25) Jenseits von 1984

Der eiförmige weiße Kleinwagen verstopfte noch immer die Durchfahrt unter dem Vordach des Haupteingangs zum Schloss. Während Veronica wenig geschickt die Tür des GT aufzuschließen versuchte, musterte Zach das Nummernschild des Käfers erneut, da er in verschiedenen Datenbanken nach ihm zu suchen gedachte. Schließlich wurde die Beifahrertür von innen entriegelt. Während er einstieg, brauste der Motor auf. Der Sportwagen setzte zurück, bis er die Stelle erreichte, wo die beiden Äste der Zufahrt sich wieder vereinten. Dann schoss er auf Geheiß von Veronicas Stiefel aus dem Hof des Schlosses hinaus, durch den Park und den kleinen Wald bis zur Mauer. Das Tor stand offen. Ohne zu zögern lenkte die Fahrerin den orangefarbenen Blitz auf die Landstraße Richtung Liverpool.

Eine Weile sagte niemand etwas. Veronica verunsicherte die Häufigkeit, mit der sie in der letzten Zeit schockiert worden war. Zach sorgte sich wegen der dunklen Szenerie, die sich aus den neuen Informationen herauszuschälen begann. Nahm er die Million an, die Kite angeboten hatte, betrat er eindeutig kriminelle Gefilde. Der Staat kannte keine Gnade mit jenen Untertanen, die ihm Steuern vorenthielten. Für Leute vom Schlage des Wallace-Schlossherrn war der Staat keine Bedrohung; der Mann gehörte zu jener schmalen Schicht, die den Apparat ihrem Willen gefügig machten. Zach aber wurde erpressbar. Lehnte er das Geld dagegen ab, blieb er ein Außenseiter und war in Liverpool erledigt. Dann konnte er den Fab Store genau so gut schließen. Die beiden Bedingungen, die Kite für ihre Aufnahme in die Familie gestellt hatte, waren praktisch ein und dieselbe. Geschickt eingefädelt. So also wurde man Mitglied einer elitären Loge – und blieb ein Leben lang an sie gekettet. Politik, Justiz, Polizei, Handel, Industrie, Adel, Geheimdienste; schon hier in dieser aufgeblasenen Mittelstadt im englischen Abseits wurde ein holografisches Abbild der mafiösen Durchdringung sämtlicher Leitungspositionen sichtbar, an der klandestine Gruppen unermüdlich weiterwebten.

Tiefenstaat, Freimaurertum, Mafia, Regierungen, Finanzkraken und die industriellen Komplexe, von denen in sozialkritischen Zirkeln allenthalben die Rede war, stellten lediglich unterschiedlich benannte Ausschnitte ein und desselben Netzwerkes dar, das sich unter völligem Ausschluss der weit über neunzigprozentigen Mehrheit an den Gütern der Erde sowie der Arbeitskraft von Mensch, Tier und Maschine bereicherte. Wenn er die Million annahm, baute er an ihrer ‚Neuen Welt-Ordnung‘ mit, dem Projekt zur vollständigen Versklavung der Menschheit. Die meisten Menschen hielten die NWO für eine paranoide Verschwörungstheorie. Dabei machten diejenigen, die sie anstrebten, aus ihren steinernen Herzen keine Mördergrube. Wollte man sie vor Gericht ziehen, würde es an Beweisen nicht im Mindesten mangeln. Aber natürlich lagen auch die höheren Richter im selben Bett wie die niemals Anklagbaren. Letztere waren eine winzige Minderheit, der höchstens einer unter zehntausend Menschen angehörten.

