46) Flucht

Eine Kette mit Bügelschloss hinderte sie am Öffnen des Gatters. Zach stellte den Motor ab, ließ jedoch das Licht brennen, um die Strecke bis zum Haus zu beleuchten. In der Eile ihres Aufbruchs hatten sie vergessen, eine Taschenlampe einzupacken. Der Detektiv und die Italienerin kletterten über das niedrige Tor. Die Zufahrt lag verlassen vor ihnen. Langsam gingen sie auf das Gebäude zu, dessen einziges Stockwerk zum Teil hinter hohem Gras verborgen lag. Die Fenster waren durch schwere Holzläden verbarrikadiert. Nicht der geringste Lichtstrahl war zu sehen. Zach und Maria lauschten in die tiefe, mondlose Nacht, doch außer dem Donnern des Ozeans, der dicht hinter dem ehemaligen Bauernhof an die Klippen brandete, hörten sie keine Geräusche. Nichts deutete auf die Anwesenheit von Menschen hin. Während Zach an die Holzbohlentür klopfte, ging Maria der Fassade entlang und rief laut Kirks und Veronicas Namen. Einige Minuten später stellten sie die Versuche ein. Sie umrundeten das Haus. Maria nahm Zach bei der Hand und führte ihn zielstrebig zu einer steinernen Sitzbank, die aufs Meer hinausblickte. Dort setzten sie sich erschöpft, legten die Arme um einander und schwiegen, Kopf an Kopf.


Veronica humpelte vom Haus weg auf die beiden abgestellten Autos zu. Hinter ihrem Sportwagen stand leicht versetzt der weiße Käfer mit der Nummer LMW 28IF. Sie schaute durch das Seitenfenster. Der Schlüssel steckte. Sollte sie ihn abziehen? Nein, besser keine Spuren ihrer Anwesenheit hinterlassen. Sie hinkte zu ihrem GT. Seine Tür war noch immer unverschlossen; auch hier steckte der Schlüssel neben dem Lenkrad im Zündschloss. Sie ließ sich auf den Fahrersitz fallen, warf das aus Bettlaken improvisierte Seil, mit dem sie durch eines der unvergitterten Fenster im ersten Stock geflüchtet war, in den Fußraum neben sich und startete den Wagen. Vorsichtig steuerte sie rückwärts, dicht an dem weißen Käfer vorbei. Sie achtete peinlichst genau darauf, nur auf dem geschotterten Pfad zu fahren, um keine Reifenabdrücke zu erzeugen. Im Haus würde das Feuer ihre Kleidung und die von ihr hinterlassene DNS vernichten. Wahrscheinlich würde es auch verhindern, dass man herausfand, dass die beiden Männer durch Fremdeinwirkung gestorben waren. Sie hatte keine Gewissensbisse deswegen. Sie hatte in Notwehr gehandelt und sie hoffte außerdem, dass den beiden Folterknechte im Jenseits ihr gerechtes Karma zuteil wurde. Aber sie wollte auf gar keinen Fall mit den Organisationen zu tun bekommen, die die Verbrechen dieser Männer deckten: die Polizei ihrer Majestät und die Illuminaten. Mit unter zwanzig Meilen pro Stunde lenkte sie den Wagen über kaum befestigte Landwege zurück in die Zivilisation.


Sie mochten etwa zwanzig Minuten so auf der Bank gesessen haben. Ein leichter Wind, der nun einsetzte, trug Gischt vom Meer heran, die sie langsam einnässte. Maria berührte Zachs Wange. Mattes Sternenlicht schimmerte in ihren Augen, während die Zeit zu gerinnen schien. Ihre Gesichter näherten sich, vorsichtig, zögernd. Nasenspitzen passierten einander, strichen sacht über die warme Haut ihres Gegenübers, bis seine Lippen sich auf ihre legten.


Erst als sie die M6 Richtung Liverpool erreicht hatte, gestattet sie es sich, aufzuatmen. Nur noch etwa anderthalb Stunden, dann war sie zuhause. Doch so langsam drohte die Müdigkeit sie zu übermannen. Sie nahm die Abfahrt zum nächsten Parkplatz und stellte den GT an einer Stelle ab, an der dichtes Gebüsch die Lichter des vorbeihuschenden Verkehrs vollständig blockierte. Sie verriegelte die Türen von innen, kippte die Sitzlehne nach hinten und fiel sofort in tiefen Schlaf.


„Lass uns umkehren.“ Niemand hatte die Worte ausgesprochen, und doch waren sie sich einig gewesen, dass es an der Zeit war, nach Hause zurückzufahren. Vor der verschlossenen Haustür des alten Gemäuers konnten sie nichts mehr für Kirk tun. Sie hielt sich an einem anderen Ort auf. Wahrscheinlich war sie nie hier gewesen, und dasselbe galt für Veronica. Maria sah keinerlei Anzeichen, dass in den Monaten seit der Sonnenwendfeier jemand das Grundstück betreten hätte.

