44) Verfahren

Es war der heikelste Teil ihres Plans, denn ihre Befreiung und damit ihr Leben hing davon ab, dass sie den Dolch in ihren Besitz bekam. Daher verfolgte ein Teil ihres Bewusstseins mit Interesse jede seiner Positionsveränderungen.

Die Klinge rotierte langsam, während sie einen hohen Bogen durch die Luft beschrieb. Es fehlte nicht viel, dann hätte sie Veronica getroffen. Als Kite die Hände aus seinem malträtierten Schritt zum Hals gerissen hatte, nahmen sie die Waffe mit und gaben sie auf halbem Wege frei. Nachdem sie den höchsten Punkt auf Höhe von Veronicas Ellbogen erreicht hatte, folgte ihre Flugbahn wieder der Schwerkraft. Knapp hinter Veronica bohrte die gefährliche Spitze sich in die Holzdielen des Bodens. Während die junge Frau ihre Pendelbewegung zum zweiten Mal innerhalb einer Minute aufzuhalten versuchte, achtete sie darauf, ihr nicht zu nahe zu kommen. Zum einen wollte sie natürlich keine Verletzung riskieren; zum anderen hoffte sie, ihre Fußfessel mit der Schneide öffnen zu können.

Zuerst musste sie jedoch neben den Pendelschwingungen auch ihre Muskeln und ihren Geist wieder unter Kontrolle bringen. Ihr Atem ging in schweren, rauhen Stößen, einem halben Grunzen, das womöglich auch in anderen Teilen des Hauses zu hören war. Es ließ sich leider nicht vermeiden. Als ihr Körper wieder still stand, konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit auf die Lunge, holte in regelmäßigen tiefen Zügen Luft durch die Nase und entließ sie in rhythmischen Stößen durch die Lippen. Sie zählte im Stillen mit. Nach etwa dreißig Durchgängen hatte sie sich so weit wieder in der Gewalt, dass sie es wagen konnte, die akrobatischen Anstrengungen zu unternehmen, mit denen sie ihre Fesseln durchtrennen wollte. Sie trippelte zum Dolch, der glücklicherweise fast direkt unter ihrer Aufhängung stecken geblieben war, stützte sich auf den rechten Fuß und begann mit dem linken eine winzige Auf- und Abbewegung. Der Lederstreifen glitt über die Klinge, leistete jedoch einigen Widerstand. Eine ganze Weile war nur das rhythmische Tappen ihrer Fußsohle auf den Dielen zu hören. Veronica musste das Gewicht mehrmals auf das jeweils andere Bein verlagern, bis die Fessel endlich entzwei ging.

Wieder verschnaufte sie einige Minuten. Ihr Rücken schmerzte, die mit frischem Blut versorgten Füße begannen zu kribbeln und ihre Arme und Hände waren ihrer unnatürlichen Haltung wegen beinahe taub. Noch immer lagen zwei schwere Arbeiten vor ihr. Sie musste, den Dolch zwischen die Füße geklemmt, ihre Handfesseln aufschneiden. Es würde unausweichlich dazu führen, dass sie in fötaler Haltung, Steiß voraus, zu Boden fiele. Wahrscheinlich würde es ihr das Becken brechen. Sie brauchte etwas Weiches. Das Bett stand leider außerhalb ihrer Reichweite, stellte sie fest. Keine Chance, die Matratze zu erreichen, um sie mit den Füßen auf den Boden zu ziehen. Kurz erwägte sie, die zerfetzten Überreste des schwarzen Kleides, das Kite ihr im Stürzen vom Leib gerissen hatte, zu verwenden, doch der Stoff war zu dünn, um den Aufprall nennenswert mildern zu können. Sie hätte etwas Ordentliches anziehen sollen, meldete sich eine innere Stimme. Resolut würgte sie sie ab. Es nützte nichts, Fehlentscheidungen zu betrauern; sie ließen sich nicht mehr ändern, und vermutlich böte selbst eine gut gefütterte Daunenjacke zu wenig Puffer.

Da fiel ihr Blick auf den Hünen.


Sie waren natürlich nicht die einzigen Reisenden, die der M6 den Rücken kehrten, um ihr Glück auf Landstraßen zu versuchen. Auch dort bewegte der Verkehr sich nur zähflüssig, aber immerhin bewegte er sich. Trotzdem waren Maria und Zach froh, jenseits der Unfallstelle wieder die wesentlich schnelleren Motorways benutzen zu können. Fast hätten sie der hypnotischen Wirkung des unter ihnen hinwegsausenden Asphaltbandes wegen die Ausfahrt verpasst. Der Mini besaß zum Glück gute Bremsen, und im letzten Moment nahmen sie die Kurve mit quietschenden Reifen. Die schleichende Müdigkeit verflog in Sekunden. Sie würden es brauchen. Der letzte Streckenabschnitt kostete die größte Anstrengung, denn in dieser ländlichen Gegend konnte man sich leicht verfahren. Maria hatte den Weg zum Ferienhaus der Familie noch nie bei Nacht zurückgelegt und hoffte, dass sie trotz der widrigen Umstände die Orientierung behielt.


Donald Wickens lag bequem auf einige Kissen gebettet auf der altmodischen Couch im Zimmer direkt unter Veronicas Gefängnis. Er schaute zur Decke und lauschte den Geräuschen, die durch die Bohlen zu ihm herunter drangen. Holz war ein guter Schallträger. Er hatte ein Bier in der Linken und eine Kippe zwischen den Lippen. Zwar bedauerte er, dieser naseweisen Göre nicht selbst bescheidstoßen zu können, dafür genoss er das akustische Lustspiel, das der Boss mit ihr veranstaltete. Er hörte Kites Schritte, als dieser sein Opfer umrundete, hörte das Reißen des Stoffs, von der Klinge zerschnitten, hörte die Kommentare des Schlossherrn über Veronicas Körper und malte sich die Szene aus, die sich ihm bieten musste. Seine Rechte öffnete Knopf und Reißverschluss seiner Hose, die schnell eng zu werden drohte.

Wieder Schritte über ihm, kurz Stille, dann schrie Veronica heiser, Kite grunzte. Es folgte fast sofort ein schweres Poltern auf den Deckendielen. „Ja, gib‘s ihr feste!“, feuerte Wickens knurrend seinen Boss an. Als hätte Kite ihn gehört, war sogleich ein dumpfer Schlag und ein weiterer lauter Schrei des Mädchens zu hören, während ihr Peiniger undefinierbare tierische Laute von sich gab. Sie japste ein paar Mal stöhnend. Wickens, höchst erregt, lauschte begierig nach weiteren Reizen, doch dann kehrte wieder Stille ein. Er schaute auf die Wanduhr; Punkt Mitternacht. Schnitt Kite ihr gerade die Kehle durch? Enttäuscht seufzte er und wollte sich eben aufsetzen. Es konnte sein, dass der Boss ihn gleich zu sich rief, um die blutige Sauerei aufzuräumen. Doch da erklang von oben ein leises rhythmisches Stampfen. Die Reprise. Ein seliges Grinsen legte sich auf sein Gesicht, während seine Rechte den Rhythmus wie von selbst übernahm.

Nach wenigen Minuten erneut ein Augenblick der Stille. Was geschah nun? Etwas Schweres wurde über den Boden geschleift und mit einem satten Rummsen losgelassen. Schleifen, Rummsen, Schleifen, Rummsen. Im Takt dazu hörte er Veronica grunzen, den Lautäußerungen bei einem Tennismatch der Damen nicht unähnlich. Plötzlich ein schweres Poltern; etwas knirschte und splitterte. Das Mädchen stieß einen lauten, heiseren Schrei aus, Kites Lungen entwich ein hässliches Gurgeln. Wickens verlor die Kontrolle über seinen Körper und glitt in einen tranceähnlichen Wachtraum. Als sein Verstand das Steuer wieder übernahm, herrschte völlige Stille über ihm. Das Bier und das warme Licht der Kerze trugen ihn übergangslos in den tiefen Schlaf danach.


Sie hatten die Orientierung verloren. Es war müßig gewesen, unter den gegebenen Umständen etwas anderes zu erhoffen. Lag der Feldweg, der über eine halbe Stunde bis zum Haus führte, noch vor ihnen oder hatten sie ihn bereits verpasst? Alles sah in der Dunkelheit ganz anders aus, als in ihrer Erinnerung, doch Maria war sich fast sicher, dass sie die Abzweigung übersehen hatten. „Fahr bis zur nächsten Ortschaft“, wies sie Zach an. „Vielleicht können wir jemand nach dem Weg fragen.“

„Um ein Uhr in der Nacht?“, erwiderte der Detektiv zweifelnd. Man merkte ihm die Müdigkeit nach der langen Wegstrecke an. Dennoch weigerte er sich, ihr das Steuer zu überlassen. „Du darfst mich auf dem Rückweg ablösen“, hatte er gesagt. Er folgte jedoch ihrem Rat. Die Ortschaft, die sie gerade erreichten, bestand nur aus einigen wenigen Häusern. Es gab weder Seitenstraßen noch Laternen. Alle Gebäude lagen im Dunkeln, nichts regte sich. Nur in einem Fenster des letzten Hauses, am anderen Ende des Weilers, flackerte einsam das Licht eines Fernsehers. Zach hielt an, stieg aus und ging zur Tür des Gebäudes. Kein Klingelknopf. Er schaute sich suchend um. Da, ein Glockenseil. Er zog daran. Lautes metallisches Geläut, das bestimmt im halben Dorf gehört werden konnte, drang von hinter der Tür nach draußen. Ein Gesicht erschien am Fenster des Raums, in dem der Fernseher stand. Es sah verschlafen aus. Zach winkte. Das Gesicht verschwand wieder, dann öffnete sich eine Tür im Gebäudeinneren; schlurfende Schritte auf einem Dielenboden – unendlich langsam, wie es Zach schien.

