Sie erreichten das von ihnen gebuchte Hotel am Stadtrand von Liverpool kurz vor acht Uhr abends. Müde von der langen Fahrt begaben sie sich ohne Umschweife ins Bett. Der Schlaf wollte sie jedoch nicht sofort einholen. In den Ohren tönte noch das Brausen des GT-Motors, in ihren Gedanken spukten die Geister der Vergangenheit.
Am nächsten Morgen weckte strahlender Sonnenschein sie. Veronica hüpfte als Erste in das winzige Badezimmer, nahm eine schnelle Dusche, schrubbte die Zähne und zog ein bequemes dunkles Kleid an. Als sie ins Zimmer zurückkehrte, lag Zach mit hinter dem Kopf verschränkten Händen im Bett. Er sah besser aus als Tags zuvor. „Das Badezimmer gehört dir,“ rief sie ihm zu. „Beeil dich. Ich gehe gleich runter und sichere uns ein Frühstück. Ich sterbe vor Hunger!“
„Bloß nicht!“, brummte er, als sie bereits zur Tür hinaus war. „Ein Toter reicht mir vollauf.“
Der Frühstücksraum war tatsächlich recht voll, als Zach endlich eintraf: geduscht, rasiert, gekämmt und in einen frischen dunklen Anzug gekleidet. Veronica hatte ihnen einen Platz am Tresen gesichert, damit der Kaffee unterwegs möglichst wenig Temperatur verlor. Die Gastwirtin, eine Frau in den Fünfzigern, strahlte ihn an. „Guten Morgen, Mr Ziegler. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.“
„Bestens,“ antwortete er. „Wie auf Wolken.“
Sie lächelte. „Was hätten Sie gern? Kaffee? Tee? Kakao? Saft?“
„Kaffee, bitte. Schwarz.“
„Kommt sofort.“ Sie drehte sich zu einer altmodischen Kaffeemaschine um, die gerade die letzten Tropfen heißen Wassers röchelnd in einen Filter spuckte, der tiefschwarzen Sud in eine unter ihm stehende Glaskanne entließ. Die Wirtin entnahm die Kanne, wandte sich wieder Zach zu und befüllte eine vor ihm stehende – nach seinen Maßstäben recht kleine – weiße Tasse. Der Detektiv zögerte keine Sekunde, führte sie zum Mund und leerte sie schnell mit in den Nacken gelegtem Kopf. Dann knallte er sie wie ein Schnapsglas auf den Tresen. „Rah,“ prustete er zufrieden. „Noch einen!“
Die Wirtin stand mit offenem Mund vor ihnen. Veronica brauchte nicht hinzuschauen. Sie wusste auch so, dass einige der Gäste die Szene zufällig beobachtet hatten, nun ihre Nachbarn anstießen und mit dem Finger auf Zach zeigten. Im Raum wurde es stiller. Sie kannte das schon. In aller Gemütsruhe löffelte sie ihren Joghurt, während ihr Vater der Wirtin die Tasse entgegenschob. „Nun?“, sagte er.
Verdattert füllte sie sie erneut. Wieder stürzte Zach den dampfenden Inhalt auf einen Schlag hinunter, wieder hämmerte er die Tasse aufs Holz. Kollektives Keuchen füllte die Luft. Niemand sprach ein Wort. Nach einigen Sekunden drehte ihr Vater sich dem Raum voller Menschen zu, die ihn mit aufgerissenen Augen und Mündern anstarrten, grinste schief und sagte: „Gestatten? Ludwig Lederrachen, Feuerschlucker und Schwertspucker.“
Das brach den Bann. Alle begannen gleichzeitig zu schnattern, manche lachten, einige johlten. Zach zwinkerte ihnen zu, dann wandte er sich wieder an die Wirtin. „Was gibt‘s zu essen?“
„Du kannst es wirklich nicht lassen,“ beschwerte sich Veronica, während ihr Vater herzhaft in eine Scheibe Bauernbrot biss. „Kaum sind wir angekommen, machst du uns zum Stadtgespräch.“
„Ach tu nicht so empfindlich, du genießt die Aufmerksamkeit doch auch.“
„Ich bin mir nicht sicher, dass sich Prominenz mit unserer Tätigkeit als Privatdetektive verträgt.“
„Die größten Geheimnisse und die persönlichsten Dinge versteckt man am sichersten auf einem Präsentierteller,“ entgegnete Zach. „Savile hat seine Opfer live im Fernsehen zugeführt bekommen, unter den Augen der ganzen Nation. Wer hätte vermuten wollen…“
„Ja klar. Da steht meiner Zweitkarriere als Model also nichts mehr im Weg.“ Veronica schüttelte affektiert ihr schulterlanges blondes Haar, setzte ihr süßestes Lächeln auf und klimperte mit den Augendeckeln.
