Zach entledigte die Tasse mit der Aufschrift „Schwarzer Tod“ ihres dampfenden Inhalts wie gewohnt auf einen Zug. „Verdammt!“, brummte er. „Halb kalt.“ Dann widmete er sich wieder einem Stoß von Briefen, deren Adressfelder er jeweils kurz studierte, bevor er sie auf einen von zwei Stapeln ablegte.
Veronica, die ihn über den Rand ihrer Müslischüssel beobachtete, hob die rechte Augenbraue. „Tut mir furchtbar leid.“
Zach wollte gerade einen offiziell wirkenden Umschlag beiseite legen. Dann zögerte er. Seine Stirn legte sich in Falten, während er die Beschriftung erneut musterte. Er blickte auf. „Was tut dir leid?“
„Dein Kaffee.“ Sie strich sich mit dem Löffelstiel eine Strähne aus dem Gesicht und betrachtete ihn amüsiert.
„Das sollte es auch!“, grollte der Privatdetektiv. „Wie soll ein Mann arbeiten, wenn er kein ordentliches Frühstück bekommt?“
„Wenn du mir beibringst, wie man das Wasser über dem Siedepunkt flüssig hält… Willst du ihn nicht aufmachen?“, fragte sie. Als er sie irritiert ansah, deutete sie mit dem Löffel auf seine Hand und fügte hinzu: „Den Brief. Ich rieche einen neuen Fall.“
Er schaute sich suchend auf dem Tisch um, griff dann nach dem Buttermesser seiner Tochter, steckte es sich in den Mund und zog es langsam zwischen zusammengekniffenen Lippen wieder heraus. Er wendete den Umschlag noch einmal, um die Rückseite in Augenschein zu nehmen, dann führte er die Klinge in den oberen Falz ein und durchtrennte ihn zügig, ohne auf Veronicas missbilligendes Schnalzen einzugehen. Er fischte das Schriftstück heraus, ein einzelnes Blatt, das nach dem Entfalten einen professionellen Briefkopf zeigte. Während Zachs Augen flink über einige wenige gedruckte Zeilen huschten, wich alle Farbe aus seinem Gesicht. Er ließ das Blatt sinken. „Paul…“, sagte er nur.
„Paul? Welcher Paul?“
„Onkel Paul, mein Stiefbruder.“
„Du hast einen Stiefbruder? Wie kommt es, dass ich nichts von ihm weiß?“ Sie nahm ihrem Vater den Briefbogen ab und las halblaut: „… leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Angehöriger, Paulus Campbell, gebürtig… bla bla… am vergangenen Sonntag verstorben… bla… bla… beauftragt, Sie zur Testamentseröffnung einzuladen. Bitte finden Sie sich am… blafasel… Dr. Jules R. Miller, Notar.“
„Der Sohn deiner Oma Lana aus erster Ehe. Wir…“ Er schwieg einen Moment, den Blick gesenkt. „Wir haben uns seit fast zwanzig Jahren nicht mehr gesehen.“
„Ach, Dad!“ Sie legte ihre Hand auf die seine. „Es tut mir furchtbar leid,“ sagte sie wieder, diesmal jedoch ohne den schnippischen Unterton, „aber ich erinnere mich überhaupt nicht an ihn.“
„Du warst zu jung; erst zwei oder drei.“
„Warum hast du nie über ihn gesprochen? Weshalb habt ihr einander nicht besucht?“
Zach entzog seiner Tochter die Hand, erhob sich und ging schweren Schrittes auf die Tür seines Büros zu. „Ich… brauche einen Moment.“
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Das Ächzen eines Stuhls, dann herrschte Stille im anderen Raum. Veronica erhob sich nun ebenfalls, begann die Reste des vorzeitig beendeten Frühstücks auf ein Tablett zu laden und trug dieses in die Küche.
Der orange lackierte Opel GT flitzte über die M1 nach Norden, auf Liverpool zu. Den Wagen hatte Veronica, die wie ihr Vater eine Schwäche für Technik der vor-elektronischen Zeit hegte, zufällig bei Ermittlungen in einem Fall entdeckt. Es war ihnen gerade gelungen, den von ihnen gesuchten Heiratsschwindler in einem Hamburger Stundenhotel aufzustöbern, wo sie das von ihrer Mandantin gewünschte Kompromat sammeln konnten. Nachdem der Mann fluchtartig das Zimmer verlassen hatte, war Veronica ans Fenster getreten. Sie hatte aus dem dritten Stock in den Hinterhof jenes Etablissements geblickt und die schnittige Karosse dort stehen sehen. Damals war sie von altersmattem Weiß gewesen; eine Beule hatte die Beifahrertür verunstaltet und die Felgen waren stark verrostet gewesen. Und doch bot das Fahrzeug mit seinen eleganten Formen und den versenkbaren Frontleuchten einen Anblick, der sie sofort gefesselt hatte.
