koffer auf Abwegen

Sie räumten den Tisch ab und trugen das Geschirr in die Küche zurück. Veronica bestand darauf, dass ihr Vater abspülte, während sie einen Teil des Eintopfs in Portionen abpackte, die sie später einfrieren wollte. Zwanzig Minuten später betraten sie den mit Büchern tapezierten Raum, in dessen Mitte der Sci-Fi-Arbeitsplatz stand. Zach zeigte sich beeindruckt. Bevor er sich von den Bänden in den Regalen in andere Welten entführen ließ – sie kannte seine Schwäche für Gedrucktes nur zu gut – rückte Veronica einen zweiten Stuhl neben ihren Cockpitsessel und deutete an, er solle Platz nehmen.

„Ok, womit steigen wir ein?“, fragte Zach.

„Ich würde vorschlagen, ich spiele ein paar Stellen aus dem KSCN-Interview vom 29.11.‘75. Er redet mit Laura Gross über sein Leben, seine Karriere und natürlich die Beatles. Gross ist eine junge Journalistin und eine Freundin der Familie. Achte auf den Tonfall. Was er über seine Memoiren sagt, ist natürlich auch höchst interessant… Bist du bereit?“

„Kann‘s kaum erwarten!“

Veronica klickte das Lesezeichen an, unter dem der Audiomitschnitt des Interviews gespeichert war. Sie ließ es ein paar Minuten laufen, um ihrem Vater einen Eindruck vom Austausch der beiden Gesprächspartner zu vermitteln. Dann sprang sie zur Mitte der Aufnahme. Mal Evans betonte, dass er es geliebt habe, als Tourmanager der Beatles arbeiten zu dürfen. Er habe zwar drei Schwestern, aber keine leiblichen Brüder. Er bezeichnete den Sänger Harry Nilsson als seinen Blutsbruder, aber auch die vier Beatles. Dann drückte er seine Hoffnung aus, dass sie sein Buch, das bald herauskommen sollte, mögen würden. Sie hörten Laura Gross sagen: „Ich weiß, dass du niemals etwas schrecklich Negatives über sie schreiben würdest.“ Mal Evans antwortete: „Nun, das könnte ich. Ich sprach mit Ringo über das Buch. Ich sagte: ‚Ich würde dich nicht in ein schlechtes Licht rücken wollen.‘ Und er sagte: ‚Schau, wenn du nicht die Wahrheit erzählst, fang gar nicht erst damit an. Gerade du solltest es so erzählen, wie es war.‘ Und da gibt es ein paar Dinge, deretwegen sie bestimmt wütend auf mich sein werden.“ Er habe jedoch viel Spaß und eine gute Beziehung zu diesen Leuten gehabt. Daher könne er jetzt nicht etwas anderes behaupten. An was er sich erinnere, sei eine gute Zeit gehabt zu haben.

Veronica sprang zum Ende und ließ die letzten paar Minuten abspielen. Zach sagte: „Hmm, Das hört sich wirklich nicht so an, als habe er eine reißerische Publikation geplant, aber er war sich bewusst, dass es witzlos gewesen wäre, nur die angenehmen Momente zu beschreiben.“

„Ist dir aufgefallen, in welch zuversichtlicher Stimmung er sich befand?“

„Ja, der Mann hatte scheinbar mehr Pläne als Sorgen.“

„Dann schau dir mal an, was größere Veröffentlichungen über ihn schreiben.“ Veronica rief eine Textdatei auf, aus der sie vorzulesen begann: „Beatlechat bestätigt unseren Eindruck. Evans habe seine letzten beiden Lebensjahre hauptsächlich in den Staaten verbracht, wo er mit John, Ringo, Harry Nilsson, Keith Moon und anderen Musikern Partys feierte. Im September 1975 präsentierte er sich auf einem Beatles-Fantreffen in New York. Dann jedoch schwenkt der Bericht um und zeichnet ein ganz anderes Bild. Badfinger, eine erfolgreiche Band, die er entdeckt und produziert hatte, lösten sich im April auf – also lange vor dem Fantreffen –, weil der Sänger sich umgebracht hat. Evans arbeitete jedoch schon bald am Nachfolgeprojekt des Gitarristen. Angeblich – hier widerspricht sich der Bericht selbst, schwand auch der Kontakt zu den Ex-Beatles. Es ist aus anderen Quellen jedoch bekannt, dass dieser nie abgebrochen ist; er traf zum Beispiel McCartney in L.A., als der dort auftrat.“

Veronica scrollte weiter. „Hooks and Harmony sagt: ‚Die Abwärtsspirale setzte sich fort. Mal Evans trennte sich von seiner Frau Lily und zog nach Los Angeles, um Arbeit in der Musikindustrie zu suchen. Seine Frau reichte im Dezember 1975 die Scheidung ein.‘“ Sie schaute auf. „Die meisten Berichte über die Zeit zwischen der Auflösung der Beatles und Evans‘ Tod betonen die Misserfolge und spielen die glücklichen Momente des Mannes herunter, wenn sie sie überhaupt erwähnen. Oftmals bekomme ich den Eindruck, sie schreiben alle von einander ab. Und das fing unmittelbar nach dem tragischen Ereignis an. Angeblich sei er arbeitslos gewesen und habe Beziehungsprobleme mit seiner Freundin Fran gehabt. Laura Gross, die wie gesagt direkten Einblick in sein Privatleben hatte, bezeichnet diese Meldungen als ‚himmelschreiende Lügen‘.“

„Zeichnen sich hier die beiden Lager ab, auf die wir bei dem australischen Kofferfund gestoßen sind?“, überlegte Zach.

„Jetzt wo du‘s sagst… Die Partei, die Mal Evans in ein ungünstiges Licht rückte, bekam die weitaus größere Aufmerksamkeit, so wie dreißig Jahre später die Fraktion, die den australischen Koffer als ‚fake‘ abstempelte.“

„Hast du weitere Audios oder Videos oder war‘s das?“

Veronica holte einen anderen Tab ihres Browsers in den Vordergrund. „Das hier…“, sie zeigte auf den Bildschirm, „… ist eine Diskussion mehrerer Beatles-Koryphäen, darunter Ken Womack. der Mann, der an der ultimativen Mal-Evans-Biografie schreibt. Du erinnerst dich?“

„Den Namen habe ich mir gemerkt. Ich würde dem Mann wirklich zu gern einmal in die Karten schauen.“

„Rate mal wer noch. Die Aufnahme stammt vom August 2022, anlässlich eines Beatles-Kongresses in Chicago. Die Hintergrundgeräusche waren teils recht laut, aber man versteht gut genug, was die Leute sagen.“ Sie klickte auf den Abspielknopf und dann lauschten sie, bis eine Stunde später wieder Stille in Pauls Arbeitszimmer einkehrte.

Zach ächzte. „Faszinierend. Warum fühle ich mich dennoch um wertvolle Lebenszeit betrogen?“

„Vielleicht liegt es daran, dass er lediglich das offizielle Narrativ vom tragischen Hans im Glück bedient. Er lässt gerade so viel durchblicken, dass man an seinen Lippen hängen bleibt, aber eigentlich sagt er nur: ‚Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen‘.“

„Richtig. Dieselbe Masche wie bei Beatlechat: Er gibt zu, es gab ein paar Glanzlichter – Evans bezog auch nach dem Beatles-Split Gehalt von der Band, arbeitete für deren Soloprojekte, hatte Produktionsaufträge, traf McCartney in L.A., telefonierte ständig mit Lennon und Harrison, dinierte mit Ringo Starr zu Weihnachten, hatte seine fast fertigen Memoiren in der Tasche und über den 12. Januar hinaus Zeit, an ihnen zu feilen. Der Verlag zahlte Vorschuss und das Projekt war von allen vier Beatles abgesegnet. Kein Wunder klang er bei seinem Interview mit Laura Gross so glücklich“, zählte Zach auf, was er aus dem Podcast aufgeschnappt hatte. Sarkastisch: „Grund genug, sich mit Alkohol und Valium zu bedröhnen, seine Freunde vollzuheulen und ohne Anlass mit einer Knarre herumzufuchteln, bis man erschossen wird.“

„Ich sehe zwei mögliche Erklärungen für dieses widersprüchliche Verhalten: Mal Evans ‚hat sein Leben schön säuberlich in Schubladen gepackt, denen er getrennt begegnete,‘ wie Womack es einschätzt. Oder die Story, dass er psychisch zerrüttet, mit Drogen vollgepumpt und einer Waffe in der Hand sein Ende quasi provozierte, stimmt nicht.“

„Was wäre, wenn er ohne sein Wissen mit Drogen vollgepumpt wurde?“, spekulierte Zach.

Veronica grübelte. „Da wir dank Pauls Erbe wissen, dass das Manuskript sein Gewicht in Gold wert ist, können wir ein Interesse unterstellen, seine Veröffentlichung zu verhindern. Wir sind jedoch noch immer nicht in der Lage, die Darstellungen von Evans‘ Ende zu bestätigen oder zu widerlegen.“

„Was hatte die Polizei im Haus zu suchen? Wer hat die denn bestellt?“

„Seine Freundin Fran Hughes soll über seine Niedergeschlagenheit so besorgt gewesen sein, dass sie seinen Ghostwriter John Hoernie angerufen haben soll. Der berichtete, er habe Evans ‚mit Drogen vollgepumpt und benommen‘ vorgefunden. Evans habe Hoernie gebeten, sicherzustellen, dass die Memoiren auch wirklich veröffentlicht werden. Es sei dann zu einer verbalen Auseinandersetzung gekommen, bei der Evans eine Schusswaffe zur Hand nahm. Der Ghostwriter soll vergeblich versucht haben, sie ihm zu entwinden. Die Freundin rief daraufhin die Polizei an. Evans habe sich auch der Aufforderung der Polizisten verweigert, seine Waffe niederzulegen, also erschossen sie ihn.“

„Okay… der Mann hat die Kontrolle über seine Gefühle verloren – dumm gelaufen. Seine Freundin ruft die Polizei und begeht damit den Fehler ihres Lebens – steckst du nicht drin; dumm gelaufen. Die Beamten verschlampen Beweismaterial – kann passieren; dumm gelaufen. Der Nachlass verschwindet auf dem Postweg nach England – dumm gelaufen. Der Ghostwriter erfüllt den letzten Willen des Verstorbenen nicht – weil er entweder keine Kopie des Manuskripts aufbewahrt hat oder es rechtliche Hürden gab – auch dumm gelaufen. Der Verlag mottet Evans‘ Tagebuch ein und vergisst es für zehn Jahre im Keller – welch ein Zufall, dumm gelaufen. Als es zusammen mit anderen Papieren wieder auftaucht, wird nicht seine Frau informiert sondern Yoko Ono – Verfahrensfehler; dumm gelaufen. Erst 35 Jahre nach der Wiederentdeckung gibt Lily Evans zu, die Erinnerungen ihres Mannes zu besitzen. Zumindest in diesem einen Fall würde ich auf Vorsatz plädieren“, resümierte Zach. „Für sich genommen kann jeder dieser Vorgänge auf simples menschliches Versagen zurückzuführen sein, aber in der Gesamtschau halte ich so viele Irrtümer für höchst unwahrscheinlich. Falls Mal Evans vorsätzlich ausgeschaltet wurde, steht Fran Hughes zuoberst auf meiner Liste der möglichen Helfer, dann der Ghostwriter. Wer hat den Haushalt aufgelöst, ebenfalls die Freundin?“

„Nein, sein Freund, der Sänger Harry Nilsson. Er war derjenige, der die Urne und den Nachlass nach England geschickt hat.“

„Ich mag seine Musik,“ sagte Zach.

