38) Findet Kirk!

Punkt acht Uhr fuhr der orange lackierte Opel GT auf den Parkplatz der Polizeiwache. Diese befand sich zwar nur wenige Minuten zu Fuß vom Fab Store entfernt, doch Veronica wollte anschließend ein paar Dinge für den Haushalt einkaufen. Sie ließ sich dem Leiter der Mordkommission vorführen. Es entging ihr nicht, dass der junge Kollege, der sie zu Donald Wickens‘ Amtsstube begleitete, heimlich ihre Figur bewunderte. „Da wären wir wieder“, dachte sie. „Was ein schickes schwarzes Kleid doch ausmacht. Wäre ich in Pulli und Jeans erschienen, hätte er mich nach meinem Ausweis gefragt. Nun aber beeilt er sich, mir jeden Wunsch zu erfüllen.“ Sie hoffte, dass sie auf den Kommissar ähnlich attraktiv wirkte. Ihrer Erfahrung nach löste körperbetonte Kleidung die Zungen der meisten Männer schnell und zuverlässig. Aber Wickens war natürlich ein alter Hase in seinem Geschäft. Möglicherweise konnte er entsprechende Impulse routiniert zügeln. Seine forsche Stimme forderte sie auf, einzutreten, nachdem der junge Polizist angeklopft hatte. Wickens saß hinter dem Schreibtisch. auf dessen Oberfläche sich mehrere Stapel mit Aktenordnern türmten. Als Veronica den Arbeitsplatz fast erreicht hatte, stand er auf und reichte ihr über den Tisch hinweg die Hand. Dann wies er auf den Stuhl davor. „Setzen Sie sich“, forderte er sie auf.

„Hübsch haben Sie‘s hier“, sagte Veronica ironisch. Sie bemerkte an seinen irritierten Gesichtszügen, dass sie ihn mit ihrer Bemerkung auf dem falschen Fuß erwischt hatte. Das Büro war ein ebenso zweckmäßig wie hässlich eingerichteter Raum, an dem rein gar nichts hübsch oder schön aussah; eine durchschnittliche Amtsstube, wenn man so wollte.

„Wirklich?“, erwiderte er. „Nominieren Sie uns gern im Wettbewerb für die malerischsten Polizeiwachen Großbritanniens. Wo bleibt übrigens der Herr Papa? Sind Sie allein hergekommen?“

„Er hat leider geschäftlich zu tun und bedauert darüber hinaus sehr, dass ihr Kaffeeautomat… sie verstehen schon.“

Wieder dieser irritierte Blick. „Nein, ich verstehe nicht. Was ist das Problem mit dem Kaffee?“

„Das… fragen Sie ihn am besten selbst. Ich hoffe aber, dass wir uns trotzdem gut unterhalten.“ Sie zog ihr Kleid straff, dann setzte sie sich. „Mr Wickens, wir haben um dieses Gespräch ersucht, weil William Campbell – Mr Kite – uns beauftragt hat, den Verbleib eines Gegenstandes aus seinem Besitz zu ermitteln.“

Der Kommissar hob die Augenbrauen. „So?“

„Dieser wurde in der Nacht der letzten Familienfeier entwendet,“ fuhr sie fort, „dieselbe Nacht, in der Paulus Campbell ermordet wurde.“

„So so!“, sagte der Kommissar wieder.

Diesen Mann zu befragen würde mühselig werden, fürchtete Veronica. Er schien entschlossen, sich jedes Wort aus der Nase ziehen zu lassen. „Können Sie mir erzählen, wie der Abend des 30. April aus Ihrer Perspektive verlaufen ist?“, begann sie ihre Erkundigung.

„Nun, viel zu erzählen gibt es da nicht“, erwiderte er erwartungsgemäß. „Wir hatten uns in Kites Schloss versammelt, um den Erwerb von Mal Evans‘ Koffer zu feiern. Laut der Gerüchte, die seit Jahrzehnten umgingen, sollte er zahlreiche begehrte Gegenstände enthalten, die zusammen wahrscheinlich mehrere Millionen Pfund auf dem freien Markt wert sind. Paulus Campbell, der das Geschäft für uns abgeschlossen hat, hätte ihn mitbringen sollen, doch er ist nicht erschienen. Also betranken wir uns einfach und unterhielten uns über dies und das.“

„Hat denn niemand versucht, ihn telefonisch zu erreichen?“

„Aber ja. Sowohl Kite als auch ich haben ihn mehrmals angerufen, doch er hob nicht ab.“

„Was, glauben Sie, hielt ihn davon ab, auf der Feier zu erscheinen?“

„Keine Ahnung. Ein Missverständnis vielleicht?“

„Fiel Ihnen am Verhalten der Gäste etwas auf, das vom Gewohnten abwich? Gab es Anspielungen auf Dinge, die über den Kopf eines Uneingeweihten gingen? Gab es Begehrlichkeiten? Streit?“

„Nicht dass ich wüsste.“

„Ist Ihnen bekannt, welchen Gegenstandes wegen unsere Detektei ermittelt?“

„Kite erwähnte ein Foto.“

„Er bat sie nicht, bei der Wiederbeschaffung zu helfen?“

„Nein. Er erzählte es nur so nebenbei.“

„Wenn Sie einen Tip abgeben müssten, auf wen fiele Ihr Verdacht?“

„Ich habe wirklich nicht genug Informationen über die Sache, als dass ich mir eine Meinung bilden könnte.“

„Sie und Ihre Frau haben das Treffen als erste verlassen. Um welche Uhrzeit waren Sie zuhause?“

„Puh, keine Ahnung. Am frühen Morgen des 1. Mai irgendwann.“

„Sind Sie vom Schloss direkt zu Ihrer Wohnung gefahren?“

Wickens zeigte erneut Zeichen der Irritation. Er runzelte die Stirn. „Was soll die Frage? Inwiefern hat das mit dem Diebstahl zu tun? Verdächtigen Sie mich etwa?“

„Bitte geben Sie mir einfach eine Antwort.“

„Wir waren beide ziemlich müde. Meine Frau schlief bereits während der Rückfahrt ein. Keine weiteren Partys also.“

„Es hätte ja sein können, dass Sie sich gleich wieder in Ihre Arbeit stürzen wollten.“ Veronica ließ es wie eine scherzhafte Bemerkung klingen.

„Meine Kollegen sind durchaus in der Lage, für ein paar Stunden meiner Abwesenheit die Stellung zu halten. Sie genießen mein vollstes Vertrauen.“

„In gleicher Weise genießen Sie meines. Als neue Bürgerin Liverpools fühle ich mich beruhigt.“

Wickens musterte sie mit durchdringendem Blick, als wolle er abschätzen, ob sie es ernst oder ironisch meinte, doch Veronica hatte ein Pokerface aufgesetzt. Er wurde nicht schlau aus ihr. Sie beschloss, ihn aus der Reserve zu locken. Sie behauptete: „Wir haben Grund zu der Annahme, dass Duchess of Kirkcaldy die Gunst der Stunde genutzt hat. Mehrere der Gäste berichteten uns, dass sie in auffälliger Weise mit dem Hausherrn anzubändeln versuchte. Teilen Sie diese Einschätzung?“

Wickens lachte trocken. „Anzubändeln – nett ausgedrückt. Sie hat ihn vom Moment ihres Eintreffens angebettelt, flachgelegt zu werden, wenn Sie mich fragen. Geht mich aber nichts an.“

„Unsere Informationen besagen, dass sie dieses Ziel nicht nur erreicht hat, sondern im Zuge dessen auch Zugang zu dem Foto erhielt. Seit dem 1. Mai fehlt von ihr außerdem jede Spur. Wir vermuten nun, dass sie sich mit der Beute abgesetzt hat.“

Der Kommissar stutzte. Hatte er den Köder gefressen? Veronica legte nach. „Wir vermuten des weiteren, dass sie sich noch irgendwo in der Nähe aufhält, vielleicht bei Verwandten oder Freunden im Umland von Liverpool. Ist Ihnen darüber etwas bekannt? Haben Sie Kirk im vergangenen Monat eventuell sogar gesehen?“

Wickens setzte eine Miene konzentrierten Nachdenkens auf. Dann sagte er: „Ich habe sie tatsächlich gesehen. Sie kam zu mir und bat um den Schlüssel zum Landhaus der Familie. Wir haben einen alten Bauernhof in den Bergen nördlich von hier restauriert, müssen Sie wissen. Wir nutzen ihn als Ort für besondere Gelegenheiten. Kirk sagte, sie brauche eine Auszeit.“

„Meinen Sie, sie hält sich noch immer dort auf?“

„Sie hat den Schlüssel jedenfalls noch nicht zurückgegeben.“

„Wie finden wir das Landhaus?“

„Es steht ziemlich abgelegen; so abgelegen, dass selbst die meisten Routenplaner Ihnen keinen Weg weisen können. Wahrscheinlich finden Sie es ohne Hilfe überhaupt nicht.“ Wickens schaute Veronica forschend ins Gesicht. Als sie Anstalten machte, die logische nächste Frage zu stellen, kam er ihr zuvor. Er sagte: „Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen den Weg.“

„Das würden Sie tun? Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar. Wann hätten Sie denn Zeit?“

Der Kommissar zuckte mit den Schultern. „Gleich, wenn Sie wollen.“ Er zeigte auf die Aktenstapel auf seinem Schreibtisch. „Ich suche gerade eh einen Vorwand, dem hier zu entkommen.“


Veronica und der Kommissar eilten längst im GT nach Norden, als Henry the Horse den Fab Store betrat. Zach empfing ihn wie einen alten Freud. Sie umarmten sich und klopften einander auf den Rücken. „Schön, dass du dir Zeit für mich nimmst“, sagte der Detektiv.

„Keine Ursache,“ erwiderte der ältere Mann, „du weißt doch, dass ich Rentner bin und Montag vormittags sowieso zum Frühstücken in die Altstadt komme. Ehrlich gesagt vermisse ich die langen Gespräche hier im Laden.“

„Na, dann lass uns doch die Tradition wieder aufnehmen.“ Zach wies mit der Rechten auf die Tür im Hintergrund des Ladenlokals. „Komm, ich mach uns einen Kaffee.“

Eine Viertelstunde später, als der Duft des heißen Aufgussgetränks dem Raum eine gewisse Atmosphäre der Gemütlichkeit verliehen hatte, schwenkte Zach auf das Thema über, das ihm für heute am Herzen lag. „Henry, ich glaube, die ‚Familie‘ steckt in großen Schwierigkeiten.“ Der Detektiv ließ den Satz in der Luft hängen. Er betrachtete das Gesicht seines Gegenübers auf der Suche nach Zeichen der Zustimmung oder Ablehnung.

Henrys Mundwinkel zuckten, doch er antwortete nicht sofort. Er nahm seine Tasse vom Tisch, führte sie langsam an die Lippen und nippte vorsichtig daran. Erst nachdem er sie zurückgestellt und es sich wieder im Sessel bequem gemacht hatte, erwiderte er: „Und nicht erst seit heute.“

„Zu dem Eindruck bin auch ich gekommen, nachdem ich mit vielen von euch gesprochen habe. Wenn ich es recht verstehe, gibt es unter den Sammlern zwei grundlegend verschiedene Auffassungen darüber, wo eure Aktivitäten hinführen sollen, resultierend aus unvereinbaren Ansichten über die menschliche Natur. Würdest du mir zustimmen?“

„Brillant auf den Punkt gebracht, mein lieber Zachary. Auf der einen Seite steht ein elitärer Haufen, der sich für Übermenschen hält, während er den Rest der Menschheit als unnützes, dummes Volk betrachtet, dem man sagen muss, was es tun und lassen soll. Auf der anderen Seite – zu der ich selbst mich zähle – befinden sich jene unter uns, die die Kontroll- und Manipulationsbemühungen Ersterer als das erkennen, was sie eigentlich sind: selbsterfüllende paranoide Wahnvorstellungen. Ich glaube… nein, ich weiß, dass Menschen im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, wie die Floskel so schön besagt, zu unendlich viel mehr Gutem fähig sind als wir gerade sehen, wenn man sie nur lässt. Die moderne Welt ist nicht das Ergebnis einer angeblich fehlerhaft geschaffenen Spezies, sondern legt Zeugnis vom Scheitern des Kontrollwahns eines engen Kreises von Nutznießern ab.“

„Ich hätte es nicht treffender formulieren können,“ stimmte Zach dem Älteren zu, „doch meine Bemerkung zielte weniger auf das latente Konfliktpotenzial in der Familie ab sondern vielmehr auf eine akute Notlage. Eure Gruppe hat Kites Regime auf eine Weise herausgefordert, die der Mann als Kriegserklärung auffasst. Die Detektei wurde von ihm beauftragt, ein von euch entwendetes Foto wieder zurückzuführen.“

Henrys Augenbrauen zuckten in die Höhe.

