Dank Maria und Henry kannte Zach nun die Adressdaten aller Mitglieder der ‚Familie‘. Die Bezeichnung, die er für eine Gruppe von Memorabiliensammlern anfangs nur seltsam gefunden hatte, nahm in seinen Ohren inzwischen düstere Untertöne an. Die vermeintlichen Hobbyisten mit ihren etwas zu großen Budgets entpuppten sich vor dem Hintergrund seiner neuesten Informationen als eine Art Loge. Die Gruppe besaß einen autoritären Anführer, der Pflichten einer nicht näher bestimmten Natur einfordern konnte, und sie verfolgte eine vom öffentlichen Interesse losgelöste Agenda. Noch am Sonntag hatte der Detektiv geglaubt, Bedingungen vorgeben zu können, unter denen eine Zusammenarbeit des Fab Store mit der Familie möglich würde. Drei Tage später sah es so aus, als bestätige sich Henrys Warnung, dass es Kite war, der den Ton angab. Zach konnte entweder seinen Prinzipien treu bleiben, was dazu führen würde, dass der Schlossherr dem Laden die Kundschaft und damit die wirtschaftliche Grundlage abspenstig machte; nebenbei würde Kite natürlich das Manuskript nicht bezahlen, da er es offiziell nie erhalten hatte. Oder Zach kassierte die Million Schwarzgeld, wurde in den inneren Kreis aufgenommen, würde sich vermutlich dumm und dämlich verdienen – und gab dem Paten selbst die Mittel in die Hand, ihn für den Rest seines Lebens zu schikanieren.
Diese Entscheidung fiel im erstaunlich leicht. Er brauchte Kites Geld nicht. Er konnte einfach Pauls Millionenerbe einstecken und nach London zurückkehren. Die Frage, ob er den Fiskus schädigte, wenn er die Kohle annahm, spielte keine Rolle; Steuern waren aus seiner Sicht von Schutzgelderpressung nur dadurch zu unterscheiden, dass der Staat mehr bewaffnete Gangster unterhielt. Aber er würde eher auf jeden Zugewinn verzichten, als nach der Pfeife anderer Leute zu tanzen – insbesondere von Leuten vom Schlage dieses William Wallace Campbell.
Das leitete Zachs Gedanken zu dem Ermittlungsauftrag zurück, den der Schlossherr ihm erteilt hatte. Kite hatte das Foto aus den Akten irgendeiner Behörde entwenden lassen – und war dann seinerseits von Leuten bestohlen worden, die eine Revision der gefälschten Bandgeschichte anstrebten, wenn man Maria Glauben schenkte. Sowohl die Behörde als auch Kite hatten gegen Naturrecht verstoßen. Erstere hatten die Bevölkerung über die Identität des Toten belogen, letzterer hatte sich angeeignet, was ihm nicht freiwillig gegeben wurde. Die Gruppe, der Maria angehörte, besaß aus demselben Grund ebenfalls kein Recht, das Objekt an sich zu nehmen, außer man betrachtete sie als Teil jener von der Behörde betrogenen Bevölkerung; dann konnte man ihnen zugute halten, dass sie ihre verletzten Rechte wieder herstellten. Sein Herz schlug für für ihre Sache, auch wenn er das, was zwischen Kirk und Kite geschehen war, entsetzlich fand. Tatsächlich bewunderte er die Bereitschaft dieser Menschen, aus freien Stücken persönliche Opfer für etwas zu bringen, an das sie glaubten. Es waren die Angepassten, Duckmäuser und Hasenfüße, die Tyrannen wie Kite den Weg ebneten und an der Macht hielten.
