5) Kraut wider Willen

Auf dem Weg nach oben mussten die drei am Fuß der Treppe einen größeren Fleck eingetrockneter dunkler Flüssigkeit überqueren. Am Boden und auf den ersten drei Stufen waren mit weißer Kreide die Umrisse einer Person markiert. Sie stakten mit weiten Schritten darüber hinweg, dann eilten sie den Rest des Weges hinauf. Die Wohnung erstreckte sich über zwei Stockwerke. Sie zeigte sich so unspektakulär wie der Laden darunter. Die Wände waren in angenehmen blassen Pastellfarben tapeziert, die Möblierung war schlicht aber edel. Weder schien die Wohnung überladen noch wirkte sie spartanisch; sie stellte in ihrer unaufdringlichen Schönheit ein Meisterwerk dar, für das die Welt edelstahlgerahmten Glases einerseits und skandinavischer Billigmöbel andererseits keine Sinne besaß. Zach und Veronica sahen sich befangen um, während der Notar eine Tür nach der anderen öffnete, damit sie hineinschauen konnten. Dann entschuldigte er sich noch einmal bei ihnen; die Pflicht rufe ihn nun. Gemeinsam begaben sie sich wieder in den Laden hinunter.

„Wir danken Ihnen für Ihre Bemühungen,“ ließ Zach ihn wissen, als er ihm die Hand schüttelte. „Ich möchte Sie wirklich nicht länger aufhalten, aber eine Frage hätte ich noch: Wo liegt mein Stiefbruder begraben?“

„Mr Campbell befindet sich in der forensischen Pathologie. Ich erhielt gestern Nachricht von der Mordkommission, dass sein Leichnam nun zur Bestattung freigegeben sei. Entsprechend seiner Anweisungen habe ich die Einäscherung und anschließende Beisetzung auf dem Toxteth Park Cemetary veranlasst. Darf ich Ihnen die Einladung an diese Adresse hier schicken oder haben Sie vor, nach London zurückzukehren?“

Veronica und Zach schauten einander an. Auf ein unauffälliges Handzeichen seiner Tochter hin erklärte der Detektiv, dass sie vorerst in Liverpool bleiben würden und ihm bescheid gäben, falls sie es sich anders überlegen sollten. „Dürfen wir Sie eventuell noch einmal mit Fragen belästigen? Sie wissen schon – es ist immer von Vorteil, wenn man jemand kennt, der mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut ist.“

„Selbstverständlich, Mr Ziegler. Jederzeit. Auf Wiedersehen! Goodbye, Ms Veronica.“

Der Notar hob den Schlüsselbund auf Augenhöhe, dann legte er ihn auf die Ladentheke. Er ging durch die Fronttür, wandte sich nach rechts und verschmolz innerhalb weniger Sekunden mit den seit ihrem Eintreffen merklich zahlreicher gewordenen Fußgängern.

Schweigen breitete sich aus. Veronica beäugte kurz den Postkartenständer, bevor sie zum Bücherregal wanderte, um dessen Inhalt mit schief gelegtem Kopf zu inspizieren. Zach blätterte ohne großes Interesse durch die Vinylscheiben in den Sortierkästen. Nach einer Weile sagte er: „Hast du auch so einen Durst? Komm, lass uns irgendwo hingehen.“

Ein breites Grinsen legte sich auf Veronicas Gesicht. „Zwei Dumme – ein Gedanke,“ stimmte sie zu. „Ich habe auf dem Weg hierher einen Irish Pub gesehen.“


Es wurde dann doch nicht der Pub. Sie ließen sich von Touristen und Feierabendpendlern durch die Fußgängerzone des Cavern-Viertels treiben, vorbei an Restaurants, Andenkenläden, Bekleidungshändlern und um diese Uhrzeit geschlossenen Nachtbars. Schließlich, als sie genug frische Luft getankt hatten, betraten sie eine italienische Gaststätte. Sie nahmen einen Tisch direkt an der Fensterfront, von wo sie das Geschehen draußen weiter verfolgen konnten.

„Die Atmosphäre in Liverpool gefällt mir,“ verkündete Zach.

„Ja, man könnte sich daran gewöhnen. Hier in der Altstadt wird man sein Geld aber schneller los, als wieder welches hereinkommt,“ erwiderte Veronica.

„Das ist nun buchstäblich ein Luxusproblem, für dessen Lösung wir uns jahrelang Zeit nehmen können.“

„Wenn wir wie Rockstars in Hotels wohnen und jeden Abend auf einer Flaniermeile essen gehen, wird es nicht übermäßig lang dauern, Paps. Wir sollten behutsam damit umgehen und uns gut überlegen, wofür wir es ausgeben.“

„Ich bin sehr froh, eine solch verantwortungsvolle Tochter großgezogen zu haben. Aber wir sind gerade erst angekommen. Dein Onkel Paul hat uns ein unglaublich großzügiges Geschenk hinterlassen. Gleichzeitig verbinden sich damit eine ganze Reihe Verpflichtungen und Probleme. Ich denke, es steht uns zu, das Notwendige mit dem Angenehmen zu verbinden.“

Eine etwa fünfzigjährige Frau erschien mit einer Wasserkaraffe und Gläsern, schenkte ein und reichte ihnen die Karte.

„Ob sie auch Käsespätzle haben?“, scherzte Zach auf Deutsch.

„Dad! Mach jetzt keine Faxen. Wir hatten Aufregung genug.“

„Noi, hemmer net,“ mischte sich die Kellnerin in breitestem Schwäbisch ein, „abr probierat Se onsre Käs-Schbageddie; die send fascht genau so guat.“

Vater und Tochter schauten ihr erstaunt ins Gesicht, dann brachen sie in prustendes Lachen aus. Gäste an den Nachbartischen drehten sich neugierig zu ihnen um.

„Von Timbuktu bis Tokyo – die Schwaben sind auch überall anzutreffen,“ frotzelte Zach. „Leider bin ich selbst keiner. Nur im Ländle geboren. Wir unterhalten uns besser auf Hochdeutsch.“

„Kann ich nicht,“ gab die Kellnerin in aufgesetzt königlichem Englisch zurück. Sie grinste breit. „Ich bin übrigens auch keine Schwäbin. Meine Großeltern kamen in den 1960ern als Gastarbeiter von Milano nach Sindelfingen.“

„Und nun sind sie keine Engländerin,“ spann Veronica den Faden weiter.

