Punkt acht Uhr fuhr der orange lackierte Opel GT auf den Parkplatz der Polizeiwache. Diese befand sich zwar nur wenige Minuten zu Fuß vom Fab Store entfernt, doch Veronica wollte anschließend ein paar Dinge für den Haushalt einkaufen. Sie ließ sich dem Leiter der Mordkommission vorführen. Es entging ihr nicht, dass der junge Kollege, der sie zu Donald Wickens‘ Amtsstube begleitete, heimlich ihre Figur bewunderte. „Da wären wir wieder“, dachte sie. „Was ein schickes schwarzes Kleid doch ausmacht. Wäre ich in Pulli und Jeans erschienen, hätte er mich nach meinem Ausweis gefragt. Nun aber beeilt er sich, mir jeden Wunsch zu erfüllen.“ Sie hoffte, dass sie auf den Kommissar ähnlich attraktiv wirkte. Ihrer Erfahrung nach löste körperbetonte Kleidung die Zungen der meisten Männer schnell und zuverlässig. Aber Wickens war natürlich ein alter Hase in seinem Geschäft. Möglicherweise konnte er entsprechende Impulse routiniert zügeln. Seine forsche Stimme forderte sie auf, einzutreten, nachdem der junge Polizist angeklopft hatte. Wickens saß hinter dem Schreibtisch. auf dessen Oberfläche sich mehrere Stapel mit Aktenordnern türmten. Als Veronica den Arbeitsplatz fast erreicht hatte, stand er auf und reichte ihr über den Tisch hinweg die Hand. Dann wies er auf den Stuhl davor. „Setzen Sie sich“, forderte er sie auf.
„Hübsch haben Sie‘s hier“, sagte Veronica ironisch. Sie bemerkte an seinen irritierten Gesichtszügen, dass sie ihn mit ihrer Bemerkung auf dem falschen Fuß erwischt hatte. Das Büro war ein ebenso zweckmäßig wie hässlich eingerichteter Raum, an dem rein gar nichts hübsch oder schön aussah; eine durchschnittliche Amtsstube, wenn man so wollte.
„Wirklich?“, erwiderte er. „Nominieren Sie uns gern im Wettbewerb für die malerischsten Polizeiwachen Großbritanniens. Wo bleibt übrigens der Herr Papa? Sind Sie allein hergekommen?“
„Er hat leider geschäftlich zu tun und bedauert darüber hinaus sehr, dass ihr Kaffeeautomat… sie verstehen schon.“
Wieder dieser irritierte Blick. „Nein, ich verstehe nicht. Was ist das Problem mit dem Kaffee?“
„Das… fragen Sie ihn am besten selbst. Ich hoffe aber, dass wir uns trotzdem gut unterhalten.“ Sie zog ihr Kleid straff, dann setzte sie sich. „Mr Wickens, wir haben um dieses Gespräch ersucht, weil William Campbell – Mr Kite – uns beauftragt hat, den Verbleib eines Gegenstandes aus seinem Besitz zu ermitteln.“
Der Kommissar hob die Augenbrauen. „So?“
„Dieser wurde in der Nacht der letzten Familienfeier entwendet,“ fuhr sie fort, „dieselbe Nacht, in der Paulus Campbell ermordet wurde.“
„So so!“, sagte der Kommissar wieder.
Diesen Mann zu befragen würde mühselig werden, fürchtete Veronica. Er schien entschlossen, sich jedes Wort aus der Nase ziehen zu lassen. „Können Sie mir erzählen, wie der Abend des 30. April aus Ihrer Perspektive verlaufen ist?“, begann sie ihre Erkundigung.