Aber Zach hatte nun einmal Kites Auftrag angenommen. Er würde ermitteln – und er würde entscheiden, wie viel davon das Familienoberhaupt erfahren durfte. Der Detektiv prüfte seine Prioritätenliste. Wie erwartet gab es Verschiebungen. Er hatte geplant, Henry einzuladen, dem er genau wie Maria ein gewisses Vertrauen entgegenbrachte. Doch der ältere Mann hatte das Schloss verlassen, bevor Kirk das Autopsiefoto ihren Helfern übergab. Vermutlich konnte er wenig zur Klärung der Vorgänge an jenem Abend beitragen. Statt Henry würde Zach nun Dr Robert anrufen – den Notar. Er griff zu dem schwarzen, Schellack-gepanzerten Telefon und gab über dessen Wählscheibe die Nummer der Kanzlei ein. Fasziniert beobachtete er, wie die Scheibe nach jeder Ziffer von einer Feder getrieben langsam wieder in ihre Ausgangsstellung zurückglitt. Es erinnerte ihn an Honig, der von einem Löffel troff.
„Notariat Dr Jules R. Miller; Wickens am Apparat. Was kann ich für Sie tun?“, meldete sich die Stimme der Sekretärin.
Wickens? So hieß doch der Leiter der Mordkommission, wunderte sich der Detektiv. Miller hatte die Sekretärin ‚Mrs Jones‘ genannt, als er ihr die Erbunterlagen übergab. Was ging hier vor? „Guten Tag, Mrs Jones“, versucht er also sein Glück. „Hier spricht Zachary Ziegler, der Nachlassnehmer von Paulus Campbell.“
Die Frau am anderen Ende der Leitung gab durch nichts zu erkennen, dass seine Anrede inkorrekt sein könnte. Stattdessen flötete sie: „Guten Tag, Mr Ziegler. Steht alles zu Ihrer Zufriedenheit?“
„Danke der Nachfrage. Meine Tochter und ich sind in Liverpool geblieben, um die Bedingungen für eine Weiterführung des Ladens zu prüfen. Es gefällt uns ausgenommen gut in der Stadt.“
„Das freut mich sehr. Ich werde ihnen wohl bald einen Besuch abstatten müssen, um den bestellten Koffer abzuholen.“
Zach stutzte. Dann erkundigte er sich: „Sind Sie zufällig Mrs Molly Jones?“
Die Stimme am Telefon lachte vergnügt. „Ich würde eher sagen: vorsätzlich. Schließlich habe ich den Namen als mein Sammlerpseudonym gewählt.“
Zach stimmte in ihr Lachen ein. „Ach so. Na, das trifft sich aber gut. Ich wollte Sie schon seit einigen Tagen ansprechen, aber Sie wissen ja, wie es so geht, wenn man in eine Situation wie die meine geworfen wird…“
„Aber ja doch, Mr Ziegler. Ich verstehe Sie vollkommen. Wenn Sie mehr Zeit brauchen…“
„Ganz und gar nicht. Bitte kommen Sie baldmöglichst in den Laden. Ich möchte mich ohnehin ein wenig mit Ihnen unterhalten – über Paul und die Familie.“
„Gern. Wenn Sie möchten, gleich heute nach Feierabend, sagen wir: sechs Uhr. Ich habe im Zentrum zu tun.“
„Hervorragend. Da wäre eine weitere Bitte. Auch wenn es mir ungemein Freude bereitet, mit Ihnen zu plaudern, so habe ich eigentlich aus einem anderen Grund angerufen. Ich müsste dringend mit dem Notar sprechen. Können Sie mir einen Termin vereinbaren?“ Zach hörte das Rascheln umgeblätterter Seiten; hin, her, und wieder hin.
„Passt Ihnen Freitag, 14 Uhr?“
Viertel nach sechs Uhr abends läutete die elektrische Klingel. Veronica ging die Treppen hinunter, um zu sehen, wer vor der Ladentür stand. Sie erkannte die Gestalt der Notariatssekretärin sofort und beeilte sich, das Schloss zu entriegeln. „Mrs Jones, einen schönen guten Abend. Was führt Sie zu uns?“
Die Mittvierzigerin trat ein. Veronica schloss sofort wieder ab.