„Ganz recht. Hier bin ich ‚die Kraut‘, aber das macht mich zu etwas Liebenswertem in den Augen der Leute. In Württemberg wären meine Kinder als Reingeschmeckte aufgewachsen. Im Übrigen liegt Liverpool nicht gerade in Afrika. Hier leben die Leute eben so gut wie im Ländle.“

Zach nickte wissend. Veronica schenkte der Frau ein warmes Lächeln. Diese nahm nun Haltung an, brachte ihren Bestellblock in Anschlag und erkundigte sich in gestelztem Englisch: „Wünscht der geschätzte Herr die Käse-Spaghetti zu ordern?“

„Gerne. Bitte mit geschmelzten Zwiebeln oben drauf. Und ein Bier dazu.“

„Sehr wohl, Sir.“

Veronica bestellte Lasagna und ließ sich Wein empfehlen. Dann verließ die Kellnerin den Tisch.

Zach wechselte das Thema. „Was hältst du von dem guten Doktor?“, erkundigte er sich.

„Miller? Ich weiß nicht. Hast du bemerkt, wie er mich anschaut?“

„Er scheint ein Mensch zu sein, der hinter Fassaden zu sehen versteht.“

„Das ging für meinen Geschmack ein wenig zu tief.“

„Na komm, er blieb streng auf dein Gesicht fixiert. Und du hast dich sehr gut gehalten. Ich denke, du hast den Test bestanden.“

„Den Test?“

„Ich vermute, er versucht herauszufinden, ob wir das Zeug haben, an Pauls Stelle zu treten.“

„Da hege ich so meine Zweifel,“ sagte Veronica. „Keiner von uns kann eine massenproduzierte Schallplatte von einer Rarität unterscheiden, geschweige denn die Geschichte der Beatles in allen Details wiedergeben. ‚In Sammlerkreisen steht die Nummer ‚LGF 969D‘ für einen Wagen, der vor vielen Jahren spurlos von der Bildfläche verschwunden ist‘,“ äffte sie den belehrenden Tonfall des Notars nach.

„696. Lennons Zulassung lautete LGF 696D.“

Veronica verdrehte die Augen.

„Gib dem Mann eine Chance. Der Verlust von Paul war für ihn größer als für uns, das Trostpflaster dagegen bedeutend kleiner. Und unterschätze deinen alten Herrn nicht. Vielleicht finde ich einen Weg, wie wir den Laden weiterlaufen lassen können. Auf seine besondere Weise scheint er für das kulturelle Leben hier ähnlich wichtig zu sein wie der Cavern-Club.“

„Ich kann‘s nicht erklären, weshalb, aber ich habe ein komisches Bauchgefühl bei Miller.“

„Ich möchte mich bald etwas ausführlicher mit ihm über Paul unterhalten. Vielleicht nach der Beerdigung. Ich habe immer noch keine Ahnung, wie er zu dem Mann geworden ist, als der er starb, was ihn bewegt hat, wer seine Freunde waren und all das. Was wir über sein Ende in Erfahrung gebracht haben, ist ebenfalls nicht gerade viel,“ lamentierte Zach.

Veronica griff nach seiner Hand. „Dann lass uns doch in den nächsten Tagen mit der Polizei reden. Die können uns sicher mehr sagen.“

„Gute Idee.“

Die Kellnerin servierte ihre Getränke, lächelte ihnen zu und verkündete, dass das Essen nicht lange auf sich warten lassen würde. Die Stimmung erholte sich deutlich. Sie speisten genussvoll und redeten bis in die späten Abendstunden. Als sie sich auf den Rückweg zum Hotel begaben, herrschte in Liverpools Gassen bereits feuchtfröhliches Partygedränge.

4) Campbell’s Fab Store

Nachdem Zach und Veronica die Fassung wiedererlangt hatten, baten sie Dr. Miller, die näheren Umstände zu erläutern. Der Notar verschloss die Garage sorgfältig, dann führte er die Zieglers durch das Treppenhaus wieder in die Fußgängerzone. Auf dem Weg zum Laden erklärte er ihnen, was geschehen war.

„Mr Campbell schloss am 30. April, einem Samstag, den Laden kurz nach acht Uhr abends zum letzten Mal ab. Er hat die Kasse abgerechnet, das Warenbuch aktualisiert und begab sich anschließend über die interne Stiege nach oben in seine Wohnung. Soweit die Polizei ermitteln konnte, handelte es sich um einen ereignislosen Tag ohne größere Umsätze. Er hat ein paar Vinylscheiben und Andenken verkauft. In den frühen Morgenstunden kam es zu einer Auseinandersetzung mit einer unbekannten Person. Mr Campbell erlitt eine Reihe von Stichwunden und fiel am Fuß der Treppe zu Boden, wo er verstarb. Vom Täter fehlt jede Spur. Die Polizei glaubt, dass Ihr Verwandter einen Einbrecher überrascht hat.“

Miller blieb vor einem schmalen Gebäude stehen: eine fünf bis sechs Meter lange Fensterfront mit der Aufschrift Campbell‘s Fab Store, daneben eine Eingangstür, beides eingefasst von hübsch geschreinerten, kastanienbraun lackierten Holzrahmen. „Hier sind wir.“ Er zog den Schlüsselbund heraus, den sie schon in der Garage gesehen hatten.

Veronica musterte Fenster- und Türrahmen oberflächlich. „Sieht nicht aus, als wäre hier unlängst jemand eingebrochen. Die Farbe ist alt und zeigt lediglich zu erwartende Spuren von Abnutzung. Wie kam der Täter hinein?“

„Das ist unklar. Ich vermute, er wird Spezialbesteck benutzt haben.“

„Was ist mit der Videoüberwachung und der Alarmanlage?“ Zach zeigte auf technische Installationen über der Tür.

„Kein brauchbares Bildmaterial. Eine schattenhafte Figur trat in den Eingang, wo sie dem Sichtbereich der Außenkamera entzogen war. Ein Alarm wurde nicht ausgelöst. Zwanzig Minuten später verlässt sie das Lokal auf demselben Weg.“

„Das heißt, prinzipiell könnte Mr Campbell die Person eingelassen haben?“, erkundigte sich Veronica.