„Darüber kam es auch zwischen uns und Kite zum Bruch. Also mach dir keine Sorgen. Ich werde bestimmt niemand an ihn ausliefern. Ich möchte dich aber darauf aufmerksam machen, dass eure gewohnten Routinen auf unabsehbare Zeit der Vergangenheit angehören. Möglicherweise steht die Familie als solche vor der Auflösung.“

„Danke für deine Offenheit. Ich werde dir natürlich als Kunde treu bleiben.“

„Freut mich zu hören, Henry. Im Moment plagen mich eine ganze Reihe anderer Sorgen. Ich möchte dieses Foto auftreiben; ich versuche, den Mörder meines Stiefbruders zu finden; ich brauche Munition, die mir Kite vom Leib hält, und, am drängendsten: Ich muss mit Kirk sprechen. Leider ist sie seit dem Familientreffen spurlos verschwunden.“

„Das fiel mir ebenfalls auf“, erwiderte Henry. „Ich habe mehrfach versucht, sie anzurufen, doch sie geht nie an die Leitung. So langsam mache ich mir Sorgen.“

„Ohne Umschweife: Weißt du, wer das Foto mitgenommen hat?“

„Nein. Ich hätte jedem abgeraten, es einzustecken. Viel zu gefährlich. Und ich hoffe für Kirk, dass sie nicht Diejenige-welche war, denn sonst wird sie es mit Kites unbeherrschtem Zorn zu tun bekommen.“

„Ehrlich gesagt befürchten wir genau das, unabhängig davon, ob sie es war oder nicht. Sie bot sich als Blitzableiter geradezu an, nachdem sie Kites Wachsamkeit geschwächt hat.“

35) Hier stehe ich, …

„Mrs Wickens, haben Sie Ihren Koffer geliefert bekommen?“, fragte Zach die Sekretärin, als sie auf dem Weg nach draußen an der Empfangstheke vorbeigingen.

„Danke, er kam gestern Nachmittag an – heil, ohne Hinzufügungen oder Weglassungen.“

„Gut. Bei diesem Teil weiß man ja nie. Es scheint Fundbüros zu mögen.“

„Von jetzt an wird er schön auf meinem Dachboden stehen bleiben. Keine Ausflüge mehr nach New York oder Melbourne.“

Veronica und Zach lachten. Sie verabschiedeten sich von der Sekretärin und wandten sich zum Gehen. Dann drehte Zach sich noch einmal um. „Ach, Mrs Wickens,“ sagte er, „haben Sie Ihrem Mann meinen Wunsch nach einem Gespräch weiterleiten können?“

„Gut, dass Sie es erwähnen. Fast hätte ich es vergessen. Er lässt ausrichten, Sie sollen Montag um acht Uhr auf der Wache vorbeischauen.“


Der GT-Motor röhrte, Veronica setzte den Blinker und lenkte den Wagen in den Feierabendverkehr. Die Ampel am Ende der Yewtree Road war auf lange Rot- und kurze Grünphasen eingestellt. Sie näherten sich ihr im Schritttempo.

„Glaubst du ihm?“, fragte Veronica.

„Misstraust du ihm noch immer?“, stellte Zach die Gegenfrage.

„Ich habe mich heute mit der Möglichkeit angefreundet, dass dein erster Eindruck der treffendere war: Miller hat Tiefgang, und deshalb schaut er gern hinter die Fassade. Er kommt mir nun nicht mehr so unheimlich vor. Seine Aussagen passen außerdem haargenau zu Marias Bericht, den ich glaubhaft fand. Und er hat die schwierigen Fragen offen beantwortet.“

„Aber?“

„Aber ich finde es schwer zu glauben, dass ausgerechnet der Fotosammler der Familie sich die Gelegenheit durch die Lappen hat gehen lassen, eines der für ihn interessantesten und wichtigsten Objekte einzupacken. Erinnere dich: Er war laut Maria derjenige, der die Bedeutung des Bildes sofort erkannt hat. Wenn die bisher befragten Personen die Wahrheit gesagt haben, bleiben nur Mr Mustard, Rocky Raccoon und Duchess of Kirkcaldy im Kreis der Verdächtigen – Leute mit völlig anderen Interessengebieten. Ich bin geneigt, das Mädchen auszuschließen, weil ihr klar gewesen sein muss, dass sie sich für Kite zur offensichtlichen Zielscheibe gemacht hätte.“ Veronica überlegte.

Die Ampel schaltete auf Grün, ließ die letzten vor ihnen verbleibenden Fahrzeuge passieren und wechselte erneut zu Rot. Zach schnaufte und verdrehte die Augen.

„Was wäre, wenn es gar keinen Diebstahl gegeben hätte?“, fragte Veronica nun. „Hältst du es für denkbar, dass Kite denselben Trick abzieht, wie beim Manuskript – offiziell gestohlen, aber längst im Campbell‘schen Tresor verstaut?“

„Brillant. Du denkst wie eine echte Mafiosa. Wir hätten damit einen plausiblen Grund, weshalb er die eigene Person von den Ermittlungen ausgenommen sehen möchte. Doch weshalb beauftragte er überhaupt einen Detektiv?“

„Erstens, das würde seine Behauptung glaubhafter erscheinen lassen. Er ruft ‚Haltet den Dieb!‘ und begibt sich damit in die Opferrolle, während sich die Blicke aller Anwesenden suchend von ihm abwenden. Zweitens könnte er mit unserer Hilfe herausbekommen, ob er tatsächlich einem Komplott auf den Leim gegangen ist, wer daran beteiligt war und was die Gruppe erreicht hat.“

Zach brummte. Grimmig starrte er die noch immer rote leuchtende Ampel an. Hinter ihnen hupte jemand so ungeduldig, wie der Detektiv sich fühlte. „Vielleicht müssen wir eine Münze einwerfen, damit das blöde Ding uns durchlässt“, grollte er.


Der Mittfünfziger saß zurückgelehnt im Sessel, ein Bein lässig über das andere geschlagen. Er hatte kurze schwarze Haare und trug T-Shirt und Bluejeans, die nur auf den ersten Blick wie gewöhnliche Straßenkleidung aussahen, in Wirklichkeit jedoch teure Designertextilien waren. Sein Verhalten gab Zach unmissverständlich zur Kenntnis, dass der Mann eine klar geschnittene Vorstellung von der Welt besaß, dass er wusste, was er wollte, dass er es gewohnt war, Anweisungen zu geben, und dass er nicht lange um den heißen Brei herumredete. Rocky Raccoon weigerte sich, seinen bürgerlichen Namen zu nennen.

„Seit meiner Jugend kenne ich nichts anderes als Musik“, sagte er. “Mein Vater war einer dieser Starproduzenten, die man anrief, wenn man garantierte Hits brauchte. Er sorgte dafür, dass ich eine solide Ausbildung als Musiker, Tontechniker und Volkswirt erhielt und benutzte seine Kontakte, um mich im Management eines der größten Labels im Land zu platzieren. Ich habe die Firma über ein Jahrzehnt geleitet, bevor ich mich mit Fünfzig zur Ruhe setzte. Das hier –“ er zeigte mit dem Daumen über die Schulter zur Tür, die in den Laden führte, „– das hier ist mein privater Feldzug, eine mir selbst gestellte Aufgabe, die ich streng getrennt von meiner beruflichen Laufbahn halte. Die beiden schließen sich gegenseitig aus.“

„Ich bin sicher, manche in der Familie sehen das anders. Ich verstehe aber inzwischen, dass das Vorhaben ihrer… Gruppe den Interessen des Establishments, speziell der Musikindustrie, vollständig zuwider läuft. Ist es das, was Sie sagen wollen?“

„Haarscharf. Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, die Masche, mit Hilfe derer die Beatles groß geworden sind, bei jeder einzelnen Kapelle zu reproduzieren, die sie –“, er zeigte nach oben, „– in den Hitparaden platzieren wollten. Qualität spielte keine Rolle; das Schicksal der Musiker spielte keine Rolle; das Wohl des Kunden spielte keine Rolle; gesellschaftliche Folgen spielten keine Rolle. Es lief für mich nicht anders als für Leute in anderen Berufen. Sobald man begreift, dass die klaffende Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit weder zufällig entstand noch auf die Unfähigkeit einzelner Akteure zurückzuführen ist, muss man seine Wahl treffen. Es ist die wichtigste Entscheidung, vor der ein Mensch je stehen wird.“

Zach nickte und fügte hinzu: „Ob man in ihrem Schmierenstück mitwirkt oder das Theater verlässt.“

Rocky Raccoon wiegte den Kopf. „Sehr plakativ gesprochen: ja. Es gibt natürlich Graustufen, aber ich möchte betonen, dass man auf beiden Seiten des Orchestergrabens aktive und passive Rollen spielen kann. Es hat mir nicht gereicht, der Theatertruppe lediglich den Rücken zu kehren. Ich kann unmöglich auf dem Reichtum ausruhen, den ich im Dienst der Maschine angehäuft habe. Da ich nun aus eigener Anschauung weiß, was ich über sie weiß, bleibt mir nur die Wahl, ihr aktiv Widerstand zu leisten.“

„Leute wie Kite belächeln Ihre Bemühungen, denn er weiß genau, mehr als neunzig Prozent aller Menschen verstehen nicht, wovon Sie überhaupt reden. Und der größte Teil aller anderen wird Ihnen sagen, dass Sie sich bloß die Finger verbrennen.“

Rocky schnaubte. „Erstens geht es für mich in erster Linie um Ethik, um Wahrhaftigkeit, nicht um Erfolg. Es ist eine Frage des Prinzips. Zweitens versuche ich keineswegs, ‚die Welt zu retten‘, sondern nur meinen Beitrag zu einer gerechten Sache zu leisten, so wie ich zuvor, als Label-Manager, meinen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Maschine geleistet habe. Keins von beidem verlangt mehr von mir, als ein Mensch fähig ist, zu tun.“

„Verstehen Sie mich nicht falsch,“ erwiderte Zach, „ich bin da ganz bei Ihnen. Es interessiert mich einfach, wie Sie die Dinge sehen. Woher beziehen Sie die Kraft, einer weltumspannenden zehntausend Jahre alten Machtpyramide die Stirn zu bieten?“

„Lassen Sie es mich noch einmal mit Martin Luthers Worten sagen: ‚Hier stehe ich; ich kann nicht anders.‘ Dass Unterhaltung Lebenszeit auffrisst – schön. Dass Unterhaltung aus der Konserve unsere Fähigkeit zu eigener Kreativität zerstört – geschenkt. Aber dass massenproduzierte Unterhaltung aus der Konserve die Menschen zunehmend von der Wirklichkeit entfremdet – den natürlichen Grundlagen unserer Existenz, dem gesunden Menschenverstand und sogar von objektiven Tatsachen –, macht mich rasend. Diese Entfremdung war zwar stets Teil unserer Kultur; nun jedoch wird sie gezielt vorangetrieben. Sie und ich gehören derselben Generation an. Schauen Sie nur, wie sehr das Niveau menschlicher Fähigkeiten in den letzten fünfzig Jahren gefallen ist, und es war zuvor schon nicht mehr besonders berauschend: Handwerk, Kunst, technisches Verständnis, Logik, Sprache, Diskussionskultur, Miteinander, Leidensfähigkeit, geistige Gesundheit – um nur ein paar der am meisten betroffenen Bereiche zu nennen – haben im Verlauf unserer Lebenszeit dermaßen abgebaut, dass von Kultur kaum noch die Rede sein kann. Elemente von Vorsatz sollten so langsam auch für jene sichtbar geworden sein, die nicht wie ich direkte Anweisung bekommen haben, meine Bedenken zurückzustellen, erprobte Praktiken über Bord zu werfen und stattdessen tumbe Frontalangriffe gegen das Unterbewusstsein der Leute zu fahren. Doch mit dem Niveau sinkt auch die Fähigkeit, den Verfall überhaupt wahrzunehmen. Ein genialer Plan, gnadenlos ausgeführt.“

„Zu welchem Zweck, glauben Sie?“, fragte Zach.