„Guten Abend, Miss Ziegler. Ihr Vater rief am Vormittag in der Kanzlei an. Wir haben bei der Gelegenheit vereinbart, dass ich gleich heute vorbeikomme, um die bestellte Ware abzuholen.“
Die Kleidung der Frau – ein fessellanges Kleid aus leichtem blassgelbem Baumwollstoff, das viel Schlüsselbein enthüllte, großformatiger Modeschmuck im Ohr und Mokassins an den Füßen – gefiel Veronica ausgesprochen gut. Gleichzeitig hatte sie den Eindruck, einer nicht ganz zeitgemäßen Erscheinung gegenüber zu stehen. Dazu trug auch das zu einem Kranz geflochtene Haar bei. „Sie sind Kundin bei uns?“, fragte sie überrascht.
Während Veronica hinter die Theke ging, um das Warenbuch zu holen, sagte Mrs Jones: „Und hoffe, es bleiben zu können. Mr Campbells Dienste schlugen jeden Bestellkatalog. Ich wüsste gar nicht, was ich ohne den Fab Store anziehen sollte.“
Die Detektivin hielt erstaunt inne. „Wie meinen Sie das? Sie sehen doch wunderbar aus.“
„Danke“, erwiderte die Besucherin mit einem dankbaren Lächeln. „Ich sagte es ja. Das Kleid und den Schmuck hat Mr Campbell besorgt, nachdem ich die Sachen in einer alten Nachrichtensendung gesehen hatte. Sie gehörten Pattie Boyd, George Harrisons Freundin.
Nun fiel bei Veronica der Groschen. „Sie sammeln Kleidungsstücke aus den Sechzigern.“
„Das Meiste stammt aus den Sechzigern, aber ich lasse mir eigentlich alles Mögliche beschaffen, das mit den Freundinnen und Frauen der vier ex-Beatles zu tun hat: Schmuck, Schatullen, Perücken, Haushaltsgegenstände, Kleider – einfach alles. Statt ins Einkaufszentrum kam ich in den Fab Store, wenn ich etwas brauchte. Mein Haushalt ist weitgehend mit solchen Dingen ausgestattet.“
„Wie originell. Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass das mit der Zeit ins Geld geht.“
Mrs Jones zuckte die Achseln. „Wofür soll man‘s sonst ausgeben? Wenn wir gehen, nehmen wir nur unsere Seelen mit.“
Veronica, die inzwischen das Warenbuch gefunden und auf den Tresen gelegt hatte, enthielt sich eines Kommentars. Wer wusste, welche Tragödien verhindert hatten, dass es bei den Jones‘s niemand gab, dem sie den Wohlstand eines erfolgreichen Berufslebens weitergeben konnten? Stattdessen fragte sie: „Was haben Sie bestellt, und auf welchen Namen, bitte?“
„Einen Koffer; für Molly Jones.“
Veronicas Zeigefinger fuhr die letzten Einträge entlang. „Ah, hier.“ Sie stutzte, erneut überrascht, als sie erkannte, dass es Mal Evans‘ Koffer sein musste, der hier gemeint war. „Das muss ein Fehler sein“, murmelte sie.
„Was denn?“
„Wir haben momentan nur einen Koffer auf Lager. Er gehörte Mal Evans, dem Roadie.“
„Das ist er. Mal hat ihn von Jane Asher ‚geerbt‘. Sie ließ ihn zurück, als sie McCartneys Haushalt verließ.”
„Wie können Sie das wissen? Der Koffer ist für so lange Zeit verschollen gewesen, dass alle glaubten, er sei ein Mythos.“
Molly Jones lächelte. „Nicht alle, und definitiv nicht mehr, seit er 2004 wieder aufgetaucht ist. Schauen Sie nach: Janes Initialen stehen neben den Schnallen eingraviert.“
Veronica starrte der Sekretärin für einen Moment ins Gesicht, dann packte sie das Warenbuch und die Vertragsformulare. „Kommen Sie mit.“ Sie ging zwischen den Warentischen auf die Tür des Hinterzimmers zu und durch sie hindurch. Molly Jones folgte ihr. Veronica öffnete den Safe. Der Koffer – mehr Kiste als Reisetasche – stand mittig auf dem Boden. Sie zog ihn heraus und inspizierte den Verschluss, der tatsächlich aus zwei Schnallen bestand, neben denen sie links ein ‚J‘ und rechts ein ‚A‘ in verschnörkelter Schrift eingraviert sah. Sie legte das Trumm flach hin. Es leistete keinen Widerstand, als sie an den Schnallen zog. Der Deckel ließ sich ohne Probleme öffnen. Innen war der Koffer mit einer Samtpolsterung ausgeschlagen, die einmal golden geglänzt haben musste, nun jedoch zu einem trüb gelblichen Braun verblasst war. In- wie auswärtig zeigte er deutliche Abnutzungsspuren: Abgestoßene Ecken, Macken, Risse und Flecken ließen ihn eher unansehnlich wirken.