„Wer ist da?“, fragte eine schläfrig klingende Stimme.

„Mein Name ist Ziegler. Ich… wir sind auf der Suche nach einem Ferienhaus und haben uns verfahren.“

Das Geräusch eines Riegels, der zurückgeschoben wurde. Die Tür ging halb auf. Ein Mann, vielleicht Mitte dreißig, gekleidet in eine von Trägern gehaltene Anzughose und Feinrippunterhemd, sah ihn müden Blickes an.

„Ich hoffe, wir haben Sie nicht geweckt“, erkundigte sich Zach.

„Kein Problem. Ich habe Fahrbereitschaft und bin vor dem Fernseher eingenickt. Danke für‘s Wecken.“ Ein Lächeln flog über das Gesicht des Mannes. „Wo soll‘s denn hingehen?“

Nun bemerkte der Detektiv das in die Jahre gekommene schwarze Taxi, das in einer offenen Garage neben dem Haus stand. „Ihres?“, fragte er, mit einer Kopfbewegung in Richtung des Wagens. Der Mann nickte. Zach sagte: „Hier in der Nähe gibt es einen abseits gelegenen alten Hof, der von unseren Freunden in Liverpool als Ferienwohnung benutzt wird. Kennen Sie den?“

„Den von den Beatles-Freaks?“, fragte der Taxifahrer zurück, das Gesicht skeptisch verzogen.

„Genau den“, bestätigte Zach, erleichtert, dass ihnen das Glück gleich bei der ersten Erkundigung wohl gesonnen war.

„Mann, Mann, ihr Stadtleute habt echt Nerven!“, kam die etwas unwillige Erwiderung.

Der Detektiv hätte gern gewusst, welche Bewandtnis es mit der Bemerkung hatte, befürchtete jedoch eine Tirade auszulösen, falls er fragte. Also erkundigte er sich erneut nach dem Weg: „Tut uns wirklich leid für die Störung. Können Sie uns sagen, wo wir abbiegen müssen, um hinzugelangen? Ich nehme doch an, die Zufahrt mündet hier in diese Straße; richtig?“

Der Taxifahrer erklärte ihm den Weg.

43) Neumond

Maria und Zach loggten in mehrere weitere Online-Dienste ein, um herauszufinden, ob Kirk in den letzten vier Wochen Lebenszeichen beziehungsweise Hinweise hinterlassen hatte, wo sie sich gerade aufhielt. Ihre Konten auf verschiedenen sozialen Medien zeigten den gesamten Mai hindurch keinerlei Aktivitäten. Schließlich sahen der Detektiv und die Italienerin einander resigniert an. Stumm stellten sie dieselbe Frage: Was nun? Schließlich war Zach aufgestanden. „Gehen wir“, sagte er.

„Wohin?“, fragte Maria.

„Nach Norden natürlich. Zu eurer Hütte, oder was das ist. Mangels weiterer Anhaltspunkte halte ich das für besser, als hier herumzusitzen und die Fingernägel zu zerkauen.“

„Wie stellst du dir das vor?“, protestierte Maria. „Da hält kein Bus vor dem Haus. Von der nächstgelegenen Ortschaft fährt man eine halbe Stunde, und von Liverpool bis dort hin braucht man mit dem Auto mindestens drei bis vier Stunden – wenn man eines hätte.“

„Wir haben eins“, sagte Zach. „Komm mit.“

Maria folgte ihm aus dem Studierzimmer hinaus, den Flur entlang und die Treppen hinab. „Ich dachte, Veronica hat den Opel mitgenommen“, rief sie ihm hinterher.

„Hat sie“, antwortete Zach, der einen Schlüssel aus der Hosentasche fischte. Er schloss den Tresor auf, griff in eines der Regale und hielt Maria einen Wagenschlüssel unter die Nase.

„Johns Mini Cooper!“, hauchte sie mit großen Augen. „Das kannst du nicht machen.“

Zach zuckte mit den Schultern. „Wenn es um Veronica geht, nehme ich keine falschen Rücksichten.“ Er schnitt Maria, die den hohen Preis des Autos ins Feld führte, das Wort ab. „Ich bin ein sicherheitsbewusster Fahrer. Dem Mini wird nichts passieren. Bloß schade, dass er nur so wenige Meilen pro Stunde macht.“


„Man sagt, das Haus wurde über einer alten druidischen Kultstätte errichtet“, erzählte Kite im Plauderton. „Man sagt auch, dass sie hier Menschen geopfert haben. Bei Ausgrabungen sind tatsächlich ein Ringwall um das Haus und darunter ein unidentifizierbares quadratisches Fundament gefunden worden.“ Während er all das erläuterte, legte Kite seine Jacke auf dem Stuhl unter dem linken Fenster ab und öffnete die Knöpfe seines Hemdes. Er ging hinter ihr vorbei zu dem Schränkchen – kein Tischchen – unter dem rechten Fenster und entnahm ihm fünf Kerzenständer, eine Streichholzschachtel, eine Art Nierenschale und einen schwarzen Kapuzenumhang. Die Utensilien legte er auf das Bett. Er kam zurück und zog ihr mit einem Ruck die Strohmatte unter den Füßen weg.

„Hey!“ rief Veronica, die mit dem vollen Gewicht in die Lederriemen um ihre Handgelenke fiel. Während sie wieder auf ihre Füße zu gelangen versuchte, bemerkte sie die eingeritzten Symbole, die die Matte bisher verdeckt hatte. Sie stand beziehungsweise hing im Zentrum eines Pentagramms.

Kite fuhr mittlerweile fort, das Hemd abzulegen. „Heute Nacht sollst du meine Braut sein“, sagte er. „Das Ritual erfordert, dass wir uns passend kleiden – ich mich um, du dich aus.“ Er kicherte sein Hyänenkichern. „Keine Sorge, ich helfe dir natürlich.“ Er wandte sich dem Bett zu. Die Hose fiel, die Unterwäsche folgte.

Veronica schauderte. Die geballte Kraft, die der Riese verkörperte, schien ihr beim Anblick seiner Muskeln plötzlich unüberwindlich. Für einen Moment verzagte sie, rief sich aber sofort zur Ordnung. Sie würde ihn besiegen! Sie würde ihn besiegen, weil sie musste.

Er streifte den schwarzen Kapuzenumhang über. Dann begann er, die Kerzen anzuzünden und verteilte sie in gleichen Abständen um das Pentagramm. „Ich bin fertig,“ verkündete er fröhlich. „Nun bist du an der Reihe.“ Vor ihr bei der letzten Kerze kniend schaute er zu ihr auf. Das Flackern der Flammen verwandelte sein Gesicht unter der Haube für einen Moment in die Fratze eines Dämons. „Bleib genau so stehen!“, befahl Kite. „Du siehst perfekt aus.“ Als hätte sie eine Wahl!

Langsam erhob er sich. Wieder ging er zu dem Schränkchen, wo er den Dolch, den er dort abgelegt hatte, ergriff. Er trat hinter sie und kniete nieder. Veronica spürte ein Zupfen am unteren Saum ihres Kleids. Ein Geräusch zerreißenden Textils. Der Druck, den der Stoff auf ihre Oberschenkel ausgeübt hatte, schwand. Kite führte die scharfe Klinge langsam weiter entlang ihrer Körpermitte nach oben und beendete die Bewegung erst, als er ihren Nacken erreicht hatte. Das schwarze Kleid, nur noch an ihren Schultern hängend, verhüllte sie nun lediglich von vorn. Kite zog an den Bändeln ihres Bikini-Oberteils und durchtrennte sie mit schnellen Schnitten. Dasselbe wiederholte er bei ihrem Höschen. Zufrieden betrachtete er sein Werk. Furcht stieg in Veronica auf. Nie in ihrem Leben war sie so schutzlos ausgeliefert gewesen.

„Unsere… Gäste… sind normalerweise sehr viel jünger als du“, sagte er. Seine Stimme klang raubkatzenhaft. „Für dein hohes Alter hast du dich recht gut in Schuss gehalten. Schau dir nur diese schönen Muskeln an!“ Er sagte es fast bewundernd. Seine Finger strichen über ihre Rippen. Dann glitten sie ihrer Wirbelsäule entlang. Die junge Frau nahm alle Kraft zusammen, um nicht aufzuschreien. Ihre Angst überwältigte sie fast, doch sie wusste, was geschähe, wenn sie ihr nachgab. Der Riese sprach es für sie aus: „Im Moment meiner höchsten Lust wirst du sterben.“ Der Zeigefinger seiner Linken fuhr über ihre Halsschlagader.

Bitte, bitte, bleib da nicht stehen!, flehte Veronica still. Alles hing nun davon ab, dass sie ihn sehen konnte. Wenn er einfach so fortfuhr, wäre ihr jede Möglichkeit genommen, ihn zu erledigen.

Er tat ihr den Gefallen. Kite schritt langsam um sie herum, baute sich vor ihr auf und hob den Dolch direkt vor ihre Augen. Im Kerzenschein schimmerten Ornamente auf der kurzen und rasiermesserscharfen Doppelklinge. Sie würdigte diese jedoch keines zweiten Blickes, sondern schaute daran vorbei in die Augen des Psychopathen, die im Schatten der Haube fast nur durch ein Glitzern auszumachen waren. Vorsichtig beugte sie die Knie, bis ihr Körper mit seinem vollen Gewicht am Seil hing. Ihre Gelenke schmerzten schlimm. Dennoch nahm sie eine S-Haltung ein, die Künstler aller Epochen in Gemälden und Skulpturen abgebildet hatten. Sie hoffte es wirkte verführerisch genug, ihn über ihre Anspannung hinwegzutäuschen.