„Da bin ich überfragt. Vielleicht,“ sinnierte Miller. „Am besten lassen Sie sich den Polizeibericht zeigen. Ich kenne lediglich die Zeitungsberichte, denn ich war zu sehr von Mr Campbells Tod mitgenommen und darüber hinaus auch damit beschäftigt, alles bei einem Ableben Notwendige zu veranlassen.“

Zach nickte verständnisvoll. „Kann ich gut nachvollziehen. Ich bin selbst schockiert.“

Der Notar hatte den passenden Schlüssel identifiziert, steckte ihn ins Schloss der Ladentür und öffnete sie. Eine Glocke bimmelte. „Bitteschön. Treten Sie ein,“ sagte er, während er voranging.

Veronica und Zach folgten ihm in den Verkaufsraum. Die Helligkeit, welche das Schaufenster hereinließ, gab sich schon nach wenigen Schritten einem trüben Dämmerlicht geschlagen. Miller betätigte einen Schalter, Lampen flammten auf. Nun konnten sie sehen, dass sie höchstens fünfzehn Meter von der hinteren Wand trennten, in die eine massiv wirkende Tür eingelassen war. Es gab keine weiteren Öffnungen. Direkt hinter dem Eingang stand eine kleine Holztheke, darauf eine altertümliche Registrierkasse, ein klobiger schwarzer Fernsprecher mit Wählrad und ein Schallplattenspieler. Auch der Rest des Ladens war mit Holzmöbeln ausgestattet, die alt aber gut in Schuss gehalten waren: prall bestückte Bücherregale, Sortierkästen voller Schallplatten, eine Garderobe behängt mit extravaganter Bühnenkleidung, Tische voller Kleinkram, der sich als Instrumentenzubehör herausstellte, zwei Postkartenständer…

„Ich bin zwar nicht vom Fach, aber sehe hier nur gewöhnliche Musikantiquitäten“, stellte Veronica fest. „Kaum eines Verbrechens wert, wenn Sie mich fragen.“

„Das täuscht. Der Wert der in diesem Raum enthaltenen Gegenstände dürfte ein Mehrfaches Ihres gemeinsamen Jahreseinkommens betragen. Aber Sie haben natürlich insofern recht, dass man bei mangelnder Fachkenntnis wohl ziemlich schwer schleppen müsste, damit sich das Verbrechen lohnt. Man muss schon wissen, wo man hingreift.“

„Wo lagern denn die außergewöhnlichen Stücke, die im Inventar aufgelistet sind?“

„Im Hinterzimmer gibt es eine mit einer Stahltür versehene Nische, eine ehemalige Besenkammer, möchte ich meinen. Dort befindet sich auch der Aufgang zur Wohnung.“

„Die Treppe, auf der Onkel Paul gefunden wurde?“

Jules R. Miller nickte.

„Mit anderen Worten hat der nächtliche Besucher nicht nur das Sicherheitsschloss der Fronttür geknackt, sondern auch die Hintertür“, folgerte Zach. „Gilt dasselbe für den Besen-Safe?“

„Mr Campbell muss ihn erwischt haben, bevor der Einbrecher den Safe öffnen konnte. Wenn die Inventarlisten auf neuestem Stand waren – und daran habe ich keinen Zweifel – dann ging der Täter mit nahezu leeren Händen nach Hause. Es fehlen lediglich etwa zweitausend Pfund aus der Tageskasse, Wechselgeld, mehr oder weniger, und irgendein Manuskript, das wohl auf oder unter dem Tresen gelegen haben muss.“

„Weiß nicht,“ murrte Zach, „das kommt mir alles Spanisch vor. Ergibt das für dich Sinn, Veronica?“

„Man kann sich so manche Geschichte ausdenken, die darauf einen Reim ergibt. Wie wär‘s damit: Der Täter täuscht einen Notfall vor und erschleicht sich so Zutritt zum Verkaufsraum. Die Tür zum Hinterzimmer stand offen, weil Onkel Paul hindurchgegangen ist. Der Täter will ihn zwingen, den Safe zu öffnen, es kommt zur Auseinandersetzung. Danach gerät der Täter in Panik, schnappt sich das Geld und steckt das Manuskript ein, das er zufällig bemerkt, jedoch ohne zu wissen, um was es sich handelt. Dann flüchtet er. Derlei geschieht zwar meistens an Tankstellen oder in Alkoholläden, und statt des Stapels Papier geht eine Stange Zigaretten mit, aber Menschen sind schon für weniger als zweitausend Pfund umgebracht worden.“

„Alles Spekulation. Statten wir besser dem Polizeirevier einen Besuch ab.“

Miller, der dem Wortwechsel mit unbewegter Miene gefolgt war, meldete sich zu Wort: „Faszinierend. Sie haben einen scharfen Verstand, junge Dame, und ich würde mich nur zu gern noch ein Weilchen mit Ihnen über die Sache unterhalten. Leider ist meine Zeit auch heute begrenzt. Daher möchte ich vorschlagen, dass ich Ihnen den Rest des Gebäudes zeige, wenn Sie erlauben.“

„Selbstverständlich,“ stimmte Zach zu. „Wo befindet sich die sichere Kammer?“

„Kommen Sie.“

Der Notar geleitete sie durch die Hintertür in einen weiteren fensterlosen Raum. Nachdem er den Lichtschalter betätigt hatte, sah man, dass das Zimmer ein zweisitziges Sofa, einen dazu passenden Sessel, einen Couchtisch, sowie eine kleine Bar mit Kühlschrank und Kaffeemaschine enthielt. In einer Ecke führte eine steile Holztreppe in den Oberstock. Eine andere Ecke war abgemauert und mit einer stabilen Metalltür verschlossen.

„Der Pausenraum. Ihr Verwandter hat hier Gäste empfangen – Freunde, potenzielle Kunden, Vertreter.“ Miller trat vor die Metalltür, wählte einen Schlüssel und steckte ihn ins Schloss. Nach zwei Umdrehungen, die leise vertrauenerweckende Geräusche verursachten, klickte es satt. Miller zog am Griff. Die gewichtige und in der Tat beeindruckend massive Tür schwang auf. Die im Inventar erwähnten Gegenstände von besonderem Wert – Perücke, Gitarre und Zombie-Maske sowie einige Schallplatten, Tonbandrollen, Kleidungsstücke und Handschriften – lagen in Regalen, die eine Kammer von weniger als dreißig Quadratfuß umgaben. Daneben sah man auch kleinere Teile, die aus dem persönlichen Besitz berühmter Personen stammen mussten: ein kunstvoll ziselierter Goldring, eine perlmuttbesetzte Zigarettendose, zwei Meerschaumpfeifen, ein Teeservice und anderes mehr. „Hier verwahrte Paul… Mr Campbell Objekte, für deren Beschaffung er von seinen Kunden beauftragt worden ist.“