„Nun, viel zu erzählen gibt es da nicht“, erwiderte er erwartungsgemäß. „Wir hatten uns in Kites Schloss versammelt, um den Erwerb von Mal Evans‘ Koffer zu feiern. Laut der Gerüchte, die seit Jahrzehnten umgingen, sollte er zahlreiche begehrte Gegenstände enthalten, die zusammen wahrscheinlich mehrere Millionen Pfund auf dem freien Markt wert sind. Paulus Campbell, der das Geschäft für uns abgeschlossen hat, hätte ihn mitbringen sollen, doch er ist nicht erschienen. Also betranken wir uns einfach und unterhielten uns über dies und das.“
„Hat denn niemand versucht, ihn telefonisch zu erreichen?“
„Aber ja. Sowohl Kite als auch ich haben ihn mehrmals angerufen, doch er hob nicht ab.“
„Was, glauben Sie, hielt ihn davon ab, auf der Feier zu erscheinen?“
„Keine Ahnung. Ein Missverständnis vielleicht?“
„Fiel Ihnen am Verhalten der Gäste etwas auf, das vom Gewohnten abwich? Gab es Anspielungen auf Dinge, die über den Kopf eines Uneingeweihten gingen? Gab es Begehrlichkeiten? Streit?“
„Nicht dass ich wüsste.“
„Ist Ihnen bekannt, welchen Gegenstandes wegen unsere Detektei ermittelt?“
„Kite erwähnte ein Foto.“
„Er bat sie nicht, bei der Wiederbeschaffung zu helfen?“
„Nein. Er erzählte es nur so nebenbei.“
„Wenn Sie einen Tip abgeben müssten, auf wen fiele Ihr Verdacht?“
„Ich habe wirklich nicht genug Informationen über die Sache, als dass ich mir eine Meinung bilden könnte.“
„Sie und Ihre Frau haben das Treffen als erste verlassen. Um welche Uhrzeit waren Sie zuhause?“
„Puh, keine Ahnung. Am frühen Morgen des 1. Mai irgendwann.“
„Sind Sie vom Schloss direkt zu Ihrer Wohnung gefahren?“
Wickens zeigte erneut Zeichen der Irritation. Er runzelte die Stirn. „Was soll die Frage? Inwiefern hat das mit dem Diebstahl zu tun? Verdächtigen Sie mich etwa?“
„Bitte geben Sie mir einfach eine Antwort.“
„Wir waren beide ziemlich müde. Meine Frau schlief bereits während der Rückfahrt ein. Keine weiteren Partys also.“
„Es hätte ja sein können, dass Sie sich gleich wieder in Ihre Arbeit stürzen wollten.“ Veronica ließ es wie eine scherzhafte Bemerkung klingen.
„Meine Kollegen sind durchaus in der Lage, für ein paar Stunden meiner Abwesenheit die Stellung zu halten. Sie genießen mein vollstes Vertrauen.“
„In gleicher Weise genießen Sie meines. Als neue Bürgerin Liverpools fühle ich mich beruhigt.“
Wickens musterte sie mit durchdringendem Blick, als wolle er abschätzen, ob sie es ernst oder ironisch meinte, doch Veronica hatte ein Pokerface aufgesetzt. Er wurde nicht schlau aus ihr. Sie beschloss, ihn aus der Reserve zu locken. Sie behauptete: „Wir haben Grund zu der Annahme, dass Duchess of Kirkcaldy die Gunst der Stunde genutzt hat. Mehrere der Gäste berichteten uns, dass sie in auffälliger Weise mit dem Hausherrn anzubändeln versuchte. Teilen Sie diese Einschätzung?“
Wickens lachte trocken. „Anzubändeln – nett ausgedrückt. Sie hat ihn vom Moment ihres Eintreffens angebettelt, flachgelegt zu werden, wenn Sie mich fragen. Geht mich aber nichts an.“
„Unsere Informationen besagen, dass sie dieses Ziel nicht nur erreicht hat, sondern im Zuge dessen auch Zugang zu dem Foto erhielt. Seit dem 1. Mai fehlt von ihr außerdem jede Spur. Wir vermuten nun, dass sie sich mit der Beute abgesetzt hat.“
Der Kommissar stutzte. Hatte er den Köder gefressen? Veronica legte nach. „Wir vermuten des weiteren, dass sie sich noch irgendwo in der Nähe aufhält, vielleicht bei Verwandten oder Freunden im Umland von Liverpool. Ist Ihnen darüber etwas bekannt? Haben Sie Kirk im vergangenen Monat eventuell sogar gesehen?“
Wickens setzte eine Miene konzentrierten Nachdenkens auf. Dann sagte er: „Ich habe sie tatsächlich gesehen. Sie kam zu mir und bat um den Schlüssel zum Landhaus der Familie. Wir haben einen alten Bauernhof in den Bergen nördlich von hier restauriert, müssen Sie wissen. Wir nutzen ihn als Ort für besondere Gelegenheiten. Kirk sagte, sie brauche eine Auszeit.“
„Meinen Sie, sie hält sich noch immer dort auf?“
„Sie hat den Schlüssel jedenfalls noch nicht zurückgegeben.“
„Wie finden wir das Landhaus?“
„Es steht ziemlich abgelegen; so abgelegen, dass selbst die meisten Routenplaner Ihnen keinen Weg weisen können. Wahrscheinlich finden Sie es ohne Hilfe überhaupt nicht.“ Wickens schaute Veronica forschend ins Gesicht. Als sie Anstalten machte, die logische nächste Frage zu stellen, kam er ihr zuvor. Er sagte: „Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen den Weg.“
„Das würden Sie tun? Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar. Wann hätten Sie denn Zeit?“
Der Kommissar zuckte mit den Schultern. „Gleich, wenn Sie wollen.“ Er zeigte auf die Aktenstapel auf seinem Schreibtisch. „Ich suche gerade eh einen Vorwand, dem hier zu entkommen.“
Veronica und der Kommissar eilten längst im GT nach Norden, als Henry the Horse den Fab Store betrat. Zach empfing ihn wie einen alten Freud. Sie umarmten sich und klopften einander auf den Rücken. „Schön, dass du dir Zeit für mich nimmst“, sagte der Detektiv.