Ihr Plan ging auf. Mit der rechten Hand des Hünen verließ der Dolch den Raum zwischen ihren Gesichtern. Seine Linke streckte er nach dem Halsausschnitt des lose an ihr herabhängenden Kleides aus, während der dazugehörige Fuß des Mannes ihn einen Schritt näher an Veronica herantrug. Blitzschnell spannte sie ihre Muskeln, zog ihre noch immer zusammengebundenen Beine ruckartig in eine Hockstellung und rammte ihm die Knie mit aller Macht in die Hoden. Ein heiserer Schrei entrang sich ihrer Kehle. Fast im selben Moment kollabierte Kite. Er schlug mit der Nase hart gegen ihre Schulter und ging mit einem lauten Grunzen zu Boden, wo er in Embryonalstellung liegen blieb. Reflexhaft hatte er beide Hände zu Fäusten geballt in seinen Schritt gepresst, in der linken die Reste ihres schwarzen Kleides, in der rechten den Dolch. Dass die Klinge tief ins Fleisch seiner Schenkel schnitt, schien er nicht zu bemerken.

Greller Schmerz durchzuckte auch die junge Frau. Ihre Handgelenke bluteten nun, die Schulter explodierte regelrecht in Schmerzen, und auch die Knie beschwerten sich. Es fiel ihr schwer, sich auf die Pendelbewegung zu konzentrieren, in die sie durch den Angriff geraten war. Sie musste einen weiteren Schlag ausführen, und er musste präzise sitzen. Nach einer gefühlten Ewigkeit stand sie endlich still. Der Perversling wendete ihr den Kopf zu, um sie anzuschauen. Wenn sie nicht schnell handelte, würde er den Körper folgen lassen und sich auf den Rücken drehen. Danach befände er sich wahrscheinlich außerhalb ihrer Reichweite. Erneut spannte sie die Muskeln, zog vorsichtig die Knie an und verharrte für den Bruchteil einer Sekunde in dieser Stellung. Sie zielte – und sie genoss den Augenblick. Dann schossen die mit einem Lederband zusammengeknoteten Beine senkrecht nach unten. Wieder schrie sie. Ihre Fersen bohrten sich in seine Kehle, die mit einem undefinierbaren Geräusch nachgab. Kite riss die Augen auf und auch den Mund, doch eine Lautäußerung war ihm nun verwehrt. Die Hände um den Hals gelegt zuckte er noch einige Sekunden. Ein leises Gurgeln sollte das Letzte sein, was der dreißigste Nachfahr von William Braveheart Wallace von sich gab. Veronicas innere Uhr tickte zwanzig weitere Sekunden, bevor sie 0:00 Uhr meldete. Neumond.


Der Vorbesitzer hatte Lennons Mini Cooper nicht nur fahrtauglich sondern gut in Schuss gehalten. Der Kleinwagen brummte mit neunzig Meilen die Stunde über die M6 nach Norden, der schottischen Grenze entgegen. Fast zwei Stunden lang beglückte sie der Asphaltstrang mit freier Fahrt, doch dann verdichtete sich der Verkehr zusehends, wurde immer langsamer und kam schließlich ganz zum Stillstand. Da es kurz vor Mitternacht war, schaltete Zach das altertümliche Radio ein, in der Hoffnung, die Nachrichten enthielten Informationen über das Ausmaß der Behinderung. Während sie im Schritttempo weiterschlichen, verkündete die Sprecherin eine Meldung zum Tod des Aaron S., eines reichen Bürgers und Kulturförderers der Stadt Liverpool. Die Polizei von Liverpool habe bekannt gegeben, dass sie vorbehaltlich letzter forensischer Untersuchungen nun ‚mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit‘ von einem Suizid ausging. Mr S. habe sich am Sonntag Abend mit einer kleinkalibrigen Waffe selbst in den Kopf geschossen und sei auf der Stelle verstorben. Als Motiv würden finanzielle Schwierigkeiten vermutet.

Zach und Maria schauten einander vielsagend an. „In den Hinterkopf, gleich zwei Mal! Schon klar!“, meinte der Detektiv.

„Von finanziellen Schwierigkeiten kann ebenfalls keine Rede sein. Mustard hat die Suche nach Mal Evans‘ Koffer mit hunderttausend Pfund vorfinanziert“, merkte die Italienerin an. „Was geht hier vor?“

„Meinst du, er könnte derjenige gewesen sein, der McCartneys Autopsiefoto mitgehen hat lassen?“

Maria schaute ihn betroffen an. „Ich halte nicht viel von Kite und traue ihm kein bisschen weiter, als ich sehen kann. Er ist ein grober und manchmal brutaler Mensch; aber… Mord? Ich weiß nicht.“

„Mangels Verwicklung in andere kriminelle Machenschaften, von denen wir nichts wissen – wer sonst sollte ein Interesse an Mustards Tod haben und in der Lage sein, die polizeilichen Ermittlungen zu beeinflussen?“

Die Italienerin rieb nervös die Hände aneinander. Sie schaute missmutig in die Rücklichter des zähfließenden Verkehrs vor ihnen. Gerade wollte sie wieder zu reden beginnen, da unterbrach der Detektiv sie mit einer schnellen Geste. Er drehte am Lautstärkeregler des Radios, das inzwischen vermehrt rauschte. Er justierte die Frequenz nach, bis er mit der Qualität der Übertragung zufrieden war, gerade rechtzeitig, dass sie die Verkehrsmeldung für die M6 hören konnten. Ein Unfall hatte beide Fahrbahnen in nördlicher Richtung blockiert. Nur der Standstreifen stand für die Weiterfahrt zur Verfügung. Fahrzeuge stauten sich bereits auf fast zehn Meilen. Verkehrsteilnehmer wurden gebeten, den Streckenabschnitt weiträumig zu umfahren.

Zach fluchte, dann riss er das Steuer herum und schoss am Fahrbahnrand an den stehenden Autos vorbei. Ein Hupkonzert folgte dem Mini. Zweihundert Yards weiter drängelte er sich an einer Ausfahrt in eine Lücke zwischen zwei anderen Verkehrsteilnehmern, die den Motorway verließen.

42) Auf sich allein gestellt

Desmond war ohne weiteren Kommentar durch die Tür nach draußen entschwunden. Sie hörte ihn die Treppe hinuntergehen. Veronica blieb sich selbst überlassen in dem Raum zurück. Das zur Decke führende Seil hielt ihre Arme nach oben ausgestreckt, so dass sie sich weder setzen noch hinlegen, sondern nur stehen oder hängen konnte. Stehfolter, dachte sie. Doch schlimmer als das Stehen empfand sie das Kribbeln in ihren Armen und Händen, gegen das sie nichts unternehmen konnte. Sie drehte sich um ihre eigene Achse, um den Raum in Augenschein zu nehmen. Der stechende Kopfschmerz hatte etwas nachgelassen und auch ihr Sehvermögen stabilisierte sich so langsam. Leider herrschte nun finstere Nacht. Ohne den Mond und ohne eine künstliche Beleuchtung in der Nähe spendete nur das Band der Milchstraße ein schwaches Licht, das die Gegenstände in ihrem Gefängnis als undeutliche Schemen, schwarz vor dunklerem Schwarz, erkennen ließ.

Es gab ein kleines quadratisches Tischchen oder Schränkchen unter dem rechten Fenster; sie sah nur die Deckplatte. Rechts daneben, in einer Ecke des Raums, zeichnete sich wegen der vermutlich weißen Laken etwas heller ein Bett ab. Unter dem anderen Fenster sah es so aus, als stünde dort ein Stuhl. Links an der einwärts führenden Wand sah sie die Umrisse des eisernen Leuchters, an dem ihr Seil befestigt war. Am anderen Ende der Wand hing ein weiterer, meinte sie zu erkennen. Es folgte die Zimmerecke, auf deren Existenz sie nur schließen konnte, denn die Innenwand lag vollständig im Schatten. Außer der mittig angebrachten Türöffnung, die sie gesehen hatte, als Desmond hindurchgegangen war, kannte sie keine Details ihrer Beschaffenheit.

Noch immer wusste sie nicht, wie spät es war. Als sie aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war, hatte sie gerade noch die letzten Augenblicke der Dämmerung erlebt. Wie lang hatte sie mit Wickens gesprochen? Es mochten fünfzehn oder zwanzig Minuten gewesen sein, plus die Zeit, die sie auf die Inspektion des Raums verwendet hatte. Sie schätzte, es musste nun halb acht Uhr sein. Sie drehte sich der Fensterseite zu. Ihr Blick wanderte hinaus zum Sternenhimmel. Die Stellung der Konstellationen über dem Horizont sagte ihr, dass ihre Schätzung gut getroffen war. Ab jetzt würde ihre innere Uhr mitlaufen, die sie zuletzt im Wallace-Schloss trainiert hatte. Das verschaffte ihr drei Annehmlichkeiten: Sie würde orientiert bleiben, sie wäre beschäftigt und es beruhigte die Nerven. Wenn sie eine Chance haben wollte, hier lebend und un… Sie schauderte, als Marias Beschreibung aus ihrer Erinnerung aufstieg, wie Kite mit Kirk umgesprungen war.

Wenn sie hier lebend herauskommen wollte, griff sie den Gedanken neu auf, musste sie voll konzentriert bleiben. Sie musste jeden noch so kleinen Vorteil mit maximaler Wirkung gegen ihre Entführer einsetzen. Einer dieser Vorteile bestand darin, dass man sie wahrscheinlich unterschätzte. Mit ihren fünf Fuß zehn war sie nicht übermäßig groß; sie war jung und hatte ein sanftes Gesicht, und sie hatte ihre Kenntnis verschiedener Kampfsportarten noch nicht in Liverpool anwenden müssen. Das Überraschungsmoment war auf ihrer Seite, aber natürlich nur ein einziges Mal. Sie würde Erfolg haben oder… Der Gedanke war müßig.


„Ist es möglich, dass der Polizist meinte, Desmond sei nur im Moment abwesend?“, fragte Maria Borghese.