„Eine interessante Notiz am Rande: Mama Cass von The Mamas & The Papas ist 1974 tot in Nilssons Londoner Wohnung aufgefunden worden. 1978 fand man Keith Moon von The Who in exakt demselben Zimmer, in demselben Bett sogar. Beide waren zweiunddreißig Jahre alt. Die Leichenschau wurde vom selben Doktor durchgeführt. Zufälle gibt‘s…“

„Dann muss Nilsson mit auf die Liste.“

„Wenn‘s hilft. Ich sehe keine aktuellen Verbindungen dieser Leute nach Liverpool.“

„Die brauchen sie auch nicht. Uns interessiert der Auftraggeber, wenn es ihn gibt, denn das wäre wohl der, der auch hinter Pauls Tod steckt. Es müsste jemand sein der die finanziellen Mittel und personellen Verbindungen besitzt, Pauls Transaktionen zu verfolgen, und der Entsprechendes vor fast fünfzig Jahren schon leisten konnte.“

„Und der ein Interesse daran hatte und immer noch hat“, ergänzte Veronica.

„Versteht sich von selbst. Aber es grenzt den Personenkreis stark ein: zwei noch lebende Beatles, eine Beatles-Witwe, und eventuell enge Freunde der Band wie beispielsweise Donovan oder die Stones; obwohl ich es für eher unwahrscheinlich halte, dass die wussten, was in dem Manuskript stand. Die ex-Beatles hingegen hatten laut Womack die Veröffentlichung genehmigt – sicher nicht ohne die Katze im Sack gesehen zu haben.“

„Weshalb sollte man jemand eine Genehmigung erteilen und ihn dann umbringen; speziell einen engen Vertrauten und treuen Diener, mit dem man bestimmt hätte verhandeln können? Man hätte auch einfach ein Verbot aussprechen können, entweder persönlich oder auf gerichtlichem Weg; gegen die Bandkollegen ging das doch auch.“

„Weil der Mann mit seinem immensen Insiderwissen womöglich eine wandelnde Zeitbombe war. Und um den Verdacht von sich abzulenken.“

„Fein. Wir befinden uns noch immer tief im Land der Spekulation über Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten, aber das Bild gewinnt zumindest an Schärfe.“

„Findest du? Wir tappen durch einen Wald voll widersprüchlicher Informationen. Was haben wir denn als Grundlage für weitere Ermittlungen in der Hand außer diffusen Verdachtsmomenten?“, beschwerte sich ihr Vater.

„Mehr als die Polizei mit ihren unbrauchbaren Videos und geistigen Scheuklappen. Wir haben zumindest eine Ermittlungshypothese.“

„Ich habe einen Kopf, der gleich explodiert. Und ich weiß nicht, ob mir die Richtung gefällt, in die das geht. Hast du dir überlegt, was geschehen soll, falls wir einem Beatle etwas nachweisen können?“

„Die Antwort auf diese Frage hat Zeit, bis es so weit ist, aber willst du denn nicht wissen…“ Veronica stockte, setzte neu an: „Willst du denn nicht die Wahrheit kennen?“

Zach holte tief Luft. Mit zitternder Stimme antwortete er: „Ich fürchte den Abgrund, der sich vor uns auftut.“

11) Die Willfährigkeit des Hundes gegenüber dem Herrn

Er wusste nicht, was ihn mehr ärgerte: dass er sich lächerlich hatte machen lassen oder dass dieser unglaublich von sich selbst überzeugte Mensch nicht einmal erwägt hatte, die Indizien anzuschauen, sondern sie stattdessen einfach in eine Kiste mit der Aufschrift „dummes Zeug“ steckte, zusammen mit all den anderen Dingen, von denen „jeder weiß“, dass sie nicht sein können. Die Mehrzahl der Leute ging blind durch die Welt, weil sie glaubten, was sie sahen erkläre sich von selbst. Dabei wurde das, was sie sahen, ihnen gezeigt und erklärt – von Medien, die ganz anderen Absichten dienten, als die Wahrheit zu berichten. Als wäre es so abwegig, dass jene, die reich und mächtig waren, das gerne weiterhin bleiben würden. „Hätte ich Milliarden mit Lug, Betrug und Mord gemacht, würde ich ebenfalls alles Notwendige veranlassen, dass die Leute meine harmlosen Erklärungen hören, nicht das Gezeter der Betroffenen oder die Berichte der Aufklärer“, murrte Zach in seinen Drei-Tage-Bart.

Weil die meisten Menschen die Wirklichkeit nicht von der medienproduzierten Theaterkulisse unterscheiden konnten, war es Tony Blair gelungen, Großbritannien in einen Krieg gegen den Irak zu hetzen. Junge Soldaten hatten ihr Leben weggeworfen, als sie nach Massenvernichtungswaffen suchen halfen, die frei erfunden waren… um nur ein belegbares Beispiel der jüngeren Zeit zu nennen, bei dem etablierte Medien in ihrer Gesamtheit willfährig eine falsche Realität zeichneten. Keine Ausnahme, sondern der Regelfall. Es gab größere Verbrechen – sogar von atemberaubenden Dimensionen –, die sich genau hier und jetzt vor aller Augen abspielten, aber man durfte die nackten Tatsachen weder nüchtern noch im Scherz erwähnen, wenn man Einkommen, Wohnung, Freundschaften, Freiheit und Gesundheit behalten wollte. Als Privatermittler wusste er nur zu gut, wie das lief. Das schlimmste Unrecht geschah mit Wissen und Duldung, oft sogar unter Beteiligung der Behörden, gedeckt von ‚Journalisten‘, die wussten, wann sie wegschauen und wen sie vorführen mussten. Darum wunderte es ihn keineswegs, dass mindestens eine der beiden Personengruppen – die Bestätiger beziehungsweise die Leugner der Echtheit des Evans-Koffers – sich hatte benutzen lassen, einen bestimmten Eindruck zu vermitteln. Eigeninitiative wurde bestraft, Willfährigkeit des Hundes gegenüber dem Herrn machte sich bezahlt. Und der Herr wünschte die einhellige Zurschaustellung fachlicher oder administrativer Autorität. Wenn alle sagten: „Hören Sie auf die Experten; es gibt hier nichts weiter zu sehen!“, trauten sich nur die Wenigsten, einen zweiten Blick zu riskieren. Gruppendruck war ein effektives Mittel, frei grasende Schäfchen wieder in die Herde zurückzuholen.

Zachary Ziegler verdankte seinen Erfolg als Detektiv der Tatsache, dass er solchem Druck nicht nachgab, wenn es um die Wahrheit ging. Niemand war gefeit vor Täuschung, aber man musste sich die Freiheit bewahren, seine Fehler bewusst wahrzunehmen und einzugestehen. Wer aus Bequemlichkeit, Furcht vor dem Herausragen aus der Menge oder des Wohlgefühls wegen im Theatersessel kleben blieb – sei es ein Stuhl im Parkett, sei es ein Logenplatz – würde nie erfahren, wer diese Leute auf der Bühne wirklich waren oder was sie hinter den Kulissen trieben. Er lebte in einer aufwändig konstruierten Scheinwelt. Nach einiger Zeit vergaß er, dass sie künstlich war; sie wurde zu der Welt schlechthin, egal wie absurd sie sein mochte. Darum waren solche Leute wie Kommissar Wickens Zach zuwider. Sie spielten sich als Türsteher auf, die anderen vorgaben, in welchen Räumen sie sich geistig bewegen durften, was sie bei Strafe sozialer Ächtung zu tun oder zu lassen, zu denken oder zu ignorieren hatten.

Für jemand wie Zach warfen die von Leuten wie Wickens postulierten Tabus Fragen auf. Der Detektiv hatte befürchtet, mehr preisgegeben als erfahren zu haben, bis der Kommissar ihn quasi mit der Nase auf etwas gestoßen hatte: Das Motiv für die beiden gewaltsamen Tode im Zusammenhang mit den Evans-Erinnerungen – und für das Verschwinden des Manuskripts – könnte die drohende Entlarvung eines Hochstaplers in den Reihen der erfolgreichsten Band der Welt gewesen sein. Wenn Zweitligisten wie die Monkees oder Milli Vanilli bereits mit kommerzieller Vernichtung bestraft wurden, weil sie lediglich vorgetäuscht hatten, Musiker zu sein, würde derselbe Vorwurf im Fall der Beatles zu einem Erdbeben führen. Es würde die lieb gewonnenen Erinnerungen von ungezählten Millionen Musikhörern überschatten, die Glaubwürdigkeit von international bedeutenden Persönlichkeiten untergraben und das Image eines Landes und einer Industrie ruinieren. Nicht zuletzt ging es um Milliarden Britischer Pfund. Was waren dagegen eine lumpige Million für das vergilbte Manuskript oder die Leben zweier kleiner Lichter, die ihren Unterhalt aus den Abfällen dieser Beatles-Maschinerie bestritten hatten?

Zach wollte sehen, ob ihn die Spur, von der Wickens ihn hatte abbringen wollen, vielleicht weiterführte.


Als er zurückgekehrt war, fand er das Erdgeschoss leer vor. Ein appetitanregender Geruch nach Gemüse und Gewürzen hing am Fuß der Treppe in der Luft. Zach stieg hinauf. In der Küche stöberte er Veronica auf, die gerade einen Kessel voll Eintopf vom Gasherd nahm.

„Oh, wie schön. Du kommst genau zur rechten Zeit. Das Essen ist fertig.“

„Himmel, Veronica, wie viele Besucher erwartest du denn?“

„Dich. Heute irgendwann. Scharf gewürzten Eintopf kann man problemlos ein paar Tage aufbewahren und er ist bei Bedarf in wenigen Minuten wieder heiß.“

„Ich habe jedenfalls ungeheuren Hunger und ich liebe Eintopf! Der erste Teller geht auf ex.“

„Untersteh dich! Wir setzen uns jetzt schön gemütlich hin und du erzählst mir, wie‘s bei der Polizei gelaufen ist. Danach würde ich gern deine Meinung zu ein paar weiteren Widersprüchen hören, die mir im Zusammenhang mit dem Evans-Archiv aufgefallen sind.“

Zach trug den Kessel zum Esstisch, Veronica legte zwei Gedecke auf. Sie schlürften in aller Ruhe die ersten drei Portionen, bevor der Detektiv begann, von seiner Begegnung mit Kommissar Wickens zu berichten.

„Viel Neues ist das wirklich nicht“, bemerkte Veronica, als ihr Vater sich wieder dem Essen zuwandte. „Seltsam finde ich, dass er einerseits solches Interesse an Henry zeigte, dann aber direkt abwiegelte, als es um das Manuskript ging“.