Leider war es ihnen im Lauf der Jahrhunderte gelungen, die Wahrnehmung ihrer Schafherde mit größer werdendem Erfolg nach Belieben zu formen, so dass die Mehrheit die Interessen ihrer Eigentümer, der Hirten und der Schäferhunde völlig selbstverständlich für die eigenen hielt. Schlimmer noch: Sie war sich der Existenz der Eigentümer überhaupt nicht bewusst. Die, die aus glückseliger Unwissenheit erwachten, sahen sich vor eine harte Entscheidung gestellt: entweder auf die ‚Segnungen‘ der Einbettung in den Mastbetrieb zu verzichten und damit aus dem sozialen Kontext, der Herde, weitgehend herauszufallen, oder vorsätzlich Verrat an der eigenen Spezies zu begehen, indem man zugunsten seines Vorankommens andere Schafe vom Ausscheren abhielt. Wer beruflichen oder sozialen Erfolg haben wollte, beugte sich dem Druck. Die ganze Welt war eine verdammte Schaf-Farm, eingeteilt in nationale Pferche unterschiedlicher Größe.

Gehörte Kite zur Kaste der Eigentümer? Eher unwahrscheinlich‚ vermutete Zach. ‚Nutznießer‘ hatte auf der Visitenkarte des Schlossherrn gestanden. Seine Familie musste relativ weit oben bei den Schäfern rangieren. Als Nachkomme von William Braveheart Wallace in der dreißigsten Generation hatte er alten schottischen Adel beansprucht. Er hatte von seinem ‚Großvater und den verbliebenen drei Beatles‘ gesprochen, behauptete also, der Enkel Sir Pauls, genauer gesagt von Billy Shears alias William Shepherd zu sein. Shepherd, der Schäfer. Namen waren nicht immer Schall und Rauch.

„Dad?“

Zach schrak aus seinen Gedanken auf. Durch die Windschutzscheibe sah er die ersten Häuser am Stadtrand von Liverpool. Die Landschaft war vor seinen offenen Augen an ihm vorbeigezogen, ohne dass er sie wahrgenommen hatte. „Ja, was gibt‘s, Kiddo?“, fragte er zurück.

„Wer ist dieser Maxwell Knight?“

„Wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, war er der Leiter des MI-5, Inlandsgeheimdienst ihrer Majestät, der Königin von England. Man sagt, er sei das Vorbild für die M-Personalie in den James-Bond-Filmen gewesen. Wie es scheint, haben ihn auch die Beatles in einem Song verewigt.“

„Glaubst du, dass der alte Knacker auf dem Foto Paul McCartney diesen Hammer über den Schädel ziehen konnte?“

„Das halte ich für den am wenigsten wahrscheinlichen Hergang – es sei denn, er hatte Helfer, die Paul festhielten. Der mochte vom Unfall noch benommen gewesen sein, aber er war ein junger, kräftiger Mann von Mitte Zwanzig.“ Zach grübelte ein paar Augenblicke, bevor er weitersprach. „Ich werde mir immer unsicherer, was von all den… Fakten… überhaupt mit der Wirklichkeit Verbindung hat. In gewissem Sinne befinden wir uns vierzig Jahre jenseits von 1984. Das Wahrheitsministerium veränderte die Geschichtsschreibung zwar fortlaufend, aber es gab in Orwells Roman zu jedem Zeitpunkt nur eine gültige Version davon. Das war das Fundament der Herrschaft der Partei. In unserer Welt dagegen gibt es so viele nebeneinander stehende Wahrnehmungen und übereinander liegende Schichten der Realität, dass niemand sagen kann, was tatsächlich geschah.“

„Ja. Nach allem, was wir wissen, sagt keine Quelle ‚die Wahrheit, die ganze Wahrheit, und nichts als die Wahrheit‘. Gibt es sie überhaupt?“

„Sicher, und mit dem passenden geistigen Werkzeug lässt sie sich oft auch finden. Das beinhaltet, dass du neben den Medien auch deiner eigenen Wahrnehmung misstrauen musst, weil sie von dem Ozean an Unwissen, Filtern, Linsen, Falschinformationen, dysfunktionalen Denkmustern und mangelnder Weisheit geprägt wird, in dem wir alle schwimmen. Wenn du es allerdings in unbedarfter Weise, ohne das Werkzeug versuchst, wirst du paranoid. Dann rennst du dir in einem Irrgarten das Hirn blutig, dessen Wände aus Propaganda, Einbildung und Verschwörungstheorien gebaut sind. So kann man nicht leben.“