„…beziehungsweise solche Töpfe, die geduldig auf das Eintreffen des passenden Deckels warteten.“

„Welch ausgezeichnete Metapher; ganz recht, Ms Ziegler. Das Warenbuch wird Ihnen verraten, worum es sich jeweils handelt. Die Namen der Auftraggeber, sofern es solche gibt, sind im Buch verzeichnet. Ich empfehle Ihnen, mit den Kunden Kontakt aufzunehmen, um das Kapital zu verflüssigen und das Diebstahlrisiko zu minimieren. Vielleicht kommt der Einbrecher ja wieder, wenn etwas Gras über die Sache gewachsen ist. Leider notierte Mr Campbell Aufträge von Stammkunden ohne Adressdaten, und obendrein unter ihren Pseudonymen.“

„Pseudonyme? Weshalb das denn? Handelt es sich um Hehlerware?“, wollte Zach wissen.

Der Notar zog eine Grimasse. „Soweit ich Mr Campbell kannte, arbeitete er sauber. Natürlich gibt es Sammler, deren Enthusiasmus für ihr Steckenpferd… sagen wir, mit einer recht liberalen Auslegung der britischen Rechtsnormen einhergeht. Aber das war, wie erwähnt, nicht sein Metier.“

„Was war denn sein Metier?“, hakte Veronica nach.

„Die Musikszene Liverpools, Mersey Beat, das Cavern-Viertel, und vor allem die Beatles. Mr Campbell hat durch geschickte An- und Verkäufe von außergewöhnlichen Beatles-Fundstücken ein kleines Vermögen verdient. Er hatte in der Szene den Ruf, darüber hinaus fast jedes beliebige Objekt auf Wunsch beschaffen zu können. Hier in der Stadt sind wir stolz auf unsere Pilzköpfe; wir versuchen, die besten Stücke im Schoß der Familie zu behalten. Paul… hm… Mr Campbell hat maßgeblich dazu beigetragen, dass das möglich war. Der internationale Konkurrenzdruck ist enorm, wie man an den Auktionspreisen ablesen kann. Dennoch findet man ein halbes Dutzend der bemerkenswertesten Beatles-Sammlungen in Liverpool und der näheren Umgebung. Die Eigentümer kennen einander und treffen sich regelmäßig. Sie identifizieren sich mit ihren Idolen und haben sich entsprechende Spitznamen zugelegt.“

„Waren Sie Kunde bei meinem Stiefbruder? Sind Sie ebenfalls Sammler?“

„In sehr bescheidenem Maße. Wir alle hier pflegen unsere Nostalgie. Mir bedeutete die Fachsimpelei mit Mr Campbell mehr als der Besitz von materiellem Tand. Es war in besonderem Maße aufregend, seine Schritte mitzuverfolgen, wenn er wieder eines dieser extrem raren Objekt zu finden versuchte.“ Der Notar schien einen Moment in Erinnerungen zu schwelgen, dann sagte er: „Schauen wir uns die Wohnung an. Es wird bald Zeit für mich, die Rückfahrt anzutreten.“

3) Tiefgarage

„Zwick mich!“, sagte Veronica, als sie wieder im Wagen saßen, die Yewtree Road verließen und nach Süden zu ihrem Hotel steuerten. „Autsch!“, kreischte sie. Der GT vollführte einen kleinen Schlenker. Ein entgegenkommendes Auto blendete die Scheinwerfer auf. „Das ist ja ganz und gar unglaublich.“

„Bis letzte Woche bist du in ausgelatschten Tennisschuhen herumgerannt, und plötzlich kannst du dir so viele Stöckels leisten wie einst Imelda Marcos,“ lachte Zach.

„Und genauso unverdient. Bis letzte Woche kannte ich keinen Onkel Paul; du hast dich im Streit von ihm getrennt, ihn seit zwanzig Jahren nicht gesehen, weißt weder, wie er gestorben ist noch wo er begraben liegt, aber von einem Tag auf den anderen macht er dich zum Millionär. Das ist ein kleines bisschen beunruhigend, oder?“

„Nur so lange, bis diese Fragen geklärt sind. Dr. Miller wird uns schon morgen alles erzählen, und dann…“

„Und dann was?“, bohrte Veronica. „Hängst du unsere Detektei an den Nagel, um alte Autogrammkarten berühmter Musiker an Touristen in Hawaii-Hemden zu verkaufen?“

„Wohl kaum. Dafür fehlt mir die Geduld. Andererseits…“ Er überlegte. „Paul wird sein Vermögen sicher nicht mit Kleinkram gemacht haben. Die Immobilie mitten im Stadtzentrum war sicher enorm teuer. Ihr Kauf hätte sich nur gelohnt, wenn der Laden auch in großem Maßstab Gewinn abzuwerfen versprach. Er wird Raritäten und Unikate gehandelt haben: Cobains letzte Gitarre, die Kulissen vom Pepper-Album der Beatles oder irgendwelche Beethoven-Manuskripte. Dafür spricht auch, dass sich der geschätzte Verkaufswert der noch vorhandenen Waren auf über drei Millionen Pfund beläuft.“

„Man muss sich in der Materie gut auskennen, um aus altem Schrott Geld herauszuschlagen,“ wandte Veronica ein. „Im Gegensatz zu Briefmarken gibt es für seltene Memorabilien bestimmt keine Kataloge oder Preislisten. Du brauchst eine gute Nase, um geeignetes Material aufzuspüren und musst Kontakte zu Sammlern pflegen, um abschätzen zu können, was man an wen für wie viel Kohle weiterverscherbeln kann. Onkel Paul hatte von seiner Zeit beim Sender her bestimmt erstklassige Verbindungen in die Szene. Wir hingegen werden jemand damit beauftragen müssen, den Laden weiterzuführen oder abzuwickeln, sonst verwandelt sich diese Goldgrube in ein schwarzes Loch.“

Zach nickte. „Da hast du wahrscheinlich recht. Aber schauen wir uns die Sache doch erst einmal an, ehe wir voreilige Schlüsse ziehen.“

„Yep. Ich bin dafür, dass wir an der nächsten Pizzeria halten und ordentlich Ballast aufnehmen. Ich komme mir vor, als schwebte ich einige Zentimeter über dem Boden. Mir schwirrt der Kopf.“

„Rate mal, wem noch,“ grunzte Zach.