„Wenn man nicht wüsste, welch bewegte Geschichte er hinter sich hat, würde man auf dem Flohmarkt vielleicht zwanzig Pfund dafür hinlegen“, sagte Molly Jones, als ob sie Veronicas Gedanken erraten hätte.
„Einschließlich des alten Krempels darin“, ergänzte Veronica. „Und nun wechselt das Behältnis allein für zwölftausend Pfund Sterling die Besitzerin.“
„Kleingeld im Vergleich zum Wert einiger der Objekte, die es über die Jahrzehnte rettete. Verrückt, oder? Sagen Sie, dürfte ich vielleicht einen Blick darauf werfen?“
„Das kann ich nicht entscheiden, Mrs Jones. Manche Ihrer Kollegen widersprachen solchen Bitten.“
„Schade eigentlich.“
„Mhm. Aber ich hoffe, der Koffer entspricht Ihren Vorstellungen. Werden Sie ihn übernehmen?“
„Welch eine Frage.“
„Nur der Fairness halber. Es könnte ja sein, dass der wirkliche Gegenstand von den Spezifikationen des bestellten Objekts abweicht.“
„Nein, er erfüllt meine Erwartungen voll und ganz.“
„Helfen Sie mir; ich bin neu im Handelsgeschäft. Wie lange kann der Kunde die Ware ohne Angabe von Gründen zurücksenden?“, erkundigte sich Veronica mit einem Zwinkern.
„Und riskieren, dass das gute Stück für weitere fünfzig Jahre im Keller eines Freimaurers verschwindet?“ fragte die Sekretärin trocken zurück.
Veronica lachte laut auf. Sie trat an die Treppe und rief nach ihrem Vater. „Mr Ziegler wird die Übergabe vornehmen. Setzen Sie sich doch.“
Die Sekretärin hatte sich kaum gesetzt, als Zachs Schritte auf den Stufen über ihnen ertönten. „Mrs Jones,“ rief er ihr aus halber Höhe zu, „wie schön, dass Sie so schnell vorbeigekommen sind.“
„Die Freude ist meinerseits“, erwiderte sie. „Es hat entsetzlich lange gedauert, den Koffer aufzuspüren. Ich konnte es kaum erwarten, ihn endlich einmal zu berühren.“
„Er ist groß genug, sich darin für ein Schläfchen einzurollen“, scherzte Zach.
„Nun, da sie‘s erwähnen – er sieht dem Exemplar auf Yesterday and Today ein bisschen ähnlich.“ Sie schüttelte sich.
Die Zieglers warfen einander verstohlene Blicke zu. „Keine Ahnung“, signalisierten sie sich gegenseitig. Veronica reichte ihrem Vater den Block mit den Vertragsformularen. Der öffnete die Seite, auf der die Beschaffung des Koffers vereinbart war. Er legte das Dokument vor Mrs Jones auf das Tischchen. Sie unterschrieb die Empfangsbestätigung.
„Wie werden Sie ihn nach Hause bringen? Soll ich einen Transportdienst beauftragen?“, fragte Zach.
„Ja bitte. Setzen Sie es auf die Rechnung.“
„Geht auf‘s Haus“, wehrte Zach ab. „Ich hätte allerdings ein paar Fragen, die ich Ihnen stellen möchte.“
„Um was geht es?“