Veronica gluckste, als habe sie einen besonders fiesen Witz gehört. „Das erinnert mich an ein Zitat von Robert Anton Wilson aus der Einleitung zu seinem Buch Das Lexikon der Verschwörungstheorien. Er beschreibt so ungefähr, was du gerade erläutert hast, und kommt zu dem Schluss, dass Hunde wahrscheinlich die einzigen Leute sind, die dem Menschen überhaupt noch trauen, aber ihm sei aufgefallen, dass selbst die Hunde neuerdings Zweifel hegten.“

Ihr Vater warf den Kopf zurück und lachte lauthals. Veronica fiel mit ein. Es war wieder so weit: Sie sahen die Absurdität der Welt beide zugleich in völliger Klarheit. Der Kaiser war splitterfasernackt, eine Witzfigur mit Hühnerbrust, O-Beinen und einem winzig kleinen Schniedel. Sie steuerte den GT an den Straßenrand, damit sie sich in aller Hysterie ausschütten konnten. Humor befreite die belagerte Seele.


In den Rainford Gardens angekommen stieg Veronica zielstrebig die Treppen hinauf. Ein Gedanke ging ihr im Kopf herum, den sie am Tisch in Onkel Pauls Studierzimmer zu verifizieren suchte. Die Geschwindigkeit, in der der Rechner betriebsbereit war, überraschte sie noch immer, aber sie ließ sich nicht ablenken. Sie rief Quellen zu Freimaurerei und Numerologie auf, um einen Überblick zu bekommen. Die Darstellungen verwirrten sie mehr, als dass sie Orientierung gaben. Manche beschrieben die Freimaurer als einen Club schrulliger Männer, die Geld für wohltätige Zwecke sammelten und alten Damen über die Straße halfen. Andere stellten sie als sinistre Geheimniskrämer dar, die Regierungen und sonstige mächtige Organisationen unterwanderten. Wieder andere sahen in ihnen Diener Satans, die kleine Kinder in schwarzen Messen opferten. Sie waren in Orden beziehungsweise Logen organisiert, aber sie fand daneben zahlreiche Gruppen und Körperschaften, denen nachgesagt wurde, sie seien freimaurerische Frontorganisationen.

Sie suchte nach einer Verbindung zu den Beatles, wurde mit Treffern überschüttet, fand jedoch wenig, das konkrete Hinweise auf eine Mitgliedschaft gab. Freimaurersymbolik zog sich jedoch in auffälliger Häufigkeit unverhohlen von den frühesten Tagen bis zur Gegenwart durch. Albencover und Fotos waren regelrecht gespickt damit. Immer wieder tauchten außerdem Verbindungen zu Ordensgründer Aleister Crowley auf. Als sie entdeckte, dass er gleich zwei Mal auf dem Titelbild des Sgt.-Peppers-Albums vertreten war, stieß sie halb amüsiert, halb beunruhigt Luft durch die Nase aus. Dieses Ding schien wirklich der Dreh- und Angelpunkt in der ganzen Beatles-Geschichte zu sein.

Dann probierte sie, den Einstieg über die Numerologie zu erhalten, doch auch hier kam sie nicht weiter. Es gab verschiedene Systeme in verschiedenen Kulturen, die sich teilweise überlappten. Eng damit verbunden waren Kabbalistik, Astrologie, Tarot, Okkultismus und natürlich das Freimaurertum. Die Sache schien ihr alles andere als trivial. Ohne konkrete Anhaltspunkte würde sie Monate brauchen, sich tief genug einzuarbeiten.