„Um mit Gewalt ein neues Zeitalter herbeizuführen, das New Age, einen großen Neustart. Aleister Crowley sprach vom Zeitalter des Horus; seine Nachfolger reden vom Zeitalter des Wassermanns, das politisch von einer Neuen Welt-Ordung eingeläutet werden soll; im Prinzip der Weltstaat. Viele fürchten den Freiheitsverlust, den er mit sich bringen wird, aber im Vergleich zu den längerfristigen Zielen der Kontrolleure ist das Kleinkram. Ihre Vordenker imaginieren den Supermann, den Übermenschen, homo deus, eine transhumane neue Herrenrasse, die sich in einem alchemischen Prozess aus dem Staub und der Asche der alten Menschheit erheben soll. Sie kennt kein Schicksal, keinen Zufall, keine höheren Kräfte – ganz zu schweigen von Gott –, sondern nur totale Kontrolle über sämtliche materiellen, sozialen und geistigen Bedingungen des Daseins. Man experimentiert mit elektronisch-biologischen Schnittstellen herum und manipuliert Gene, um auf der einen Seite eine unsterbliche hyperintelligente Superrasse zu züchten und auf der anderen Seite eine Spezies degenerierter Sklaven, die zu keinen eigenen Gedanken mehr fähig ist. Es mag weniger wortreiche Definitionen von Satanismus geben, aber soweit es mich angeht, erfüllt die Ideologie der Herrschenden jede beliebige von ihnen.“

„Ihnen ist natürlich klar, dass Ihre Ansichten, milde ausgedrückt, keinen Popularitätspreis gewinnen werden. Schon Ihr Vokabular wird viele abschrecken.“

„Wie gesagt geht es mir ums Prinzip, um meinen eigenen Erwachensprozess – darum, die Dinge zu sehen, wie sie sind, und dann der erkannten Wahrheit entsprechend zu handeln. Es ist nicht meine Aufgabe, anderen Leuten die Scheuklappen abzunehmen; das liegt in deren Verantwortung. Ich kann nur anmerken, dass jene, die bezüglich des Zustandes der Welt keinen Zorn empfinden, entweder nicht hinsehen oder sich weigern, die Konsequenzen des Gesehenen bis ganz an ihre Ende zu durchdenken. Als Spezies bezahlen wir die Bagatellisierung des Bösen schon heute. Es schmerzt auf vielfache Weise, im einundzwanzigsten Jahrhundert zu leben. Die Qualen aber, die bei fortgesetzter kollektiver Ignoranz noch auf uns zukommen, vermag sich heute niemand vorzustellen.“

„Was meinen Sie damit, dass es schmerzt?“

„Wie viele Dinge tun wir lediglich aus Angst vor negativen Folgen? Oder anders gefragt: Wie viel von dem, was zu Ihrem Alltag gehört – Steuern zahlen, zum Arbeitsplatz pendeln, Vorschriften befolgen, Formulare ausfüllen, an Protestmärschen teilnehmen und so weiter – , würden Sie selbst dann noch betreiben, wenn Sie weder Strafe noch Verlust von Privilegien befürchten müssten? Diese Furcht ist der wichtigste Hinweis, dass wir unser Gleichgewicht als Personen und als Gesellschaften verloren haben. Es geht nur noch um Schmerzvermeidung für das kleine, verletzliche Ich. Wo einst Raum für Größeres und Höheres war, klafft ein riesiges Loch. Mit unseren Ängsten alleingelassen verfallen wir in zwanghaftes Verhalten. Das reicht von kleinen Ticks wie einem Waschzwang über Konsumismus bis hin zu Drogensucht, Psychosen, Depressionen und Suizid. All das sind Schmerzvermeidungsstrategien der menschlichen Psyche.“

It‘s got to be Rock‘n‘Roll / to fill the hole in your soul“, sang Zach eine ABBA-Zeile. „Ich habe übrigens vorige Woche von einer Untersuchung gehört, die zu dem Ergebnis kam, dass fast ein Drittel aller Bürger therapiebedürftig sei. Das klang zunächst wie eine ziemlich große Hausnummer. Aber Sie haben recht, vermutlich müssen wir Zahlen jenseits der neunzig Prozent ansetzen, wenn es um kulturell verursachte psychische Störungen geht.“

Rocky Raccoon hob seine Hand in einer Geste, die Zustimmung bekundete.

„Ich danke für Ihre Offenheit. Ich finde sie… nun, erfrischend trifft es nicht ganz, aber Sie verstehen hoffentlich, was ich meine. Lassen Sie mich auf den Grund zu sprechen zu kommen, dessentwegen ich Sie eigentlich eingeladen habe: die Ereignisse auf dem letzten Treffen der Familie. Darf ich Ihnen hierzu einige Fragen stellen?“

„Tun Sie sich keinen Zwang an.“ Rocky lächelte.

34) Dr Robert

Der orangefarbene Sportwagen bog in die Yewtree Road ein. Nach wenigen hundert Metern blieb er vor dem Haus des Notars Jules R. Miller stehen. Zach und Veronica stiegen aus, gingen den kurzen, von Blumen gesäumten Weg bis zur Vordertür und betraten das Gebäude.

Mrs Wickens, die Sekretärin, begrüßte sie herzlich. „Nehmen Sie im Wartezimmer Platz. Dr Miller kommt in wenigen Minuten aus seiner Besprechung“, fügte sie hinzu.

Vater und Tochter Ziegler kannten den Weg. Sie setzten sich und betrachteten die mit ‚Donna‘ unterzeichneten Gemälde auf der gegenüberliegenden Wand. Eines zeigte Paul McCartney, an seinen dunkelgrünen DB6 gelehnt, ein weiteres porträtierte John Lennon und Yoko Ono Hand in Hand spazieren gehend, und an den Flanken hingen Bilder von George Harrison im Yogi-Sitz und Ringo Starr an seinen Trommeln. Zach stand wieder auf. Er ging hinüber, um sich die darunter angebrachten schwarz-weißen Fotos anzusehen, für die er bei den beiden anderen Besuchen keine Zeit gehabt hatte. Sie zeigten Schnappschüsse und Porträts der vier Beatles, korrespondierend zu den darüber hängenden Gemälden. Jedes Foto entstammte einem anderen Jahr, wie Zach unschwer an den länger werdenden Haaren ablesen konnte. Die Veränderungen bei George und Ringo blieben subtil. Johns Brille änderte sein Erscheinungsbild natürlich viel mehr. Im direkten Vergleich zu früheren Jahren wirkte sein Gesicht in den späten Sechzigern und danach außerdem wesentlich schmaler. Einbildung? Ein natürlicher Prozess? Oder war auch John irgendwann ersetzt worden, temporär oder… wie Paul? Zu Pauls Fotoreihe fiel dem Detektiv nur ein einziges Wort ein: sensationell. Jedes einzelne Bild war eine wirklich gut gelungene Porträtaufnahme, die den Charakter der Person voll zur Geltung brachte. Getrennt betrachtet hätte die Antwort auf die Frage, wen das jeweilige Motiv darstellte, unzweifelhaft immer ‚Paul McCartney‘ lauten müssen. Und genau das verlieh der Reihe Sprengkraft, denn keines der vier Motive zeigte den selben Mann. Unterschiede in Alter, Beleuchtung, Perspektive oder Ausdruck konnten das Auge täuschen, ohne Frage. Aber das waren hier nicht die ausschlaggebenden Faktoren. Es waren die Gesichtsformen und Erkennungsmerkmale selbst, die sich unterschieden: die Nase, die Ohren, der Mund, die Augenbrauen, die Gesichtsform.

„Faszinierend, nicht wahr?“, sagte eine Stimme hinter Zach. Sie gehörte Jules R. Miller, dem Notar, der ‚in Sammlerkreisen‘ als Dr Robert bekannt war. „Man fragt sich ständig, welcher Paul McCartney der echte ist. Haben Sie einen Favoriten? Guten Tag, übrigens.“

„Guten Tag, Dr Miller. Spielt das eine Rolle? Ich komme langsam zu der Ansicht, dass sie wahrscheinlich alle Schauspieler sind. Wenn es einen echten, einen Ur-McCartney gegeben hat, war er ja ebenfalls teilweise Musikdarsteller.“

Miller nickte. „Manches spricht dafür. Es ergibt ökonomisch einfach mehr Sinn. Der Markenname zieht die Kundschaft, nicht das Individuum. Und Hand aufs Herz: Irgendwie wissen wir alle, dass wir nur eine Scheinwelt vorgespielt bekommen, wenn wir die Stars auf der Mattscheibe oder in der Zeitung sehen. Nichts ist real. Trotzdem möchten wir nicht darauf hingewiesen werden. Zusammenstellungen wie diese“ – er deutete auf die Galerie – „suchen Sie bei den sogenannten Qualitätsmedien vergeblich. Bei aller Liebe zur Sensation beißen die Journaillisten niemals die Hand, die sie füttert.“

Mit geschlossenen Augen lebt man bequem…‘“, warf Veronica ein. „Die Beatles gaben die entscheidenden Hinweise ja selbst.“

„Korrekt. Ich glaube aber nicht, dass es lange so bleiben kann. Je mehr die Kontrolleure die Schrauben anziehen, desto unbequemer wird es für das gewöhnliche Volk – und desto mehr Leute erwachen aus ihrem Dornröschenschlaf.“

Zach setzte eine skeptische Miene auf. „Das merke ich zwar auch, speziell seit der Plandemie. Die Verstrickungen zwischen Politik, Wirtschaft, NGOs und Medien sind inzwischen selbst für Blinde sichtbar geworden. Das Problem ist nur, dass so wenige Menschen bereit sind, ihren Lebenswandel an die neuen Erkenntnisse anzupassen und damit ihren Gehaltsscheck zu riskieren.“

Der Notar zuckte die Schultern. „Das liegt nicht in unserer Hand. Im Übrigen sind es vielleicht mehr Menschen, als wir denken. Man kann es nur schwer abschätzen, weil sie aus dem System herausfallen und damit weitgehend unsichtbar werden.“

„Was liegt dann in unserer Hand?“, fragte Veronica.

„Unser eigenes Erwachen“, sprang Zach für den Notar ein. „Sich bewusst in den Prozess der Desillusionierung zu begeben und ihn aktiv voranzutreiben. Es gibt stets noch eine weitere Zwiebelschicht, hinter der sich eine tiefere Wahrheit verbirgt.“

Miller nickte. „Darum, finde ich, ist die Geschichte der Beatles ein solch geeigneter Einstieg in den Ausstieg.“

„Oder auch nicht. Wer sieht schon gern seine Idole vom Sockel gestoßen?“, widersprach die junge Detektivin.

„Wer sieht schon gern, dass die Renten nicht sicher sind? Wer sieht schon gern, wie der Grundrechtekatalog zur Verweigerung der Grundrechte missbraucht wird? Wer sieht schon gern, dass das Nachrichtenmagazin seines Vertrauens ihn jahrzehntelang in die Irre geführt hat? Wer sieht schon gern, dass Mutter Kirche von Satanisten gelenkt wird, oder dass keine Demokratie im Land herrscht, sondern nur ein weiteres Regime in einer zehntausend Jahre alten Reihe solcher Regimes?“, forderte Miller sie heraus. „Niemand sucht sich das Ereignis aus, das dazu führt, dass er aus der fabrizierten Realität herausfällt. Aber eins ist sicher: Der Schmerz missbrauchten Vertrauens und frustrierter Träume lehrt uns, künftig genauer hinzusehen.“

Zach zeigte mit einer bogenförmigen Geste in den Raum. „Haben Sie hiermit vielen Menschen die Falltür nach draußen geöffnet?“

„Wer kann das sagen? Der Impuls, den die Bilder setzen, mag erst Jahre oder Jahrzehnte später zünden. Ich kenne jedoch zahlreiche Leute in Liverpool – auch außerhalb der ‚Familie‘ –, für die Paul McCartneys Tod Fragen an unsere Gesellschaft aufgeworfen hat; Fragen, die von offiziellen Stellen entweder gar nicht oder mit offensichtlichen Lügen beantwortet werden. Vielleicht lassen sie sich noch ein paar Jahre länger irreführen, aber die Wirklichkeit hat einen Fuß bei ihnen in die Tür bekommen. Ihr Ausstieg ist nur eine Frage der Zeit.“

„Ich wünschte, ich könnte Ihre Zuversicht teilen.“ Zach schaute nachdenklich drein.