„Ja, das war echt auffällig. Ich möchte es fast als die dritte Instanz bezeichnen, in der das Buch als Informationsquelle sozusagen aus dem Weg geräumt wurde, wenn auch nur verbal.“

„Ich würde nicht so weit gehen, ihm Absicht zu unterstellen. Dafür haben wir keine Beweise. Er könnte auf deine Andeutung vielleicht sogar völlig frei von Hintergedanken so herablassend reagiert haben. Wenn das einen weiteren Bildpunkt zu unserem Muster beiträgt, dann einen ziemlich schwachen.“

„Zugegeben. Ich werde das berücksichtigen.“ Er löffelte schweigend seinen Eintopf. Dann sagte er: „Die Beatles waren meine ganze Jugend hindurch dauernd mit irgendwas in den Schlagzeilen: George auf Tour, Ringo macht Fotos, ein neues McCartney-Album, John wird erschossen… ich erinnere mich an diese Dinge eher nebelhaft. Und dann die ewigen Gerüchte über das geheime Leben der Stars – die Medien schienen einen Wettbewerb um die groteskesten Nachrichten zu führen. Ich könnte schwören, nie von der Doppelgängertheorie gehört zu haben, aber das ist ziemlich unwahrscheinlich. Viel eher habe ich sie einfach als Zeitungsente abgetan und direkt ins Gedächtnisloch verbannt. Elvis lebt, Paul ist tot und die Erde ist eine Scheibe, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Ja klar. Da ging es dir genau wie diesem Kommissar, wie hieß er gleich?“

„Wickens. Ich kann ihn ja verstehen. Ohne strenge Geisteshygiene verkäme unser jeweiliges Bild von der Wirklichkeit zu einer schlimmeren Karikatur, als es eh schon ist. Man sollte jedoch für neue Informationen offen sein, um fehlerhafte Ansichten korrigieren zu können; zumindest würde ich das von einem Ermittler erwarten. Täuschungen auseinanderzunehmen ist unser Geschäft.“

Veronica zuckte mit den Schultern. „Wir alle haben blinde Flecken.“

„Mit einem ermordeten Stiefbruder und einer gestohlenen Million am Bein will ich mir diesen blinden Fleck nicht leisten. Netterweise hat Wickens das Manuskript in einen neuen Kontext gerückt, der erklären könnte, worin das Tatmotiv bestand. Angenommen, die dreckige Wäsche der Beatles beinhaltet einen Doppelgänger, einen Hochstapler, der weder singen noch komponieren noch spielen konnte; angenommen, dieser Evans hat eine Skandalstory geschrieben, um noch einmal ordentlich Reibach zu machen, nachdem klar war, dass die Band sich unwiederbringlich aufgelöst hatte – der Schaden hätte so hoch sein können, dass nicht einmal ein Konzern, geschweige denn ein einzelner Mensch ihn auszugleichen in der Lage gewesen wäre. Will sagen: Der Rechtsweg hätte in diesem Fall weniger Erfolg versprochen, als … ein beherztes Einschreiten der betroffenen Parteien.“

„Darauf könntest du deinen Hintern verwetten. Bevor ich dir das gestatte, müssen wir jedoch die Annahme in eine Gewissheit verwandeln.“

„Schwierig. Wir müssten das Manuskript lesen, um zu verstehen, ob beziehungsweise warum es aus dem Verkehr gezogen wurde.“

„Nicht notwendigerweise“, widersprach Veronica. „Es genügt, dass die Hintermänner der Tat – wenn es eine Tat gegeben hat – wussten oder glaubten, Mal Evans tanze aus der Reihe. Das impliziert, dass sie Grund zur Sorge hatten – Dreck am Stecken.“

„Weiß nicht… üble Nachrede kann den selben Effekt haben wie echte Skandale aufzudecken. Sofern wir nichts Konkreteres herausfinden, stecken wir erst einmal fest.“

Wieder senkte sich für einige Minuten Schweigen über den Tisch.

„Gibt es denn nirgends irgendwelche Kopien, ausschnittweise Vorabveröffentlichungen oder jemand, der das Original gelesen hat? Was hat Mal Evans selbst darüber gesagt? Du erwähntest gestern, er habe sein Buch über Rundfunk beworben.“

„Ich habe keine Zitate aus den Memoiren gefunden. 2005 sind in der Sunday Times ein paar harmlose Einträge aus seinem Tagebuch erschienen, die seine Witwe Lily freigegeben hatte. Die Familie schien chronisch an knappem Geld zu leiden. Evans verdiente wenig und war selten zuhause. Lily ließ durchscheinen, dass sie dies bis heute belastet und dass sie findet, die Band habe Mal schlecht behandelt. Er selbst, das zeigen die Zitate deutlich, hatte weniger Probleme damit. Er verstand sich bis zum Schluss als enger Freund der vier Musiker und blieb ein Fan der Gruppe. Dass er mit seinem Insiderwissen einmal richtig Kasse machen wollte, passt nicht recht ins Bild, das ich von ihm gewonnen habe. Du solltest dir die Interviews von Ende 1975 anhören. Er hat keinen Versuch unternommen, Skandale anzupreisen oder Sensationsgier zu wecken. Über die Beatles redete er ausschließlich in respektvollem Ton – und sie über ihn: Sie nannten ihn den ‚sanften Riesen‘.“

„Zwischen den Reden und den Taten liegen oft Welten“, warf Zach ein.

„Bei manchen Leuten mehr, bei anderen weniger. Ich würde diesen Mann zu letzteren zählen. Er hat sein ganzes Leben als Enthusiast gehandelt. Aber wie gesagt, mach dir selbst ein Bild.“

„Noch heute. Deine Schilderung klingt danach, als führe diese Fährte in eine Sackgasse oder auf einen Holzweg. Dem harmlosen Image stehen jedoch der gewaltsame Tod des Mannes und die vielen Ungereimtheiten um seine Hinterlassenschaften gegenüber. Legen wir gleich los? Bei der Gelegenheit kannst du mich endlich in die Mysterien von Pauls Studierzimmer einweihen.“

10) Nicht mehr alle Beatles in der Band

Sie saßen in einer Art Katerstimmung am Frühstückstisch. Keiner von ihnen hatte gut geschlafen in dieser ersten Nacht im neuen Domizil. Zach hatte von reißzahnbewehrten Koffern geträumt, die nach seinen Ärmeln und Hosenaufschlägen schnappten und ihn in verschiedene Richtungen zu zerren versuchten.

Bevor sie in einen traumlosen Schlaf gesunken war, hatte Veronica stundenlang über der Frage gebrütet, wie man alltägliche Zufälle von absichtlich inszenierten Ereignissen unterscheiden könnte. „Cui bono,“ sagte sie in die Stille der Campbell‘schen Küche hinein.

„Wie bitte?“, erkundigte sich ihr Vater, dessen Blick aus weiter Ferne zurückkehrte.

„Wem nützt es – cui bono“, erklärte Veronica. „Alte lateinische Redewendung. Heute würde man sagen: Folge dem Geld. Für sich genommen ist ein starker finanzieller Anreiz natürlich kein Schuldbeweis, kann aber ein vielversprechender Ermittlungsansatz sein.“

„Gelegenheit und Fähigkeit zur Tat müssen ebenfalls gegeben sein, wenn man eine Jury überzeugen möchte“, ergänzte Zach. „Außerdem mag es andere Motive als Geld geben.“

Veronica nickte. „Und man müsste den Beweis antreten, dass der Verdächtigte es auch wirklich getan hat. Was uns auf seine Fährte helfen könnte, wäre ein Muster, ein wiederkehrendes Element.“

Zach runzelte die Stirn. „Du siehst hier einen Fall?“

„Du nicht? Onkel Paul wurde ermordet; ein potenziell brisantes Dokument aus seinem Besitz verschwand in derselben Nacht. Es geht wahrscheinlich um Millionen von Pfund. Selbstverständlich ist das ein Fall.“

„Um den sich die örtliche Polizei oder Scotland Yard kümmert.“

„Das mag stimmen. Ich wage jedoch zu bezweifeln, dass sie die unbestreitbaren Parallelen zum Fall Mal Evans berücksichtigen.“

„Der echt schräg aussieht, aber man kann nicht vollständig ausschließen, dass die meisten Widersprüche in der Berichterstattung über Evans auf Kommunikationsstörungen zurückzuführen sind. Zufälle soll es geben.“

„Wer sagt ständig: ‚Ein Mal ist Zufall, zwei Mal ist Dummheit und drei Mal ist Absicht‘?“

„Zachary Archibald Ziegler.“

Veronica nickte. „Ein kluger Mann. Möchtest du hören, was seine noch klügere Tochter denkt?“

„Klär mich auf.“

Veronica kicherte vergnügt.

„Was gibt es da zu lachen?“

„‚Tochter klärt Vater auf‘ – wäre das eine coole Schlagzeile für die Bild?“

„In Zeiten um sich greifender Gender-Verwirrung ist das kein Witz, sondern eine zu Tränen reizende Notwendigkeit. Ich läse daher lieber ‚Mann beißt Hund‘; das gäbe mir ein lang vermisstes Gefühl von Normalität wieder… Worauf willst du eigentlich hinaus, Liebes?“

„Weißt du, wie die Leute bei SETI außerirdische Signale von kosmischem Hintergrundrauschen zu unterscheiden versuchen?“, fragte Veronica zurück. Ohne eine Antwort abzuwarten erläuterte sie: „Kommunikation kann man immer daran erkennen, dass sie Muster im ‚Text‘ hinterlässt, die man mit statistischen Graphen oder arithmetischen Formeln entdecken beziehungsweise darstellen kann. Dabei ist es egal, ob es sich um ägyptische Steintafeln, viktorianische Romane, mongolische Radiosendungen, italienische Schnulzenfilme oder verschlüsselte KGB-Nachrichten handelt. Man muss die enthaltene Botschaft nicht verstehen können, um zu erkennen, dass höchstwahrscheinlich ein sinntragendes Signal vorliegt. Eine statistisch signifikante Häufung bestimmter Marker teilt uns mit, dass wir es mit mehr als dem reinen Zufall zu tun haben.“

„Verstehe. Und das willst du nun auf Ereignisse übertragen?“

„Wie kommen die Ermittler der Mordkommission zu dem Schluss, es mit einem Serientäter zu tun zu haben?“

„Anhand identischer Spuren an verschiedenen Tatorten.“

„Exakt. Ein einzelner Mord stellt keine Serie dar. Ein erster weiterer Mord mit identischen Spuren sieht vielleicht nur zufällig so aus, als gehöre er zu einer Serie. Je mehr solcher Fälle man jedoch vorliegen hat, desto eindeutiger tritt die Absicht hinter ihnen zutage. Was wir brauchen, sind mehr Daten!“

„Ich hatte eigentlich vor, der Polizeiwache erst nächste Woche einen Besuch abzustatten…“

Veronica setzte ihr bezauberndstes Lächeln auf und klimperte mit den Wimpern. Zach brummte, dann griff er nach einer weißen Serviette und schwenkte sie über seinem Kopf.