Sie überlegte. Es forderte Überwindung, die Nachforschungen aufzunehmen, die sie nun in Angriff nahm. Veronica vermutete hier den direktesten Zugang zu der Frage, die sie beschäftigte: War der Wechsel geplant gewesen, und wenn ja, weshalb? Erst gestern hatte Maria sie mehrfach erwähnt, dass es im Grunde – besonders bei den Freimaurern – keine Zufälle gab. Sie hatte ausdrücklich darauf hingewiesen, ein Todesfall am 11.9. mache eine rituelle Opferung höchst wahrscheinlich; auch Billy Shears habe das in den Raum gestellt. Trotzdem war sie durch die Worte Mr Kites heute wie von einem Hammerschlag getroffen worden: „John und Paul hatten einen faustischen Handel abgeschlossen, und Paul hat den Preis dafür gezahlt.“

Die Detektivin holte tief Luft. Zunächst musste sie das Feld abstecken. Um was ging es konkret? Was verstand man unter einem ‚faustischen Handel‘? Die Suchmaschinentreffer lieferten mehrere alternative Bezeichnungen zu ihrem Suchbegriff, darunter ‚faustischer Pakt‘ und ‚Teufelspakt‘. Sie überflog natürlich den Wikipedia-Artikel. Auch die vierte Szene aus Goethes Drama Faust stand weit oben in der Liste. Veronica las ihn sorgfältiger. Faust, ein Mann von großer Neugier und noch größerem Ehrgeiz, geplagt jedoch von allerlei Ängsten, entsagt Gott, von dem er sich verlassen fühlt. Er verschreibt seine Seele dem Teufel, der in Gestalt des Dämons Mephistopheles in sein Haus eingedrungen ist und ihm verspricht:

Ich will mich hier zu deinem Dienst verbinden, / Auf deinen Wink nicht rasten und nicht ruhn; / Wenn wir uns drüben wiederfinden, / So sollst du mir das gleiche tun.

Veronica glaubte nicht an den Teufel. Sie vermutete in ihm einen Buhmann, den man benutzte, um Kindern Wohlverhalten beizubringen oder Narren die Furcht zu lehren. Trotzdem lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken, als sie die Zeilen las. Goethes detailversessene Beobachtungsgabe der menschlichen Psyche verdankte das Werk seine bleibende Faszinationskraft über zwei Jahrhunderte hinweg. Hatte er den Teufel für wirklich gehalten? Oder war Mephisto lediglich eine allegorische Figur, ein Symbol für… was?

Ihr fiel auf, dass Mephisto Fausts Seele forderte, nicht sein Leben. Das mochte eine vielleicht entscheidende Differenz zum Fall McCartney darstellen. Mephisto konnte warten, denn egal, wie viele Jahre Faust am Leben blieb, gegen die Ewigkeit des Jenseits blieben sie verschwindend gering. Die Mörder Pauls schienen es dagegen eilig gehabt zu haben. Das Opfer durfte nur 24 Jahre alt werden. Veronica fütterte die Suchmaschine nun mit Beatles & Faust, dann mit Beatles & Teufelspakt. Sie stieß auf einen Artikel, der sie regelrecht elektrisierte. Mit einer Deutlichkeit, die kaum zu wünschen übrig ließ, legte er John Lennon die Worte in den Mund: „Ich habe meine Seele an den Teufel verkauft“. Als Quelle gab er ‚Joseph Niezgoda‘ an.

Es dauerte nur Sekunden, bevor sie auf eine ausführlichere Referenz stieß: The Lennon Prophecy, ein Buch, das „eine Neuprüfung der Todeshinweise bei den Beatles“ vornahm. Das musste eigentlich im Bestand des Ladens oder einer der beiden Hausbibliotheken vorhanden sein. Sie schaute sich im Raum um. Wo war die Musikabteilung? Ah, dort drüben. Sie ging ans Regal, überflog die Titel auf den Buchrücken und hatte den zweihundertseitigen Band schnell gefunden. Sie hoffte, dass er ein Register besaß – Uff! Glück gehabt. Die Zahl der Verweise auf Teufel, Satan und Faust war hoch, doch sie hatte erneut Glück. Bereits einer der ersten Indexeinträge, die sie nachschlug, führte sie zum Zitat. Laut Niezgoda hatte John Lennon es Mitte der 1960er auf dem Höhepunkt der Beatlemania seinem Freund Tony Sheridan gegenüber geäußert. Der Autor gab sogar eine Quelle an: Ray Colemans Definitive Lennon-Biografie, Seite 348. Die reinste Schnitzeljagd! Stünde die Bibliothek ihres Onkels nicht in Griffweite, könnte eine saubere Recherche Tage oder Wochen dauern. Sie stellte den Niezgoda zurück an seinen Platz und überflog die Buchrücken erneut.