Veronica trat an dicht vor das Gemälde, auf dem der dunkelgrüne Aston Martin DB6 zu sehen war. „Diese Donna, die die Gemälde geschaffen hat, ist das zufällig die Frau, die in McCartneys Wagen saß?“

Wenn es tatsächlich einen Unfall gab und wenn McCartney diese Anhalterin dabei hatte und wenn sie Donna hieß, dann stimmt sicherlich auch der Rest der Geschichte, das heißt, sie ist damals zusammen mit ihm gestorben“, spekulierte der Notar. „Donna steht der ‚Familie‘ nahe, hält aber Abstand zu Kite. Sie sammelt nicht Altes, sie erschafft Neues. Ich mag den Kontrast zwischen den heiteren Farbgemälden, die den Mythos der Pop-Idole pflegt, und den düsteren Abbildern der Realität. Leider sehen viel zu viele nur die hübschen Farben.“

„Es braucht beides, oder?“, bemerkte Veronica.

Miller warf ihr wieder seinen scharfen, durchdringenden Blick zu, der sie die Male zuvor so sehr gestört hatte. Dann entspannte er seine Gesichtszüge, lächelte sie an und sagte: „Die Weisheit des Alters aus dem Mund der Jugend… Sie haben recht: Schön oder unschön, wir müssen sehen, was ist, statt das, was wir glauben, wünschen, befürchten, vermuten, erschließen, lesen oder hören. Die meisten Leute haben große Probleme zu verstehen, dass die Wirklichkeit realer ist, als alles, was in ihrem Kopf stattfindet.“

„Mr Miller,“ begann Zach.

Der Notar hob beide Hände abwehrend vor seine Brust. „Bitte nennen Sie mich Robert. Wir sind Mitglieder der Familie; mehr noch: Brüder und Schwestern im Geiste.“

„Okay, Robert. Nennen Sie mich gern Zach. Aber Mitglieder der Familie werden wir wohl nie werden.“

„Kite?“

„Kite.“

Jules Robert Miller seufzte. „Eines baldigen Tages wird es zum Bruch kommen. Viele von uns sind längst nicht mehr damit einverstanden, wohin das Schiff steuert.“

„Das ist uns bereits zu Ohren gekommen. Wenn ich recht verstehe, haben Sie auf der letzten Versammlung Schritte unternommen, die geeignet scheinen, einen solchen Bruch herbeizuführen. Können Sie uns etwas über den Verlauf des Abends erzählen?“

„Nun, es gibt wie gesagt eine Gruppe von Mitgliedern, die andere Vorstellungen davon pflegt, wie mit dem Sammelgut umgegangen werden sollte. Wir möchten das Material zur Dokumentation der Zeitgeschichte der Sechzigerjahre verwenden. Gegebenenfalls wird manches für Prozesse oder Tribunale relevant werden, wenn es gelingen sollte, die Kontrolleure aus dem Sattel zu heben – keine besonders wahrscheinliche Entwicklung der nahen Zukunft, aber wir wollen vorbereitet sein. Es wurde uns jedoch zunehmend offensichtlicher, dass Kite Beweismaterial für Paul McCartneys Ermordung sammelt, um es im Interesse seines Großvaters aus dem Verkehr zu ziehen. Unser Plan für den besagten Abend bestand darin, Kites Wachsamkeit zu schwächen, um Kopien von solchen Stücken anzufertigen.“

„Es ging dabei konkret um Mal Evans‘ Erinnerungen, richtig?“

„Richtig.“

„Wie gedachten Sie, ‚Kites Wachsamkeit zu schwächen‘?“

„Duchess of Kirkcaldy, eines unserer Mitglieder, erklärte sich bereit, sein Interesse auf sich zu ziehen.“

„Ist Ihnen bekannt, dass das Mädchen minderjährig ist?“, fragte Veronica.

„Sicher. Aber es war ihre eigene Idee. Sie hat auf dieser Rolle bestanden, und keiner von uns ist in einer Position, ihr Anordnungen zu erteilen.“

„Sie hätten das Vorhaben abblasen können“, sagte Zach.

„Vor wenigen Minuten haben Sie darüber geklagt, dass zu wenige Menschen bereit sind, für die Wahrheit Opfer zu bringen. Ich hege genau wie Sie meine Zweifel, ob Kirk genügend Lebenserfahrung besaß, die Folgen ihrer Entscheidung abzusehen, aber ich bewundere ihre Entschlossenheit.“

„Die nötige Erfahrung besitzt sie nach jener Nacht bestimmt. Es muss traumatisierend gewesen sein. Hat sich ihr Opfer wenigstens gelohnt?“

„Ich würde das bejahen wollen. Wir konnten ein Foto kopieren, das Paul McCartney auf dem Seziertisch zeigt.“

„Kein Richter würde eine Kopie als Beweismittel akzeptieren. Nicht einmal Ihnen als Sammler würde es genügen. Die Versuchung muss doch groß gewesen sein, das Original einzupacken und mitzunehmen.“

„Wem sagen Sie das? Ich bin ein Sammler seltener Fotografien, aber ich bin auch den anderen Sammlern in der Familie freundschaftlich verbunden. Überdies muss ich als Notar die Gesetze des Königreichs achten. Wenn wir das Bild gestohlen hätten, hätte Kirk das womöglich mit dem Leben bezahlt, und ich könnte von Glück sagen, wenn ich lediglich meine Lizenz verliere.“

„Sie haben das Originalfoto also im Schloss zurückgelassen?“

„Wir haben es nur abfotografiert. Semolina steckte es wieder in seinen Plastikumschlag und gab es Kirk zurück. Wir Männer – Mr Mustard, Rocky Raccoon und ich – haben uns anschließend in den Salon begeben, um auf das Gelingen anzustoßen. Semolina holte kurz darauf Mustard zu Hilfe, weil Kirk bewusstlos am Boden lag. Er berichtete, dass er das Foto auf einem Nachttisch in Kites Schlafzimmer gesehen habe. Kite ahnt bestimmt nicht einmal, dass…“

„Irrtum!“, unterbrach ihn der Detektiv. „Kite weiß davon, denn er sagte mir, dass man ihm das Foto entwendet hat.“

Miller sah schockiert aus.

„Halten Sie es für möglich, dass Mustard das Bild eingesteckt hat? Oder Semolina? Die beiden waren allein; die Gelegenheit war günstig.“

„Für Semolina lege ich meine Hand ins Feuer. Sie würde weder stehlen noch zulassen, dass in ihrer Gegenwart gestohlen wird.“

„Hätten Mr Mustard oder Rocky Raccoon später zurückgehen können, um das Foto zu klauen?“

Miller überlegte, dann zuckte er die Achseln. „Ich nehme es an. Ich habe das Schloss zwanzig Minuten nach Semolina verlassen, kurz nach zwei Uhr. Anschließend – wer weiß, was ihnen in ihrer Trunkenheit eingefallen sein mag.“

„Kite hat sich nicht bei Ihnen nach dem Foto erkundigt?“

„Nein. Er hat keinerlei Kontaktversuch unternommen.“

„Haben Sie seither andere Mitglieder ihrer Gruppe getroffen oder mit ihnen telefoniert? Ist über den Abend gesprochen worden?“

„Nein. Außer Molly, meine Sekretärin, habe ich niemand gesehen. Sie mokierte sich wegen Kirks Aufzug. Das war alles, was wir über jenen Abend austauschten.“

„Sie haben nicht versucht, herauszufinden, wie Kirk die Nacht überstanden hat?“, hakte Veronica nach.

„Ich wählte ihre Nummer mehrfach, aber sie nahm das Gespräch nicht an.“

„Könnte sie in Schwierigkeiten stecken?“

„Wenn es stimmt, was Sie sagen: möglicherweise in den allergrößten. Ich dachte, sie genießt noch ein wenig länger die Annehmlichkeiten auf Wallace Castle.“

„Woher kommt das Mädchen eigentlich?“

„Ich weiß es nicht. Eines Tages war sie einfach da. Ich denke zuweilen, dass sie für jemand ein Auge auf uns gerichtet hält. Aber ist das wahrscheinlich? Sie ist noch so jung…“

„Ich habe schon Pferde kotzen gesehen. Finden Sie es normal, dass man ein tiefes gemeinsames Interesse teilt und einander ‚Familie‘ nennt, aber nicht weiß, wie der andere heißt oder woher er kommt?“

„Sie haben natürlich recht. Zu Ihrem Stiefbruder Paul unterhielt ich ein ungleich intensiveres Verhältnis. Nur – wer könnte ein Interesse an uns haben?“

„Kites Familie, die sich sorgt, mit wem er sein gefährliches Wissen teilt? Ein Freimaurerorden, der Kites Aktivitäten unter Kontrolle halten will? Die Geheimdienste? Über Kite wissen wir ja auch nur das, was er uns erzählt. Er zeigte sich allerdings erstaunlich besorgt, dass ich gegen ihn ermitteln könnte.“

Miller lächelte. „Dass jemand gegen ihn vorgeht, sollen Desmond und ich verhüten. Ich darf Ihnen meiner anwaltlichen Schweigepflicht wegen natürlich keine Angaben zu seinen rechtlichen Angelegenheiten machen, aber ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass wir ein eingespieltes und erfolgreiches Team bilden.“

„Vielleicht wird es Zeit, Loyalitäten zu wechseln.“

„Vielleicht.“

„Gut, Robert. Dann sehen wir uns übermorgen, Sonntag, zur Einäscherung. Soll ich etwas mitbringen oder organisieren? Brauchen Sie Unterstützung?“, erkundigte sich Zach.

„Danke, es ist für alles gesorgt. Ich werde eine kurze Rede halten. Jeder, der möchte, darf sich anschließen und ein paar Worte verlieren. Anschließend gehen wir in eine Bar, um auf Paul anzustoßen. Zwischen elf und zwölf Uhr sind die Feierlichkeiten für den Tag beendet. Wir treffen uns am Dienstag Vormittag auf dem Toxteth Park Cemetary zur Beisetzung wieder.“

„Wie viele Leute werden voraussichtlich teilnehmen?“

„Zur Einäscherung sind nur die engsten Freunde eingeladen. Ich rechne mit zehn bis fünfzehn Personen. Die Beisetzung wurde bereits in der Zeitung annonciert. Viele kannten Paul; mal sehen, wie viele ihm die letzte Ehre erweisen werden.“

31) Fristlos gefeuert

„Gestern statteten wir Mr Kite einen Besuch ab. Wir sprachen über dies und das, unter anderem erwähnte er das letzte Familientreffen. Sie erinnern sich?“

„Aber ja“, antwortete Molly Jones. „Wir haben uns sehr gut unterhalten. Weshalb fragen Sie?“

„Mr Kite hat mich beauftragt, einige Nachforschungen bezüglich eines Gegenstandes anzustellen, der an jenem Abend verschwunden ist“, erklärte Zach. „Können Sie dazu etwas sagen? Ist Ihnen etwas aufgefallen, zum Beispiel ungewöhnliches Verhalten der einen oder anderen Person?“

„Sprechen Sie von dem Manuskript? Das hätte PC31 mitbringen müssen, aber er kam ja dann nicht. Wahrscheinlich dachte er, das Treffen sei verschoben worden.“

„Wie kommen Sie darauf, dass er das dachte? Hat er etwas Entsprechendes gesagt?“

„Ich… weiß nicht“, stotterte die Sekretärin. „Weshalb fragen Sie mich? Stehe ich unter Verdacht?“

„Nein, überhaupt nicht. Sie haben das Schloss verlassen, bevor der Gegenstand abhanden kam. Es geht übrigens um ein Foto. Wurde im Verlauf des Abends über eine solche Aufnahme geredet?“

„Nicht unter meinen Ohren.“

„Worüber wurde dann geredet? Gab es Streit? Begehrlichkeiten?“

„Im Gegenteil. Bis auf das schamlose Verhalten dieses Mädchens, Duchess of Kirkcaldy, verlief es recht harmonisch. Wir sprachen über Objekte, die wir künftig für unsere Sammlung sichern wollten, und wir tauschten Anekdoten über McCartney, Lennon und so weiter aus. Bloß dieses… Flittchen! Sie wollte die ganze Zeit nur über unanständige Dinge reden. Wie die sich schon angezogen hat! Ich hatte den Eindruck, am liebsten wäre sie gleich ganz nackt erschienen.“

„Was missfiel Ihnen an ihrem Aussehen?“

„Sie hatte sich in ein knallrotes Domina-Kostüm gezwängt, oben wie unten keinen Inch länger als unbedingt nötig. Meine Mutter hätte mir den Hintern versohlt, wenn ich in dem Alter so rumgelaufen wäre.“