Zach lenkte den GT aus der Tiefgarage in den morgendlichen Berufsverkehr. Die Parkgebühren für zwei Tage hatten bereits ein kleines Vermögen gekostet. Zum Glück musste er sich darüber keine Gedanken mehr machen. Dank der Erbschaft würde er das jahrelang durchhalten. Doch falls sie hier blieben, würde er einen festen Platz kaufen; oder den Mini Cooper verkaufen, um den Opel an seiner Statt abzustellen.

Da es noch recht früh war, beschloss er, zunächst zum Hotel zu fahren, um das Zimmer zu kündigen und ihre Sachen in die Rainford Gardens zu bringen. Danach, gegen zehn Uhr, betrat er die Polizeiwache, wo er verlangte, den Leiter der Ermittlungen im Mordfall Campbell zu sprechen. Man führte ihn zu einer Bürotür und bat ihn, auf einem der Stühle davor Platz zu nehmen. Drinnen hörte er einen Mann telefonieren. Er konnte sich zwar auf den Inhalt des Gesprächs keinen Reim machen, aber diese Stimme fand er beeindruckend kräftig. Einige Minuten später fiel ein Hörer auf die Gabel, und kurz darauf näherten sich Schritte. Die Tür wurde aufgerissen.

„Mr Ziegler? Guten Tag. Kommen Sie herein.“

Zach war ein klein wenig enttäuscht von der Entdeckung, dass die Bärenstimme einem Mann von durchschnittlicher Größe, mittlerer Körperfülle und unauffälligen Gesichtszügen gehörte. Er nahm sich jedoch vor, ihn nicht zu unterschätzen. Der bleigraue Bürstenhaarschnitt vermittelte den Eindruck eines starken Willens. Er musterte das Namensschild, dem zufolge er mit D. Wickens sprach. „Guten Tag, Sir. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit nehmen, mir die Umstände des Todes meines Stiefbruders zu erläutern.“

„Ich bitte Sie! Als Angehöriger haben Sie ein berechtigtes Interesse an diesen Informationen. Soweit es die Ermittlungen zulassen, will ich Ihnen gern Auskunft geben… Setzen Sie sich doch.“ Er deutete auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Ehrlich gesagt hoffe ich auch, dass Ihnen etwas ein- oder aufgefallen ist, das uns weiterhelfen könnte.“

„Ich befürchte, dass ich Sie enttäuschen muss. Mein Stiefbruder und ich haben uns Jahrzehnte nicht gesehen oder gesprochen. Weder bin ich mit seiner Lebenswirklichkeit noch mit seinen Einstellungen, Gewohnheiten oder persönlichen Beziehungen vertraut. Außer dass er sich anscheinend zu einer der führenden Kapazitäten in Sachen The Beatles entwickelt hat, weiß ich praktisch überhaupt nichts über den Mann, der er zuletzt gewesen ist.“

„Das ist bedauerlich. Dennoch – falls Sie unter den Hinterlassenschaften Mr Campbells etwas finden, das eventuell einen Hinweis auf den Mord liefern könnte, rufen Sie mich jederzeit an.“ Er schob Zach eine Visitenkarte zu.

Der Detektiv nickte und steckte die Karte nach flüchtiger Betrachtung in eine Jackentasche. „Wären Sie so freundlich, die letzten Stunden in Mr Campbells Leben zu beschreiben, soweit Sie diese rekonstruieren konnten?“

„Viel zu erzählen gibt es nicht. Laut Zeugenaussagen einer Nachbarin verließ kurz vor acht Uhr abends ein letzter Kunde den Laden. Mr Campbell schloss die Tür von innen ab und knipste das Licht aus. Er hat eine Mahlzeit eingenommen. Gegen elf Uhr gingen auch in der Wohnung die Lichter aus. Um 3:05 Uhr in der Frühe registrierte die Außenkamera eine Gestalt, die im Eingang verschwand. Die Qualität der Aufnahmen lässt keinerlei Einzelheiten erkennen. Das Ladenlicht ging nicht an. Um 3:40 Uhr tritt die Gestalt wieder auf die Straße heraus und wendet sich in Richtung Whitechapel. Der Autopsiebefund besagt, dass Mr Campbell zwischen drei und vier Uhr verstorben ist. Ursache waren sechs Messerstiche im Brustbereich. Einer traf die Halsschlagader, ein weiterer das Herz. Wenn dieser Sache etwas Positives abzugewinnen ist, dann lediglich, dass Ihr Verwandter nicht gelitten hat.“

„Gab es Hinweise auf einen Kampf? Hat niemand etwas gehört?“, hakte Zach nach.

„Keine Hinweise, und alle schliefen fest – behaupten sie zumindest.“

„Wie stellt sich die Tat für die Polizei dar? Haben Sie Anhaltspunkte für ein Motiv? In welche Richtung ermitteln Sie?“

„Obwohl wir das Türschloss unbeschädigt fanden, glauben wir dennoch, dass es sich um einen Einbruch handelt. Mr Campbell hat die Person wohl überrascht und ist von ihr in einer Art Panikreaktion angegriffen worden.“

„Das schließen Sie woraus?“

„Dass der Täter Geld aus dem Laden entwendet hat, jedoch kaum Wertgegenstände.“

„Mit ‚Wertgegenstände‘ meinen Sie sicher das Evans-Manuskript. Fehlte sonst noch etwas?“

Wickens lächelte dem Detektiv freundlich zu. „Sehen Sie? Sie wissen tatsächlich etwas, das wir noch nicht wussten.“

„Ich dachte, das Fehlen des Manuskripts wäre Ihnen bekannt.“

„Ja, es steht schließlich im Warenbuch verzeichnet. Leider nennt der Eintrag nicht den Verfasser des Dokuments. Woher kennen Sie seinen Namen?“

„Gestern kam ein Kunde in den Laden, der erklärte, das Manuskript sei Teil einer Sammelbestellung, die er mit anderen Beatles-Freunden in Auftrag gegeben habe. Es handle sich um Mal Evans‘ Erinnerungen.“

Der Kommissar stutzte. „Wie heißt dieser Mann? Haben Sie sich den Namen gemerkt?“

Zach war sich nicht sicher, ob er Bishops Identität preisgeben sollte. Es könnte dem Mann, der sein erster Freund in Liverpool geworden war, eine Menge Schwierigkeiten bereiten. Er beschloss, darüber nachzudenken und Wickens eventuell später mehr zu erzählen. Er überlegte. Was konnte er dem Kommissar sagen? „Ich erinnere mich an seinen Vornamen. Er heißt Henry.“

Wickens‘ Gesicht verriet, dass er eine Spur witterte. „Henry? Sind Sie ganz sicher? Irgendwas vom Nachnamen – Angangsbuchstabe, Länge, Nationalität – im Gedächtnis hängen geblieben?“

Zach schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Im Moment geht alles drunter und drüber. Ich muss an hundert Dinge gleichzeitig denken. Es war ein englischer Name, wenn ich mich recht erinnere.“

„Wie sah er aus? Können Sie ihn beschreiben?“ Wickens schien aufgeregt.

„Er sah ein bisschen aus wie dieser berühmte Produzent aus den 1960ern… Wie hieß er gleich?“

„Phil Spector? Quincy Jones? George Martin?…“

„George Martin, genau. Sehr gepflegt, vielleicht gerade im Pensionsalter. Hilft Ihnen das weiter?“

Der Kommissar hatte sich wieder unter Kontrolle. Sein Gesichtsausdruck war nun verschlossen. „Man wird sehen. Natürlich darf ich Ihnen zu Details der Ermittlungen nichts sagen. Ich persönlich glaube aber, dass diesem Manuskript keine besondere Rolle zukommt.“

„Falls doch, ist mein Stiefbruder mindestens das zweite Mordopfer im Zusammenhang mit dem Ding.“

„Sie spielen auf diese Verschwörungstheorie an, nach der die L.A. Police auf Mr Evans gehetzt worden sei, um McCartneys Doppelgänger vor Entlarvung zu schützen?“ Wickens begann herzhaft zu lachen. „Vergessen sie‘s. Die Leute, die so etwas behaupten, haben nicht mehr alle Beatles in der Band.“ Er lachte erneut. „Überlegen Sie nur mal, wie viele Menschen Sir Paul persönlich kennen; er hat Familie hier in Liverpool. Was glauben Sie, wäre da los, wenn plötzlich ein fremder Mann vor der Tür stünde und sagte: ‚Hey, hier bin ich‘?“ Er musste gesehen haben, dass Zach diese Reaktion sauer aufstieß. Er lenkte ein: „Nichts für ungut, aber manchen ist die aufregendste Band der Welt, scheint es, nicht aufregend genug. Von diesen Revolvergeschichten sind so viele in Umlauf, dass keiner sie mehr ernst nimmt.“

„Mag sein“, knurrte Zach, dem die kräftige Stimme des Beamten inzwischen zuwider geworden war. Er wollte nur schnell hier weg. So stellte er seine letzte drängende Frage: „Kann ich meinen Verwandten in der Pathologie sehen?“

„Der Leichnam wird in Kürze an einen von Mr Campbells Anwalt beauftragten Bestatter übergeben. Danach sollte es möglich sein.“

Zach erhob sich unsicher aus seinem Stuhl. Er schüttelte Kommissar Wickens die Hand und versprach, sich melden zu wollen, falls ihm noch etwas einfallen sollte. Der Polizist versicherte, er werde Zach bei neuen Erkenntnissen auf dem Laufenden halten. Dieser verließ das Zimmer und steuerte zielstrebig auf den Kaffeeautomaten im Gang zu. Ein Pappbecher gefärbten Wassers verschwand in Sekundenschnelle in seinem Hals. Zach feuerte den leeren Behälter in den neben der Maschine stehenden Eimer. Diese Plörre rechtfertigte keinen weiteren Besuch, entschied er.

9) Das darf doch wohl nicht wahr sein!

Zach kehrte erst am späten Nachmittag in den Laden zurück. Schwer beladen mit Einkaufstüten stapfte er ins Hinterzimmer herein, wo Veronica es sich bei Keksen und grünem Tee im Sessel bequem gemacht hatte.

„Faules Stück Fleisch!“, polterte er theatralisch, als er die Tüten auf der Bar abstellte. „Keinen Zentimeter hast du dich bewegt, während dein alter Herr heldenmutig in den Urwald eingedrungen ist, um mit bloßen Händen einen Tiger für dein Abendessen zu erlegen.“

„Igitt!“, rief Veronica, „Du weißt doch, dass ich keinen Tiger mag. Außerdem hatte ich Vogelspinne bestellt.“

„Solange du deine Füße unter meinen Tisch hängst, isst du, was ich anschleppe.“

„Solange ich koche, wird gegessen, was ich verlange. Im übrigen war ich nicht ganz so faul, wie es dir vielleicht scheint.“

„Ach nein? Was hast du denn auf die Beine gestellt?“

„Mich. Und dann habe ich mich damit von der Eingangstür bis hierher zum Sessel transportiert.“

„Na gut. Das will ich für dieses Mal gelten lassen“, lenkte Zach ein. „Schau, was ich erbeutet habe.“ Er zog Milch- und Saftflaschen aus einer der Tüten, aus einer anderen einen Eisbergsalat, Broccoli, Bohnen, Lauch, Zwiebeln, Kartoffeln, einen Butterblock und ein paar Äpfel. „Der Salat hat sich besonders heftig gewehrt. Fast wäre er mir entkommen.“

Veronica klatschte in die Hände. „Du bist mein Held, Paps. Wenn ich einmal groß bin, will ich werden wie du.“

Eine weitere Tüte kehrte er einfach auf den Kopf und riss sie dann an den Zipfeln in die Höhe. Schokoladenriegel, Kekse, Kartoffelchips, Karamelbonbons, Popcorn, Marshmallows und andere Snacks polterten auf die Theke und von dort auf den Boden. „Alles, was das Denkerhirn so braucht“, verkündete er.