Das Fabrikat war ihr fremd – vielleicht der Prototyp einer nie gebauten Corvette-Serie? Sie würde es herausfinden. Das Gezeter der jungen Frau („Sammy,“ gab sie mit misstrauischem Blick an) war verstummt. Stattdessen hörte sie nun ihren Vater beruhigend auf sie einreden. Veronica drehte sich um. In Zachs ausgestreckter Hand war für einen kurzen Moment ein Geldschein zu sehen, bevor sich Sammys Finger blitzschnell um ihn schlossen und an sich rissen. Zach lächelte; sie würde keinen Krawall verursachen.
„Sorry für die Störung,“ sagte Veronica freundlich. „wir sind gleich wieder draußen.“ Sie hatte nun erstmals Gelegenheit, das Mädchen eingehender zu betrachten; slawische Gesichtszüge, schulterlanges blondes Haar, das einen blauen Fleck an der linken Schläfe halb verdeckte; ein breiter Mund, ein graziler Hals; unter dem Leinen, das sie bedeckte, zeichnete sich ein sehr feminin geformter Körper ab, und doch: keine junge Frau. Ihr achtzehnter Geburtstag lag definitiv mehr als ein paar Wochen in der Zukunft. Nicht gut. Veronica runzelte die Stirn.
Sammy nickte unsicher. „Klar…hm, schon gut.“ Ihr Akzent bestätigte die vermutete Herkunft.
„Sag mal, du weißt doch bestimmt, wem der Sportwagen da unten gehört?“
„Der weiße?“
„Ja.“
„Hannes. Dem Boss. Warum willst du das wissen?“
„Wo finde ich diesen Hannes?“
Auf dem Gang polterten schwere Schritte, dann wurde die Tür aufgerissen. „Was ist hier los?“, knurrte der Klotz, der in der Öffnung erschienen war. Anzug, offenes Hemd, keine Krawatte, der Schädel besser rasiert als Kinn und Wangen. „Was fällt euch ein, die Kunden zu vergraulen? Raus mit euch, aber zackig!“
„Wir… suchen Hannes,“ flötete Veronica und legte die Hände an die Hüften.
„Glückes Geschick, ti-ri-li! Er steht direkt vor euch und der Laden“ – er deutete auf seine Hose – „ist gerade offen.“ Das entsprach sogar der Wahrheit. Der Klotz musterte Veronica von oben bis unten, dann sagte er: „Heißes Gerät, aber ein bisschen zu alt.“
Sie warf einen schnellen Seitenblick auf Sammy, schaute Hannes wieder frech ins Gesicht und ließ ihre Brauen tanzen. „Ja, das ist mir auch schon aufgefallen,“ entgegnete sie. „Es war bestimmt nicht leicht, eine Lizenz dafür zu bekommen.“ Sie legte den Kopf schief.
Der Klotz kam einen Schritt näher. „Willst du mir drohen, Kleine?“
„Nicht so schnell!“, rief Zach, der die rechte Hand halb aus der Jackentasche zog. Der Griff einer Walther wurde sichtbar.
Der Klotz blieb stehen. „Was wollt ihr hier?“
„Das heiße Gerät da unten im Hof, gehört das Ihnen?“, fragte Veronica.
„Vielleicht. Vielleicht auch nicht.“
„Nun gut, wir können auch auf dem Revier nachfragen; wollten mit den Jungs ohnehin ein paar Tipps auszutauschen…“
„Was wäre, wenn der Schlampenschlepper mir gehört?“
„Dann kommen wir vielleicht ins Geschäft,“ erwiderte Veronica.
Ihr Vater hatte den Wagen bar bezahlt, seine Restauration und die Überführung auf die Inseln veranlasst und Veronica samt einem Fahrsicherheitstraining zum neunzehnten Geburtstag geschenkt. „Das ist eigentlich kein Auto für eine junge Frau,“ hatte er gesagt, „aber du hast deinen guten Geschmack eindeutig von deinem alten Herrn geerbt, und der ist sehr, sehr stolz auf dich.“
Die erste Stunde über, während sie sich aus dem dichten Londoner Stadtverkehr hinaus quälten, hatten sie geschwiegen. Das Gedränge begann sich so langsam zu lichten. Veronica ließ den GT seine Muskeln spielen. Geschickt nutzte sie Lücken, um sich nach vorn zu arbeiten, und als schließlich offene Strecke vor ihnen lag, gab sie ordentlich Gas.