„Vielleicht war sie ja darauf aus, dass einer der Männer das übernahm? Hatten Sie das Gefühl, sie war hinter einer bestimmten Person her?“

„Nein, sie hat mit allen geflirtet – unangenehm aufdringlich.“

„Sind manche der Männer darauf eingegangen?“

„Sie blieben alle höflich aber distanziert. Gottseidank.“

„Ihnen ist also nicht aufgefallen, dass sie irgendwann mit jemand verschwunden wäre – sagen wir, auf die Toilette?“

Molly Jones kratzte sich an der Wange. „Hmm, nein. Ich fände das auch gar zu lächerlich. Sie ist ja noch ein halbes Kind.“

„Wissen Sie, wie alt?“

„Nicht genau. Siebzehn? Keineswegs volljährig.“

„Woher kommt sie eigentlich? Wer hat sie in die Gruppe eingeführt, beziehungsweise wie kam der Kontakt zustande?“

„Wer sie ist, weiß keiner so genau. Henry vielleicht. Der hat sie letztes Jahr in den Laden mitgebracht. Man erzählt sich, sie sei der illegitime Spross eines Adligen und lebe von dessen großzügigen Unterhaltszahlungen.“

„Wann haben Sie das Schloss verlassen und wer war um die Zeit noch anwesend?“

„Puh, schwer zu sagen. Bis auf meinen Mann waren wir alle schon ziemlich angeheitert. Ich habe nicht auf die Uhr geachtet. Vielleicht zwischen zwölf und ein Uhr? Als feststand, dass PC31 nicht mehr vorbeikommen würde. Der Arme. Wäre er zum Treffen gegangen, könnte er noch leben.“ Sie dachte nach. „Seltsam. Da Sie nun fragen, fällt mir auf, dass nur noch wenige Familienmitglieder zugegen waren, als ich mich verabschiedete: Dr Robert, Mr Mustard, Rocky Raccoon und Henry the Horse. Henry sah ebenfalls aus, als wolle er bald aufbrechen.“

„Wo, glauben Sie, befanden sich die anderen?“

„Mr Kite hat sich eine Stunde früher zurückgezogen. Er sagte, er sei müde und gehe nach oben. Auf die anderen habe ich nicht geachtet.“

„Halten Sie es für möglich, dass er mit Semolina und Duchess ‚nach oben‘ ging?“

Molly Jones schaute ihn an, als käme ihr die Idee zum ersten Mal. Sie blieb stumm, zog jedoch eine Grimasse, die andeutete, sie wisse es nicht und wolle es auch nicht wissen.

„Eine letzte Frage: Sind Sie auf direktem Weg nach Hause gefahren oder haben Sie unterwegs irgendwo angehalten?“

„Wir sind über‘s Zentrum gefahren. Mein Mann wollte mit den Kollegen auf dem Präsidium etwas klären. Dann sind wir nach Hause gegangen.“

„Wie lang dauerte das Gespräch?“

„Etwa eine halbe Stunde. Ich bin im Auto eingeschlafen, sobald wir das Schloss verlassen hatten, und nur kurz aufgewacht, als er nahe der Wache hielt.“

„Wann sind Sie zu Hause angekommen?“

„Gegen vier Uhr. Hören Sie, das war nun die dritte ‚letzte Frage‘“, beschwerte sich Molly Jones. „Macht es Ihnen was aus, wenn wir über nettere Dinge reden?“

„Keineswegs. Entschuldigen Sie bitte meine Zudringlichkeit. Ich habe Ihnen noch gar nicht gesagt, wie sehr Sie mir in Ihrem Kleid gefallen.“

Die Sekretärin errötete und schaute zu Boden. „Dankeschön.“

„Sie hat es bei Paul gekauft“, warf Veronica ein, die das gesamte Interview hindurch still auf einem Schemel neben der kleinen Bar gesessen hatte.

„Ist das wahr? Und ich dachte, wir handeln in Musikalien.“

„Im weitesten Sinne ist das Kleid Teil der Geschichte der Beatles“, sagte Molly Jones. „Es gehörte Pattie Boyd…“

„…der ex-Freundin von George Harrison“, ergänzte Zach. „Ihnen steht es mindestens eben so gut.“

Jones errötete erneut. Von ihr unbemerkt tanzten Veronicas Augenbrauen. Zach zwinkerte seiner Tochter zu. Er sagte: „Würde es Ihnen etwas ausmachen, Ihren Mann zu informieren, dass ich gern mit ihm reden würde?“

„Donald? Er weiß bestimmt nicht mehr als ich.“

„Und wenn schon. Dann unterhalten wir uns eben bei einer Tasse Kaffee über das Sammeln oder den neuesten Ermittlungsstand zum Mord an meinem Stiefbruder. Ich kann Ihnen versichern, dass Veronicas Kaffee den im Präsidium bei weitem aus dem Feld schlägt. Möchten Sie ihn probieren?“

„Hört, hört!“, unkte seine Tochter.

„Einverstanden“, erwiderte Molly Jones.

Und so erhielt Ludwig Lederrachen eine weitere Gelegenheit, seine Künste vorzuführen, wenn auch unbezahlt.


Sehr spät am Abend klingelte das Telefon sein klassisches Metallglockengeläut, das den ganzen Tisch zum Schwingen anregte. Veronica hob den Hörer ab. „Anscchluss von Paul Campbell, Ziegler am Apparat.“

„Guten Abend, Veronica. Holen Sie mir Ihren Vater“, sagte eine hyänenhaft klingende Männerstimme.

„Wer spricht dort?“

„Sie wissen genau, wer hier spricht.“

„Ich weiß nur, dass Ihre Kinderstube zu wünschen übrig lässt. Wer spricht dort?“

„Holen Sie mir Ihren Vater an den Apparat!“, sagte die Stimme mit drohendem Unterton.

„Rufen Sie wieder an, wenn Sie Manieren gelernt haben.“ Veronica legte auf.

Zach streckte den Kopf zur Tür herein. „Wer war das?“

„Woher soll ich das wissen? Er wollte seinen Namen nicht nennen. Wahrscheinlich unser spezieller Freund der Schlossbesitzer.“

„Du hast echt Haare auf den Zähnen, dem Mann den Hörer aufzulegen. Ich bin ihm einen Anruf schuldig; erster Report.“

„Schlossbesitzer oder nicht – wenn er meint, mich herumkommandieren zu können, dann gibt‘s nur eine Antwort: Arsch lecken. Du lässt dir seine Gestapo-Manieren ja auch nicht gefallen.“

Zach verdrehte die Augen. Was erwartete er? Er hatte sie so erzogen – und er war zufrieden. Er lachte. „Dann will ich mal anrufen, um mir die Prügel abzuholen.“

„Gib bloß nicht klein bei. Für mein Verhalten stehe ich selbst ein“, sagte Veronica energisch, die Augenbrauen zusammengezogen.

Exakt in jenem Moment, als Zachs Hand über dem Hörer hing, klingelte das Telefon erneut. Er riss ihn von der Gabel und sagte barsch: „Ja!?“

„Mister Ziegler,“ sagte die Stimme am anderen Ende, „ist das Ihre Art, einen Auftrag zu erledigen?“

„Was gefällt Ihnen daran nicht?“

„Ihr Tonfall, zum Beispiel, oder dass man einfach auflegt. Was ist außerdem aus Ihrem versprochenen Tagesbericht geworden?“

„Wenn Sie einen anderen Tonfall wünschen, bekommen Sie ihn, sobald Sie anfangen, respektvoll mit Ihren Gesprächspartnern umzugehen. Ich bin keiner Ihrer Lakaien.“ Der Detektiv sprach langsam, ruhig und ziemlich leise. Vom anderen Ende hörte er kein Geräusch. Als der Anrufer Luft holte, schnitt er ihm das Wort ab: „Soweit es Ihren Auftrag betrifft: Ich war heute mit vorbereitenden Arbeiten beschäftigt, ohne die weitere Ermittlungen nur ein Stochern im Nebel darstellen – und ich habe zwei Zeugen vernommen. Es liegt in der Natur der Sache, dass deren Aussagen erst im Licht weiterer Erkenntnisse einzuordnen sind. Falls Sie in der Lage sind, die Lösung des Falls durch sachdienliche Hinweise zu beschleunigen – etwa, indem Sie die Tatsache erwähnen, dass das fehlende Objekt die ganze Nacht unbeaufsichtigt außerhalb des Safes herumlag –, wäre ich Ihnen sehr dankbar.“

„Ich sagte Ihnen, Sie sollen nicht gegen mich ermitteln!“, bellte Kites Stimme aus dem Hörer.

„Und ich sage Ihnen, dass es so nicht funktioniert. Sie lassen mich meine Arbeit auf meine bewährte Weise erledigen oder Sie suchen sich einen anderen Dummen, der Ihre eklatanten Verstöße gegen Vernunft und Anstand korrigiert.“

„Mit wem haben Sie gesprochen?“

„Das steht in meinem Abschlussbericht am kommenden Dienstag.“

„Sie sind gefeuert!“, schrie Kite ihn an.

„Wie Sie wünschen. Ich mache die Rechnung gleich fertig“, erwiderte Zach und ließ den Hörer auf die Gabel fallen. Das Geräusch und die Vibrationen, die der alte, schwere Festnetzapparat dabei erzeugte, befriedigten ihn zutiefst. Die Körperlichkeit des Vorgangs blieb nur wenig hinter dem Gefühl zurück, dem anmaßenden Anrufer tatsächlich eine schallende Ohrfeige verpasst zu haben. An dem Tag, an dem eine App erschien, die es realitätsgetreu emulieren konnte, würde er seine ablehnende Haltung gegenüber Smartphones vielleicht revidieren.

Veronica blähte die Backen und ließ die Luft langsam zwischen den Lippen entweichen. „Ich fürchte, die großen Aufträge können wir uns aus dem Kopf schlagen, ganz zu schweigen von unserer Aufnahme in die Familie.“

„Ganz recht. Daraus wäre sowieso nichts geworden, weil ich nie vorhatte, sein Schwarzgeld anzunehmen. Im Übrigen wird mir dieser seltsame Club mit seinen dehnbaren Moralvorstellungen immer suspekter. Wie hat Kite Maria und Henry bezeichnet – nicht flexibel genug?“

„Dass er uns keine Aufträge geben wird – okay. Mit unseren bescheidenen Erwartungen ans Einkommen kommen wir bestimmt auch ohne ihn blendend zurecht. Mir kann der Abstand zu dem Typ gar nicht groß genug sein. Dass wir ihn nun gegen uns aufgebracht haben, könnte dagegen das Ende des Fab Store bedeuten.“

„Und darum werde ich den Teufel tun, die Ermittlungen einzustellen. Wir brauchen etwas gegen ihn in der Hand. Was wir von Maria und Molly gehört haben, verschafft uns möglicherweise großkalibrige Munition.“

29) Die Nacht im Schloss

„Konnten Sie hören, was die beiden besprachen?“, erkundigte sich Zach.

„Nein, aber es war offensichtlich, dass Kirk ihre Rolle spielte. Sie feuerte den einen Schuss ab, den sie im Lauf hatte, ohne Garantie, dass der Plan zum Ziel führen würde. Falls Paul nicht mit dem Manuskript auftauchte, würde es keine weitere Gelegenheit geben. Ein zweites Mal würde ihre Masche nicht funktionieren.“

„Und er ist nie aufgetaucht, richtig? Stattdessen wurde er in der selben Nacht ermordet und das Manuskript verschwand.“

Maria Borghese nickte wortlos.

„Was geschah dann?“, fragte Zach.

„Eine halbe Stunde vor Mitternacht flüsterte Kite dem Mädchen etwas ins Ohr. Er verließ den Raum. Zehn Minuten später folgte sie ihm. Ich gab Mr Mustard das vereinbarte Zeichen, dass die heiße Phase des Plans nun anlief und folgte ihr. Ich signalisierte Kirk, dass ich in der Nähe war. Wir stiegen zwei Treppen nach oben, dann wandte sie sich dem rechten Schlossflügel zu und folgte dem Gang bis zu einer Tür in der Wand, an der der er endet. Dort gibt es viele Nischen, Säulen, Vasen und Skulpturen. Ich versteckte mich hinter einer Säule nahe der Tür. Sie zeigte mir den erhobenen Daumen, bevor sie eintrat. Ich musste über eine Stunde lang warten, bevor ich sie wiedersah.“

„Hat Ihnen Kirk erzählt, was sich abspielte? Oder haben Sie gehört, was in der Zeit geschah?“

„Letzteres, zu meinem Bedauern.“ Maria verdrehte die Augen. „Er hat sie ziemlich hart rangenommen. Sie gaben sich außerdem keine Mühe, leise zu sein. Ich wäre am liebsten wieder davongeschlichen, aber ich hatte ihr mein Wort gegeben. Ich fürchtete auch, ihr könnte etwas zustoßen. Es kam schon vor, dass Kite die Kontrolle verlor.“

„Inwiefern verlor er manchmal die Kontrolle?“

„Er… schlägt manchmal zu fest zu.“ Sie schaute zu Boden.