Eine Dose gesalzener Nüsse rollte Veronica vor die Füße. Sie hob sie auf. „Soll ich fett werden und an Arteriosklerose sterben?“ klagte sie.

„Das war der Plan. Vorher jedoch… Was hast du herausgefunden? Komm schon, ich sehe dir an, dass du gleich platzt, wenn du‘s nicht los wirst.“

„Das Wichtigste zuerst: Wir sind einer Meinung; wir logieren ab heute in Onkel Pauls Wohnung statt im Hotel. Ich habe dir auch schon ein Zimmer ausgesucht. Die Prinzessinnensuite gehört mir. Widerspruch zwecklos.“

Ihr Vater zuckte die Achseln. „Da bin ich wohl machtlos. Weiter.“

„Ich habe die Wohnung für unseren Einzug vorbereitet. Dabei bin ich auf Onkel Pauls Studierzimmer gestoßen, das den schickesten Arbeitsplatz im ganzen Königreich enthält. Du wirst Augen machen. Die Internetleitung – der Hammer. Das Ergebnis kommt schneller auf den Bildschirm, als man die Suchanfrage tippen kann.“

„Ja, ja, ja“, quakte Zach. „Solange er‘s schneller ausspuckt als du will ich zufrieden sein. Komm endlich auf den Punkt!“

„Tsk tsk,“ schnalzte Veronica. „Dass die jungen Leute von heute keine Geduld mehr aufbringen – schrecklich!“

Der Detektiv fletschte die Zähne. Seine Hände formten sich zu Krallen.

Die junge Frau kicherte. „Also gut. Ich habe Henrys Informationen in diverse Suchmaschinen gespeist, um zu sehen, was die Welt von ihnen hält. Und siehe da: alles öffentlich verfügbar.“ Sie nahm einen Stapel Ausdrucke vom Beistelltischen, blies die Kekskrümel fort und deklamierte: „Die Times berichtete am 13. Juli 2004, dass ein englischer Tourist namens Fraser Claughton aus Tankerton in der Grafschaft Kent, damals 41 Jahre alt, auf einem Flohmarkt in Lara bei Melbourne, Australien, einen verschlissenen Koffer für seine Klamotten gekauft hat. Als er ihn öffnete, fand er – Zitat Times – ‚eine der wichtigsten Sammlungen an Beatles-Memorabilien,‘ den ‚heiligen Gral,‘ nach dem fast dreißig Jahre lang alle gesucht hatten: das sogenannte Mal-Evans-Archiv. Der Autor der Meldung deutet weder in seiner Überschrift noch im Text Vorbehalte an, sondern wurde recht konkret bezüglich des Inhalts des Koffers: Fotos – vierhundert an der Zahl –, Vinylalben, Konzertprogramme und versiegelte Tonbandbehälter, die die Aufschrift ‚Abbey Road … not for release‘ tragen. Auf den Tonbändern befänden sich alternative Versionen von We Can Work It Out und Cry Baby Cry, akustische und elektrische Versionen von weiteren Stücken, die später verworfen wurden, sowie Gespräche zwischen McCartney und Lennon. Peter Doggett, ein Berater des Auktionshauses Christie‘s, bestätigte, dass mit Ausnahme zweier Stücke alles ‚sehr aufregend klingt‘ und es gut möglich sei, dass es sich um Evans‘ Archiv handele. John Read, ein Kinderbuchverleger, der den glücklichen Finder in dieser Sache vertrat, stellte den Bezug zu Mal Evans unter Verweis auf Studiounterlagen her, die im Koffer gefunden worden seien und den Namen des Roadies trügen. Ein Mitarbeiter des Beatles-Labels Apple, Mark Lewisohn, äußerte sich als Einziger etwas vorsichtiger, da er die Tracks nur am Telefon gehört habe; er sei aber gewillt, sich überraschen zu lassen. Harmony Central berichtete am nächsten Tag, dass ein Viereinhalb-Stunden-Band bei Apple zur Verifikation liege. Alle präsentierten Fakten sind konkret genug, dass man Missverständnisse ausschließen kann.“

„Aber?“, hakte Zach nach.

„Aber die Los Angeles Times meldete am 18. Juli, dass Peter Nash, Leiter des britischen Fanclubs, die Tapes am 15. gehört habe und als falschen Alarm einstufe. Einen Monat später, am 18. August, veröffentlichte Yahoo News eine ausführliche Associated Press-Meldung, der vermeintliche Beatles-Schatz sei ‚fake;‘ das Original bleibe weiterhin verschollen. Peter, Nash, der den Fund im Auftrag eines britischen Senders untersucht habe, nenne die Angelegenheit nun einen publikumswirksamen Schwindel. Er habe fotokopierte Ticketabrisse gesehen, und die Fotos seien lediglich Laserscans aus den 90er Jahren; bei dem Material von den Bändern handele es ich um ‚die ganz normalen Tracks, die die meisten Beatles-Sammler eh schon besitzen.‘ Es gebe außerdem überhaupt nichts in dem Koffer, das auf Evans hinweise. Apple-Sprecher Geoff Baker sagte, er denke, bei dem Fund handle es sich um einen Schwindel.

AP gab an, Claughton, der glückliche Tourist, sei nicht aufzufinden. Die Times und Jack Malvern, ihr Reporter, wären für Kommentare nicht zu haben. John Read, der hier als Pop-Memorabilienhändler tituliert wird, nehme keine Anrufe entgegen. Und das Beste: Das Auktionshaus Christie‘s gab zur Kenntnis, dass sie, ausdrücklich, nicht für eine Einschätzung der Gegenstände kontaktiert worden seien und auch keiner ihrer Experten diese gesehen hätte.“

„Da laus mich doch glatt der Affe!“, stieß Zach hervor. „Also, entweder lügen dieser Fanclubleiter, die Presseagentur, der Apple-Sprecher und Christie‘s alle miteinander oder…“

„Oder der Tourist, sein Vertreter, der Times-Reporter und der Christie‘s-Berater haben alle gelogen und unser neuer Freund hat heute einhundertachtzigtausend Britische Pfund für eine Zeitungsente ausgegeben“, schloss Veronica. „Egal wie man es dreht oder wendet, man kommt nicht umhin, von einer Verschwörung zu sprechen.“

Zach überlegte eine Weile still, bevor er sagte: „Aufgrund der Zeitungsmeldungen allein könnten wir kaum mehr tun, als die Glaubhaftigkeit der Aussagen zu bewerten. Da wir jedoch den Streitgegenstand vorliegen haben – mehr noch, da wir mit kundigen Sammlern in Kontakt stehen, die bereit sind, erkleckliche Summen dafür hinzublättern – scheint die Gruppe der Leute, die ganz laut ‚Betrug!‘ schreien, selbst eine Betrügerbande zu sein, die den Deckel des Koffers zuhalten will.“

„Es sei denn, es gab mehr als einen Koffer“, warf Veronica ein. „Auch dafür fand ich Hinweise.“

„Als wäre der Fall nicht schon kompliziert genug. Na gut, hau mir eine weitere Kofferstory um die Ohren.“

„Welche davon?“ Veronica ließ die Papiere, aus denen sie zitiert hatte, neben den Sessel fallen und nahm einen weiteren Stapel Ausdrucke vom Tisch. „Geschichten gibt es in Hülle und Fülle. Mal Evans, wenigstens darin sind sich alle Quellen einig, war wohl derjenige, der noch vor den Freundinnen, Frauen und Managern der Band die vollständigsten und tiefsten Einblicke in das Denken und Handeln der Beatles gehabt hat. Als Mädchen für alles schleppte er Koffer, lenkte den Tourbus, baute Instrumente auf, besorgte Essen und kümmerte sich um das persönliche Wohlergehen der Musiker. Er beschaffte ihre Unterhosen und wusch ihre Socken, buchstäblich. Manchmal durfte er einfache Klänge und Geräusche zu den Aufnahmen beitragen, war Stichwortgeber für einige Songs und tauchte in Nebenrollen ihrer Filme auf. Dabei blieb er stets bescheiden und diskret. Zwar führte er von Anfang an Tagebuch, plauderte jedoch nie aus dem Nähkästchen. Erst Ende 1975, also fünf Jahr nach der Bandauflösung, machte er von sich reden. In einem Fernseh- und mehreren Radiointerviews erzählte er von seinem Memoiren-Projekt, das zunächst ‚200 Miles to go‘ – Noch 320km – hieß, später auf den Titel ‚Living the Beatles Legend‘ – Ich lebte die Beatles-Legende – umgetauft wurde. Abliefern sollte er das fertige Manuskript angeblich am 12. Januar 1976, aber es gibt auch Quellen, die sagen, er habe noch ein halbes Jahr mehr Zeit gehabt. Wie dem auch sei, es kam der Abend des 4., 5. oder 6. Januar 1976 – je nachdem, welche Quelle man heranzieht…“

„Das ist ja unglaublich!“, polterte Zach.

„…aber wahr. In der damaligen Ausgabe des Rolling Stone Magazins nennt Patrick Snyder den 4. Januar. Die Wikipedia nennt den 5., bezieht sich dabei jedoch auf eine Meldung der LA Times vom selben Tag, das heißt, die Ausgabe, die berichtet, was am 4. geschehen ist. Eine Sonntagsausgabe der Londoner Times, die des Jahrestages gedenkt, behauptet, Mal Evans‘ Ehefrau sei am Morgen des 5. über den Tod ihres Mannes am Vorabend informiert worden. In einem Blog aus dem Jahr 2012 fand ich auch den 6. Januar, aber das war vermutlich ein Tippfehler.

Welchen Datums auch immer, erschossen worden ist er von zwei, drei oder vier namentlich bekannten Polizisten, wiederum je nachdem, welcher Quelle man Glauben schenkt. Seine damalige Freundin, Frances Hughes, mit der er zusammenlebte, hat wohl den Ghostwriter der Memoiren, einen gewissen John Hoernie, angerufen, weil Mr Evans jenes Abends psychisch völlig am Ende gewesen sein soll. Angeblich stand er unter Valium und Alkohol. Das Gespräch der beiden Männer scheint unglücklich verlaufen zu sein, denn Evans nahm eine Waffe zur Hand, die je nach Quelle entweder eine Pistole oder ein Gewehr gewesen ist, und entweder eine Luftwaffe oder scharf gewesen sein soll. Die Freundin alarmierte die Polizei. Die Beamten forderten Evans angeblich auf, die Waffe fallen zu lassen, was dieser verweigerte, und so feuerten sie sechs Schüsse auf ihn ab, vier davon tödlich.“

„Vielleicht sollte man sich den Polizeibericht zusenden lassen“, warf Zach ein.