Am nächsten Morgen schliefen die beiden aus. Sie ließen das Hotelfrühstück sausen – zur Enttäuschung all jener, die gehofft hatten, einen weiteren Auftritt Ludwig Lederrachens erleben zu dürfen – und suchten stattdessen einen Pub auf, der Brunch servierte. Nachdem sie ausgiebig gespeist hatten, steuerte Veronica den Wagen wieder in die Yewtree Road. Mrs Jones ließ sie ein und übergab ihnen einen Ordner mit Unterlagen sowie ein Inventarverzeichnis mit der Aufschrift ‚Campbell‘s Fab Store‘. „Nehmen Sie doch einen Augenblick Platz.“ Sie deutete auf den Eingang zum Wartezimmer. „Dr. Miller wird in wenigen Minuten mit den Haustürschlüsseln eintreffen.“

Zach legte die Papiere auf einen Stuhl neben Veronica, die sich gesetzt hatte. Wieder packte ihn eine seltsame Unruhe. Er begann, wie bereits am Vortag, die Fotos zu inspizieren, die in solch scharfem atmosphärischen Kontrast zu den heiteren Gemälden über ihnen standen: Eines zeigte die vier Pilzköpfe in schwarze Kutten gekleidet, die Gesichter weitgehend im Schatten der Kapuzen verborgen. Auf dem nächsten sah man einen Mann, dessen Gesicht von Bandagen verdeckt war, vor einer Kulisse mit exotischen Pflanzen stehen, zusammen mit einer Person, die eine Hornbrille trug und ihn um fast einen Kopf überragte. Auf einem weiteren Foto präsentierte ein formell gekleideter älterer Herr eine auf ein Samtkissen gebettete historische Waffe, vielleicht eine Streitaxt oder ein Kriegshammer. Ihm gegenüber stand John Lennon mit hängenden Schultern, sichtlich übernächtigt.

Zach wollte seine Tochter fragen, was sie über die Szenen dachte, wurde aber, genau wie am Vortag, unterbrochen – diesmal von Veronica selbst, die das Inventarbuch studiert hatte. „Phantastisch!, Du wirst staunen, was Onkel Paul alles in seinem Laden angeboten hat,“ sagte sie aufgeregt. „Die Trümmer der Gitarre, die Jimi Hendrix auf dem Isle of Man-Festival gespielt hat; ein Zombie-Kostüm namens Eddie, mit dem jemand auf Iron Maidens Killers-Tour über die Bühne wankte; eine Perücke von Tina Turner aus der Zeit mit Ike. Und ja, tausende von Autogrammkarten, alte Ausgaben von Musikzeitschriften, signierte Plektren, Vinylscheiben und anderer Klimbim, aber die wertvollsten Stücke stammen fast alle von den Beatles. Er hat sie auf Bestellung beschafft. Hier, das sind die Namen der Käufer, dahinter der vereinbarte Preis. Wären wir nicht solche Intelligenzbestien würde ich sagen, wir haben mehr Glück als Verstand.“ Sie grinste. Dann bemerkte sie seine Miene. „Was ist?“

Die Tür ging auf, Dr. Miller trat ein.


Sie folgten dem SUV des Notars in die Innenstadt von Liverpool. Die Straßen waren um diese Zeit nur mäßig befahren, so dass sie es in einer Dreiviertelstunde schafften. Statt ihnen einfach nur die Schlüssel zu Laden, Wohnung und Fahrzeug zu überreichen, hatte Dr. Miller angeboten, die Räumlichkeiten für sie zu öffnen. Es gebe einiges zu beachten, sagte er, das er ihnen vor Ort zeigen werde, und er wolle auch seinem Versprechen nachkommen, etwas über die Umstände von Mr Campbells Tod zu erzählen. Und so bogen sie schließlich in die Victoria Street ein, rollten über eine steile Rampe in eine Tiefgarage und fädelten in die ziemlich engen Nischen ein. Es gab nur wenige freie Plätze, so dass die beiden Fahrzeuge in einiger Distanz zu einander standen. Parkplätze, erklärte Dr. Miller, nachdem sie schließlich gemeinsam über eine Treppe auf Straßenniveau zurückgekehrt waren, seien Mangelware so nahe am Touristenzentrum. Es gebe jedoch reservierte Buchten für die Anwohner. Auf einer solchen stehe auch Mr Campbells Wagen. Ob sie ihn gleich sehen wollten?

„Ist es weit?“, fragte Veronica.

„Nein, er befindet sich auf dem Weg zum Laden,“ erwiderte der Notar.

„Dann zeigen Sie uns den Weg,“ meinte Zach.

Über den unscheinbaren Nebeneingang eines Restaurants betraten sie ein Treppenhaus, das sie wieder unter die Erde führte. Durch eine Stahltür gelangten sie auf ein weiteres Parkdeck – ausschließlich für Anlieger –, in dessen entlegenstem Eck sie eine verschlossene Garage erwartete.

Zach sah Miller fragend an. „Ist das nicht ein bisschen übertrieben für einen alten Wagen?“

Miller lachte. „Nicht irgendeinen alten Wagen – einen der Austin Mini Cooper S, die Epstein 1965 für die Beatles besorgt hat! Das Fahrzeug wurde von Harold Radford den Sonderwünschen des Käufers angepasst und wäre schon allein deshalb kein Besitz, den man unbeaufsichtigt am Straßenrand stehen lässt.“ Er zückte einen Schlüsselbund, öffnete das Garagenschloss, drehte am Knauf und riss das Rolltor auf. Ohne nennenswertes Geräusch glitt es nach oben, bis es in eine Haltestellung geriet. Hinter der Öffnung war automatisch eine Serie von Wandlampen angegangen. Sie tauchten einen kastenförmigen Kleinwagen, dessen salbeigrünes Heck ihnen zugewandt war, in warmes Licht. Der cremefarbene Lack des Dachs glänzte wie neu.

„Nett,“ ließ Zach mit einer Stimme vernehmen, der man eine gewisse Enttäuschung anmerken konnte. „Hat im Inventar nicht ‚Aston‘ gestanden?“

Miller lachte erneut. „Nein, Austin. Sie haben einen Aston Martin erwartet, einen DB5, wie James Bond ihn in ‚Goldfinger‘ fuhr, nur silberblau? McCartneys Aston Martin?“

„So ungefähr,“ gab Zach zurück.