„Hat er auch in jener Nacht fest zugeschlagen?“

„Ich glaube nicht, aber er hat sie, wie gesagt, ziemlich roh behandelt. Als sie die Tür öffnete, sah sie übel zerzaust aus. Ich sah auch blaue Flecken auf Schenkeln und Schultern, aber keine im Gesicht.“

Zach schüttelte missbilligend den Kopf. „Kirk war also unbekleidet, als sie wieder herauskam. Das wird wann gewesen sein? Ein Uhr? Später?“

„Ja, sie war splitterfasernackt, schien sich dessen aber nicht bewusst zu sein. Das war kurz vor halb zwei. Sie reichte mir einen durchsichtigen Plastikumschlag. Er enthielt das Foto aus der Pathologie. Sie sagte, ich solle mich beeilen. Ich fragte sie, was mit Kite sei. Er schlafe, sagte sie. Sie habe ihm die K.O.-Tropfen verabreicht, aber er habe sie einen Schluck aus dem Glas trinken lassen und sie fühle sich unglaublich müde. Dann ging sie wieder hinein.“

„Weiter. Was taten Sie?“

„Ich versteckte den Umschlag in einer der Ziervasen. Dann ging ich zu den anderen in den Salon hinunter. Desmond, Molly und Henry hatten bereits das Haus verlassen, da sie die Hoffnung aufgegeben hatten, Paul werde noch eintreffen. Robert, Rocky und Mustard kehrten mit mir auf den Gang vor dem Schlafzimmer zurück. Ich zeigte ihnen, was Kirk ergattert hatte. ‚Das ist verdammt wenig‘, klagte Mustard. Rocky schien derselben Meinung zu sein. Robert schnauzte, sie hätten keine Ahnung und seien wohl zu betrunken, um zu erkennen, was ihnen da in die Hände gefallen sei.“

„Und dann hat Dr Robert das Bild mitgehen lassen?“, hakte Zach ein.

„Davon weiß ich nichts. Ich habe keine Ahnung wer es mitnahm, und es war auch nicht vorgesehen. Ich erfuhr erst heute von Ihnen, Signore, dass es überhaupt fehlt.“

„Kite hat keine Nachforschungen angestellt? Hat er nicht gefragt, ob Sie etwas wissen, oder Ihnen gar gedroht?“

„Nein.“

„Wenn Sie das Foto nicht stehlen wollten, was wollten Sie mit dem ganzen Spuk dann erreichen?“

„Die Männer machten Mikrofilm-Aufnahmen von Vorder- und Rückseite, anschließend gingen sie zurück nach unten. Ich steckte das Foto wieder in seinen Plastikumschlag und dann in die Vase. Ich klopfte an die Tür. Niemand antwortete. Also ging ich hinein.“

„Was fanden Sie?“

„Kite lag bäuchlings auf der Matratze, wahrscheinlich besinnungslos. Ich sah hinter dem Bett zwei Beine hervorragen, eilte hin und sah, dass Kirk zusammengebrochen war, bevor sie wieder hineinkriechen konnte. Ich warf ein Laken über sie, holte das Foto, legte es auf ihren Nachttisch. Ich wollte sichergehen, dass das erledigt war, damit Kite keinen Verdacht schöpfte. Dann holte ich Mustard, der mir half, das Mädchen aufs Bett zu heben. Anschließend gingen wir hinunter. Robert bestand darauf, dass wir den Erfolg feierten. Also tranken wir eine weiteren Sekt. Dann verabschiedete ich mich. Ich brauchte mehr als eine Stunde, bis ich wieder zuhause ankam, weil ich so langsam fuhr.“

„Wann sind Sie angekommen?“

„Genau um halb vier Uhr. Ich weiß es deshalb, weil ich beim Einparken vor meiner Wohnung aus Versehen die Hupe betätigt habe. Als ich ausstieg, rief eine Nachbarin aus einem Fenster, es sei halb vier; ob ich noch nie etwas von Nachtruhe gehört hätte?“

„Es gab also Zeugen für Ihre Rückkehr. Wann haben die Männer und das Mädchen das Schloss verlassen?“

„Ich weiß es nicht. Wir haben das Thema seither gemieden. Ich versuchte am Sonntag mehrfach, Kirk telefonisch zu erreichen. Sie ging nicht ran. Es gelang mir erst am Montag Abend. Sie klang heiser und antwortete nur lakonisch.“

„Was hat sie gesagt?“

„Es gehe ihr okay. Sie habe viel geschlafen. Sie werde vielleicht ein paar Tage nach Bath an den Strand fahren, um sich zu erholen.“

„Das war alles?“

Maria verzog den Mund. Sie kehrte ihre Handflächen nach oben und ließ sie dann wieder in ihren Schoß fallen.

„Erschien Ihnen Kirks Verhalten auffällig?“

„Ja und nein. Unter den Umständen fand ich es nachvollziehbar, dass eine Sechzehnjährige mitgenommen oder geschockt klingt. Sie war zwar keine Jungfrau mehr, vermute ich, aber ich bezweifle, dass sie schon Erfahrung mit brutalem Sex hatte.“

„Sechzehn, um Himmels Willen!“ Zach legte eine Hand an seine Stirn. Er schloss die Augen und nahm einige tiefe Atemzüge. „Wo finde ich das Mädchen?“

„Wie ich schon sagte hat sie möglicherweise das Haus verlassen. Ich konnte sie seither nicht mehr erreichen und sie hat sich nicht mehr bei mir gemeldet.“ Sie zog eine Geldbörse aus ihrer Handtasche, entnahm ihr eine Visitenkarte und reichte sie dem Detektiv. „Hier, ihre Kontaktdaten.“

Der leerte seine Tasse in einem Zug. Dass ihr Inhalt kalt geworden war, entging seinem Wachbewusstsein. Eintrainierte Reflexe verformten seine Gesichtszüge missbilligend. Er beäugte den bunt bedruckten kleinen Papierstreifen. „Hätten Sie zufällig auch ein Foto von ihr?“

Maria zeigte auf die Karte. „Die Webadresse verweist auf ihr Facebook-Profil.“


Herrlicher Sonnenschein, der durch die großen Maßwerkfenster hereinfiel, wärmte ihr angenehm den Rücken. Sie lag auf dem Bauch, zu voller Länge ausgestreckt. Das Tageslicht blendete sie, als sie die Augen öffnete. Es mochte zehn Uhr oder später sein. Etwas Schweres, von dem sie vermutete, es müsse ein quer über dem Bett liegender Kite sein, drückte auf ihr Gesäß. Sie versuchte, die Arme an sich zu ziehen, um ihren Oberkörper für einen Blick nach hinten aufzurichten – vergeblich. Ihre Hände waren am Gestell des Bettes festgebunden. Als sie daran zerrte, sagte er leise: „Guten Morgen, Prinzessin. Hast du gut geschlafen?“

Er saß rittlings auf ihrem Po, registrierte sie nun, und die Erinnerung an die gewaltsame Behandlung während der Nacht entlockte ihr ein Stöhnen. „Massierst du mir die Schultern?“, bat sie ihn, hoffend, heute umsichtiger behandelt zu werden.

Kite blieb reglos sitzen. Einen Moment später fragte er: „Wo ist es?“

Kirk verstand nicht, was er meinte. „Wo ist was?“, fragte sie zurück.

„Wo ist das Foto?“ Seine Stimme, immer noch leise, klang nun scharf.

„Auf dem Nachttisch, glaube ich“, sagte sie verschlafen.

Ein brutaler Fausthieb in die rechten Rippen trieb ihr die Luft aus de Lunge. Sie schrie laut auf. „Falsche Antwort“, erwiderte er. „Nochmal: Wo ist das Foto?“

Kirk warf den Kopf hin und her. Ihr Blick suchte das Wenige zu erfassen, das ihre Bauchlage sie sehen ließ. „Ich weiß nicht,“ hustete sie, „es müsste doch hier sein.“

Ein weiterer Faustschlag traf sie, diesmal auf der linken Seite. Sie schrie, dann wimmerte sie. „Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. Bitte nicht schlagen, bitte…“ Die nächste Faust landete auf ihrer Wirbelsäule. Sie warf den Kopf zurück, den Mund weit geöffnet, als sie nach Luft schnappte.

Seine linke Hand fuhr ihr ins Haar, zog grob daran, während seine rechte vor ihrem Gesicht auftauchte. Sie hielt einen kurzen zweischneidigen Dolch, dessen Klinge irgendwelche symbolischen Gravuren aufwies. Dann setzte er den Dolch an ihren Hals. „Was hast du getan?“, brüllte er in ohrenbetäubender Lautstärke.

Sie sagte es ihm.

28) Die junge Herzogin und ihr Märchenprinz

Durch die Erkenntnisse aus seinen Recherchen zu Fab-Store-Paul und Beatle-Paul hatte die Ernüchterung über den Zustand des Menschengeschlechts eine neue Dimension bekommen. Zach wusste nun mit Bestimmtheit, dass es das Böse gab. Disney-Comics wollten uns weismachen, das Böse sei ein hässlicher Gnom, der sich mit fiesem Grinsen die Hände rieb, wenn er jemand in die Pfanne hauen konnte. Das Böse war banaler. Es war alltäglicher. Es gedieh in unser aller Gleichgültigkeit gegenüber dem Nächsten, unserem ‚gesunden Egoismus‘, unserem Materialismus, unserem Kuschen vor Autorität. Es gab da jedoch eine Ebene des Bösen, die sich diese Neigungen zunutze machte, ja regelrecht kultivierte, eine Ebene, die davon profitierte und mit kalter Berechnung auf die Schwäche unserer Herzen und unseren Mangel an Rückgrat setzte. Diese Ebene war bevölkert von Psychopathen, Menschen, die über andere Menschen Macht suchten – und sie hatten sie gefunden. Niemand behinderte ihr Streben, vor allem nicht jene, die den Schmerzen aus dem Weg gingen oder, falls das misslungen war, sie mit Alkohol, Musik, Fernsehen, Hobbys, Arbeit, Sex, Shopping oder anderen Drogen betäubten. Den Psychopathen fehlte jede Empathie. Ihnen war das Leid der Anderen egal. Sie benutzten sie als Mittel zum Zweck. Korruption und Misswirtschaft waren noch ihre geringsten Vergehen.

„Es stimmt. Ich war ganz schön dumm“, bekannte Zach schließlich. „Ich war so dumm, die Ammenmärchen der Mainstream-Kultur zu glauben: dass die Polizei dein Freund und Helfer ist; dass wir in der Schule fürs Leben lernen; dass gewählte Regierungen unsere Interessen vertreten; dass der Markt es schon regeln wird; dass Nachrichten über wichtige Ereignisse berichten; dass Romane, Musik, Filme und Computerspiele nur Unterhaltung sind. Ich sollte langsam aufhören, mich zu wundern, warum die Probleme in unserer Gesellschaft nie gelöst werden, sondern stets größere Ausmaße annehmen.“

Maria Borghese nickte wissend. „Menschen wie Sie und ich müssen die Spannung zwischen dem Erzählten und dem Erkannten aushalten – einfach weil uns der Unterschied zwischen den beiden bewusst ist.“

„Damit zu leben finde ich manchmal ganz schön schwierig.“

„Wach zu sein macht das Leben nun mal nicht schöner, nur interessanter.“ Sie lachte trocken. „Ich weiß, Sie sind einer, der der Wahrheit zu ihrem Recht verhelfen will. Das wollen auch einige von uns. Aktiv etwas dafür zu tun steigert das Wohlgefühl ganz erheblich.“

„Glauben Sie, Sie tun genug?“

Maria schaute ihn zum ersten Mal mit zusammengezogenen Augenbrauen an. „Bin ich Gott der Allmächtige? Was eine einzelne Frau oder auch eine Gruppe von Menschen unternehmen kann, wird allein nie genug sein, die Maschine ins Taumeln zu bringen. Was zählt ist unser Leben – wer wir sind und was wir tun. Und soweit es das Tun betrifft, so tue ich, was ich kann. Den Rest besorgt eine höhere Macht.“ Nach einer kurzen Pause: „Kite sammelt Beweise für den Tod des biologischen Paul McCartney. Wenn er zum Clan von Billy Shears gehört, wie er behauptet, dann beabsichtigt er, das Material endgültig aus dem Verkehr zu ziehen.“

„Die Aufklärung des gemeinen Volks scheint kein Programmpunkt auf Kites Agenda zu sein“, sagte Zach.