„Keine Ursache,“ erwiderte der ältere Mann, „du weißt doch, dass ich Rentner bin und Montag vormittags sowieso zum Frühstücken in die Altstadt komme. Ehrlich gesagt vermisse ich die langen Gespräche hier im Laden.“
„Na, dann lass uns doch die Tradition wieder aufnehmen.“ Zach wies mit der Rechten auf die Tür im Hintergrund des Ladenlokals. „Komm, ich mach uns einen Kaffee.“
Eine Viertelstunde später, als der Duft des heißen Aufgussgetränks dem Raum eine gewisse Atmosphäre der Gemütlichkeit verliehen hatte, schwenkte Zach auf das Thema über, das ihm für heute am Herzen lag. „Henry, ich glaube, die ‚Familie‘ steckt in großen Schwierigkeiten.“ Der Detektiv ließ den Satz in der Luft hängen. Er betrachtete das Gesicht seines Gegenübers auf der Suche nach Zeichen der Zustimmung oder Ablehnung.
Henrys Mundwinkel zuckten, doch er antwortete nicht sofort. Er nahm seine Tasse vom Tisch, führte sie langsam an die Lippen und nippte vorsichtig daran. Erst nachdem er sie zurückgestellt und es sich wieder im Sessel bequem gemacht hatte, erwiderte er: „Und nicht erst seit heute.“
„Zu dem Eindruck bin auch ich gekommen, nachdem ich mit vielen von euch gesprochen habe. Wenn ich es recht verstehe, gibt es unter den Sammlern zwei grundlegend verschiedene Auffassungen darüber, wo eure Aktivitäten hinführen sollen, resultierend aus unvereinbaren Ansichten über die menschliche Natur. Würdest du mir zustimmen?“
„Brillant auf den Punkt gebracht, mein lieber Zachary. Auf der einen Seite steht ein elitärer Haufen, der sich für Übermenschen hält, während er den Rest der Menschheit als unnützes, dummes Volk betrachtet, dem man sagen muss, was es tun und lassen soll. Auf der anderen Seite – zu der ich selbst mich zähle – befinden sich jene unter uns, die die Kontroll- und Manipulationsbemühungen Ersterer als das erkennen, was sie eigentlich sind: selbsterfüllende paranoide Wahnvorstellungen. Ich glaube… nein, ich weiß, dass Menschen im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, wie die Floskel so schön besagt, zu unendlich viel mehr Gutem fähig sind als wir gerade sehen, wenn man sie nur lässt. Die moderne Welt ist nicht das Ergebnis einer angeblich fehlerhaft geschaffenen Spezies, sondern legt Zeugnis vom Scheitern des Kontrollwahns eines engen Kreises von Nutznießern ab.“
„Ich hätte es nicht treffender formulieren können,“ stimmte Zach dem Älteren zu, „doch meine Bemerkung zielte weniger auf das latente Konfliktpotenzial in der Familie ab sondern vielmehr auf eine akute Notlage. Eure Gruppe hat Kites Regime auf eine Weise herausgefordert, die der Mann als Kriegserklärung auffasst. Die Detektei wurde von ihm beauftragt, ein von euch entwendetes Foto wieder zurückzuführen.“
Henrys Augenbrauen zuckten in die Höhe.
„Darüber kam es auch zwischen uns und Kite zum Bruch. Also mach dir keine Sorgen. Ich werde bestimmt niemand an ihn ausliefern. Ich möchte dich aber darauf aufmerksam machen, dass eure gewohnten Routinen auf unabsehbare Zeit der Vergangenheit angehören. Möglicherweise steht die Familie als solche vor der Auflösung.“
„Danke für deine Offenheit. Ich werde dir natürlich als Kunde treu bleiben.“
„Freut mich zu hören, Henry. Im Moment plagen mich eine ganze Reihe anderer Sorgen. Ich möchte dieses Foto auftreiben; ich versuche, den Mörder meines Stiefbruders zu finden; ich brauche Munition, die mir Kite vom Leib hält, und, am drängendsten: Ich muss mit Kirk sprechen. Leider ist sie seit dem Familientreffen spurlos verschwunden.“
„Das fiel mir ebenfalls auf“, erwiderte Henry. „Ich habe mehrfach versucht, sie anzurufen, doch sie geht nie an die Leitung. So langsam mache ich mir Sorgen.“
„Ohne Umschweife: Weißt du, wer das Foto mitgenommen hat?“
„Nein. Ich hätte jedem abgeraten, es einzustecken. Viel zu gefährlich. Und ich hoffe für Kirk, dass sie nicht Diejenige-welche war, denn sonst wird sie es mit Kites unbeherrschtem Zorn zu tun bekommen.“
„Ehrlich gesagt befürchten wir genau das, unabhängig davon, ob sie es war oder nicht. Sie bot sich als Blitzableiter geradezu an, nachdem sie Kites Wachsamkeit geschwächt hat.“