Sie klopfte ein zweites Mal an die Schlafzimmertür ihres Vaters. „Frühstück ist fertig“, rief sie gut gelaunt und wartete, ob sich drinnen etwas regte. Ein Lattenrost knarrte, Füße wurden geräuschvoll auf den Boden gestellt. Veronica kehrte zur Küche zurück, setzte sich an den gedeckten Tisch und wartete. Minuten später traten Maria und Zach ein und nahmen gegenüber Platz. Seit die Italienerin mit in das Haus an den Rainford Gardens eingezogen war, lag es jeden Tag an Veronica, den Kaffee aufzusetzen. Zu ihrer Belustigung benahmen sich die beiden wie frisch verliebte Teenager. Sie gab hierzu jedoch keinen Kommentar ab; vielmehr genoss sie die ungewohnte Vitalität ihres Vaters und die angenehme Gesellschaft der neuen Hausgenossin.
Und zugegeben: Sie verbrachten ihre Tage nicht lediglich mit Turteleien, sondern arbeiteten bis spät in die Nacht an Recherchen für ein Projekt, in das sie auch Veronica einbanden. Ihre Rolle bestand darin, das Konzept für eine Workshop-Reihe zum bewussten Umgang mit Medien zu entwerfen. Von der Schulung der Beobachtungsgabe über Methoden zur kritischen Daten- und Medienanalyse bis hin zu wissensphilosophischen Erörterungen würde sie ein breit angelegtes Programm für angehende freie Medienschaffende auf die Beine stellen. Es sollte Menschen helfen, aus dem passiven Konsum von Infotainment-Produkten auszusteigen, um die Herrschaft über den eigenen Geist wieder zu gewinnen… Ihr Vater hatte wirklich Talent, brandheiße Themen in langweilige Wörter zu packen, die mit Sicherheit niemand hinter dem Ofen hervorlockten. Und genau darum sollte sie selbst nicht nur die Autorin dieser Aktivität sein, sondern auch deren Gesicht.
Maria und Zach sammelten derweil Material für eine Serie von Dokumentationen, die im Stil von ‚Bilder, die die Welt bewegten‘ Verbrechen der Unterhaltungsindustrie aufdecken würde, beginnend mit dem aktuellen Stand der PID-Forschung. Darüber sprachen sie nun bei Tisch, kaum dass sie die erste Tasse geleert hatten.
„Die Veränderungen zwischen 1966 und 1967 hätten kaum krasser ausfallen können,“ erörterte Zach. „es ist ein Wunder, dass wir als Fans den Braten nicht gerochen haben. Das stinkt doch geradezu nach frischem Blut in der Band. Ich denke, diesen Aspekt müssen wir stärker herausarbeiten.“
„Die Wenigsten waren damals bereit, die veränderte Lage zu akzeptieren – selbst dann nicht, als sie mit der Nase darauf gestoßen wurden. Ich bezweifle grundsätzlich, dass Menschen allein aufgrund von vermittelten Informationen fähig sind, sich zu ändern“, erwiderte Maria. „Wir müssen Anknüpfungspunkte an Alltagserfahrungen finden, wenn wir mehr Erfolg haben wollen als die Aufklärer Ende der Sechziger.“
„Was ist nun eigentlich die Moral von der Geschichte?“, klinkte sich Veronica ins Gespräch. „Paul ist tot, und weiter? Worauf wollt ihr mit euren Filmen hinaus? Ich meine, was soll das Projekt von normalem Infotainment unterscheiden?“
„Die Botschaft zum Mitnehmen lautet nicht, dass Paul McCartney tot ist“, erklärte Maria. „Wir wissen nicht, welche der verschiedenen Storys stimmt, ob er einen Unfall hatte oder Satan geopfert wurde, ob er einen Aston Martin DB5 oder DB6 oder einen Austin Mini fuhr. Wir wissen nicht, ob andere Fahrzeuge darin verwickelt waren. Wir wissen nicht, wo oder wann genau es geschah, ob er eine Beifahrerin hatte und wenn ja, wie sie hieß oder ob sie überlebt hat. Wir kennen den wirklichen Namen seines angeblichen Nachfolgers nicht. Wir können nicht mit Bestimmtheit sagen, welche der Paul-ist-tot-Hinweise in Songs, Filmen, Fotos, Interviews oder auf Albumhüllen echt und welche eingebildet sind, oder welche der vielen möglichen Interpretationen die richtige ist. Wir wissen nicht einmal, ob er überhaupt tot ist oder nur einen symbolischen Tod in einem Initiationsritus gestorben ist, oder ob es sich um einen Marketing-Gag handelt oder um ein frei erfundenes Produkt der Beatlemania.“ Sie hielt kurz inne, um nachzudenken. „Wenn Ende 1966 etwas Gravierendes mit Paul geschehen ist und die ganzen Clues in den Beatles-Songs echte Hinweise sind,“ fuhr sie fort, „dann hat niemand etwas davon mitbekommen, bis drei Jahre später, 1969, jemand die Geschichte von Pauls Ableben in die Medien gedrückt hat. Danach konnte man das, was man aufgrund medialer ‚Enthüllungen‘ wahrgenommen hat, nicht mehr ungesehen machen. Man kann seither nur noch Stellung dazu beziehen.“