„Der würde mir auch gefallen. Er ist leider in festen Händen, seit er vor vier, fünf Jahren für fast anderthalb Millionen Pfund in einer Auktion den Besitzer wechselte. Ich gebe zu, der würde zu Ihnen passen – und zu dem Sportwagen, den Ihre Tochter fährt.“ Wieder warf der Notar Veronica diesen eindringlichen Blick zu. Veronica starrte zurück.

„Wissen Sie, welchem der Beatles der Mini gehört hat?“, unterbrach Zach das Augenduell.

Miller musterte ihn für ein paar Sekunden, ohne eine Miene zu verziehen. „In Sammlerkreisen“ – er betonte das Wort auf eine Weise, die eine viel kleinere Personengruppe andeutete, als es normalerweise bezeichnete – „steht die Nummer ‚LGF 696D‘ für einen Wagen, der vor vielen Jahren spurlos von der Bildfläche verschwunden ist; nun, nicht ganz spurlos. Mr Campbell hat seine Beziehungen spielen lassen und ihn vor drei Jahren wieder aufgetrieben. Er steht mit einem Schätzwert von 183.000 Pfund im Inventar – angelehnt an den Erlös der Auktion, in der McCartneys Exemplar im September 2018 unter den Hammer kam. Aber Mr Campbell war weder dumm noch ungeduldig. Er konnte warten…“

„Warten? Worauf?“, warf Veronica ein.

„Darauf, dass der richtige Mann in sein Leben trat,“ erläuterte Miller. Er seufzte. „Die Welt ist so kurzatmig geworden. Für einen schnellen Riss verwerfen die Leute oft ihre gesamte Zukunft. Und wenn sie den kleinen Vorteil, den sie auf Kosten langfristigem Wohlstand einheimsen konnten, verspielt haben, stehen sie allein und mit leeren Händen da. Paulus Campbell war nicht so. Er war Teil von etwas Größerem, und er handelte vorausschauend. Und er wusste, man muss nur lange genug warten, bis der richtige Sammler zum richtigen Zeitpunkt erscheint – jemand, der ein Medienereignis oder einen Jahrestag zum Anlass nimmt, um sich John Lennons Mini Cooper zum gleichen Preis zu leisten, wie andere für Paul McCartneys Aston Martin DB5 bezahlt haben.“

„Das ist nicht Ihr Ernst?“ Zach hob skeptisch eine Braue.

„Es war Mr Campbells Erfolgsgeheimnis. Es funktionierte bei jedem einzelnen Stück, das er aufspürte, um es weiterzuverkaufen.“

„Nur, dass er dieses Mal zu lang gewartet hat.“

„Nun, er konnte ja nicht wissen, dass er so schnell aus dem Leben gerissen würde. Und hätte er gewusst, dass man ihn ermordet, hätte ihm der Erlös aus einem schnellen Verkauf auch nichts genützt.“

„Da haben sie natürlich re… Wie bitte? Sagten Sie gerade ‚ermordet‘?“

„Mein Beileid, Herr Ziegler, das ist leider das Schicksal, das der Herr Ihrem Stiefbruder zugemessen hat.“

2) Jules R. Miller, Notar

Sie erreichten das von ihnen gebuchte Hotel am Stadtrand von Liverpool kurz vor acht Uhr abends. Müde von der langen Fahrt begaben sie sich ohne Umschweife ins Bett. Der Schlaf wollte sie jedoch nicht sofort einholen. In den Ohren tönte noch das Brausen des GT-Motors, in ihren Gedanken spukten die Geister der Vergangenheit.

Am nächsten Morgen weckte strahlender Sonnenschein sie. Veronica hüpfte als Erste in das winzige Badezimmer, nahm eine schnelle Dusche, schrubbte die Zähne und zog ein bequemes dunkles Kleid an. Als sie ins Zimmer zurückkehrte, lag Zach mit hinter dem Kopf verschränkten Händen im Bett. Er sah besser aus als Tags zuvor. „Das Badezimmer gehört dir,“ rief sie ihm zu. „Beeil dich. Ich gehe gleich runter und sichere uns ein Frühstück. Ich sterbe vor Hunger!“

„Bloß nicht!“, brummte er, als sie bereits zur Tür hinaus war. „Ein Toter reicht mir vollauf.“

Der Frühstücksraum war tatsächlich recht voll, als Zach endlich eintraf: geduscht, rasiert, gekämmt und in einen frischen dunklen Anzug gekleidet. Veronica hatte ihnen einen Platz am Tresen gesichert, damit der Kaffee unterwegs möglichst wenig Temperatur verlor. Die Gastwirtin, eine Frau in den Fünfzigern, strahlte ihn an. „Guten Morgen, Mr Ziegler. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.“

„Bestens,“ antwortete er. „Wie auf Wolken.“

Sie lächelte. „Was hätten Sie gern? Kaffee? Tee? Kakao? Saft?“

„Kaffee, bitte. Schwarz.“

„Kommt sofort.“ Sie drehte sich zu einer altmodischen Kaffeemaschine um, die gerade die letzten Tropfen heißen Wassers röchelnd in einen Filter spuckte, der tiefschwarzen Sud in eine unter ihm stehende Glaskanne entließ. Die Wirtin entnahm die Kanne, wandte sich wieder Zach zu und befüllte eine vor ihm stehende – nach seinen Maßstäben recht kleine – weiße Tasse. Der Detektiv zögerte keine Sekunde, führte sie zum Mund und leerte sie schnell mit in den Nacken gelegtem Kopf. Dann knallte er sie wie ein Schnapsglas auf den Tresen. „Rah,“ prustete er zufrieden. „Noch einen!“

Die Wirtin stand mit offenem Mund vor ihnen. Veronica brauchte nicht hinzuschauen. Sie wusste auch so, dass einige der Gäste die Szene zufällig beobachtet hatten, nun ihre Nachbarn anstießen und mit dem Finger auf Zach zeigten. Im Raum wurde es stiller. Sie kannte das schon. In aller Gemütsruhe löffelte sie ihren Joghurt, während ihr Vater der Wirtin die Tasse entgegenschob. „Nun?“, sagte er.