Zach lachte auf. „Du lernst schnell. Der Catwalk muss allerdings warten, bis wir die Sache mit Paul hinter uns gebracht haben. Außerdem würde ich gern irgendwann einen Enkel oder zwei zu Gesicht bekommen. Ich bitte das in deine Lebensplanung einfließen zu lassen.“
Veronica hieb ihm mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. „Du hast sie wohl nicht mehr alle!“, rief sie in gespielter Entrüstung. „Hör auf zu quatschen und iss den Teller leer. In weniger als einer Stunde müssen wir in der Yewtree Road beim Notar sein.“
„Yes, Ma‘am.“
Wie sich herausstellte, hätte keine Eile bestanden. Dr. Jules R. Miller, der Notar, war länger als erwartet von einer anderen Angelegenheit in Beschlag genommen. Seine Sekretärin leitete Zach und Veronica in ein geschmackvoll dekoriertes Wartezimmer mit Blick auf den Calderstones Park. Sie hatten den Raum für sich. Außer ihnen befand sich niemand darin. An den Wänden hingen zwei Reihen gerahmter Bilder. Die obere bestand aus Aquarellen, die bekannten Fotos der Beatles nachempfunden waren: die Fab-Four mit Regenschirmen, das Cover des Albums Beatles For Sale, die Band beim Überqueren eines Zebrastreifens, oder auch John Lennon und Paul McCartney gemeinsam am Mikrofon. Die Gemälde trugen unten links jeweils den Schriftzug ‚Donna.‘ Die Künstlerin hatte die Charaktere der Musiker ziemlich gut getroffen. Die frischen, gefühlvoll auf einander abgestimmten Farben gaben dem Wartezimmer eine fröhliche Note – bis man sich näher mit der unteren Bildreihe beschäftigte. Es handelte sich um Schwarz-Weiß-Fotografien wesentlich kleineren Formats. Sie hingen direkt auf Augenhöhe. Um seine Nervosität zu dämpfen, schritt Zach der Wand entlang, von einer Aufnahme zur nächsten. Für Kunst hatte er wenig übrig. aber die Fotos faszinierten ihn. Er war mit der Musik dieser Gruppe aufgewachsen, da seine Mutter sie gern gehört hatte. Die Beatles hatten sich im Jahr vor seiner Geburt aufgelöst, waren aber nie ganz aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Die Zeitungen berichteten gelegentlich von neuen Enthüllungen oder druckten Berichte über verschollene Tonbänder; das Fernsehen zeigte bei jeder sich bietenden Gelegenheit Retrospektiven: gefüllte Stadien, schreiende Fans, winkende Pilzköpfe. Die Szenen auf den Fotos waren jedoch ganz anderer Art als die Gemälde oder die Zeitungsillustrationen. Eine düstere Aura ging von ihnen aus: Paul, der mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis bildete, die restlichen Finger abgespreizt; Stuart Sutcliffe in einem Sessel sitzend, die Merkel-Raute zeigend; Ringo, der sich ein Auge zuhielt; John, der hinter Pauls Kopf die ‚Pommesgabel‘ präsentierte; George Harrison, neben einem anonymen Grab stehend. So ging es weiter, Bild um Bild um Bild. Es handelte sich durchgehend um hochwertig aufgenommene ästhetische Motive, trotzdem war Zach sich sicher, keines von ihnen je gesehen zu haben.