Veronica zuckte mit den Schultern. „Ok, die Beatles pflegten einen kreativen Umgang mit der Wahrheit – na und? Inwiefern betrifft uns Heutige ein fünfzig, sechzig Jahre alter Skandal?“
„Außer dass immer wieder Menschen im Umfeld dieser Leute unter seltsamen Umständen sterben und du fast eine von ihnen geworden wärst? Sir Pauls Ex-Frau Heather Mills meint sich mit der Behauptung schützen zu müssen, sie habe inkriminierende Informationen hinterlegt, die im Falle eines Falles an die Öffentlichkeit gelangen würden.“
„Schon klar. Aber wie wollt ihr eurem Publikum die Bedeutung der Affäre für andere als die direkt betroffenen Personen nahe bringen? Ich nehme doch an, dass es euch letztlich um mehr als die Beatles geht, oder? Wozu sonst die Workshop-Serie, die ich für euch planen und durchführen soll?“
„Du hast natürlich recht“, schaltete Zach sich ein. „Wie gesagt geht es keineswegs darum, Leute von PID zu überzeugen – der Theorie, dass Paul McCartney tot ist –, sondern sie für die Möglichkeit zu öffnen, dass offizielle Narrative in die Irre führen können oder sogar sollen. Um sich den wirklichen Geschehnissen anzunähern, sollten sie nicht nach mehrheitsfähigen Ansichten streben, sondern ihre Suche nach Wahrheit als individuelle Reise unternehmen. Was sich tatsächlich abspielte, werden wir vielleicht nie erfahren, aber wir können uns dem annähern, wenn wir Auslassungen, Lügen und Widersprüche in dem wahrzunehmen beginnen, was man uns vorsetzt. Immer und überall.“
Maria nickte. „Das betrifft alle medialen Ereignisse, jede klitzekleine Nachrichtenmeldung, die man liest, jedes Foto, das man sieht, jeden Songtext, den man hört, jedes Bild, das für Sekundenbruchteile in einem Musikvideo aufblitzt. Was weißt du wirklich über den Mann, den sie als den neuen Hitler porträtieren? Hast du schon mit ihm gesprochen? Was weißt du wirklich über Viren – hast du je welche gesehen? Was weißt du über die Rolling Stones oder Madonna, über Keanu Reaves oder Julia Roberts, über O.J. Simpson oder Steffi Graf? Nichts davon entstammt deiner eigenen Erfahrung; alles, was du zu wissen glaubst, hat dir irgendjemand unter die Nase gehalten; meist dieselben Leute, die dir die Musik, das Medikament, die Politik, den Krieg oder was auch sonst verkaufen wollen.“
„Also kann man gar nichts mehr glauben“, folgerte Veronica.
„Du darfst alles glauben, was du möchtest, aber du kannst, wenn du ehrlich bist, nur noch sehr wenig von dem wirklich wissen, was du bisher zu wissen glaubtest. Genau das ist der springende Punkt, und das ahnst du wahrscheinlich schon seit langem.“
Sie nickte. „Aber es ist verdammt anstrengend, danach zu leben.“
Zach lachte. „So ist das mit der Wahrheit. Sie ist oft unangenehm, manchmal schmerzhaft und darum selten mehrheitsfähig. Doch ohne sie gibt es keine Freiheit, keinen Frieden und letztlich auch kein Glück.“
„Es fällt mir trotz allem, was wir herausgefunden haben, immer noch schwer, die ganze Tragweite zu akzeptieren. Ich glaube, ich habe… Angst vor den Implikationen.“
Maria legte eine Hand auf Veronicas Schulter. „Ich finde es bewundernswert, dass du dir ihrer bewusst bist. Mach es dir etwas leichter, indem du sie begrüßt statt sie zu vermeiden zu versuchen. Denn wenn unser verändertes Verständnis der Wirklichkeit nicht in verändertes Verhalten münden soll, warum sich die Mühe machen, Wahrheit zu finden?“
Ende