Der Mini wartete geduldig jenseits des Gatters auf ihre Rückkehr. Seine Frontscheinwerfer brannten noch genau so hell wie vor einer halben Stunde, als sie ihn verlassen hatten. Es war leichtsinnig gewesen, seine Batterie an diesem entlegenen Ort zu beanspruchen, aber er nahm es ihnen nicht übel, sondern sprang sofort an, als Maria den Zündschlüssel drehte. Sie musste über einhundert Yards zurücksetzen, bevor sie eine Stelle erreichte, an der sie den Wagen wenden konnte. Von da an legten sich ihnen – abgesehen vom erbarmungswürdigen Zustand des Feldwegs – keine weiteren Hindernisse in den Weg. Zügig erreichten sie den Motorway gen Süden. Auf halber Strecke bat Zach um eine kurze Rast. Maria steuerte die nächste Ausfahrt an, einen unbeleuchteten Parkplatz. Während der Detektiv kurz zwischen die Büsche trat, um sich zu erleichtern, streckte Marie ausgiebig die vom Fahren verkrampften Glieder. Als Zach zurückkehrte, fragte er: „Sollen wir eine halbe Stunde rasten oder schaffst du den restlichen Weg?“

„Ich halte durch. Lass uns weiterfahren.“

Also stiegen sie wieder ein. Maria startete den Wagen, drückte sacht das Gaspedal und lenkte den Wagen zur M6 zurück. „Halt!“, rief Zach plötzlich. Hektisch stieg sie in die Eisen. Der Mini kam mit quietschenden Reifen zum Stehen. Zach riss die Beifahrertür auf. Schnell legte er die wenigen Schritte bis zu einem orange lackierten Sportwagen zurück, der am Straßenrand abgestellt war, brachte den Kopf ganz nah an dessen Seitenscheibe und schaute hinein. Eine blonde junge Frau starrte halb verschlafen, halb erschreckt zurück – Veronica.

21) Ankunft in Wallace Castle

Als sie Liverpool hinter sich gelassen hatten und einer kurvigen Straßen in nördlicher Richtung folgten, hatte Veronica wieder größere Freude hinter dem Steuer. Sie mochte den Stadtverkehr überhaupt nicht. Landstraßen und Autobahnen gaben dem GT mehr Gelegenheit, seine Fahreigenschaften zu präsentieren. Manche nannten ihn eine Heckschleuder, aber Veronica fand, es mangelte jenen Leuten an Feingefühl beim Spiel mit Lenkrad und Pedalen. Jedes Vehikel besaß seine eigene Physik und jede Straße ihre eigenen Herausforderungen. Dass die Eigenschaften einer Straße beim Fahren berücksichtigt werden mussten, verstand sich von selbst. Was also war das Problem mit den spezifischen Eigenschaften dieses Autos? Sie erspähte eine enge Biegung in einiger Entfernung, ging vom Gas und schaltete einen Gang hinunter. Während sie mit genau der richtigen Geschwindigkeit und nur der Ahnung quietschender Reifen durch die Kurve rollte, um danach sofort wieder zu beschleunigen, dachte sie, dass sie dieses Gefühl wirklichkeitsnahen Reisens, das ihr der GT gewährte, lieber mit einem Fahrrad tauschen würde als mit elektronisch betreutem Fahren.

Mit wenigen Ausnahmen hielten die Leute sie und ihren Vater für Sonderlinge, weil sie Dinge gern selbst taten, Gegenstände lieber selbst reparierten und Zusammenhänge so oft als möglich selbst ergründeten. Die beiden Detektive fühlten sich unwohl, wenn Bildschirme oder staatlich zertifizierte Experten sie von den Schrauben und Zahnrädern eines Getriebes fernhielten. Sich in Fremdsteuerung, egal wie geringfügig, zu begeben, machte Menschen faul – und weich in der Birne, fand Veronica. Elektronische Unterstützung, Krankenkassen, Lohnarbeit, Expertentum oder die öffentliche Meinung konnten eine ebenso unwiderstehliche Abhängigkeit bewirken wie Tabak, Alkohol oder Drogen. Letztlich erzeugte jedes solche Verhältnis eine Daseinsunfähigkeit, die den Benutzer direkt in die Ketten von geld- und machthungrigen Strukturen führte. Wie viele Menschen verstanden, dass der Weg zu einem angestrebten Ziel genauso Teil des Lebens war und mindestens so viel Freude bereitete, wie dort angekommen zu sein? Wie viele schafften es, das Klingeln des Telefons zu missachten? Wie viele hielten es wochenlang ohne Internet aus? Wer traute sich zu, seinem Bauchgefühl zu glauben statt der Diagnose eines Arztes? Wer leistete es sich, dem Chef, dem Nachbar, dem Lebenspartner, der Mehrheitsmeinung auch dann zu widersprechen, wenn das potenziell mit Opfern verbunden war? – Eben!