„Si. Mr Mustard, Dr Robert und Rocky Raccoon haben daher vor einer Weile beschlossen, dass sie zumindest Fotos, Filme oder Kopien von den Beweisen anfertigen werden. Letzten Monat konnten sie die kleine Kirk überzeugen, ihnen zu helfen. Mehrere Tage vor der Versammlung haben sie auch mich eingeweiht. Da das Eintreffen des Koffers mit seinem brisanten Inhalt erwartet wurde, wollten sie die Gelegenheit nutzen, das Manuskript durchzufotografieren, bevor es in Kites Safe verschwindet. Sie planten, Kite entweder unter Drogen zu setzen oder für längere Zeit abzulenken.“

„Sie hätten das Ding direkt bei Paul kopieren können“, unterbrach Paul ihren Redefluss.

„Nein, wir wollten Paul nicht hineinziehen. Er war als Lieferant einfach zu wichtig, als dass wir ihn kompromittieren durften. Wie sich herausstellte, kam am Tag X sowieso alles anders.“

„Erzählen Sie mir von dem Abend. Wer war anwesend?“

„Es war ein Samstag. Ich sammelte Kirk ein und fuhr mit ihr zum Schloss. Wir kamen gegen sieben Uhr dreißig an. Bis auf Henry und Robert, die eine halbe Stunde später eintrafen, sowie PC31 – Paul – waren alle schon da.“

„Alle heißt – wer?“

„Desmond und Molly Jones, Mustard, Rocky und natürlich Kite. Kirk erzählte mir während der Fahrt, dass alles für den Coup vorbereitet war. Die Gruppe hielt es für zu riskant, Kite durch Alkohol oder Medikamente schlafen zu schicken. Die Gefahr, dass sie entdeckt wurden oder der Gastgeber das Treffen vorzeitig beendete, erschien ihnen zu hoch. Plan B sah vor, dass Kirk ihn verführte. Viel gehörte nicht dazu. Es war für alle Beteiligten nur zu offensichtlich, dass er sie haben wollte. Sie sollte unter der Bedingung einwilligen, dass sie das Manuskript genauer ansehen durfte. Dann sollte sie ihm K.O.-Tropfen in den Drink schütten, das Manuskript zum Kopieren herausreichen und es anschließend wieder in Empfang nehmen. Am Ende sollte sie die Tropfen selbst einnehmen, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen.“

„Scheißplan“, kommentierte Zach.

„Ich habe genau dasselbe Wort verwendet, aber sie ließ sich nicht davon abbringen. Da wir nur noch wenige Fahrtminuten vom Schloss entfernt waren, blieb keine Zeit, ihr die Dummheit auszureden. Ich konnte lediglich ihrer Bitte nachgeben, die Kontaktperson vor der Schlafzimmertür zu spielen.“

„So weit, so schlecht. Doch dann liefen die Ereignisse aus dem Ruder.“ Zach formulierte es mehr als Feststellung denn als Frage.


Zu fortgeschrittener Stunde befanden sich Gastgeber und Gäste in einem eben so fortgeschrittenen Stadium der Betrunkenheit. Ungeduld machte sich breit. Immer wieder schlug der eine oder die andere Feiernde vor, Kite solle PC31 anrufen, aber der Schlossherr wiegelte ab. Der Ladenbesitzer werde seine Gründe haben. Wahrscheinlich sei spät noch ein wichtiger Kontakt mit einer Quelle zustande gekommen. Er habe gehört, PC31 sei einem ganz großen Objekt dicht auf der Spur. Also warteten sie und tranken, und Kite ließ den nächsten Gang auffahren. Die Sammler begannen ihre letzten Neuerwerbungen zu präsentieren. Sie rezitierten lange, verworrene Geschichten, wie es ihnen allen Widerständen zum Trotz gelungen war, ihre Beute aufzuspüren. Die Eingeweihten jenes Teils der Familie, die den Plan geschmiedet hatten, Kite der Exklusivität seiner Sammelobjekte zu entledigen, warfen einander zunehmend häufiger nervöse Blicke zu.

Duchess of Kirkcaldy, die einen schulterfreien engen Einteiler aus rotem Leder trug, der knapp unter dem Gesäß endete, und darunter nichts als rote Stöckelschuhe, nutzte jede Gelegenheit, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Während sie den neuesten Klatsch über Stars und Sternchen der Musikszene und deren Sexpraktiken verbreitete, warf sie Mr Kite immer wieder herausfordernde Blicke zu. Der lächelte nur, sagte gar nicht viel, stellte aber von Zeit zu Zeit eine Bemerkung in den Raum, die sie wissen ließ, dass er ihr interessiert zugehört hatte. Nachdem sie das Abendessen beendet und den Speisesalon verlassen hatten, um es sich in einem gemütlich eingerichteten Raum im rückwärtigen Bereich des Schlosses auf Liegestühlen und Diwanen bequem zu machen, ging Kirk zum offenen Angriff über. Während die anderen Sammler lautstark über Yoko Ono und ihre Rolle bei der Trennung der Beatles diskutierten, setzte sie sich eng neben Mr Kite auf eine der mit dicken Kissen gepolsterten Fensterbänke.

„Du hast mir noch gar nicht zum Geburtstag gratuliert“, beschwerte sie sich beim Schlossherrn. Sie strich lasziv eine lange schwarze Locke aus ihrem Gesicht.

„Oh?“ Kites Lautäußerung klang, als habe er gerade eine interessante aber nebensächliche Information erhalten. „Wie lang bin ich überfällig?“

„Dir bleiben noch etwa zwei Stunden, das Schlimmste zu verhindern, und du weißt das ganz genau, du Schuft! Ich sollte eigentlich mit meinen Freundinnen im White Star sitzen und richtig groß feiern. Ich meine – wie oft im Leben wird man volljährig?“

„Ist das wahr? Du feierst heute deinen achtzehnten Geburtstag?“

„Von feiern kann bisher keine Rede sein. Ich sitze in einem alten Kasten, von alten Leuten umgeben – Anwesende selbstverständlich ausgenommen –, wir reden, worüber wir immer reden: die verdammten ollen Beatles, und der Mann, der mich in diese Situation genötigt hat, unternimmt nicht das Geringste, um meine Bedürfnisse zu stillen.“ Sie warf die feuerrot gefärbten Lippen zu einem Schmollmund auf.

„Also, zunächst einmal hat dich niemand gezwungen. Du bist aus freien Stücken hierher gekommen und hast dich sogar noch hübsch in Schale geworfen.“ Er musterte sie demonstrativ vom Kopf bis zu den Füßen und wieder zurück, wobei er die prominenteren Zwischenstationen längerer Blicke würdigte. „Vielleicht habe ich meine Qualitäten als Märchenprinz bisher zu wenig zur Geltung gebracht, doch ich kann dir versichern, ich bin wirklich einer, denn ich wohne schließlich in einem Märchenschloss.“ Er wies auf die Gemäuer um sie herum. „Ich verwehre mich energisch gegen die Bezeichnung ‚alter Kasten‘!“

Kirk, die mehr als einen Kopf kleiner als der Hüne war, lächelte zu ihm auf. Dann lehnte sie sich gegen seine Schulter. Kite legte einen Arm um sie. „Kein alter Kasten,“ sagte sie gnädiger gestimmt, „aber haben die Jungfrauen im Märchen nicht drei Wünsche frei?“

„Drei? Willst du mich ruinieren?“, fragte Kite in gespielter Entrüstung.

„Nun, dann eben zwei.“

„Einen. Das muss genügen.“

„Einen nur?“, fuhr Kirk entrüstet auf. „Einen, als wäre ich zum Tode verurteilt?“ Sie seufzte, legte eine Hand aufs Herz, die andere auf sein Knie, überlegte einen Moment und sagte dann: „Wenn ich morgen sterben müsste…“ Sie hielt inne.

„Ja?“

„Wenn ich morgen sterben müsste, wäre mein letzter Wunsch, Gewissheit darüber zu bekommen, ob auch ER gestorben ist. Du weißt schon: er, Paul. Bitte, lass mich das Manuskript lesen oder irgendeinen anderen Beweis sehen, was mit ihm geschehen ist.“ Duchess of Kirkcaldy schaute Kite halb flehend, halb kokettierend in die Augen.

Die Erektion, deren Entstehen sie in seinem Schritt beobachtet hatte, verlor an Offensive. Dafür bemerkte sie eine größere Härte in seiner Stimme, als er antwortete: „Kein bescheidener Wunsch; ich hoffe, du weißt, was du da verlangst.“

„Gehab dich nicht so furchtbar schottisch“ gurrte sie. „Würdest du einem Mädchen drei bescheidene Wünsche gewähren, müsste sie keinen außergewöhnlichen äußern. Ach bitte, tu mir den Gefallen.“

„Wenn du für die Erfüllung deines Wunsches sterben würdest, wozu wärst du dann noch bereit?“

„Zu allem, was du verlangst“, hauchte Kirk.

„Du wirst bekommen, wonach du verlangst“, beendete Kite das Gespräch, erhob sich und schlenderte mit seinem Sektglas zu der Gruppe schnatternder Sammler hinüber, die im Halbkreis um eine Gemälde John Lennons standen und noch immer heftig diskutierten. Während das Mädchen auf der Fensterbank sitzend zurückblieb – zitternd, ohne zu wissen, ob vor Furcht oder vor Lust – stieß der Schlossherr mit den von Alkohol benebelten Gästen auf Paul Campbell an. Die meisten vermissten ihn schmerzlich, vor allem jene, die im Geiste schon ihre Finger auf das Evans-Manuskript legten. Außer Semolina Pilchard hatte niemand die Szene auf der Fensterbank bemerkt.

24) Maxwells Silberhammer

„Mr Ziegler,“ fuhr Kite fort, „vielleicht können Sie mir in Ihrer Eigenschaft als Detektiv behilflich sein.“

Zach schaute erstaunt auf.

„Natürlich habe ich Erkundigungen über Sie eingezogen. Wer kauft schon gern die Katze im Sack?“

„Leute, die Manuskripte in Koffern erwerben?“, flachste Veronica.

„Erkundigungen, soso“, sagte Zach. „Nun, es kommt darauf an, wie der Fall beschaffen ist. Worum geht es und was erwarten Sie von mir?“

„Es geht um ein verschwundenes Dokument.“

„Ich bin nicht sicher, dass wir schon jetzt bereit sind, Memorabilien aufzu…“

„Es handelt sich um eine Fotografie, die mir im Verlauf eines unserer Familientreffen entwendet wurde; vermutlich ein Scherz, der die Grenzen des Zulässigen überschritt und sich daher kaum von allein in Wohlgefallen auflösen wird. Der Kreis der primär Verdächtigen besteht somit aus den Personen, die ich zuvor aufgezählt habe. Ziehen Sie Erkundigungen ein und beschaffen Sie entweder das Foto oder einen dienlichen Hinweis.“

Zach ging die Liste im Geist durch. „Einschließlich Ihnen bestand die Familie bis zum Tod meines Stiefbruders aus zehn Personen, korrekt?“

„Richtig. Ihn und mich können wir ausschließen, also bleiben acht.“

„Wen wir ausschließen können, müssen Sie mir überlassen, andernfalls lehne ich den Auftrag ab. Ich brauche außerdem weitere Informationen: Von welchem Ort, welchem Datum, welchem Zeitfenster, welchem Fotomotiv reden wir? Worin bestanden die Sicherheitsvorkehrungen für das Objekt und wie wurden diese überwunden?“