Zach schüttelte energisch den Kopf. „Nein, er hat ausdrücklich gesagt, der Kommissar sei heute nicht im Dienst. Er war jedoch auf der Wache und hat diese laut Angaben des Jungspunds an der Rezeption zusammen mit Veronica verlassen. Wenn er nicht am Fall Senfkorn arbeitet, wo könnte er dann hingegangen sein?“

„Frag mich etwas Leichteres. Das einzige, das mir einfällt, ist unser Ferienhaus an der schottischen Grenze.“

„Du meinst, Kirk befindet sich dort und sie sind hingefahren? Gibt es ein Telefon im Haus?“

„Das Gebäude liegt dermaßen abseits, dass wir mehrere Kilometer Kabel aus eigener Tasche hätten bezahlen müssen. Das war es uns nicht wert, zumal man ja ein Mobiltelefon mitnehmen kann, wenn man erreichbar sein möchte. In der Regel wollten wir aber nur unsere Ruhe.“

Zach richtete sich plötzlich in seinem Sitz auf der Rückbank des Taxis auf, das sie ins Stadtzentrum trug. „Ha! Du bist ein Genie!“ Er drückte Maria einen Kuss auf die Wange.

„Ich weiß,“ sagte sie lächelnd, „ aber womit habe ich deine Lobpreisung verdient?“

„Mir hätte schon längst einfallen können, Kirk mittels Handy-Ortung aufzuspüren.“ Die restlichen Fahrminuten schwieg der Detektiv. Er rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her. Als sie endlich vor dem Laden angekommen waren, warf er eine Einhundert-Pfund-Note auf den Beifahrersitz und sprang ohne weiteres Aufhebens aus dem Wagen.

Maria bedankte sich beim Fahrer. „Behalten Sie den Rest“, sagte sie. Dann folgte sie Zach in den Laden. Als sie die Tür hinter sich schloss, war er schon nirgends mehr zu sehen.


Die Zeit verrann, ihre innere Uhr tickte mit. Veronica begann, sich Pläne für mehrere Szenarien zurechtzulegen. Als sie zufrieden war, dachte sie an ihren Vater. Er vermisste sie bestimmt schon seit der Mittagszeit. Was würde er unternommen haben, als klar war, dass sie sich wahrscheinlich in Schwierigkeiten befand? Bestimmt drehte er jeden Stein auf der Suche nach ihr um, doch ob er in der Lage war, ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort nicht nur in Erfahrung zu bringen, sondern auch rechtzeitig zu erreichen, musste sie bezweifeln. Also: keine Fehler! Sie war auf sich allein gestellt.

Die Detektivin überlegte gerade, ob sie ihren Geist und die Beine erfrischen sollte, indem sie zu schlafen versuchte, oder ob sie Hände und Arme noch etwas schonte, um sie gegebenenfalls gegen Kite einsetzen zu können. Alles hing davon ab, wie lange man sie noch in dieser quälenden Haltung stehen ließ. Ihre innere Uhr zeigte elf. Sie hörte draußen einen Käfermotor näherkommen. Das Geräusch war einfach mit nichts zu verwechseln. Das musste Kite sein. Man hatte ihr die Entscheidung abgenommen: Sie würde wach bleiben.

Das Knattern erstarb. Eine dünne Blechtür wurde zugeschlagen. Kurz darauf hörte sie den satten Ton der ins Schloss fallenden schweren Haustür. Ein kurzer unverständlicher Wortwechsel zwischen zwei Männern. Danach herrschte wieder Stille.


Der Laptop fuhr in nervenzerfetzend geringer Geschwindigkeit hoch. Kurz vor der Passworteingabe blieb er stecken. Zach fluchte und startete den Rechner neu. Maria legte eine Hand auf seinen Arm. „Vielleicht sollten wir Pauls Arbeitsrechner benutzen. Der läuft sehr viel schneller. Außerdem wird er besser gegen Schnüffelversuche abgesichert sein.“

„Ich brauche ein paar Spezialprogramme. Ohne die geht‘s nicht weiter.“ Zach presste die Lippen zusammen.

„Nimm den Laptop mit. Wir können ja parallel arbeiten“, erwiderte sie.

Maria fand tatsächlich einige nützliche Anwendungen auf Pauls Rechner, bevor es Zach gelang, den Laptop ans Laufen zu bringen. Der Detektiv hob eine Augenbraue, wunderte sich über die ungewöhnliche Ausstattung, stellte aber keine Fragen. Zu seiner Enttäuschung half ihnen das Ergebnis ihrer Recherche nicht weiter. Kirks Mobilnummer war seit einem Monat offline. Zuletzt war sie bei ihr zuhause registriert worden.


Eine halbe Stunde nach Eintreffen des Wagens hörte Veronica schwere Schritte auf der Treppe, dann auf den Holzdielen des Gangs. Vor ihrem Zimmer legte der Mann (?) eine Pause ein. Ein Schlüsselbund klackerte und klirrte, Metall schabte über das Holz der Tür. Mit einem Klicken öffnete sie sich. Licht fiel durch den schnell breiter werdenden Spalt. Es blendete sie, da ihre Augen auf die tiefe Dunkelheit des nächtlichen Raums eingestellt waren. Sie schloss die Lider gerade rechtzeitig, bevor grelle Wandlampen neben der Tür aufflammten. Die Gestalt, die sie kurz davor im Rahmen gesehen hatte, gehörte unverkennbar dem Schlossbesitzer mit seiner großen, kräftigen Figur. Sie hielt die Lider noch immer zugekniffen, als er sie ansprach.

„Welch seltenes Vögelchen hat sich da in meiner Falle gefangen? Hmhm!“, höhnte er im Tonfall eines Snobs. Als sie nicht reagierte, sagte er: „Du kannst die Augen wieder öffnen. Ich werde dich nicht fressen – jedenfalls nicht sofort.“ Wieder lachte er, doch diesmal ohne die geringste Spur von adligem Getue. Die Hyäne hatte die Oberhand gewonnen.

Vorsichtig linste Veronica aus zu schmalen Schlitzen verengten Lidern hervor. Das Licht blendete sie noch immer. Ihr Kopfschmerz flammte wieder auf, wenn auch ohne nennenswerten Biss. Gut. Zumindest würde sie sich konzentrieren können, wenn es die Situation erforderte. Hinter Kite, der sich direkt vor ihr aufgebaut hatte, sah sie Wickens im Türrahmen stehen. Ohne sich umzudrehen signalisierte der Hüne, der Polizist möge sie allein lassen. Desmond gehorchte. Die Tür fiel ins Schloss. Wie ihre Schwestern im Untergeschoss besaß auch sie keine Klinken, weder außen noch innen, bemerkte die junge Frau.

„Desmond hat mir berichtet, dass du die Kooperation verweigerst“, sagte Kite.

Veronica bemerkte die Klinge in seiner rechten Hand, einen zweischneidigen sehr kurzen Dolch. Ihr stockte der Atem. Sie hatte mit einer Pistole gerechnet und würde nun ihre Pläne buchstäblich aus dem Stand der neuen Situation anpassen müssen. Sie lachte unsicher.

„Das Lachen wird dir schon noch vergehen. Sieh, es ist nicht weiter schlimm. Im Grunde plagt mich nur die Neugier, wie weit ihr mit eurem albernen Detektivspiel gekommen seid. Ich glaube nicht, dass es euch gelungen ist, Beweise gegen mich zu sammeln. Falls doch – ich habe den guten Desmond Jones, der polizeiliche Ermittlungen stets von mir ablenkt.“ Der Dolch wanderte von der rechten in seine linke Hand, dann wieder zurück.

„Was haben Sie vor?“, fragte Veronica.

„Was ich vorhabe? Das liegt doch auf der Hand! Ich schaffe zuerst dich aus dem Weg, anschließend deinen Vater.“

„Das wird Ihnen überhaupt nichts bringen!“, rief sie. „Die gesamte ‚Familie‘ weiß bescheid. Wollen Sie die alle umbringen?“

„Das könnte ich natürlich. Es sind eh nur noch wenige übrig. PC31 habe ich als ersten erledigen lassen. Kirk hat meinen Dobermännern sehr gut geschmeckt, und gestern ist Mr Mustard zur Strafe für den Diebstahl über die Klinge gesprungen…“

Gegen den Entschluss, ihre Gefühle streng im Zaum zu halten, durchlief ein Schock Veronicas sämtliche Glieder. Ihre Lippen formten ein O. Sie wurde kreidebleich. Ohne das Seil, das sie in aufrechter Stellung hielt, hätte sie womöglich das Gleichgewicht verloren.

„…aber so weit brauche ich gar nicht zu gehen“, fuhr Kite fort. „Keine von diesen Memmen wird es wagen, einen Finger gegen mich zu erheben… Was ist? Wird dir übel? Soll ich den Onkel Doktor holen?“ Er verzog abschätzig den Mund. „Nein, den Anruf kann ich mir sparen. Bis er hier eintrifft, brauchen wir eher einen Bestatter.“ Er kicherte.

Veronica spuckte ihm ins Gesicht. Zum einen befriedigte sie damit ein tiefes Bedürfnis, zum anderen hoffte sie, ihn zu unbedachten Handlungen zu provozieren. Doch der Hüne wischte sich nur mit dem linken Ärmel den Speichel von der Wange. „Natürlich bist du sauer. Was habe ich erwartet?“ Dann setzte er wieder sein fieses Grinsen auf. „Du gefällst mir. Endlich eine, die Widerstand leistet. Ich liebe Herausforderungen.“ Seine Rechte fuhr nach vorn, dicht vor ihren Bauch, und ließ den Dolch in atemberaubender Geschwindigkeit zwischen Daumen und Zeigefinger kreiseln. Die junge Frau blieb unbewegt stehen. Sie starrte ihm feindselig in die Augen.