„Ich glaube, wir haben die Adresse gleich erreicht. Das Gebäude dort drüben auf dem Hügel dürfte Wallace Castle sein“, unterbrach ihr Vater den Gedankengang. „Mann, das ist keine Villa sondern ein Palast.“

Die Fassade der dreiflügeligen Anlage in neugotischem Stil bestand in der Hauptsache aus großen Maßwerkfenstern und war von Zinnen bekrönt. An allen Ecken des Gemäuers ragten filigrane Erker heraus, die sich turmartig über der Traufhöhe fortsetzten. Über den glänzenden Dachpfannen erhoben sich zahlreiche Schornsteine. Das Gebäude war von einem Park, der Park von einem Wäldchen, und das Wäldchen von einer hohen Mauer umgeben. Wallace Castle überblickte das Tal, durch das die alte Handelsstraße von Liverpool ins schottische Hochland verlief, und auf der sie sich ihm näherten. Sie brauchten mehr als fünf Minuten, um das kunstvoll geschmiedete Tor in der Mauer zu erreichen, durch das der Weg zum Schloss führte. Als der Wagen davor zum Stehen kam, stieg Zach aus, um auf ihre Ankunft aufmerksam zu machen, doch er konnte keine Klingel entdecken. Ein rotes Blinken schräg über ihm verriet die Position einer aktiven Überwachungskamera. Der Detektiv hatte sie kaum entdeckt, als sich auch schon die beiden Flügel des Tors nach rechts und links zurückzogen.

Zach stieg wieder ein. Er und Veronica blickten einander an. Sie zuckte die Achseln und steuerte den Sportwagen langsam durch die Öffnung auf eine Pflasterstraße, die sich in langen Kurven durch den Wald nach oben wand. Als sie die letzten Bäume passiert hatten, raubte die Kulisse ihnen für einen Moment den Atem. Niedere, präzise getrimmte Büsche formten im Verband mit Blumenrabatten einen Park voller Labyrinthe, Muster und Symbole. Mehr als einen flüchtigen Blick auf den französischen Garten gestattete die Ehrfurcht gebietende Prachtfassade von Wallace Castle, der sie sich jetzt näherten, jedoch nicht. Die Zufahrt führte nun genau auf die Mittelachse des Schlosses zu. Zwischen den beiden Gebäudeflügeln teilte sie sich in zwei Arme, die unter dem Dach einer Vorhalle wieder zusammenfanden. Veronica nahm den linken und brachte den GT direkt vor der Fassade der Halle zum Stehen. Den Platz jenseits der spitzbogenförmigen Durchfahrt, direkt vor dem Haupteingang, belegte bereits ein Auto, mit dem sie, weil es an diesem Ort völlig unstandesgemäß wirkte, nicht gerechnet hätten. Dem auf Hochglanz polierten makellosen weißen Lack des Volkswagens zufolge hätte man zwar ein Fahrzeug frisch vom Band vermuten können, aber natürlich wurden heutzutage keine Käfer mehr hergestellt.

Erneut schauten der Detektiv und seine Tochter sich gegenseitig an. „Er hat wohl weiteren Besuch“, vermutete Zach. Veronica zog den Zündschlüssel ab. Sie öffnete die Fahrertür und stieg aus. Auch Zach stieg aus. Sie gingen entlang der eleganten Motorhaube des GT auf den Eingang zu. Amüsiert betrachteten sie im Vorbeigehen das eiförmige Fahrzeug, dessentwegen sie draußen parken mussten und das hier so völlig deplatziert wirkte. Zum Glück regnete es nicht. Routinemäßig musterte Zach das gelbe Nummernschild – eine Marotte, die ihm mehr als ein Mal geholfen hatte, Fälle zu lösen. „LMW 281F“, sprach Veronica aus, was sein Geist gerade abzuspeichern im Begriff war.