„Das hat schon eine gewisse Tina Foster versucht, wurde jedoch abgewiesen.“

Zach schüttelte den Kopf.

„Hier beginnt jedenfalls die Geschichte um das sogenannte Memorabilien-Archiv. Die Polizei hat die Anwesenden als Zeugen mitgenommen und einiges an Gegenständen sichergestellt. Von diesem Moment an sind die Memoiren verschwunden. Einer Version nach haben die Behörden den Koffer verbummelt, einer anderen zufolge hat ein enger Freund, der Sänger Harry Nilsson, Evans‘ Sachen gepackt und mit seiner Asche nach London geschickt, zu Evans‘ Witwe Lily. Beides ging verloren. Die Urne tauchte wenig später am Flughafen wieder auf. Eine Truhe voller persönlicher Gegenstände, darunter seine Tagebücher, wurde erst 1986 im Keller des New Yorker Verlags Grosset and Dunlap gefunden, bei dem die Memoiren erscheinen hätten sollen. Man informierte Yoko Ono, die die Sachen freundlicherweise an Mrs Evans weiterleitete.“

„Wie kommt das Zeug nach New York, wenn es nach London gesendet wurde? Was haben persönliche Effekten bei einem Verlag zu suchen? Und warum gibt dieser sie ausgerechnet Yoko?“, warf Zach ein.

„So spielt halt das Leben eben manchmal.“ Veronica kniff ein Auge zu. Ihr Vater schnaubte.

„Wie ich das sehe, haben wir es mit zwei, vielleicht sogar drei Chargen zu tun: Eventuell einem Koffer, den die Polizei von Los Angeles verbummelte, einer Kiste, die aus welchen Gründen auch immer für zehn Jahre beim Verlag versumpfte, und einer weiteren Kiste, die auf dem Weg nach London verschollen ging.“

„Und welche davon enthielt das Manuskript?“

„Könnte im Prinzip in jeder der Chargen gesteckt haben. Bis vor kurzem behauptete die Witwe, die Memoiren nicht zu besitzen, aber nun hat sie Ken Womack, einen bekannten Beatles-Spezialisten, beauftragt, sie zu veröffentlichen; ebenso die Tagebücher.“

„Einfach so? Ups, ich habe mich geirrt? Hier ist das Ding, nach dem die Beatles-Verrückten dieser Welt fünfundvierzig Jahre lang gesucht haben? Lächerlich!“, ereiferte sich der Detektiv.

„Um so lächerlicher, als wir sicher wissen, dass es in unserem Koffer lag, nicht in der New Yorker Kiste, die Yoko Ono an Lily Evans geschickt hat. Was veröffentlicht dieser Womack also da?“

„Hoernies Kopie, könnte eine harmlose Antwort lauten. Irgendwie gibt es mir in der Sache aber zu viele Ungereimtheiten und seltsame Zufälle. Weshalb hielt Mrs Evans das Manuskript geheim, statt es zu Geld zu machen?“

„Weil Yoko es bisher zurückgehalten hat? Oder einer der Beatles mit Prozessen gedroht hat?“, schlug Veronica vor.

„Mit anderen Worten, weil Mal Evans etwas zu erzählen hatte, das die erfolgreichste Band der Welt in ein neues Licht rückt. Es würde erklären, weshalb diese Gang von ‚Experten‘ die Echtheit des Koffers so vehement abgestritten hat. Ehrlich gesagt glaube ich an diesem Punkt nicht mehr an Zufälle. Wie hat Henry das genannt?“

„Schneewittchengeschichten.“

„Schneewittchengeschichten, so ist es. Ich kann zwar noch nicht exakt bestimmen, worin die Wahrheit besteht, aber ich kann mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen, dass sie nicht so harmlos sein wird, wie sie bei oberflächlicher Betrachtung erscheint. Dafür liegen zu viele Fehlinformationen über normalerweise einfach zu bestimmende Tatsachen vor.“

„Erkennst du schon einen Pfad in dem ganzen Durcheinander, Paps?“

„Es gibt etwas, das mich beunruhigt. Da verkündet jemand, dass er nun endlich über seine Zeit bei den Beatles reden will, und dann stirbt er plötzlich – nicht einfach so, sondern unter ungewöhnlichen Umständen. Dummerweise verschwindet seine Memorabilien-Sammlung, jedoch nicht nur ein Teil, sondern alle Teile gleichzeitig auf verschiedenen Wegen – einschließlich der berüchtigten Memoiren. Jahrzehnte später tauchen sie hier bei uns und zur gleichen Zeit bei der Witwe auf – und wieder stirbt ein Mann unter seltsamen Umständen, wieder verschwindet im selben Moment das Manuskript…“

Veronica horchte auf. „Hm? Wie bitte?“

„Tut mir leid, mein Schatz. Ich hatte noch keine Gelegenheit, es dir zu sagen. Als Henry und ich das Inventar prüften, fanden wir alle Objekte wie im Warenbuch verzeichnet – mit Ausnahme der Memoiren. Miller erzählte uns sogar davon, erinnerst du dich? Er sagte, Pauls Mörder habe die Kasse ausgeräumt und das Manuskript bei der Gelegenheit mit eingepackt.“

„Das darf doch wohl nicht wahr sein!“, rief Veronica

8) Tonbandspulen

Jemand rief ihren Namen.

„Veronica? Erde an Mars, bitte kommen!“ Ihr Vater.

Sie schüttelte den Kopf. „Entschuldige. Ich war gerade in Gedanken.“

„Würde es dir etwas ausmachen, das Warenbuch hereinzuholen? Henry wird uns helfen, die Kunden zu identifizieren, die ihre Bestellungen noch nicht abgeholt haben.“

„Schon unterwegs.“

Als Veronica nach einer halben Minute wieder ins Hinterzimmer zurückgekehrt war, standen Henry und Zach vor dem geöffneten Safe. Sie reichte ihrem Vater das Buch. Die beiden Männer gingen die Einträge einen nach dem anderen durch und verglichen sie mit den Objekten im Safe. Ihr Vater zückte einen kleinen Zettelblock und einen Kugelschreiber, die er stets in seiner Hemdtasche mitführte. Er schrieb die Klarnamen auf, die Henry ihm nannte. Daneben notierte er weitere Angaben, die ihm wichtig schienen. Als sie die Inventur abgeschlossen hatten, war die Spannung im Gesicht des Detektivs einer gewissen Zufriedenheit gewichen. Veronica konnte sich vorstellen, weshalb. Sie würden nicht auf der Ware sitzen bleiben, sondern sie zu Geld machen können – eine Sorge weniger auf ihrer Liste der zu erledigenden Dinge. Sie hatten einen kleinen Erfolg erzielt und ein bisschen mehr Klarsicht bezüglich des Milieus gewonnen, in das sie unversehens eingetaucht waren.

Der Ältere zeigte nun auf ein flaches, ungefähr dreißig Zentimeter messendes quadratisches Gehäuse aus grauem PVC. „Das dürfte für mich hinterlegt sein“, meinte er.

Zach nahm die Plastikkassette aus dem Regal. Auf einer der Schmalseiten stand in schwarzem Filzstift:‚Abbey Road – nicht zur Veröffentlichung‘ geschrieben. Er öffnete den Verschluss und schaute hinein. Wie erwartet enthielt das Gehäuse eine Tonbandspule. „Wie viel Spielzeit ist das – vier Stunden?“

„Viereinhalb“, antwortete Henry, „Die Rolle stammt aus dem August 1969, von einem der letzten Studiotermine der Beatles, und ich habe keinen Zweifel, dass darauf nie gehörte Musik und Gespräche verewigt wurden.“

„Was macht Sie so sicher?“, wollte Veronica wissen.

„Weil die ‚Experten‘ das Evans-Manuskript verschwiegen haben, das nun einmal mit im Koffer lag. Sie haben den Fund zum Schund deklariert, um Fragen nach den gefährlichen Erinnerungen eines Mannes zu verhindern, die den Beatles-Mythos als Schneewittchen-Story entlarvt hätten.“

„Eine steile These. Darauf verwetten sie wie viele Britische Pfund?“

„Einhundertachtzigtausend, wie mit Ihrem Onkel ausgemacht.“

Veronica pfiff durch die Zähne. „Wollen Sie nicht wenigstens einmal hineinhören, bevor Sie so viel Geld ausgeben, Henry? Unter der Verkaufstheke steht ein Tonbandgerät.“

„Das ist unnötig, danke. Als Freund und als Ehrenmann stehe ich zu meinem Wort – selbst wenn das Band leer wäre.“

„Ich hätte nichts dagegen, ein Ohr zu riskieren“, schaltete sich Zach ein.

„Lassen Sie mich einen anderen Vorschlag anbringen“, wehrte Henry ab. „Was halten Sie von der Einladung zu unserer nächsten Feier, auf der ich die interessantesten Stellen zum ersten Mal der Familie zu Gehör bringen werde? Es wäre gleichzeitig eine gute Gelegenheit, Ihre künftigen Kunden kennenlernen und sich in Liverpools Gesellschaft einzuführen.“

Weder Zach noch Veronica zeigten sich begeistert. Sie mussten jedoch zugeben, dass ein Mann, der so viel Geld für etwas ausgab, das Recht hatte, sich das gute Stück zuerst einmal ganz allein zu Gemüte zu führen. Bishop begleitete die beiden Zieglers zur Registrierkasse, wo er ihnen erläuterte, wie Paul das Geschäft üblicherweise zum Abschluss gebracht hatte.

„In einem der Fächer auf der linken Seite liegt ein Block mit Vertragsformularen. Den brauchen wir.“

Veronica stöberte in den dunklen Ablagen unter der Theke. Sie förderte den Block zutage. Die obersten Exemplare waren bereits ausgefüllt, wie sie beim Durchblättern feststellte. Auf dem dritten Blatt fand sie den gesuchten Namen, Thomas Henry Bishop. Als Vertragsgegenstand hatte Paul ‚1 Tonbandspule Abbey Road aus Evans-Archiv‘ eingetragen und als Kaufpreis standen tatsächlich einhundertachtzigtausend Pfund im entsprechenden Formularfeld. Käufer und Verkäufer hatten durch ihre Unterschrift den Vertrag zur Beschaffung des Objekts geschlossen. Zwei weitere Unterschriften standen noch aus: ‚Ware erhalten‘ und ‚Betrag erhalten‘.

Henry bestätigte den Erhalt der Ware. „Den Betrag werde ich Ihnen binnen eines Monats auf Pauls Geschäftskonto überweisen. Ich hoffe doch, Sie können bereits darüber verfügen.“

„Der Notar hat alles in die nötigen Bahnen gelenkt. Ich hatte bisher nur keine Gelegenheit, bei der Bank vorstellig zu werden. Das sollte natürlich nicht Ihr Problem sein, Henry. Wir sind Ihnen für Ihre Hilfe zu Dank verpflichtet.“

Der Ältere deutete eine Verbeugung an, reichte Vater und Tochter die Hand zum Abschied und setzte seinen Hut auf. Zach schloss ihm die Tür auf. Henry the Horse trat auf die Rainford Gardens hinaus, ein Tonband für einhundertachtzigtausend Pfund unter den Arm geklemmt, und entschwand in den Sonnenschein eines inzwischen weit fortgeschrittenen Morgens.