„Das Schicksal hat bestimmt, dass wir heute eine Neumondnacht haben;“ bemerkte Kite, „wie geschaffen für ein kleines Ritual. Hast du Lust?“

39) Lolita

Wieder herrschte für einige Augenblicke Stille im Hinterzimmer. Henry schaute zu Boden, als er leise sagte: „Ich sollte wahrscheinlich nicht über das sprechen, was ich dir nun zu sagen habe. Im Vertrauen auf unsere Freundschaft – und weil ich dich für einen ehrlichen Mann und einen professionell handelnden Ermittler halte – möchte ich meine Zuversicht zum Ausdruck bringen, dass Kirk weiß, was sie tut. Ihr wird schon nichts geschehen sein.“

„Wie kommst du zu der Einschätzung? Wie lang kennst du sie überhaupt?“

„Sie betrat vor etwa einem Jahr den Fab Store, just in dem Moment, als Paul und ich uns über Billy Shears unterhielten. Während wir in unserem Jargon fachsimpelten, stöberte sie durch die Auslagen. Sie schien uns keine Beachtung zu schenken. Nach einer Weile trat sie jedoch mit zwei Alben an den Tresen, ‚Rubber Soul‘ und ‚Sgt. Peppers‘, zeigte jeweils auf McCartneys Gesicht und sagte: ‚Sie meinen, das ist nicht derselbe Mann?‘ Ihre vorurteilsfrei geäußerte Wissbegier veranlasste uns dazu, ihr die Paul-ist-tot-Theorie zu erläutern. Sie stellte die richtigen Fragen, und so redeten wir mehrere Stunden lang mit einander, bis sie sagte: ‚Ist ja scharf! Wissen Sie was? Sie haben mich überzeugt. Man müsste diese ganzen Belege und Hinweise irgendwo sammeln..:‘ – und so kam sie in Kontakt mit der Familie.“

Zach hörte aufmerksam zu. Als Henry in Gedanken zu versinken schien, sagte er: „Erzähl weiter.“

Weitere Sekunden verstrichen, in denen lediglich gedämpfte Geräusche von der Straße hereindrangen. Dann begann Henry erneut zu sprechen. „Sie behauptete damals, fünfzehn Jahre alt zu sein, und sie wirkte überzeugend. Babyspeck, hippe Kleidung, naive Vorstellungen, schnoddrige Sprechweise – es passte alles ins Bild. Sie stellte Fragen über Fragen und wir alle fühlten uns berufen, diese ausführlicher zu beantworten, als sie verlangte. Sie kaufte zunächst wahllos zusammen, was ihr interessant erschien; mehr oder weniger das Standardprogramm für Einsteiger: seltene LP-Pressungen, signierte Gegenstände, Bühnenkleidung. Kite nahm sie also persönlich unter seine Fittiche, um ihr zu helfen, einen Fokus für ihre Sammlung zu finden. Von da an steckten die beiden ständig die Köpfe zusammen. Dass es Unstimmigkeiten zwischen uns gab, musste sie relativ schnell gespürt haben, denn sie lenkte das Gespräch immer wieder in diese Richtung. Sie begeisterte sich insbesondere für den Gedanken, objektive Beweise für McCartneys Tod und Billys Einstieg bei den Beatles zu finden, um der Musikindustrie die Maske herunterzureißen.“

„Wie tatkräftig sie bereit war, sich dafür einzusetzen, durftet ihr ja selbst beobachten“, warf Zach ein.

„Unzweifelhaft. Die Frage, die wir uns hätten stellen sollen, lautete: Warum? War es wirklich nur jugendlicher Idealismus oder steckte mehr dahinter?“

„Es wurde die Vermutung geäußert, es sei ihr um erotische Abenteuer gegangen.“

„Ha!“, lachte Henry auf. „Ich hege hierüber keinerlei Zweifel mehr. Es handelte sich aus meinem Verständnis um eine der Vorbedingungen, mit denen sie in diese Mission gegangen – oder sollte ich sagen: geschickt worden? – ist.“

Zach zog die Augenbrauen hoch. „Geschickt worden?“

„Bist du je nach Japan gereist, Zachary?“

„Nein. Weshalb fragst du?“

„Vielleicht hast du aber von der seit den 1980ern blühenden Jugendkultur gehört, die sich visual kei nennt?“

„Meinst du die Leute mit den bunten Haaren?“

„Ja, unter anderem. Popularisiert hat das eine Heavy-Metal-Gruppe namens X, deren Mitglieder sich in Anlehnung ans traditionelle Kabuki-Theater sehr feminin präsentierten: Schminke, Lippenstift, lange gefärbte Haare, teilweise sogar Röcke – das ganze Programm. Einer von ihnen, Yoshiki, veröffentlichte einen Fotoband mit dem Titel ‚Nude‘, der weibliche Erotik simulierte. Visual kei ist mehr als ein kurzlebiger Trend, es ist eine seit Jahrzehnten praktizierte Lebensweise, bei dem nicht nur die Grenzen zwischen Rock, Pop und Manga verschwimmen, sondern auch jene zwischen den Geschlechtern und Altersgruppen. Im Stadtzentrum von Tokyo gibt es eine Brücke, auf der sich die Musik- und Comicfans gern aufhalten – aufgetakelt als diese Idole in ihren schrillen Outfits. Aber du brauchst gar nicht ans andere Ende der Welt fliegen, um es mit eigenen Augen zu sehen. Geh einfach auf eine ihrer Conventions. Kleine Mädchen ebenso wie junge Frauen und auch Männer kleiden sich als ‚Loli‘, wie sie das nennen.“ Henry schaute Zach nun direkt in die Augen. „Du ahnst vielleicht bereits, worauf ich hinaus will.“

Zach brummte. „Lolitas?“, riet er.

„Lolitas, ja; minderjährige Nymphomaninnen.“

„Und Kirk entstammt dieser Szene?“

„Nein. Die Lolis sind nur ein Teil der visual kei– und Manga-Szene, wenn auch ein bedeutender. Ich glaube nicht, dass Kirk überhaupt von ihnen gehört hat, aber sie ist definitiv eine überzeugende Lolita-Darstellerin. Kirk war nicht fünfzehn Jahre alt, als ich sie kennenlernte, sondern zwanzig.“

„Was?“, rief Zach erstaunt. „Das hieße ja, sie wäre heute einundzwanzig. Bist du sicher? Sie sieht auf ihren Facebook-Fotos kaum älter als sechzehn oder siebzehn aus.“

Henry nickte grimmig. „Eines Tages, als ich gerade wieder mit Paul redete – wir standen am Verkaufstresen –, stellte sie sich neben mich, um ein Buch zu bezahlen, das sie kaufen wollte. Sie öffnete ihren Geldbeutel und ihr Ausweis fiel zu Boden. Ich hob ihn für sie auf. Mein Blick erfasste das Datum, und da wäre mir die Karte fast selbst entglitten.“

„Hast du sie je darauf angesprochen?“

„Auf ihr wahres Alter? Ja. Ich sagte ihr auf den Kopf zu, dass sie nicht das wäre, als was sie sich ausgab.“

„Und ihre Antwort?“

„Sie schien mich falsch verstanden zu haben. ‚Ich darf dir leider nicht erzählen, wer ich bin‘, sagte sie. ‚Warum nicht? Wer verbietet es?‘, fragte ich. Sie schüttelte nur den Kopf und antwortete: ‚Auch das darf ich dir nicht sagen.‘“

Zach überlegte. „Meinst du, jemand hat sie nach Liverpool geschickt, um sie auf die Familie anzusetzen?“

„Ja, der Schluss drängt sich auf. Und wer könnte das sein? Es muss entweder eine ziemlich hoch angesiedelte staatliche Stelle sein, etwa die oberen Etagen von Scotland Yard oder MI-5, oder sie arbeitet für obere Freimaurergrade, vielleicht sogar die Illuminaten. Jedenfalls glaube ich, dass sie weiß, was sie tut. Sie ist kein unerfahrener Teenager mehr.“

„Das eröffnet die Option, dass sie erreicht hat, was sie wollte, und dass sie zur Zentrale zurückgekehrt ist, um Bericht zu erstatten“, sinnierte Zach.

„So sieht es auch für mich…“

In diesem Moment polterten Schritte auf der Treppe. Mit eiligen Schritten stürme Maria zu ihnen herab und rief: „Mr Mustard ist tot. Sie haben es gerade im Lokalradio gebracht.“

Henry und Zach sprangen erschrocken von ihren Sitzen auf. „Was sagst du da?“

Die Italienerin stellte das Kofferradio, das sie mitgebracht hatte, auf den Bartresen und drehte den Lautstärkeregler höher. „… Nachbarn hörten vergangene Nacht mehrere Schüsse aus dem angrenzenden Haus. Sie sahen einen unbeleuchteten weißen Lieferwagen davonfahren. Laut Augenzeugen, die durch die offen stehende Vordertür ins Haus eindrangen, lag der Besitzer, Aaron Senfkorn, mit mit einer Schusswunde im Kopf tot am Boden. Die Polizei wurde umgehend zum Tatort gerufen. Sie sperrte das Grundstück ab. Offiziell hat die Mordkommission noch keine Stellung abgegeben, aber sie kündigte eine Verlautbarung für den Vormittag an. Wir rechnen jede Minute mit ihrem Statement und werden Sie auf dem Laufenden halten, sobald wir weitere Einzelheiten haben.“

Henry sank wieder in den Sessel zurück. Zach war kreidebleich geworden. Maria bemerkte es. Mit besorgtem Blick setzte sie sich auf das Sofa und zog ihn auf den Platz neben sich herunter. Sie legte einen Arm um ihn. Der Detektiv benötigte einige Minuten, bis er wieder sprechen konnte. Dann erzählte er ihnen von seinem Telefonat mit Mr Mustard. „Du musst dich getäuscht haben, Zach“, sagte Maria.

„Das war bestimmt nur ein seltsamer Zufall“, meinte auch Henry.