Verdattert füllte sie sie erneut. Wieder stürzte Zach den dampfenden Inhalt auf einen Schlag hinunter, wieder hämmerte er die Tasse aufs Holz. Kollektives Keuchen füllte die Luft. Niemand sprach ein Wort. Nach einigen Sekunden drehte ihr Vater sich dem Raum voller Menschen zu, die ihn mit aufgerissenen Augen und Mündern anstarrten, grinste schief und sagte: „Gestatten? Ludwig Lederrachen, Feuerschlucker und Schwertspucker.“

Das brach den Bann. Alle begannen gleichzeitig zu schnattern, manche lachten, einige johlten. Zach zwinkerte ihnen zu, dann wandte er sich wieder an die Wirtin. „Was gibt‘s zu essen?“


„Du kannst es wirklich nicht lassen,“ beschwerte sich Veronica, während ihr Vater herzhaft in eine Scheibe Bauernbrot biss. „Kaum sind wir angekommen, machst du uns zum Stadtgespräch.“

„Ach tu nicht so empfindlich, du genießt die Aufmerksamkeit doch auch.“

„Ich bin mir nicht sicher, dass sich Prominenz mit unserer Tätigkeit als Privatdetektive verträgt.“

„Die größten Geheimnisse und die persönlichsten Dinge versteckt man am sichersten auf einem Präsentierteller,“ entgegnete Zach. „Savile hat seine Opfer live im Fernsehen zugeführt bekommen, unter den Augen der ganzen Nation. Wer hätte vermuten wollen…“

„Ja klar. Da steht meiner Zweitkarriere als Model also nichts mehr im Weg.“ Veronica schüttelte affektiert ihr schulterlanges blondes Haar, setzte ihr süßestes Lächeln auf und klimperte mit den Augendeckeln.

Zach lachte auf. „Du lernst schnell. Der Catwalk muss allerdings warten, bis wir die Sache mit Paul hinter uns gebracht haben. Außerdem würde ich gern irgendwann einen Enkel oder zwei zu Gesicht bekommen. Ich bitte das in deine Lebensplanung einfließen zu lassen.“

Veronica hieb ihm mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. „Du hast sie wohl nicht mehr alle!“, rief sie in gespielter Entrüstung. „Hör auf zu quatschen und iss den Teller leer. In weniger als einer Stunde müssen wir in der Yewtree Road beim Notar sein.“

„Yes, Ma‘am.“


Wie sich herausstellte, hätte keine Eile bestanden. Dr. Jules R. Miller, der Notar, war länger als erwartet von einer anderen Angelegenheit in Beschlag genommen. Seine Sekretärin leitete Zach und Veronica in ein geschmackvoll dekoriertes Wartezimmer mit Blick auf den Calderstones Park. Sie hatten den Raum für sich. Außer ihnen befand sich niemand darin. An den Wänden hingen zwei Reihen gerahmter Bilder. Die obere bestand aus Aquarellen, die bekannten Fotos der Beatles nachempfunden waren: die Fab-Four mit Regenschirmen, das Cover des Albums Beatles For Sale, die Band beim Überqueren eines Zebrastreifens, oder auch John Lennon und Paul McCartney gemeinsam am Mikrofon. Die Gemälde trugen unten links jeweils den Schriftzug ‚Donna.‘ Die Künstlerin hatte die Charaktere der Musiker ziemlich gut getroffen. Die frischen, gefühlvoll auf einander abgestimmten Farben gaben dem Wartezimmer eine fröhliche Note – bis man sich näher mit der unteren Bildreihe beschäftigte. Es handelte sich um Schwarz-Weiß-Fotografien wesentlich kleineren Formats. Sie hingen direkt auf Augenhöhe. Um seine Nervosität zu dämpfen, schritt Zach der Wand entlang, von einer Aufnahme zur nächsten. Für Kunst hatte er wenig übrig. aber die Fotos faszinierten ihn. Er war mit der Musik dieser Gruppe aufgewachsen, da seine Mutter sie gern gehört hatte. Die Beatles hatten sich im Jahr vor seiner Geburt aufgelöst, waren aber nie ganz aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Die Zeitungen berichteten gelegentlich von neuen Enthüllungen oder druckten Berichte über verschollene Tonbänder; das Fernsehen zeigte bei jeder sich bietenden Gelegenheit Retrospektiven: gefüllte Stadien, schreiende Fans, winkende Pilzköpfe. Die Szenen auf den Fotos waren jedoch ganz anderer Art als die Gemälde oder die Zeitungsillustrationen. Eine düstere Aura ging von ihnen aus: Paul, der mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis bildete, die restlichen Finger abgespreizt; Stuart Sutcliffe in einem Sessel sitzend, die Merkel-Raute zeigend; Ringo, der sich ein Auge zuhielt; John, der hinter Pauls Kopf die ‚Pommesgabel‘ präsentierte; George Harrison, neben einem anonymen Grab stehend. So ging es weiter, Bild um Bild um Bild. Es handelte sich durchgehend um hochwertig aufgenommene ästhetische Motive, trotzdem war Zach sich sicher, keines von ihnen je gesehen zu haben.

Er wollte gerade Veronica darauf aufmerksam machen, als sich die Tür öffnete. Dr. Millers Sekretärin stand im Rahmen und bat sie, ihr zu folgen. Sie führte sie durch einen kurzen Gang in ein weiteres Zimmer, wo der Notar, ein schlanker älterer Herr, ihnen mit ausgestrecktem Arm entgegen schritt. Er hatte halblanges graues, leicht gewelltes Haar und trug eine Brille mit kleinen runden Gläsern auf der leicht gebogenen Nase. Mit ein bisschen Phantasie konnte man sich einem sechzigjährigen Lennon gegenüber wähnen. Miller schüttelte Zachs Hand und sagte in perfektem Oxford-Englisch: „Freut mich, Sie zu sehen, Mr Ziegler. Seien Sie meines tiefen Beileids über Ihren Verlust versichert. Ihr Stiefbruder war mehr als nur ein Mandant, er war auch mein Freund. Ich werde mein Möglichstes tun, Ihnen bei der Erledigung der Formalitäten zu helfen und meinen Beitrag zu einem angenehmen Aufenthalt in Liverpool zu leisten.“

„Vielen Dank, Dr. Miller. Dies hier“ – Zach zeigte auf Veronica, die hinter ihm in den Raum getreten war – „ist Mr Campbells Patenkind, meine Tochter Veronica.“

„Ms Ziegler, es ist mir eine Ehre.“ Der Notar deutete einen Handkuss an. Erst nach einem längeren prüfenden Blick in ihre Augen gab er die Hand wieder frei. „Setzen Sie sich doch.“

Er deutete auf zwei Stühle vor seinem ausladenden Schreibtisch und begab sich gegenüber zu einem hohen Drehsessel mit grünem Lederbezug. Vater und Tochter setzten sich, dann auch der Notar.