Der Besucher hatte ihre Planung ebenso wie ihre Konzentration über die Maßen beeinträchtigt. Zach beschloss daher, sich ein wenig die Beine zu vertreten, um den Kopf frei zu bekommen. Als er gegangen war, überlegte Veronica, ob sie einen der Punkte von ihrer Liste in Angriff nehmen könnte, fand jedoch keine rechte Lust dazu. Stattdessen stieg sie die Treppe hinauf in die Wohnung, um sich in Ruhe umzusehen. Es war still hier oben. Vom Betrieb auf den Straßen vor und hinter dem Haus war fast nichts zu hören. Falls sie hier einzogen, würden sie störungsfrei arbeiten und entspannen können. Es gab zwei mit Doppelbetten möblierte Schlafzimmer. Sie öffnete jenes, das sie aufgrund der persönlichen Gegenstände darin als Pauls Raum identifiziert hatte. Die Bettwäsche schien sauber, zeigte jedoch subtile Zeichen der Benutzung. Veronica prüfte die Schränke. Auf der Suche nach frischen Laken und Bezügen ließ sie ihre Finger über Pauls Kleidung wandern: Unterwäsche, Socken, Krawatten, Hemden, Hosen, Anzüge – alles wirkte elegant, wenn auch ein wenig altmodisch. Der Blick auf einige Etiketten bestätigte ihre Einschätzung, dass der Verstorbene dieselbe Größe getragen hatte wie ihr Vater.

Der Brustbereich einer der Mäntel war ausgebeult. Sie steckte ihre Hand in die Innentasche und zog einen langen prall gefüllten Geldbeutel heraus, wie ihn Markthändler normalerweise verwenden. Sie zögerte. War es indiskret von ihr, derart in die Privatsphäre eines ihr unbekannten Mannes einzudringen? Unsinn, schalt die Detektivin in ihr wirsch. Ihr Onkel war tot und ihr Vater hatte den Haushalt, der ihm rein rechtlich nun gehörte, noch nicht wirklich in Besitz genommen. Einen Augenblick stand sie unentschlossen vor dem offenen Kleiderschrank, dann siegte die gute Kinderstube. Ihr Vater hatte sie die Goldene Regel gelehrt, nach der sie so gut es in dieser verrückten Gesellschaft ging lebten. Sie behandelten andere, wie sie selbst behandelt werden wollten, und sie unterließen alles, was sie nicht ihrerseits durch die Hand eines Anderen erleiden wollten. Damit waren sie bisher ganz gut gefahren. Man wurde so nicht reich, aber man konnte jeden Tag reinen Gewissens schlafen gehen.

A propos schlafen gehen. Sie steckte den Geldbeutel ohne hineinzusehen in die Innentasche des Mantels zurück. Dann schnappte sie sich zwei Garnituren frischer Bettwäsche und tauschte die alten aus. Dasselbe wiederholte sie im Gästezimmer. Wo in Pauls Raum eine Schrankwand die Szene beherrschte, erstreckte sich hier ein maßgeschreinertes Regal, das fast zur Gänze mit Büchern gefüllt war. Zahlreiche Paperback-Romane mit allerlei Klassikern von Asimov bis Zola machten den Hauptbestand aus. Daneben standen ledergebundene und kartonierte Hardcover. Sie erkannte die Britannica und andere Nachschlagewerke. Einige Bände behandelten religionswissenschaftliche Themen. Manche sehr alt wirkende Schinken trugen lateinische Titel oder kryptische Symbole. Und natürlich gab es eine ganze Abteilung mit Musikbezug. Sie würde sich die Sammlung genauer ansehen, sobald sie etwas mehr zur Ruhe gekommen sein würde. Zwischen den beiden Fenstern, die warmes Licht durch die vordere Außenwand des Gebäudes ins Zimmer strömen ließen, stand ein schlichter Sekretär, den Veronica sofort mochte. Die vielen Schubladen, Türchen und Sortierfächer des Möbelstücks übten eine magische Anziehung auf sie aus. Sie hatte sich entschlossen: Sie würde ihrem Vater vorschlagen, vom Hotel in die Innenstadt zu ziehen, und sie würde ihn bitten, ihr diesen Raum zu überlassen.

Das Sahnehäubchen wäre allerdings ein Internet-Anschluss, dachte sie sich. Ihr Onkel mochte ein weit reichendes Netzwerk persönlicher Beziehungen besessen haben. Dass das allein gereicht hatte, um jene Wunder zu wirken, die man ihm nachsagte, bezweifelte sie. Hatten sie überhaupt einen Computer gesehen, als Miller, der Notar, sie durch die Wohnung führte? Es war erst gestern gewesen, aber sie hatten in den letzten Tagen so viele aufregende Informationen absorbieren müssen, dass die Erinnerung an ihre Tour wie durch ein gemustertes Chiffontuch betrachtet wirkte.

Direkt gegenüber wurde sie fündig. Ein großer Raum, dessen Wände auf allen Seiten vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen bedeckt waren, musste wohl das Studierzimmer gewesen sein. In der Mitte der schmaleren Seite gab es ein Fenster, vor dem ein moderner Liegesessel stand. Ein riesiger Schreibtisch beherrschte das Zentrum des Raums. Füße und Rahmen bestanden aus kräftig rotem Holz, die Tischplatte bestand aus milchig weißem Glas, in das auf der linken Seite ein versenkbarer 28-Zoll-Flachbildschirm eingelassen war. Zum zweiten Mal an diesem Tag stieß Veronica einen leisen Pfiff aus.

Sie setzte sich in den Science-Fiction-artigen Drehstuhl vor den Bildschirm und unterzog den Arbeitsplatz einer näheren Betrachtung. Sie sah keinen Rechner. Es mochte ein Kompaktgerät sein, das im Bildschirm oder auf dessen Rückseite installiert sein konnte; oder der Computer stand in einem anderen Zimmer. Praktischerweise sollte man ihn hier, von diesem Platz aus, einschalten können. Wo war der Knopf? Sie ließ ihre Finger über das Holz gleiten. Auf der Unterseite der Tischplatte spürte sie zwei kleine Erhebungen. Sie beugte sich hinunter und sah, wonach sie gesucht hatte. Sie drückte den rechten der beiden Knöpfe. Licht flammte unter dem milchweißen Glas der Oberfläche auf. Aha, dachte sie. Onkel Paul hat wohl des öfteren Baupläne, Dias oder ähnliches angeschaut. Dieses Möbel wäre dabei sicherlich eine große Hilfe gewesen.

Der andere Knopf musste den Computer hochfahren, vermutete sie.

7) Henry the Horse

„Dürfte ich Ihnen eine letzte Frage stellen – als Kunde?“, erkundigte sich Thomas Henry Bishop.

„Um was geht es?“, fragte Zach zurück.

„Einen Tag vor seinem Ableben erhielt ich einen Anruf von Mr Campbell, bezüglich einer Bestellung, die ich… die wir in Auftrag gegeben hatten. Er teilte mir mit, dass die Gegenstände eingetroffen seien.“

„Welche Gegenstände hatten Sie bestellt?“

„Wir – einige andere Sammler und ich – hatten nach einem Koffer mit einer Anzahl verschiedener Objekte darin suchen lassen. Ich interessiere mich dabei für die Tonbandspulen.“

„Ich habe welche im Lager gesehen. Lassen Sie mich das Warenbuch checken.“ Zach ging hinter den Tresen, zog das Buch heraus und fuhr mit dem Finger über die letzten Einträge. „Die einzigen Bänder, die hier verzeichnet sind, wurden auf den Namen ‚Horse‘ bestellt – Horse wie Pferd. Keine Einträge für Bishop. Ist Mr Horse einer Ihrer Kollegen?“

„Nein, das bin ich. Paul hat mich so genannt.“

„Wie originell. Bishop, der Läufer, Horse, der Springer – spielen Sie Schach?“

Thomas Henry Bishop kicherte vergnügt. „Mr Kite hat mir den Spitznamen ans Revers geheftet. Benötigen Sie einen weiteren Hinweis oder genügt das bereits?“

Zach starrte den Älteren ratlos an. Bishop schnaubte.

and of course Henry the Horse dances the waltz…“, sang er mit brüchiger Stimme. Und als sich bei Zach noch immer kein Verständnis regte, ergänzte er: „‚Being For The Benefit Of Mr Kite!‘, einer meiner persönlichen Favoriten, was Beatles-Songs angeht.“ Er trat an einen der Sortierkästen heran, aus dem er nach weniger als drei Sekunden des Suchens eine in transparentes Plastik gehüllte Schallplatte herauszog. „Voilà – Sgt. Pepper. Ich nehme an, das sagt Ihnen etwas.“ Auf eine bestätigende Geste Zachs drehte er die Scheibe um, tippte mit dem Zeigefinger genau auf die Mitte der knallroten textbedeckten Fläche und reichte sie Zach.

Der Detektiv schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. „Aber natürlich! In der Familie haben alle ein Pseudonym angenommen. Man hat mich gewarnt.“

Bishop alias Horse nickte, sagte jedoch kein Wort. Er legte den Kopf leicht schief, wie ein Lehrer, der auf weitere Erläuterungen des Schülers wartete.

„Sie sind also das Walzer tanzende Zirkuspferd…,“ stellte Zach fest. Er überlegte einen Moment. Dabei ließ er die Augen durch den Raum wandern. Plötzlich richtete er sie wieder auf sein Gegenüber. „Wer ist Mr Kite?“, stieß er hervor.

„Sehr gut! Sie stellen genau die richtige Frage. Wer ist dieser Mr Kite, zu dessen Gunsten wir hier sind? Es ist genau, wie ich sagte: Im Grunde besitzen Sie die nötigen Voraussetzungen zur Führung dieses Ladens bereits.“

„Nun, wer ist also Mr Kite?“

„So nennt sich der Besitzer der bedeutendsten und teuersten Sammlung von Beatles-Memorabilien im Königreich – wenn man von den Erzeugern dieser Objekte einmal absieht.“

„Mit Erzeugern meinen sie die Bandmitglieder selbst, nehme ich an.“

„Richtig. Und der einzige noch lebende und im Land ansässige Beatle – abgesehen von Pete Best, der nicht wirklich zählt – hört auf den Namen Sir James Paul McCartney. Stellen Sie sich vor, sie wären mit ihm verwandt; ob das wohl Spuren in Ihrer Sammlung hinterließe?“

„Wollen Sie damit andeuten, Mr Kite – oder wie auch immer er mit bürgerlichem Namen heißen mag –“

„Mr Kite besitzt im eigentlichen Sinn keinen bürgerlichen Namen,“ unterbrach ihn Bishop, „aber selbstverständlich benutzt er einen Klarnamen… den zu enthüllen ich ihm selbst überlassen möchte. Sie werden ihn früh genug kennenlernen. Kite war einer der Beteiligten an unserer kleinen Bestellung. Er hat das bedeutendste Objekt aus dem Koffer für sich reserviert.“

„Nun machen Sie mich neugierig. Was hat es mit diesem Koffer auf sich?“, erkundigte sich Zach.