Zach glaubte keine Sekunde daran, aber was half es? Wenn ihm eine Vorschau auf das Geschehen gewährt worden war, so hatte er die Gelegenheit verpasst, Mustard vor seinem Schicksal zu bewahren. Für den Sammler kam jede Hilfe zu spät. Unfähig zu einer sinnvollen Reaktion warteten die drei auf die angekündigte Radiomeldung. Doch weder um elf noch um zwölf und auch nicht um ein Uhr gab es Neuigkeiten zum Fall Senfkorn.

38) Findet Kirk!

Punkt acht Uhr fuhr der orange lackierte Opel GT auf den Parkplatz der Polizeiwache. Diese befand sich zwar nur wenige Minuten zu Fuß vom Fab Store entfernt, doch Veronica wollte anschließend ein paar Dinge für den Haushalt einkaufen. Sie ließ sich dem Leiter der Mordkommission vorführen. Es entging ihr nicht, dass der junge Kollege, der sie zu Donald Wickens‘ Amtsstube begleitete, heimlich ihre Figur bewunderte. „Da wären wir wieder“, dachte sie. „Was ein schickes schwarzes Kleid doch ausmacht. Wäre ich in Pulli und Jeans erschienen, hätte er mich nach meinem Ausweis gefragt. Nun aber beeilt er sich, mir jeden Wunsch zu erfüllen.“ Sie hoffte, dass sie auf den Kommissar ähnlich attraktiv wirkte. Ihrer Erfahrung nach löste körperbetonte Kleidung die Zungen der meisten Männer schnell und zuverlässig. Aber Wickens war natürlich ein alter Hase in seinem Geschäft. Möglicherweise konnte er entsprechende Impulse routiniert zügeln. Seine forsche Stimme forderte sie auf, einzutreten, nachdem der junge Polizist angeklopft hatte. Wickens saß hinter dem Schreibtisch. auf dessen Oberfläche sich mehrere Stapel mit Aktenordnern türmten. Als Veronica den Arbeitsplatz fast erreicht hatte, stand er auf und reichte ihr über den Tisch hinweg die Hand. Dann wies er auf den Stuhl davor. „Setzen Sie sich“, forderte er sie auf.

„Hübsch haben Sie‘s hier“, sagte Veronica ironisch. Sie bemerkte an seinen irritierten Gesichtszügen, dass sie ihn mit ihrer Bemerkung auf dem falschen Fuß erwischt hatte. Das Büro war ein ebenso zweckmäßig wie hässlich eingerichteter Raum, an dem rein gar nichts hübsch oder schön aussah; eine durchschnittliche Amtsstube, wenn man so wollte.

„Wirklich?“, erwiderte er. „Nominieren Sie uns gern im Wettbewerb für die malerischsten Polizeiwachen Großbritanniens. Wo bleibt übrigens der Herr Papa? Sind Sie allein hergekommen?“

„Er hat leider geschäftlich zu tun und bedauert darüber hinaus sehr, dass ihr Kaffeeautomat… sie verstehen schon.“

Wieder dieser irritierte Blick. „Nein, ich verstehe nicht. Was ist das Problem mit dem Kaffee?“

„Das… fragen Sie ihn am besten selbst. Ich hoffe aber, dass wir uns trotzdem gut unterhalten.“ Sie zog ihr Kleid straff, dann setzte sie sich. „Mr Wickens, wir haben um dieses Gespräch ersucht, weil William Campbell – Mr Kite – uns beauftragt hat, den Verbleib eines Gegenstandes aus seinem Besitz zu ermitteln.“

Der Kommissar hob die Augenbrauen. „So?“

„Dieser wurde in der Nacht der letzten Familienfeier entwendet,“ fuhr sie fort, „dieselbe Nacht, in der Paulus Campbell ermordet wurde.“

„So so!“, sagte der Kommissar wieder.

Diesen Mann zu befragen würde mühselig werden, fürchtete Veronica. Er schien entschlossen, sich jedes Wort aus der Nase ziehen zu lassen. „Können Sie mir erzählen, wie der Abend des 30. April aus Ihrer Perspektive verlaufen ist?“, begann sie ihre Erkundigung.

„Nun, viel zu erzählen gibt es da nicht“, erwiderte er erwartungsgemäß. „Wir hatten uns in Kites Schloss versammelt, um den Erwerb von Mal Evans‘ Koffer zu feiern. Laut der Gerüchte, die seit Jahrzehnten umgingen, sollte er zahlreiche begehrte Gegenstände enthalten, die zusammen wahrscheinlich mehrere Millionen Pfund auf dem freien Markt wert sind. Paulus Campbell, der das Geschäft für uns abgeschlossen hat, hätte ihn mitbringen sollen, doch er ist nicht erschienen. Also betranken wir uns einfach und unterhielten uns über dies und das.“

„Hat denn niemand versucht, ihn telefonisch zu erreichen?“

„Aber ja. Sowohl Kite als auch ich haben ihn mehrmals angerufen, doch er hob nicht ab.“

„Was, glauben Sie, hielt ihn davon ab, auf der Feier zu erscheinen?“

„Keine Ahnung. Ein Missverständnis vielleicht?“

„Fiel Ihnen am Verhalten der Gäste etwas auf, das vom Gewohnten abwich? Gab es Anspielungen auf Dinge, die über den Kopf eines Uneingeweihten gingen? Gab es Begehrlichkeiten? Streit?“

„Nicht dass ich wüsste.“

„Ist Ihnen bekannt, welchen Gegenstandes wegen unsere Detektei ermittelt?“

„Kite erwähnte ein Foto.“

„Er bat sie nicht, bei der Wiederbeschaffung zu helfen?“

„Nein. Er erzählte es nur so nebenbei.“

„Wenn Sie einen Tip abgeben müssten, auf wen fiele Ihr Verdacht?“

„Ich habe wirklich nicht genug Informationen über die Sache, als dass ich mir eine Meinung bilden könnte.“

„Sie und Ihre Frau haben das Treffen als erste verlassen. Um welche Uhrzeit waren Sie zuhause?“

„Puh, keine Ahnung. Am frühen Morgen des 1. Mai irgendwann.“

„Sind Sie vom Schloss direkt zu Ihrer Wohnung gefahren?“

Wickens zeigte erneut Zeichen der Irritation. Er runzelte die Stirn. „Was soll die Frage? Inwiefern hat das mit dem Diebstahl zu tun? Verdächtigen Sie mich etwa?“

„Bitte geben Sie mir einfach eine Antwort.“

„Wir waren beide ziemlich müde. Meine Frau schlief bereits während der Rückfahrt ein. Keine weiteren Partys also.“

„Es hätte ja sein können, dass Sie sich gleich wieder in Ihre Arbeit stürzen wollten.“ Veronica ließ es wie eine scherzhafte Bemerkung klingen.

„Meine Kollegen sind durchaus in der Lage, für ein paar Stunden meiner Abwesenheit die Stellung zu halten. Sie genießen mein vollstes Vertrauen.“

„In gleicher Weise genießen Sie meines. Als neue Bürgerin Liverpools fühle ich mich beruhigt.“

Wickens musterte sie mit durchdringendem Blick, als wolle er abschätzen, ob sie es ernst oder ironisch meinte, doch Veronica hatte ein Pokerface aufgesetzt. Er wurde nicht schlau aus ihr. Sie beschloss, ihn aus der Reserve zu locken. Sie behauptete: „Wir haben Grund zu der Annahme, dass Duchess of Kirkcaldy die Gunst der Stunde genutzt hat. Mehrere der Gäste berichteten uns, dass sie in auffälliger Weise mit dem Hausherrn anzubändeln versuchte. Teilen Sie diese Einschätzung?“

Wickens lachte trocken. „Anzubändeln – nett ausgedrückt. Sie hat ihn vom Moment ihres Eintreffens angebettelt, flachgelegt zu werden, wenn Sie mich fragen. Geht mich aber nichts an.“

„Unsere Informationen besagen, dass sie dieses Ziel nicht nur erreicht hat, sondern im Zuge dessen auch Zugang zu dem Foto erhielt. Seit dem 1. Mai fehlt von ihr außerdem jede Spur. Wir vermuten nun, dass sie sich mit der Beute abgesetzt hat.“

Der Kommissar stutzte. Hatte er den Köder gefressen? Veronica legte nach. „Wir vermuten des weiteren, dass sie sich noch irgendwo in der Nähe aufhält, vielleicht bei Verwandten oder Freunden im Umland von Liverpool. Ist Ihnen darüber etwas bekannt? Haben Sie Kirk im vergangenen Monat eventuell sogar gesehen?“

Wickens setzte eine Miene konzentrierten Nachdenkens auf. Dann sagte er: „Ich habe sie tatsächlich gesehen. Sie kam zu mir und bat um den Schlüssel zum Landhaus der Familie. Wir haben einen alten Bauernhof in den Bergen nördlich von hier restauriert, müssen Sie wissen. Wir nutzen ihn als Ort für besondere Gelegenheiten. Kirk sagte, sie brauche eine Auszeit.“

„Meinen Sie, sie hält sich noch immer dort auf?“

„Sie hat den Schlüssel jedenfalls noch nicht zurückgegeben.“

„Wie finden wir das Landhaus?“

„Es steht ziemlich abgelegen; so abgelegen, dass selbst die meisten Routenplaner Ihnen keinen Weg weisen können. Wahrscheinlich finden Sie es ohne Hilfe überhaupt nicht.“ Wickens schaute Veronica forschend ins Gesicht. Als sie Anstalten machte, die logische nächste Frage zu stellen, kam er ihr zuvor. Er sagte: „Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen den Weg.“

„Das würden Sie tun? Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar. Wann hätten Sie denn Zeit?“

Der Kommissar zuckte mit den Schultern. „Gleich, wenn Sie wollen.“ Er zeigte auf die Aktenstapel auf seinem Schreibtisch. „Ich suche gerade eh einen Vorwand, dem hier zu entkommen.“


Veronica und der Kommissar eilten längst im GT nach Norden, als Henry the Horse den Fab Store betrat. Zach empfing ihn wie einen alten Freud. Sie umarmten sich und klopften einander auf den Rücken. „Schön, dass du dir Zeit für mich nimmst“, sagte der Detektiv.