„Was ist damals eigentlich zwischen euch vorgefallen?“, erkundigte sie sich endlich. Die Frage hatte ihr die ganze Woche über unter den Nägeln gebrannt, aber Zach war nie recht in der Stimmung gewesen, über Paul zu reden. Nun, da sie sich auf dem Weg zum Notariat Miller befanden und es weder etwas anderes zu tun noch zu bereden gab, konnte sie ihre Neugier nicht länger zügeln. Sie sah, dass ihr Vater geneigt schien, die Frage zu überhören, aber sie ließ nicht locker: „Ich meine, ihr habt euch bestimmt nicht einfach auseinandergelebt.“
Er brummte, überlegte kurz und sagte: „Nein, haben wir nicht. Das ist eine lange Geschichte.“
„Noch immer fast zweihundert Meilen Fahrt vor uns.“
Er seufzte. „Na gut.“ Einige Sekunden verstrichen. „Ich war fünf Jahre alt, als meine Stiefmutter bei uns einzog. Paul war sechs. In dem Alter erscheint einem ein Jahr wie eine riesige Hürde, aber wir freundeten uns sofort an. Er zeigte mir viele coole Tricks beim Fußball. Er war um etliches größer als die meisten seines Alters und stellte sich den anderen Jungs in den Weg, wenn sie mich in die Zange nehmen wollten. Das taten sie oft; sie hielten mich für einen Spinner. Ich interessierte mich mehr für Bücher als für Sport, Zigaretten oder in späteren Jahren Mädchen. Einmal hatten sie mich allein erwischt. Sie drängten mich in eine Ecke und wollten gerade beginnen, mich zu ‚bearbeiten‘, da kam Paul wie eine Naturgewalt über sie. Sie waren zu viert, aber er hat sie so vermöbelt, dass einer von ihnen einen Zahn verlor. Er war eigentlich ein friedfertiger Mensch; doch wenn er etwas sah, das er für ungerecht hielt, konnte er energisch werden.“
Zach hielt kurz inne. Er lächelte. „Als du geboren wurdest, bot er sich sofort als Pate an. Paul hat nie geheiratet, wenn du verstehst, was ich meine, aber er mochte Kinder, und er hat ihnen immer irgendwelche Kniffe beigebracht, die sie noch nicht kannten. Er war derjenige, der dich das Gehen lehrte, während deine Mutter und ich…“ Er schnaubte. „…während deine Mutter und ich mit unseren Karrieren beschäftigt waren. So wie deine Großeltern viel zu selten Zeit für mich und Paul gehabt hatten.“
Erneut pausierte er. Dann: „Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht mehr an den Skandal um Jimmy Savile.“
„Nah, ich war gerade zwölf, als die Doku über ihn rauskam. Ich hab sie mir aber zum Teil angesehen. Dieses alte Schwein!“
„Ja, Savile war ein Schwein. Er war aber beileibe nicht der einzige Kinderficker im Land. Da war eine ganze Gang von weiteren bekannten BBC-Radiomoderatoren und Musikern unterwegs, die ihren Promi-Status benutzten, um an Nachschub zu gelangen. Die Polizei hatte konkrete Verdachtsmomente gegen fast 200 solcher Personen. Keiner kann mir erzählen, dass die Leute in den Chefetagen nichts davon wussten, dass Benefizgalas für Kinder in Not, Jugendtalentshows und ähnliche Programme für pädophile Zwecke missbraucht wurden. Wir wussten davon, verdammt noch mal, und wir sind hellhörig geworden, als wir erfuhren, dass Onkel Paul dich regelmäßig an seinen Arbeitsplatz mitgenommen hatte – zur BBC. Du hast damals eine schwierige Phase durchlaufen. Eine Kinderpsychologin, die wir konsultierten, deutete an, es könne jemand im engeren Umfeld geben, der dich missbraucht. Wir haben Paul zur Rede gestellt. Er räumte ein, im Team von Savile zu arbeiten und mit Leuten wie diesem Gary Glitter zu tun gehabt zu haben. Er nannte sie ‚ein bisschen exzentrisch‘, stritt aber vehement ab, von irgendwelchen Unregelmäßigkeiten gewusst zu haben. Deine Mum war extrem aufgebracht. Sie glaubte ihm kein Wort, schmiss ihn aus dem Haus und untersagte ihm, jemals wieder in deine Nähe zu kommen. Ich kannte ihn besser. Trotzdem war ich mir unsicher, daher habe ich es geschehen lassen.“
Veronica blickte ihn schockiert an. „Heißt das…?“
„Nein. Dir ist kein Haar gekrümmt worden. Wir zogen eine Traumatherapeutin zu Rate, mit deren Hilfe wir relativ schnell herausfanden, dass wir selbst dein größtes Problem gewesen sind. Du hast dich wegen unserer ständigen Abwesenheit schwer vernachlässigt gefühlt. Als mir klar geworden ist, welch großes Unrecht ich begangen hatte, wollte ich den Kontakt mit Paul wieder herstellen. Aber er war unauffindbar. Er hatte bei der BBC gekündigt und war umgezogen. Von einer gemeinsamen Freundin habe ich Jahre später erfahren, dass er direkt nach unserer Auseinandersetzung Nachforschungen über den Pädophiliesumpf im Musikbusiness angestellt hat. Seine Erkenntnisse müssen wohl einen wesentlichen Beitrag zu einigen der Enthüllungen geleistet haben, die nach Saviles Ableben veröffentlicht worden sind.“ Er schaute zum Beifahrerfenster hinaus. „Paul war unschuldig.“