„Werden wir auf die Anderen warten müssen oder möchten sie nicht an der Testamentseröffnung teilnehmen?“, erkundigte sich Zach.

Die Sekretärin kam erneut herein. Sie hielt ein Tablett, auf dem sich eine Teekanne, drei Tassen und etwas Gebäck befanden. Sie setzte das Tablett auf einem Beistelltischchen ab, verteilte die Gedecke und füllte Ceylon-Tee ein. Dann verließ sie das Zimmer. Veronica warf Zach, der sich anschickte, nach seiner Tasse zu greifen, einen mahnenden Blick zu. Der Notar lehnte sich zurück. „Mr Ziegler, Sie sind der einzige Anverwandte und auch der Alleinerbe des Verstorbenen. Ich werde daher nicht viel mehr zu tun haben, als Mr Campbells letzten Willen zu verlesen und Ihre Entscheidung über Annahme oder Ausschlagung des Erbes zu beglaubigen.“

„Oh,“ sagte Zach. Er nippte etwas Tee, dann stellte er die Tasse zurück und knabberte an einem Gebäckstück.

Miller entnahm einer dünnen dunkelgrauen Kladde, die er vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte, einige zusammengeheftete Seiten, die ein notarielles Siegel trugen, und begann mit der Verlesung:

Letzter Wille und Testament

Ich, Paulus Martin Campbell, geboren am 8.April 1970 in Liverpool, erkläre hiermit im Vollbesitz meiner geistigen Fähigkeiten, meinen letzten Willen. Ich handle weder unter Druck noch Zwang und bin mir des Charakters und Umfangs meines Eigentums bewusst.

Ich verfüge, dass mein Stiefbruder, Zachary Archibald Ziegler, geboren am 23. Februar 1971 in Stuttgart, derzeitiger Wohnort London, der alleinige Nutznießer meiner Hinterlassenschaften sein soll. Diese bestehen in einem Ladengeschäft samt Einrichtung und Waren in Liverpool, meiner Wohnung samt Inhalt, meinem Wagen und meinen Bankkonten samt Inhalt.

Das Dokument bestimmte des weiteren Dr. Miller zum Vollstrecker des Testaments, erklärte, dass weder Schulden noch Außenstände vorhanden wären, und nannte eine Reihe rechtlicher Vorbehalte. Pauls Unterschrift war gefolgt von den Signaturen zweier Zeugen und der des Notars.

Als Miller zu Ende gelesen hatte, legte er das Dokument beiseite, öffnete die Kladde erneut, zog ein Papier heraus und reichte es Zach. Es handelte sich um eine Aufstellung der Vermögenswerte und sonstigen Gegenstände aus Pauls Besitz. Bei dem im Testament erwähnten Laden handelte es sich um ein Musikantiquitätengeschäft auf der Rainford Gardens. Pauls Wohnung befand sich in den beiden darüber liegenden Stockwerken. Sein Wagen war ein Austin, Baujahr 65. Auf den Konten lagen 2,4 Millionen Britische Pfund. Alles in allem war das Erbe laut amtlicher Schätzung über sieben Millionen Pfund wert.

„Heiliger Strohsack!“, stieß Zach hervor.

„Jeeesus!“, hauchte Veronica, die mitgelesen hatte.

„Die Waren und Einrichtungsgegenstände des Ladens sind im Inventarverzeichnis aufgeführt,“ erklärte der Notar. „Möchten Sie einen Blick hineinwerfen?“

„Danke, nein. Rainford Gardens hört sich idyllisch an. Ist das eine gute Lage?“, wollte ihr Vater wissen.

„Die beste; Cavern-Viertel; eine kurze Seitenstraße der Whitechapel, die in die Mathew Street mündet. Es gibt da keinen einzigen Grashalm, dafür jede Menge Sehenswürdigkeiten, Pubs und Läden in der Nachbarschaft. Wie Sie vielleicht wissen, gehört die Mathew Street zum Pflichtprogramm eines jeden Besuchers unserer Stadt.“

„Das Beatles-Museum!“, warf Veronica begeistert ein.

Miller lächelte. „Und der Cavern-Club, wo alles begonnen hat.“ Er räusperte sich. „Ich muss Sie nun fragen, ob Sie das Erbe Ihres Stiefbruders annehmen möchten, Mr Ziegler.“

„Wer könnte da nein sagen? Ich nehme es selbstverständlich an.“

„Dann unterschreiben Sie bitte diese Erklärung – ja, dort auf der Linie.“ Als Zach seinen Krakel daraufgesetzt hatte, nahm der Notar das Blatt an sich, signierte es schwungvoll und drückte sein Siegel auf. Er räumte alle Papiere wieder in die Kladde. „Ich bin sicher, Sie haben viele Fragen,“ sagte er.

„Mein Bruder und ich haben uns seit zwanzig Jahren nicht gesehen. Ich habe keine Ahnung, was er seither getan oder wie er gelebt hat. Ich weiß nicht einmal, wie er gestorben ist.“

„Ich würde mich gern mit Ihnen über Paul Campbell unterhalten. Wir standen uns wie gesagt recht nahe. Leider erwarten mich nun andere Verpflichtungen. Bitte kommen Sie morgen gegen ein Uhr noch einmal hierher. Ich händige ihnen dann sämtliche Unterlagen aus. Anschließend fahren wir in die Rainford Gardens, zur Übergabe von Laden, Wohnung und Fahrzeug.“ Er betätigte einen Knopf auf seiner Sprechanlage: „Mrs Jones.“

Er erhob sich aus dem Sessel. Vor der Tür ertönten Schritte, dann trat die Sekretärin ein. „Ja bitte?“

Miller überreichte ihr die Kladde. „Bitte führen Sie die Gäste hinaus und machen Sie die Campbell-Unterlagen bis morgen Mittag fertig.“

„Jawohl, Sir.“ Sie nickte Vater und Tochter zu, dann setzte sie sich in Richtung Tür in Bewegung.

Zach schüttelte dem Notar die Hand. „Besten Dank, Dr. Miller. Bis morgen Nachmittag!“

Miller nickte kurz. „Junge Dame,“ sagte er an Veronica gewandt, „auf hoffentlich baldiges Wiedersehen.“

Erneut dieser durchdringende Blick. Veronica schaute uneingeschüchtert zurück, lächelte, drückte fest zu und versprach: „Morgen Nachmittag.“