Da! Sie zog den Coleman heraus, schlug die angegebene Seite auf, und… konnte das Zitat nicht finden. Sie las die gesamte Seite mehrfach, überflog auch den Text davor und danach – nichts! Und nun? Hatte Niezgoda fantasiert? Sie prüfte das Impressum des Buchs. Nach einer Weile bemerkte sie endlich, dass sie die Ausgabe eines anderen Verlages in Händen hielt. Nun warf sie einen Blick ins Register; der Verweis dort führte sie zu einer gänzlich anderen Seitennummer, aber hier war es: Um den unglaublichen Erfolg seiner Band zu erklären, sagte John zu Tony: „Ich habe meine Seele an den Teufel verkauft.“ Er solle den Satz angeblich nur nebenbei geäußert haben, aber Tony habe sofort verstanden, was John meinte. Woher das Zitat stammte, gab Coleman nicht an. Aus Aussagen an anderer Stelle wurde klar, dass der Autor den Beatles häufig persönlich begegnet war, und so konnte Veronica nur vermuten, dass Coleman als Ohrenzeuge berichtete. Der sechszeilige Absatz, der die Begebenheit beschrieb, stand darüber hinaus in keiner Kontinuität mit den umliegenden Teilen des Kapitels, in dem es um ‚Geld‘ ging. Ob John Lennon den Teufel aus Jux, im übertragenen Sinn oder im Ernst erwähnte, ließ sich so nicht feststellen. Nur im Zusammenhang mit den anderen Indizien trug der isolierte Datenpunkt zum Entstehen eines Bildes bei. Dass zahlreiche weitere Musiker und Schauspieler von Bob Dylan über Jimmy Page, James Hetfield und Katie Perry bis Eminem teils in identischen Worten die Quelle ihres Erfolges benannten, wie Veronica herausfand, verlieh John Lennons Zitat jedoch ein höheres Gewicht.

In Gedanken versunken saß sie im Pilotensmöbel an Pauls Arbeitstisch und überlegte, wie sie weiter vorgehen sollte. Da vernahm sie eine Stimme aus dem unteren Stockwerk, deren fröhlicher Klang ihr Gefühl von Bedrückung zu verspotten schien. Daher verstand sie zunächst nicht, was sie hörte. Als sie sich auf das Geräusch konzentrierte, drang schließlich zu ihr durch, dass jemand lachte; völlig hysterisch lachte.

3) Tiefgarage

„Zwick mich!“, sagte Veronica, als sie wieder im Wagen saßen, die Yewtree Road verließen und nach Süden zu ihrem Hotel steuerten. „Autsch!“, kreischte sie. Der GT vollführte einen kleinen Schlenker. Ein entgegenkommendes Auto blendete die Scheinwerfer auf. „Das ist ja ganz und gar unglaublich.“

„Bis letzte Woche bist du in ausgelatschten Tennisschuhen herumgerannt, und plötzlich kannst du dir so viele Stöckels leisten wie einst Imelda Marcos,“ lachte Zach.