Er wollte gerade Veronica darauf aufmerksam machen, als sich die Tür öffnete. Dr. Millers Sekretärin stand im Rahmen und bat sie, ihr zu folgen. Sie führte sie durch einen kurzen Gang in ein weiteres Zimmer, wo der Notar, ein schlanker älterer Herr, ihnen mit ausgestrecktem Arm entgegen schritt. Er hatte halblanges graues, leicht gewelltes Haar und trug eine Brille mit kleinen runden Gläsern auf der leicht gebogenen Nase. Mit ein bisschen Phantasie konnte man sich einem sechzigjährigen Lennon gegenüber wähnen. Miller schüttelte Zachs Hand und sagte in perfektem Oxford-Englisch: „Freut mich, Sie zu sehen, Mr Ziegler. Seien Sie meines tiefen Beileids über Ihren Verlust versichert. Ihr Stiefbruder war mehr als nur ein Mandant, er war auch mein Freund. Ich werde mein Möglichstes tun, Ihnen bei der Erledigung der Formalitäten zu helfen und meinen Beitrag zu einem angenehmen Aufenthalt in Liverpool zu leisten.“
„Vielen Dank, Dr. Miller. Dies hier“ – Zach zeigte auf Veronica, die hinter ihm in den Raum getreten war – „ist Mr Campbells Patenkind, meine Tochter Veronica.“
„Ms Ziegler, es ist mir eine Ehre.“ Der Notar deutete einen Handkuss an. Erst nach einem längeren prüfenden Blick in ihre Augen gab er die Hand wieder frei. „Setzen Sie sich doch.“
Er deutete auf zwei Stühle vor seinem ausladenden Schreibtisch und begab sich gegenüber zu einem hohen Drehsessel mit grünem Lederbezug. Vater und Tochter setzten sich, dann auch der Notar.
„Werden wir auf die Anderen warten müssen oder möchten sie nicht an der Testamentseröffnung teilnehmen?“, erkundigte sich Zach.
Die Sekretärin kam erneut herein. Sie hielt ein Tablett, auf dem sich eine Teekanne, drei Tassen und etwas Gebäck befanden. Sie setzte das Tablett auf einem Beistelltischchen ab, verteilte die Gedecke und füllte Ceylon-Tee ein. Dann verließ sie das Zimmer. Veronica warf Zach, der sich anschickte, nach seiner Tasse zu greifen, einen mahnenden Blick zu. Der Notar lehnte sich zurück. „Mr Ziegler, Sie sind der einzige Anverwandte und auch der Alleinerbe des Verstorbenen. Ich werde daher nicht viel mehr zu tun haben, als Mr Campbells letzten Willen zu verlesen und Ihre Entscheidung über Annahme oder Ausschlagung des Erbes zu beglaubigen.“
„Oh,“ sagte Zach. Er nippte etwas Tee, dann stellte er die Tasse zurück und knabberte an einem Gebäckstück.
Miller entnahm einer dünnen dunkelgrauen Kladde, die er vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte, einige zusammengeheftete Seiten, die ein notarielles Siegel trugen, und begann mit der Verlesung:
Letzter Wille und Testament
Ich, Paulus Martin Campbell, geboren am 8.April 1970 in Liverpool, erkläre hiermit im Vollbesitz meiner geistigen Fähigkeiten, meinen letzten Willen. Ich handle weder unter Druck noch Zwang und bin mir des Charakters und Umfangs meines Eigentums bewusst.
Ich verfüge, dass mein Stiefbruder, Zachary Archibald Ziegler, geboren am 23. Februar 1971 in Stuttgart, derzeitiger Wohnort London, der alleinige Nutznießer meiner Hinterlassenschaften sein soll. Diese bestehen in einem Ladengeschäft samt Einrichtung und Waren in Liverpool, meiner Wohnung samt Inhalt, meinem Wagen und meinen Bankkonten samt Inhalt.
Das Dokument bestimmte des weiteren Dr. Miller zum Vollstrecker des Testaments, erklärte, dass weder Schulden noch Außenstände vorhanden wären, und nannte eine Reihe rechtlicher Vorbehalte. Pauls Unterschrift war gefolgt von den Signaturen zweier Zeugen und der des Notars.