Der Hüne schwieg einen Moment. Er zog eine Grimasse, kratzte sich mit einem perfekt manikürten Finger an der Nase, dann antwortete er: „Sie werden keine Ermittlungen gegen mich durchführen. PC31 scheidet aus, weil die Tat in genau jener Nacht geschah, als er gestorben ist. Ich hatte anlässlich des Sucherfolgs kurzfristig ein Treffen hier im Schloss anberaumt. Er sollte den Koffer mitbringen, aber er traf nie ein. Wir zeigten uns gegenseitig einige andere Stücke, die wir in der letzten Zeit erworben haben, darunter auch das Foto – ein Motiv aus der Pathologie, das normalerweise in einem Safe aufbewahrt wird; mehr möchte ich darüber nicht sagen. Aus der geplanten Feier entwickelte sich ein weintrunkenes Fest, das bis in die frühen Morgenstunden dauerte. Kurz nach ein Uhr begaben Kirk und ich uns nach oben. Als ich gegen zehn Uhr wieder erwachte, waren bis auf Kirk alle Gäste und das Foto verschwunden.“

„Kirk?“

„Die Duchess of Kirkcaldy.“

„Ach ja. Wenn ich die Lage recht einschätze, werden Sie vermutlich auch zu den Vorgängen da ‚oben‘ keine näheren Angabe machen wollen.“

„Wie genau müssen Sie es wissen?“

„Vergessen Sie‘s. Ich komme vielleicht darauf zurück, falls die Ermittlungen steckenbleiben. Was ist Ihnen meine Arbeit wert?“

„Berechnen Sie Ihren üblichen Satz. Falls es mit Ihrer Hilfe gelingt, das Foto zurückzuholen, verdoppelt das Ihr Gehalt.“

Zach und Veronica verständigten sich wortlos. Dann reichte der Detektiv Kite die Hand und sagte: „Einverstanden. Ich halte Sie wöchentlich auf dem Laufenden.“

„Täglich. Geben Sie dem höchste Priorität. Ich erwarte, dass die Frage in einer Woche vom Tisch ist.“

„Wie Sie wünschen.“

Der Schlossherr zeigte einen zufriedenen Gesichtsausdruck. Er hob sein letztes noch gefülltes Saftglas. „Auf Ihr Wohl.“

Veronica und Zach prosteten zurück. „Auf Ihres.“

Kite erhob sich. „Lassen Sie uns zur Feier des Tages Ihren Wunsch erfüllen. Folgen Sie mir.“

Er führte sie zurück durch den Salon mit dem fünfeckigen Tisch und den schwarzen Sesseln bis zur Tür neben dem gegenüberliegenden Kamin. Sie traten hindurch. Der Grundriss des Saals entsprach dem des Speisesalons, allerdings wurde dieser hier als Bibliothek genutzt. „Fühlen Sie sich wie zuhause“, sagte Kite. Seine linke Hand wies im Halbkreis in den Raum. „Ich bin in zwei Minuten wieder bei Ihnen.“ Er verließ sie durch eine weitere Nebentür am anderen Ende. Zach und Veronica ignorierten den Drang, das während des Essens Gehörte zu diskutieren oder auch nur die Backen zu blähen. Sie mussten davon ausgehen, dass hier, genau wie nebenan, irgendwelche Instrumente auf sie gerichtet waren. Die beiden musterten Boden, Wände und Decken in gespielt gelangweilter Haltung, gaben vor, einmal dieses Gemälde, einmal jenes Buch genauer zu inspizieren.

Ohne besondere Eile schlenderte Zach zu einem Stück hinüber, das an einer Holzvertäfelung zwischen zwei Bücherschränken befestigt war. Er hatte die Form wiedererkannt, ohne sie gleich zuordnen zu können. Das Ding sah aus wie eine mittelalterliche Streitaxt oder eine Art Hellebarde. Am oberen Ende eines armlangen Stiels war ein kreuzförmiges Werkzeug montiert. Eine Seite, kegelförmig, nahm den sich leicht verjüngenden Stiel auf, der linke Flügel bestand aus einem spitzen, handlangen Dorn; oben lief das Objekt in einer dolchartigen Spitze zu. Statt einer Axt formte der rechte Flügel einen Hammer mit gespreizten Ecken. Die Flügel des Kreuzes waren an einem Würfel befestigt, der, wie der Rest der Waffe, wahrscheinlich aus Silber oder versilbertem Metall bestand. Der Stiel war aus einem edlen Rotholz gefertigt – keine Kriegswaffe, sondern für zeremonielle oder symbolische Zwecke gefertigt. Sie sah gefährlich genug aus. Doch wer mochte wissen, welche Schäden man mit einem ernst gemeinten Äquivalent anrichten konnte?

Zachs Blick glitt an dem Ausstellungsstück hinunter. Rechts unterhalb, etwa auf Höhe seiner Schultern, befand sich eine gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografie. Sie zeigte ein Motiv, das er schon einmal gesehen hatte – in einem anderen Wartezimmer, nur wenige Tage zuvor. Nach all den verstörenden Informationen, die er seither aufgenommen hatte, kam es ihm wie ein halbes Leben entfernt vor. Ein formell gekleideter älterer Herr hielt eine auf ein Samtkissen gebettete historische Waffe, vielleicht eine Streitaxt oder einen Kriegshammer. Ihm gegenüber stand John Lennon mit hängenden Schultern, sichtlich übernächtigt. Bei näherer Betrachtung konnte es sich um dasselbe Objekt handeln, das über dem Bild hing. Es war sogar wahrscheinlich, andernfalls ergab die Kombination aus Foto und Ausstellungsstück keinen Sinn. Seine Überlegungen bestätigte die dezente Texttafel, die links, gegenüber dem Foto, unterhalb der Waffe angebracht war. Auf ihr stand:

„Sir Maxwell Knight übergibt John Lennon den McCartney- biétl. 9. November 1966“

Zachs Kinnlade fiel nach unten.

„Faszinierend, nicht wahr?“, ertönte hinter seiner linken Schulter die Hyänenstimme des Schlossherrn.

Der Detektiv zuckte zusammen. Er drehte sich um und trat einen Schritt zur Seite. Sein rechter Zeigefinger deutete auf den Hammer. „Was, zur Hölle, ist das da?“

Kite setzte ein sardonisches Lächeln auf. „Wie die Inschrift angibt, handelt es sich um einen biétl. Das Wort entstammt dem Altenglischen und bezeichnet einen Hammer; in diesem Fall ein rituelles Objekt, das für Beatles-Sammler mit okkultem Wissen um die Band so etwas wie den heiligen Gral darstellt. Ist Ihnen das Datum aufgefallen?“

„Neunter November – 9/11. Wollen Sie andeuten, die Waffe stünde im Zusammenhang mit McCartneys Ableben? Ich dachte, er sei bei einem Autounfall am 11.9.1966 gestorben?“

„So geht die Rede. Sie geben die offizielle Version der Beatles-Geschichte für diejenigen wieder, die Gründe haben, der für die breite Masse publizierten offiziellen Geschichte keinen Glauben zu schenken. Die Kombination aus elf und neun hat numerologisch eine ganz besondere Bedeutung. Wenn Sie die Weltgeschichte daraufhin abklopfen, werden Sie in ihrem Zusammenhang zahlreiche der wichtigsten Ereignisse stattfinden sehen: Am 9.11.1918 die Revolution gegen den deutschen Kaiser, die den Krieg zugunsten der Alliierten beendete, selbigen Tags 1989 die Öffnung der Berliner Mauer, die für den Fall der kommunistischen Regime in Osteuropa von besonderer Bedeutung war; am 11.9.1973 begann mit dem Putsch General Pinochets gegen den chilenischen Präsidenten Salvador Allende die Übernahme der Welt durch den Neoliberalismus. Dies nur, um ein paar der bekannteren Beispiele zu nennen.“

„Wie kommt ein dem gegenüber unbedeutender Musiker ins Spiel?“, fragte Veronica, die sich den beiden zugesellt hatte.

„Der beliebteste Musiker innerhalb der erfolgreichsten Musikgruppe der Welt“, verbesserte Kite, „und damit ein wesentliches Element in der Transformation familienbasierter Nationen zu den Ansammlungen hyper-individualistischer Atome, wie wir sie heute kennen. Die zersetzende Wirkung der Rockmusik, allen voran die der Beatles und der Stones, auf herkömmliche Moralvorstellungen wird selbst von ihren ärgsten Kritikern gern unterschätzt. Diese Bands propagierten die Lockerung der Sexualmoral, untergruben den Glauben an Gott und staatliche Institutionen, popularisierten den Missbrauch von Hasch und LSD, bagatellisierten Satanismus, pulverisierten jede klare Vorstellung davon, was Ethik, Philosophie oder Kunst zu leisten hatten, und sie beeinflussten ein Milliardenpublikum. Paul McCartney verdiente es, Luzifer an jenem besonderen September-Datum übergeben zu werden.“

„Also gab es keinen Unfall“, schloss Zach. „Er wurde ganz einfach erschlagen.“

„Formulieren wir es so: Wenn es um historische Daten geht, überlässt man nichts dem Zufall. Maxwells Silberhammer sorgte dafür, dass Paul wie vorgesehen starb.“

Veronica drehte den Kopf der Waffe zu und verzog angeekelt das Gesicht. „Ich glaub‘, ich kotz‘ gleich!“, nuschelte sie fast unhörbar.

„Max Knight übergab das gute Stück, desinfiziert und von allen Spuren gereinigt, zwei Monate später an John… als Andenken beziehungsweise als Warnung. Aber wer weiß: Vielleicht ist auch dies nur eine wohlfeile Geschichte, eine Fassade vor einer Fassade vor einer Fassade… Kommen Sie, ich zeige Ihnen, was Sie sehen wollten.“

Kite legte den dicken Lederordner, den er in der Hand gehalten hatte, zwei Regalabteile entfernt auf ein Lesepult. Er schlug ihn an einer mit einer Seidenschleife markierten Stelle auf, ungefähr nach einem Drittel der Seiten. „Nicht anfassen! Lesen Sie gern langsam, sorgfältig, aber Sie werden keine weitere Seite zu Gesicht bekommen. Faksimiles dieser Textstelle kann man an mehreren Adressen im Internet finden, wenn man weiß, wonach man sucht. Es sollte Beweis genug sein, dass wir das Original vor uns haben.“

Zach trat näher. Die Seite war einseitig eng mit Schreibmaschinenschrift bedeckt. Er schätzte den Text auf etwa fünfhundert Wörter. Das Papier war fleckig und vergilbt. Am breiten oberen Rand trug es von Hand aufgetragen die Inschrift ‚146 –‘. Mehr als ein Drittel der Zeilen umrahmte eine Linie. Das von ihr gebildete Feld war doppelt durchgestrichen. Weitere Ergänzungen und Streichungen in Handschrift verliehen der Seite den Entwurfscharakter, den man von einem Buchmanuskript erwartete.

Der Detektiv begann zu lesen: Ein gewisser George Kelly und seine Frau seien wegen etwas, das Evans ihnen im Auftrag von Brian – Epstein? – sagte, unglücklich und verließen Cavendish. Am folgenden Tag sei Paul eingetroffen; alle seien zugegen gewesen – es folgte eine Liste von Vornamen – und seien erstaunt und aufgeregt gewesen… ‚Sie haben in Nairobi ganze Arbeit geleistet‘, las er, ‚Nun ging es also wirklich los. Es fühlte sich an, als ob wir ihn schon immer gekannt hätten.‘ Darauf folgte das durchgestrichene Feld von circa zwanzig Zeilen, in dem von weiteren Reaktionen der Anwesenden berichtet wurde. Unter anderem ging es um Strawberry Fields Forever, das John ihm, später wohl, rückwärts vorgespielt hatte. ‚Welch eine Art, eine Geschichte zu erzählen‘, begeisterte Evans sich.

Dem durchgestrichenen Feld folgten zuletzt sieben Zeilen. Hier erwähnte er eine Klinik in Kenia, zu der er Paul begleitet habe, und dass dieser nun einen falschen Oberlippenbart brauche. Dann brach der Text mitten im Satz ab, um auf der folgenden Seite seine Fortsetzung zu finden. Ohne nachzudenken hob Zach die Hand, um umzublättern. Sanft drückte der Hüne seinen Arm nieder.

„Das sollte Motivation genug sein, den Fab Store wieder zu eröffnen, Mr Ziegler. Nehmen Sie mein Angebot an; eine Million Pfund, bar, steuerfrei.“ Kite schaute ihm eindringlich ins Gesicht. „Kommen Sie, Sie haben heute enorm viel Neues erfahren. Lassen Sie uns in ein oder zwei Wochen wieder treffen, wenn Sie alles verarbeitet haben. Dann wissen wir außerdem mehr, was aus dem verschwundenen Foto geworden ist.“ Er legte Zach eine Hand in den Rücken und führte ihn sanft zur Haupttür in der Mitte der langen Seite des Saals. Der Detektiv, erschüttert, leistete keinen Widerstand.