„Und genauso unverdient. Bis letzte Woche kannte ich keinen Onkel Paul; du hast dich im Streit von ihm getrennt, ihn seit zwanzig Jahren nicht gesehen, weißt weder, wie er gestorben ist noch wo er begraben liegt, aber von einem Tag auf den anderen macht er dich zum Millionär. Das ist ein kleines bisschen beunruhigend, oder?“

„Nur so lange, bis diese Fragen geklärt sind. Dr. Miller wird uns schon morgen alles erzählen, und dann…“

„Und dann was?“, bohrte Veronica. „Hängst du unsere Detektei an den Nagel, um alte Autogrammkarten berühmter Musiker an Touristen in Hawaii-Hemden zu verkaufen?“

„Wohl kaum. Dafür fehlt mir die Geduld. Andererseits…“ Er überlegte. „Paul wird sein Vermögen sicher nicht mit Kleinkram gemacht haben. Die Immobilie mitten im Stadtzentrum war sicher enorm teuer. Ihr Kauf hätte sich nur gelohnt, wenn der Laden auch in großem Maßstab Gewinn abzuwerfen versprach. Er wird Raritäten und Unikate gehandelt haben: Cobains letzte Gitarre, die Kulissen vom Pepper-Album der Beatles oder irgendwelche Beethoven-Manuskripte. Dafür spricht auch, dass sich der geschätzte Verkaufswert der noch vorhandenen Waren auf über drei Millionen Pfund beläuft.“

„Man muss sich in der Materie gut auskennen, um aus altem Schrott Geld herauszuschlagen,“ wandte Veronica ein. „Im Gegensatz zu Briefmarken gibt es für seltene Memorabilien bestimmt keine Kataloge oder Preislisten. Du brauchst eine gute Nase, um geeignetes Material aufzuspüren und musst Kontakte zu Sammlern pflegen, um abschätzen zu können, was man an wen für wie viel Kohle weiterverscherbeln kann. Onkel Paul hatte von seiner Zeit beim Sender her bestimmt erstklassige Verbindungen in die Szene. Wir hingegen werden jemand damit beauftragen müssen, den Laden weiterzuführen oder abzuwickeln, sonst verwandelt sich diese Goldgrube in ein schwarzes Loch.“

Zach nickte. „Da hast du wahrscheinlich recht. Aber schauen wir uns die Sache doch erst einmal an, ehe wir voreilige Schlüsse ziehen.“

„Yep. Ich bin dafür, dass wir an der nächsten Pizzeria halten und ordentlich Ballast aufnehmen. Ich komme mir vor, als schwebte ich einige Zentimeter über dem Boden. Mir schwirrt der Kopf.“

„Rate mal, wem noch,“ grunzte Zach.


Am nächsten Morgen schliefen die beiden aus. Sie ließen das Hotelfrühstück sausen – zur Enttäuschung all jener, die gehofft hatten, einen weiteren Auftritt Ludwig Lederrachens erleben zu dürfen – und suchten stattdessen einen Pub auf, der Brunch servierte. Nachdem sie ausgiebig gespeist hatten, steuerte Veronica den Wagen wieder in die Yewtree Road. Mrs Jones ließ sie ein und übergab ihnen einen Ordner mit Unterlagen sowie ein Inventarverzeichnis mit der Aufschrift ‚Campbell‘s Fab Store‘. „Nehmen Sie doch einen Augenblick Platz.“ Sie deutete auf den Eingang zum Wartezimmer. „Dr. Miller wird in wenigen Minuten mit den Haustürschlüsseln eintreffen.“

Zach legte die Papiere auf einen Stuhl neben Veronica, die sich gesetzt hatte. Wieder packte ihn eine seltsame Unruhe. Er begann, wie bereits am Vortag, die Fotos zu inspizieren, die in solch scharfem atmosphärischen Kontrast zu den heiteren Gemälden über ihnen standen: Eines zeigte die vier Pilzköpfe in schwarze Kutten gekleidet, die Gesichter weitgehend im Schatten der Kapuzen verborgen. Auf dem nächsten sah man einen Mann, dessen Gesicht von Bandagen verdeckt war, vor einer Kulisse mit exotischen Pflanzen stehen, zusammen mit einer Person, die eine Hornbrille trug und ihn um fast einen Kopf überragte. Auf einem weiteren Foto präsentierte ein formell gekleideter älterer Herr eine auf ein Samtkissen gebettete historische Waffe, vielleicht eine Streitaxt oder ein Kriegshammer. Ihm gegenüber stand John Lennon mit hängenden Schultern, sichtlich übernächtigt.