Es freute ihn, wie gut sie ihr Handwerk beherrschte. Als er selbst dreiundzwanzig Jahre alt gewesen war, hatte er nicht nur einen Gutteil seiner Schulbildung vergessen; er war mehr an Tagträumen, Literatur und nächtlichen Diskussionen mit Kommilitonen interessiert gewesen als an seiner Ausbildung. Er hatte seine Jugend genossen, wie es ihm in den Sinn gekommen war: pflichtvergessen. Manchmal befürchtete, dass er Veronica durch die frühe Einbindung in die Detektei die Möglichkeit genommen hatte, sich wie andere Mädchen ihres Alters zu entwickeln. Aber so wenig er selbst sich als junger Mann für Sex & Drogen & Rock‘n‘Roll interessiert hatte, kümmerte sie sich um Boygroups, Frauenabende oder den Austausch von Kochrezepten. Es hatte ihr Spaß gemacht, Logikrätsel zu knacken, mit den Harley-Freaks an Motorrädern herumzuschrauben und ihrem Vater einige Routinetätigkeiten abzunehmen. Sie besaß Talent, das hatte er schnell bemerkt. Als sie ihre pubertäre Unsicherheit hinter sich gelassen hatte, entwickelte sie außerdem eine unkomplizierte Art des Umgangs, die es anderen leicht machte, ihr Vertrauen entgegenzubringen.

Seite an Seite näherten sie sich nun einer schweren, mit kunstvollen Schnitzereien ornamentierten Holztür. Zach betätigte den auf Brusthöhe daran befestigten Klopfer, einen dicken, von einem Adlerschnabel gehaltenen Bronzering, den er gegen eine metallene Schlagfläche hämmerte. Einige Sekunden später hörten sie, wie ein Riegel zurückgezogen wurde. Langsam schwang die Tür auf. In der Öffnung stand eine Person, die sie als Butler identifizierten. „Guten Tag. Sie wünschen?“

Zach antwortete: „Wir sind Veronica und Zachary Ziegler, Inhaber von Campbell‘s Fab Store. Mr Kite hat uns für elf Uhr eingeladen.“ Er zog die Visitenkarte heraus, die ‚Melone‘ ihm überreicht hatte, und hielt sie dem Butler unter die Nase.

Dieser nickte. Er bedeutete ihnen einzutreten. Während sie in eine große, von zahlreichen Säulen bevölkerte Eingangshalle schritten, verbeugte sich der Butler leicht. Dann schloss er die Tür wieder. „Bitte folgen Sie mir“, sagte er und führte sie über einen schachbrettartig gemusterten Boden zu einer prunkvollen Treppe, über die sie ins nächste Stockwerk stiegen. Er ließ sie direkt gegenüber in einen Salon ein, dessen Wände mit alten Veduten bedeckt waren. In der Mitte standen fünf bequem aussehende armlehnenbewehrte Sessel mit Seidenpolstern um einen pentagonförmigen Tisch. An den Schmalseiten rechts und links befanden sich Feuerplätze, daneben jeweils eine kleine Tür. Gegenüber dem Eingang gewährten große Maßwerkfenster den Blick auf das Dach der Vorhalle, den Garten und den Wald dahinter. Über dessen Wipfel hinweg konnten die Detektive im atmosphärischen Dunst undeutlich Liverpool am Horizont ausmachen. „Bitte nehmen Sie Platz“, offerierte der Butler. „Der Hausherr wird Sie zu sich rufen, sobald er eine dringende Angelegenheit erledigt hat. Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen?“

Zach und Veronica wechselten einen kurzen Blick und nickten einander zu. „Fruchtsaft bitte“, orderte Veronica. Zach zeigte durch eine Handgeste an, dass er sich dem Wunsch seiner Tochter anschloss. Der Mann verbeugte sich erneut und schritt dann steifen Schrittes hinaus. Zach hob eine Augenbraue und trat an eines der Fenster. Veronica gesellte sich zu ihm. „Wird er uns warten lassen?“, fragte sie, während sie die Symbole im Garten zu erkennen versuchte. Ihr Blickwinkel war ungünstig, das Fenster zu niedrig gelegen, das Gelände leicht abschüssig. Sie konnte ein Labyrinth in Form eines Keltenkreuzes ausmachen.

„Nachdem ich am Sonntag einen Mangel an Respekt gezeigt habe, müssen wir damit rechnen. Außerdem haben es hohe Herrschaften selten eilig, das Fußvolk zu sehen. Ich hoffe, es bringt deinen Terminkalender nicht gar zu sehr durcheinander“, witzelte Zach.

„Keineswegs. Die Aussicht ist besser als im Hinterzimmer der Rainford Gardens, und die Sessel sind gemütlicher als im Wartezimmer meines Zahnarztes. Hier halte ich es eine Weile aus.“ Sie signalisierte durch vierfaches Blinzeln, dass sie beobachtet wurden. Zach legte den Kopf schief, sah zu Boden, dann auf ihre Hände. Die Finger der jungen Frau durchliefen einige schnelle aber unauffällige Bewegungen: „Eine Kamera; über uns; am Fenster.“ Sie lehnte sich an eine der steinernen Maßwerkstützen des Fensters und blickte scheinbar unbefangen auf das Dach ihres orange lackierten Sportwagens hinab. Sie winkelte ihr rechtes Bein an, die Zehenspitze ihres Cowboystiefels auf den Boden gestellt: ein unhörbares „Hier.“