„Keine Ursache,“ erwiderte der ältere Mann, „du weißt doch, dass ich Rentner bin und Montag vormittags sowieso zum Frühstücken in die Altstadt komme. Ehrlich gesagt vermisse ich die langen Gespräche hier im Laden.“

„Na, dann lass uns doch die Tradition wieder aufnehmen.“ Zach wies mit der Rechten auf die Tür im Hintergrund des Ladenlokals. „Komm, ich mach uns einen Kaffee.“

Eine Viertelstunde später, als der Duft des heißen Aufgussgetränks dem Raum eine gewisse Atmosphäre der Gemütlichkeit verliehen hatte, schwenkte Zach auf das Thema über, das ihm für heute am Herzen lag. „Henry, ich glaube, die ‚Familie‘ steckt in großen Schwierigkeiten.“ Der Detektiv ließ den Satz in der Luft hängen. Er betrachtete das Gesicht seines Gegenübers auf der Suche nach Zeichen der Zustimmung oder Ablehnung.

Henrys Mundwinkel zuckten, doch er antwortete nicht sofort. Er nahm seine Tasse vom Tisch, führte sie langsam an die Lippen und nippte vorsichtig daran. Erst nachdem er sie zurückgestellt und es sich wieder im Sessel bequem gemacht hatte, erwiderte er: „Und nicht erst seit heute.“

„Zu dem Eindruck bin auch ich gekommen, nachdem ich mit vielen von euch gesprochen habe. Wenn ich es recht verstehe, gibt es unter den Sammlern zwei grundlegend verschiedene Auffassungen darüber, wo eure Aktivitäten hinführen sollen, resultierend aus unvereinbaren Ansichten über die menschliche Natur. Würdest du mir zustimmen?“

„Brillant auf den Punkt gebracht, mein lieber Zachary. Auf der einen Seite steht ein elitärer Haufen, der sich für Übermenschen hält, während er den Rest der Menschheit als unnützes, dummes Volk betrachtet, dem man sagen muss, was es tun und lassen soll. Auf der anderen Seite – zu der ich selbst mich zähle – befinden sich jene unter uns, die die Kontroll- und Manipulationsbemühungen Ersterer als das erkennen, was sie eigentlich sind: selbsterfüllende paranoide Wahnvorstellungen. Ich glaube… nein, ich weiß, dass Menschen im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, wie die Floskel so schön besagt, zu unendlich viel mehr Gutem fähig sind als wir gerade sehen, wenn man sie nur lässt. Die moderne Welt ist nicht das Ergebnis einer angeblich fehlerhaft geschaffenen Spezies, sondern legt Zeugnis vom Scheitern des Kontrollwahns eines engen Kreises von Nutznießern ab.“

„Ich hätte es nicht treffender formulieren können,“ stimmte Zach dem Älteren zu, „doch meine Bemerkung zielte weniger auf das latente Konfliktpotenzial in der Familie ab sondern vielmehr auf eine akute Notlage. Eure Gruppe hat Kites Regime auf eine Weise herausgefordert, die der Mann als Kriegserklärung auffasst. Die Detektei wurde von ihm beauftragt, ein von euch entwendetes Foto wieder zurückzuführen.“

Henrys Augenbrauen zuckten in die Höhe.

„Darüber kam es auch zwischen uns und Kite zum Bruch. Also mach dir keine Sorgen. Ich werde bestimmt niemand an ihn ausliefern. Ich möchte dich aber darauf aufmerksam machen, dass eure gewohnten Routinen auf unabsehbare Zeit der Vergangenheit angehören. Möglicherweise steht die Familie als solche vor der Auflösung.“

„Danke für deine Offenheit. Ich werde dir natürlich als Kunde treu bleiben.“

„Freut mich zu hören, Henry. Im Moment plagen mich eine ganze Reihe anderer Sorgen. Ich möchte dieses Foto auftreiben; ich versuche, den Mörder meines Stiefbruders zu finden; ich brauche Munition, die mir Kite vom Leib hält, und, am drängendsten: Ich muss mit Kirk sprechen. Leider ist sie seit dem Familientreffen spurlos verschwunden.“

„Das fiel mir ebenfalls auf“, erwiderte Henry. „Ich habe mehrfach versucht, sie anzurufen, doch sie geht nie an die Leitung. So langsam mache ich mir Sorgen.“

„Ohne Umschweife: Weißt du, wer das Foto mitgenommen hat?“

„Nein. Ich hätte jedem abgeraten, es einzustecken. Viel zu gefährlich. Und ich hoffe für Kirk, dass sie nicht Diejenige-welche war, denn sonst wird sie es mit Kites unbeherrschtem Zorn zu tun bekommen.“

„Ehrlich gesagt befürchten wir genau das, unabhängig davon, ob sie es war oder nicht. Sie bot sich als Blitzableiter geradezu an, nachdem sie Kites Wachsamkeit geschwächt hat.“

37) Schlachtplan

In einer Bar unweit des Krematoriums nahmen die Trauergäste einen Umtrunk ein. Mr und Mrs Wickens hatten sich jedoch bereits in der Aussegnungshalle verabschiedet, Donalds dienstlicher Pflichten wegen, die ihn auch an diesem Sonntag nicht zur Ruhe kommen ließen. Das Verbrechen nehme keinen Urlaub, hatte der Kommissar halb im Scherz gesagt, und seine Frau Mary hatte dabei eine säuerliche Miene gezogen.

Veronica unterhielt sich mit der blonden Frau, die, genau wie Zach vermutet hatte, im Laden gegenüber arbeitete. Ein Auge hielt die junge Detektivin auf ihren Vater gerichtet, der mit Maria Borghese ein paar Meter weiter auf einem Barhocker am Tresen saß. Sie sprachen leise miteinander, steckten dabei immer wieder die Köpfe zusammen oder streichelten einander den Rücken. Veronica freute sich für ihrem Vater, der anscheinend endlich Klarheit gefunden hatte, wie er emotional mit dem Verlust seines Stiefbruders umgehen sollte. Maria, die zwar nie auf dem Stiefel gelebt aber von ihrer Familie eben doch einiges vom heißblütigen Nationalcharakter der Italiener vererbt bekommen hatte, musste der Katalysator gewesen sein. Sie wünschte sich, die ‚Putzhilfe‘, die für sie so viel mehr als nur eine einfache Angestellte geworden war, möge ihnen noch lange erhalten bleiben. Veronica war sie sehr ans Herz gewachsen, und wenn sie die Zeichen recht deutete, ging das auch ihrem Vater so. Sie lächelte.


„Hältst du es für wahrscheinlich, dass sie tatsächlich nach Bath gefahren ist, wie sie am Telefon behauptete?“, fragte Zach Maria. Er schaute zu seiner Tochter hinüber, die mit dieser blonden Frau ein paar Meter entfernt an einem der Tische saß. Sie sah ihn lächelnd an, dann konzentrierte sie sich wieder auf ihre Gesprächspartnerin. Veronica hatte das Durcheinander der letzten beiden Wochen besser verkraftet als er, schien es, und er war heilfroh deswegen. Sie konnten alles miteinander bereden, was emotionale Belastungen für sie beide viel leichter erträglich machte, aber er bemühte sich zur Zeit, ihr die düsteren Gedanken zu ersparen, die ihn häufig quälten. Dankbarerweise war nun Maria in das Leben der Zieglers getreten. Sie konnte nicht nur gut zuhören sondern mochte auch eine echte Stütze für sie werden, wie sich heute gezeigt hatte.

Auf seine Frage antwortete Maria: „Ganz ehrlich, ich glaube es eher nicht. Aber wer weiß, vielleicht wohnt jemand aus ihrer Familie dort. Über die wissen wir rein gar nichts.“

„Wo könnte sie sonst hingegangen sein?“

„Das frage ich mich auch schon die ganze Zeit. Es sind fast vier Wochen vergangen, seit ich sie zuletzt am Telefon sprach. Gestern Nacht kam mir eine Idee.“

„Die da lautet?“

„Die ‚Familie‘ hat einen alten Bauernhof nahe der schottischen Grenze gepachtet. Wir feiern dort einmal im Jahr ein großes Fest zusammen, aber wir nutzen das Haus auch für unsere individuellen Zwecke.“

„Wie ist das geregelt? Haben alle von euch einen Schlüssel?“, hakte Zach nach.

„Man muss das mit Desmond verhandeln. Er verwahrt den Schlüssel und achtet darauf, dass keine Überschneidungen entstehen.“

„Mit anderen Worten: Falls Kirk sich dort aufhält, müsste Desmond es wissen.“

Maria nickte.

„Okay, das hilft mir weiter. Ich werde morgen Vormittag mit ihm über das Familientreffen reden. Bei der Gelegenheit kann ich mich gleich nach Kirk erkundigen. Falls sie nicht auf den Bauernhof gegangen ist, besitzt er vielleicht andere Mittel, sie aufzuspüren.“

Die Italienerin schüttelte den Kopf. „Wenn sie in Schwierigkeiten steckt, dann wegen Mr Kite. Desmond ist ihm treu ergeben. Von dem erfährst du rein gar nichts.“

„Ich muss es versuchen, und sei es nur, um ihn wissen zu lassen, dass jemand ein Auge auf ihre Aktivitäten hat. Die Zeiten, da sie in Liverpool schalten und walten konnten, wie sie wollten, sind ab jetzt vorbei.“

„Spiel nicht ‚Don Camillo und Peppone‘ mit denen, Zach. Diese Typen sind gefährlich.“

„Ich bestehe ebenfalls nicht aus Schokolade.“

„Schade eigentlich“, sagte Maria und nahm seine Hand in die ihre.