Zach wollte seine Tochter fragen, was sie über die Szenen dachte, wurde aber, genau wie am Vortag, unterbrochen – diesmal von Veronica selbst, die das Inventarbuch studiert hatte. „Phantastisch!, Du wirst staunen, was Onkel Paul alles in seinem Laden angeboten hat,“ sagte sie aufgeregt. „Die Trümmer der Gitarre, die Jimi Hendrix auf dem Isle of Man-Festival gespielt hat; ein Zombie-Kostüm namens Eddie, mit dem jemand auf Iron Maidens Killers-Tour über die Bühne wankte; eine Perücke von Tina Turner aus der Zeit mit Ike. Und ja, tausende von Autogrammkarten, alte Ausgaben von Musikzeitschriften, signierte Plektren, Vinylscheiben und anderer Klimbim, aber die wertvollsten Stücke stammen fast alle von den Beatles. Er hat sie auf Bestellung beschafft. Hier, das sind die Namen der Käufer, dahinter der vereinbarte Preis. Wären wir nicht solche Intelligenzbestien würde ich sagen, wir haben mehr Glück als Verstand.“ Sie grinste. Dann bemerkte sie seine Miene. „Was ist?“

Die Tür ging auf, Dr. Miller trat ein.


Sie folgten dem SUV des Notars in die Innenstadt von Liverpool. Die Straßen waren um diese Zeit nur mäßig befahren, so dass sie es in einer Dreiviertelstunde schafften. Statt ihnen einfach nur die Schlüssel zu Laden, Wohnung und Fahrzeug zu überreichen, hatte Dr. Miller angeboten, die Räumlichkeiten für sie zu öffnen. Es gebe einiges zu beachten, sagte er, das er ihnen vor Ort zeigen werde, und er wolle auch seinem Versprechen nachkommen, etwas über die Umstände von Mr Campbells Tod zu erzählen. Und so bogen sie schließlich in die Victoria Street ein, rollten über eine steile Rampe in eine Tiefgarage und fädelten in die ziemlich engen Nischen ein. Es gab nur wenige freie Plätze, so dass die beiden Fahrzeuge in einiger Distanz zu einander standen. Parkplätze, erklärte Dr. Miller, nachdem sie schließlich gemeinsam über eine Treppe auf Straßenniveau zurückgekehrt waren, seien Mangelware so nahe am Touristenzentrum. Es gebe jedoch reservierte Buchten für die Anwohner. Auf einer solchen stehe auch Mr Campbells Wagen. Ob sie ihn gleich sehen wollten?

„Ist es weit?“, fragte Veronica.

„Nein, er befindet sich auf dem Weg zum Laden,“ erwiderte der Notar.

„Dann zeigen Sie uns den Weg,“ meinte Zach.

Über den unscheinbaren Nebeneingang eines Restaurants betraten sie ein Treppenhaus, das sie wieder unter die Erde führte. Durch eine Stahltür gelangten sie auf ein weiteres Parkdeck – ausschließlich für Anlieger –, in dessen entlegenstem Eck sie eine verschlossene Garage erwartete.

Zach sah Miller fragend an. „Ist das nicht ein bisschen übertrieben für einen alten Wagen?“

Miller lachte. „Nicht irgendeinen alten Wagen – einen der Austin Mini Cooper S, die Epstein 1965 für die Beatles besorgt hat! Das Fahrzeug wurde von Harold Radford den Sonderwünschen des Käufers angepasst und wäre schon allein deshalb kein Besitz, den man unbeaufsichtigt am Straßenrand stehen lässt.“ Er zückte einen Schlüsselbund, öffnete das Garagenschloss, drehte am Knauf und riss das Rolltor auf. Ohne nennenswertes Geräusch glitt es nach oben, bis es in eine Haltestellung geriet. Hinter der Öffnung war automatisch eine Serie von Wandlampen angegangen. Sie tauchten einen kastenförmigen Kleinwagen, dessen salbeigrünes Heck ihnen zugewandt war, in warmes Licht. Der cremefarbene Lack des Dachs glänzte wie neu.