„Lassen Sie uns nach hinten gehen. Es ist eine lange Geschichte, und ich muss mich setzen; meine Beine sind nicht mehr die Jüngsten.“

„In Ordnung. Ich schließe nur eben den Laden ab.“

Zach schritt zur Eingangstür, verriegelte sie, hängte das ‚Geschlossen‘-Schild, das auf den Boden gefallen war, wieder an den Haken am Fenster und führte Bishop zum Durchgang nach hinten. Als er eben nach der Klinke greifen wollte, ging die Tür auf und Veronica, die es scheinbar eilig hatte, in den Laden zu gelangen, prallte gegen seine Brust. Sie quiekte erschreckt, er gab ein atemloses „Uff!“ von sich.

„Wohin so eilig, junge Dame?“, fragte Zach.

„Wohin so eilig, mein Herr?“, fragte sie zurück. Sie musterte ihren Vater von oben bis unten; dann bemerkte sie den älteren Mann, der hinter ihm stand. Sie nickte ihm grüßend zu. Wieder an ihren Vater gewandt deutete sie auf die Schallplatte, die dieser noch immer in der Hand hielt. „Woher wusstest du, dass ich genau das hier suchte?“


Zach stellte Veronica und Bishop einander vor. Der Sammler erläuterte auch ihr sein Anliegen und erklärte, er sei bereit, den Zieglers bei der Abwicklung von Pauls letztem Auftrag behilflich zu sein. Er kenne die betreffenden Kunden.

„Möchten Sie etwas trinken? Tee, Kaffee, Cola, Wasser? Saft ist leider keiner mehr im Haus“, sagte Veronica.

„Einen Milchkaffee, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Miss Veronica. Ich darf Sie doch so nennen?“

„Kein Problem, Mr Bishop.“

„Henry. Ich bestehe darauf.“

„Einverstanden. Dad, möchtest du auch einen Kaffee?“

Zach, dem erst jetzt bewusst wurde, dass er ihren Gast in den Raum geführt hatte, der vom Blut seines Bruders gezeichnet war, nickte abwesend. Seine Augen suchten die Stelle am Boden. Voll Erleichterung nahm er zur Kenntnis, dass Veronica in der kurzen Zeit gute Arbeit geleistet hatte. Ein Fußabstreifer lag auf der ersten Treppenstufe, ein kleiner Teppich davor. Von der weiß nachgezeichneten Kontur der Leiche war nichts mehr zu sehen.

Henry – the Horse, schoss Zach erneut durch den Kopf – schien unbekümmert. Er ließ sich in den Sessel sinken, den Veronica ihm angeboten hatte. Die junge Frau begab sich an den Bartresen, setzte die Kaffeemaschine in Gang und ließ sich dann neben ihrem Vater aufs Sofa nieder.

„Verstehe ich das richtig?“, erkundigte sich der Detektiv. „Sie und einige andere Personen haben meinen Stiefbruder auf die Suche nach einem Koffer geschickt, der diverse Objekte Ihres Interesses enthielt.“

„Korrekt, Mr Ziegler… Zachary.“

„Sie möchten diese getrennt erwerben. Ihr Anteil daran sind die Tonbänder, die ich im Safe gesehen habe, ja? Dieser Mr Kite ist mit von der Partie und –“ Er überflog den Songtext. „Die Hendersons? Wer noch?“

„Nicht die Hendersons. Mr Kite und Mr Mustard werden die Manuskripte übernehmen, Molly Jones möchte den Koffer als solchen erwerben. Zusätzlich zu seiner Vergütung hätte Paul alle weiteren Inhalte behalten dürfen. Wir wissen nicht, worin diese genau bestehen. Es war von hunderten signierter Autogrammkarten die Rede, dazu Photographien, Konzertprogramme und Schallplatten.“

„Was hat es mit diesem Koffer auf sich? Wer hat ihn gepackt und wo ging er verloren?“

Bishop atmete ein Mal tief durch, überlegte kurz, dann begann er zu erzählen: „Im Juli 2004 ging eine Meldung durch die Presse, nach fast dreißig Jahren sei das sogenannte ‚Mal-Evans-Archiv‘ wieder aufgetaucht. Ein englischer Tourist habe auf einem australischen Flohmarkt für kleines Geld einen alten Koffer mitgenommen. Beim Öffnen habe sich herausgestellt, dass sich Beatles-Raritäten darin befanden, unter anderem Mitschnitte von Aufnahme-Sessions nie veröffentlichter Songs. Papiere, die man außerdem enthalten fand, legten nahe, dass der Koffer Mal Evans, dem Road Manager und engen Vertrauten der Beatles, gehört haben musste. Mehrere Experten äußerten sich sofort zuversichtlich, dass es sich um authentische Memorabilien handelte, doch schon Tage später widerriefen alle diese Einschätzung wieder. Sie gaben Erklärungen ab, lediglich ein Sammelsurium wertloser Kopien habe sich in dem Koffer befunden; bei den Tonaufnahmen habe es sich um gängige Bootlegs gehandelt. Sie verweigerten weitere Interviews. Auch der englische Tourist ist nie wieder in Erscheinung getreten. Über den weiteren Verbleib des Koffers beziehungsweise seines Inhalts gab es keine Erkenntnisse.“

Veronica, die zwischenzeitlich aufgestanden war, kam mit einer Kanne Kaffee und drei Tassen zurück. „Leider haben wir keine frische Milch im Haus. Möchten Sie Milchpulver oder trinken Sie ihn lieber schwarz, Henry?“

„Schwarz bitte.“

Nachdem Veronica eingegossen hatte, rührte er gedankenverloren etwas Zucker in die dampfende Brühe. Daher entging ihm sowohl die rasche Bewegung, mit der Zach seine Tasse entleerte, als auch Veronicas beherztes Zugreifen, das verhinderte, dass das Porzellan anschließend auf den Tisch gehämmert wurde.

„An dieser Geschichte kam uns manches spanisch vor,“ führte der Sammler weiter aus, „insbesondere die schnelle Vorabbestätigung des Fundes durch Menschen, die einen Ruf zu verlieren hatten. Das ist unüblich – gerade angesichts der späteren Meldung, dass sich kein bisher unveröffentlichtes Material darunter befunden habe. Was genau begeisterte die sogenannten Experten an den ersten Kostproben so dermaßen, dass sie ihr Berufsethos vergaßen?“

„Das finde auch ich dubios“, warf Zach ein. „Da Sie den Koffer durch Paul aufspüren haben lassen, nehme ich an, dass Sie im Gegensatz zu den Experten von seiner Echtheit ausgehen. Wenn diese ihr Fach verstanden, müssen sie also mit ihrem abschließenden Urteil gelogen haben. Warum?“

„Es sieht für uns danach aus, als seien sie zurückgepfiffen worden. Über die Gründe kann man lange spekulieren, aber wir vermuten, dass die Bestätigung der Authentizität der Tonbänder die unangenehme Frage aufgeworfen hätte, weshalb zu keinem Zeitpunkt die eigentliche Sensation, das Manuskript von Mal Evans‘ Memoiren, erwähnt wurde.“

„Moment, Moment, Moment!“ rief Veronica dazwischen. „Das geht mir etwas zu schnell. Wie kommen plötzlich diese Memoiren ins Spiel?“

„Evans war ein Beatles-Fan der ersten Stunde. Nachdem er die Band live gesehen hatte, arbeitete er für sie zunächst als Türsteher. Er machte sich schon bald als Laufbursche, Roadie und Mädchen-für-alles unentbehrlich. Da er sehr viel Zeit mit den vier Jungs verbrachte, die alle wesentlich jünger als er waren, wurde er darüber hinaus zu einem engen Freund, dem sie ihre Sorgen anvertrauten. Das gestattete ihm Einblicke, die außer ihm nur wenigen anderen Personen vergönnt waren. Das enge Verhältnis dauerte bis weit über die Auflösung der Band hinaus an.“

Zach wiegte den Kopf. „Der Mann hatte also Dinge zu erzählen, die man in keiner anderen Beatles-Biographie lesen kann. Ist sein Buch eigentlich veröffentlicht worden oder haben ihn die Jungs verklagt?“

„Weder das eine noch das andere. Malcolm Frederick Evans ist am 5.1.1976 in seiner eigenen Wohnung in L.A. von der Polizei erschossen worden – kurz bevor er das Manuskript seiner Memoiren beim Verlag abliefern sollte. In dem nachfolgenden Chaos von Ermittlungen, Bestattungsvorbereitungen und Haushaltsauflösung ging nicht nur ein Koffer voller Beatles-Erinnerungsstücke verloren sondern auch das Manuskript. Sogar seine Asche verschwand während der Überführung nach England vorübergehend. Die näheren Umstände dieser tragischen Geschichte erweisen sich auch hier als dubios. Verschiedene Berichte enthalten kleine aber entscheidende Widersprüche zum Hergang. Ob das Manuskript sich in dem verschollenen Koffer befand, blieb ungeklärt, lag aber nahe. Der Zeitpunkt des Vorfalls erregte jedenfalls den Verdacht, dass zwischen der bevorstehenden Fertigstellung der Memoiren, dem gewaltsamen Tod des Autors und dem Verschwinden des Manuskripts ein finsterer Zusammenhang bestand.“

Stille herrschte im Hinterzimmer von Campbell‘s Fab Store. Für einige Augenblicke rührte sich niemand. Vater und Tochter schauten einander verblüfft an. Bishop nippte an seiner Kaffeetasse. Das leise Schlürfen schallte wie Motorenknattern durch den Raum. Zach räusperte sich. „Ich muss schon sagen… An Dramatik mangelt es Ihrer Geschichte nicht im Mindesten. Für mich waren die Beatles bisher lediglich vier geniale Musiker. Wer hätte gedacht, dass nach über einem halben Jahrhundert Geheimnisse zu lüften bleiben? So langsam verstehe ich Ihre Faszination für diese Band.“

Henry the Horse ließ sein Gebiss aufblitzen. „Ich möchte Sie nicht entmutigen, sich mit dem Gedanken an den Weiterbetrieb des Ladens anzufreunden, aber lassen Sie mich Ihnen sagen, dass diese Story weder den Anfang noch das Ende der zahllosen Ungereimtheiten im Umfeld der Gruppe darstellt. Wenn Sie ein wenig länger in diesen Abgrund starren, Zachary, wird schon bald etwas Ihren Blick erwidern.“

Veronicas Nackenhaare stellten sich auf. Die kryptische Inschrift, die sie studiert hatte, bevor die beiden Männer hereingekommen waren, stieg wieder in ihr Bewusstsein auf; ihre Augen suchten den kleinen kreisrunden Rahmen neben der Tür, dann schweiften sie zu Paul McCartney‘s jugendlichem Konterfei darüber. Unwillkürlich musste sie an das denken, was Ihr Vater über den anderen Paul, ihren Onkel, und die Gründe für dessen Verschwinden aus London gesagt hatte. War er wirklich nur unglücklichen Umständen zum Opfer gefallen oder gab es einen finsteren Zusammenhang?