Als Miller zu Ende gelesen hatte, legte er das Dokument beiseite, öffnete die Kladde erneut, zog ein Papier heraus und reichte es Zach. Es handelte sich um eine Aufstellung der Vermögenswerte und sonstigen Gegenstände aus Pauls Besitz. Bei dem im Testament erwähnten Laden handelte es sich um ein Musikantiquitätengeschäft auf der Rainford Gardens. Pauls Wohnung befand sich in den beiden darüber liegenden Stockwerken. Sein Wagen war ein Austin, Baujahr 65. Auf den Konten lagen 2,4 Millionen Britische Pfund. Alles in allem war das Erbe laut amtlicher Schätzung über sieben Millionen Pfund wert.
„Heiliger Strohsack!“, stieß Zach hervor.
„Jeeesus!“, hauchte Veronica, die mitgelesen hatte.
„Die Waren und Einrichtungsgegenstände des Ladens sind im Inventarverzeichnis aufgeführt,“ erklärte der Notar. „Möchten Sie einen Blick hineinwerfen?“
„Danke, nein. Rainford Gardens hört sich idyllisch an. Ist das eine gute Lage?“, wollte ihr Vater wissen.
„Die beste; Cavern-Viertel; eine kurze Seitenstraße der Whitechapel, die in die Mathew Street mündet. Es gibt da keinen einzigen Grashalm, dafür jede Menge Sehenswürdigkeiten, Pubs und Läden in der Nachbarschaft. Wie Sie vielleicht wissen, gehört die Mathew Street zum Pflichtprogramm eines jeden Besuchers unserer Stadt.“
„Das Beatles-Museum!“, warf Veronica begeistert ein.
Miller lächelte. „Und der Cavern-Club, wo alles begonnen hat.“ Er räusperte sich. „Ich muss Sie nun fragen, ob Sie das Erbe Ihres Stiefbruders annehmen möchten, Mr Ziegler.“
„Wer könnte da nein sagen? Ich nehme es selbstverständlich an.“
„Dann unterschreiben Sie bitte diese Erklärung – ja, dort auf der Linie.“ Als Zach seinen Krakel daraufgesetzt hatte, nahm der Notar das Blatt an sich, signierte es schwungvoll und drückte sein Siegel auf. Er räumte alle Papiere wieder in die Kladde. „Ich bin sicher, Sie haben viele Fragen,“ sagte er.
„Mein Bruder und ich haben uns seit zwanzig Jahren nicht gesehen. Ich habe keine Ahnung, was er seither getan oder wie er gelebt hat. Ich weiß nicht einmal, wie er gestorben ist.“
„Ich würde mich gern mit Ihnen über Paul Campbell unterhalten. Wir standen uns wie gesagt recht nahe. Leider erwarten mich nun andere Verpflichtungen. Bitte kommen Sie morgen gegen ein Uhr noch einmal hierher. Ich händige ihnen dann sämtliche Unterlagen aus. Anschließend fahren wir in die Rainford Gardens, zur Übergabe von Laden, Wohnung und Fahrzeug.“ Er betätigte einen Knopf auf seiner Sprechanlage: „Mrs Jones.“
Er erhob sich aus dem Sessel. Vor der Tür ertönten Schritte, dann trat die Sekretärin ein. „Ja bitte?“
Miller überreichte ihr die Kladde. „Bitte führen Sie die Gäste hinaus und machen Sie die Campbell-Unterlagen bis morgen Mittag fertig.“
„Jawohl, Sir.“ Sie nickte Vater und Tochter zu, dann setzte sie sich in Richtung Tür in Bewegung.
Zach schüttelte dem Notar die Hand. „Besten Dank, Dr. Miller. Bis morgen Nachmittag!“
Miller nickte kurz. „Junge Dame,“ sagte er an Veronica gewandt, „auf hoffentlich baldiges Wiedersehen.“
Erneut dieser durchdringende Blick. Veronica schaute uneingeschüchtert zurück, lächelte, drückte fest zu und versprach: „Morgen Nachmittag.“