„Nett,“ ließ Zach mit einer Stimme vernehmen, der man eine gewisse Enttäuschung anmerken konnte. „Hat im Inventar nicht ‚Aston‘ gestanden?“

Miller lachte erneut. „Nein, Austin. Sie haben einen Aston Martin erwartet, einen DB5, wie James Bond ihn in ‚Goldfinger‘ fuhr, nur silberblau? McCartneys Aston Martin?“

„So ungefähr,“ gab Zach zurück.

„Der würde mir auch gefallen. Er ist leider in festen Händen, seit er vor vier, fünf Jahren für fast anderthalb Millionen Pfund in einer Auktion den Besitzer wechselte. Ich gebe zu, der würde zu Ihnen passen – und zu dem Sportwagen, den Ihre Tochter fährt.“ Wieder warf der Notar Veronica diesen eindringlichen Blick zu. Veronica starrte zurück.

„Wissen Sie, welchem der Beatles der Mini gehört hat?“, unterbrach Zach das Augenduell.

Miller musterte ihn für ein paar Sekunden, ohne eine Miene zu verziehen. „In Sammlerkreisen“ – er betonte das Wort auf eine Weise, die eine viel kleinere Personengruppe andeutete, als es normalerweise bezeichnete – „steht die Nummer ‚LGF 696D‘ für einen Wagen, der vor vielen Jahren spurlos von der Bildfläche verschwunden ist; nun, nicht ganz spurlos. Mr Campbell hat seine Beziehungen spielen lassen und ihn vor drei Jahren wieder aufgetrieben. Er steht mit einem Schätzwert von 183.000 Pfund im Inventar – angelehnt an den Erlös der Auktion, in der McCartneys Exemplar im September 2018 unter den Hammer kam. Aber Mr Campbell war weder dumm noch ungeduldig. Er konnte warten…“

„Warten? Worauf?“, warf Veronica ein.

„Darauf, dass der richtige Mann in sein Leben trat,“ erläuterte Miller. Er seufzte. „Die Welt ist so kurzatmig geworden. Für einen schnellen Riss verwerfen die Leute oft ihre gesamte Zukunft. Und wenn sie den kleinen Vorteil, den sie auf Kosten langfristigem Wohlstand einheimsen konnten, verspielt haben, stehen sie allein und mit leeren Händen da. Paulus Campbell war nicht so. Er war Teil von etwas Größerem, und er handelte vorausschauend. Und er wusste, man muss nur lange genug warten, bis der richtige Sammler zum richtigen Zeitpunkt erscheint – jemand, der ein Medienereignis oder einen Jahrestag zum Anlass nimmt, um sich John Lennons Mini Cooper zum gleichen Preis zu leisten, wie andere für Paul McCartneys Aston Martin DB5 bezahlt haben.“

„Das ist nicht Ihr Ernst?“ Zach hob skeptisch eine Braue.

„Es war Mr Campbells Erfolgsgeheimnis. Es funktionierte bei jedem einzelnen Stück, das er aufspürte, um es weiterzuverkaufen.“

„Nur, dass er dieses Mal zu lang gewartet hat.“

„Nun, er konnte ja nicht wissen, dass er so schnell aus dem Leben gerissen würde. Und hätte er gewusst, dass man ihn ermordet, hätte ihm der Erlös aus einem schnellen Verkauf auch nichts genützt.“

„Da haben sie natürlich re… Wie bitte? Sagten Sie gerade ‚ermordet‘?“

„Mein Beileid, Herr Ziegler, das ist leider das Schicksal, das der Herr Ihrem Stiefbruder zugemessen hat.“