Verworrene Träume und wiederholtes Erwachen hatten dafür gesorgt, dass sie beide In der Nacht nur wenig erholsamen Schlaf erhielten. Um sechs Uhr früh rollte Zach schließlich aus dem Bett, ging in die Küche und setzte eine Kanne Kaffee auf. Veronica, die seine Schritte auf dem Gang gehört hatte, gesellte sich ihm wenige Minuten später bei. Im trüben Schein einer heruntergedimmten Lampe hockten sie am Tisch und wärmten sich die Finger an den Tassen – Zach an einer bereits leeren, Veronica an einer noch vollen.

„Bei dem Gedanken an das gefärbte Wasser im Präsidium revoltiert mein Magen“, knurrte der Detektiv.

„So schlimm?“, fragte seine Tochter mitleidig.

„Du hast keine Ahnung, wie schlimm!“ Zach seufzte. „Mir mangelt es an jeglichem Drang, diesen Termin wahrzunehmen. Und das, obwohl es sich um einen der wichtigsten in der ganzen Serie handeln dürfte.“

„Weil Desmond das Foto ursprünglich beschafft hat?“

„Das ist nur einer von mehreren Gründen. Er hat vermutlich zahlreiches andere für Kite ‚organisiert‘. Er hält ihm den Rücken frei, wie wir von Miller gehört haben. Er verwahrt den Schlüssel für das Ferienhaus der Familie, in dem sich Kirk womöglich aufhält. Vor allem aber möchte ich abklären, ob er irgendwie in den Mord an Onkel Paul verwickelt war.“

„Wird er uns wohl kaum einfach so auf die Nase binden.“

„Seine Frau hielt den Zwischenstop in der Stadt zur fraglichen Zeit für harmlos genug. Falls er es anders sieht, wird er eine davon abweichende Geschichte erzählen beziehungsweise sich in Widersprüche verstricken.“

„Ah, jetzt verstehe ich, was du vorhast“, erwiderte Veronica. „Pass auf, ich mache dir einen Vorschlag: Wir arbeiten heute getrennt. Ich übernehme das Wickens-Interview und du knöpfst dir Henry the Horse vor. So können wir dem Kommissar mehr Zeit widmen, während wir sichergehen, dass Henry jemand im Laden antrifft. Ich weiß, dass du dich eh die ganze Woche schon auf das Gespräch mit ihm freust. Außerdem hat er Kirk angeblich damals in die Familie eingeführt. Wenn jemand etwas über ihren Hintergrund oder Verbleib weiß, dann er. Wir dürfen ihn heute auf keinen Fall verpassen.“

Zach grübelte eine halbe Minute. Er stierte auf die leere Tasse nieder, die er zwischen seinen Händen drehte, erst nach links, dann nach rechts, nach links, rechts, links rechts. Als er wieder aufblickte, sagte er: „So vernünftig dein Vorschlag klingt – mich beschleicht ein ungutes Gefühl, dich mit dem Mann allein zu lassen.“

„Traust du mir den Job nicht zu?“

„Ich vertraue niemandem mehr als dir, aber es könnte sein, dass Wickens ein falsches Spiel spielt. Wenn er mit Pauls Tod zu tun hatte…“

„Ach komm schon, was soll mir groß passieren? Ausgerechnet in einer Polizeiwache?“

„Was soll in der Höhle des Löwen schon groß passieren – von allen Orten jener, den Leute wie Wickens vollständig unter Kontrolle haben? Mit all den Typen um dich herum, die ihre moralische Kompetenz aufgegeben haben, um wie Roboter unpersönliche Regeln zu befolgen und wie Sklaven die Befehle ihrer Vorgesetzten unhinterfragt auszuführen?“

Veronica schluckte. „Aus der Warte habe ich das noch nie betrachtet. Ich war der Ansicht, dass ein Polizeigebäude eine Umgebung mit stärker kontrollierten Bedingungen ist als die meisten anderen, abgesehen vielleicht von Militärgeländen und Regierungsvierteln.“

„Ja selbstverständlich sind sie unvergleichlich viel stärker kontrolliert, aber doch nicht, um dich, sondern um sich selbst zu schützen. Wenn jemand mit denen in Konflikt kommt, dann ist er sofort mit dem Gesetz in Konflikt. Wenn deine Aussage gegen ihre steht, glaubt man eher dir oder dem treuen Staatsdiener?“

Seine Tochter schnitt eine Grimasse.

„Wenn einer von denen dich aus dem Verkehr ziehen will, findet er immer einen Grund, dich einzusperren. Und wenn er dich erschießt, so nur, weil du Widerstand geleistet hast – genau wie Mal Evans.“

„Willst du, dass ich zuhause bleibe?“

Zach zögerte. „Nein“, sagte er dann bestimmt. „Gefahren sind Teil unseres Daseins. Den Schwanz einzuziehen und sich in einer Festung zu verschanzen kann nicht die Antwort darauf sein.“

„Also…?“

„Geh hin und versuche, möglichen Schwierigkeiten mit offenen Sinnen zu begegnen. Was unberechenbare Momente betrifft: Vor denen bist du eh nicht gefeit. Man fährt besser, wenn man sie willkommen heißt.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Ich glaube, das ist der wichtigste Unterschied zwischen uns und jenen, die – egal auf welcher Etage – ihren Platz in der Machtpyramide einnehmen: Sie sind Kontroll-Freaks. Sie hassen alles Natürliche, Lebendige, aus dem Moment Geborene, sich frei Entfaltende.“

36) Revolver

„Angesichts Ihrer Erkenntnisse über den größeren Zusammenhang beschlossen Sie, dass Sie an den Kulissen der Unterhaltungsindustrie rütteln mussten. Wenn ich es recht verstehe, arbeiten Sie an einer Art Dokumentationsprojekt…“

„Nun, das ist die eine Hälfte der Unternehmung: interessierten Zeitgenossen Zugang zu authentischen Objekten zu verschaffen und eine halbwegs korrekte Geschichtsschreibung zu ermöglichen. Die andere Hälfte besteht in der juristischen Aufarbeitung. Ich sehe im Moment zwar keine Chance, ein unabhängiges Gericht zu finden, das gegen die Kontrolleure antreten würde, aber die Zeit wird kommen, und dann wollen wir vorbereitet sein.“

„Was hatten Sie sich diesbezüglich vom Familientreffen erhofft?“

„Wir dachten, wir könnten eine Gelegenheit herbeiführen, Mal Evans‘ Memoiren zu kopieren. Wir vermuten, dass seine Beschreibungen Hinweise auf weiterführende Spuren enthalten, etwa zur Frage, wie die Songs geschrieben und aufgenommen wurden oder wie Billy Shears Paul McCartney ersetzte.“

„Wer kam auf die Idee, ein minderjähriges Mädchen als Venus-Fliegenfalle zu benutzen?“

„Das Mädchen selbst. Unser Plan sah vor, Kite mit Alkohol oder Drogen auszuschalten. Kirk war der Ansicht, wir unterschätzten seine Intelligenz. Sie sollte recht behalten.“

„Wider Erwarten blieb PC31 jedoch an diesem Abend dem Treffen fern, und mit ihm das Manuskript. Weshalb machten Sie trotzdem weiter?“

„Kirk ließ sich durch nichts bremsen. Vielleicht ging es ihr mehr um den Sex als um das Beweisstück; vielleicht genoss sie den Kitzel der Gefahr; vielleicht wollte sie sich oder uns etwas beweisen. Ich weiß es nicht. Vom Augenblick ihres Eintreffens flirtete sie heftig drauf los. Ich habe ihr mehrmals signalisiert, dass sie es sein lassen soll, aber sie ignorierte mich einfach.“

„Also stieg sie schließlich mit Kite ins Bett. Was geschah dann?“

„Semolina schlich ihr hinterher. Irgendwann kehrte Sem in den Salon zurück, um uns zu holen. Sie hatte von Kirk ein Foto erhalten. Mustard, Robert und ich haben Aufnahmen gemacht. Dann gingen wir wieder hinunter, während Semolina das Foto zurückzugeben versuchte. Aber sie fand Kirk bewusstlos am Boden des Schlafzimmers liegend vor. Also hat sie mich geholt, um ihr zu helfen, sie aufs Bett zu legen.“

„Wie sah es im Schlafzimmer aus? Ist Ihnen etwas aufgefallen?“

„Völliges Durcheinander; Kleidungsstücke über den Boden verstreut. Kite lag im Tiefschlaf auf dem völlig zerwühlten Bett, Kirk daneben auf dem Boden. Sie sah übel zugerichtet aus – voller blaue Flecke, die Haare zerzaust. Wir hievten sie hoch, dann gingen wir.“

„Haben Sie das Foto irgendwo gesehen?“

„Es lag auf einem der Nachttischchen.“

„Und da lag es noch, nachdem Sie das Zimmer verlassen hatten?“

„Selbstverständlich! Wofür halten Sie mich?“

„Entschuldigen Sie, ich muss die Frage stellen. Das Bild fehlte am folgenden Tag.“

„Wie bitte?“

„Kite sagt, es sei ihm entwendet worden. Er hält es für einen Scherz, der zu weit getrieben wurde, und bat mich, Erkundigungen einzuholen. Hat er Sie nicht zu kontaktieren versucht?“

„Nein. Ich hatte auch keinen Kontakt zu den anderen.“

„Als Semolina und Sie in den Salon zurückgekehrt waren, sprachen Sie den anderen gegenüber davon, was Sie im Schlafzimmer gesehen haben?“

Rocky Raccoon überlegte. Zögernd sagte er: „Ja. Da Sie so fragen, erinnere ich mich, die Szene beschrieben zu haben.“

„Wer hat das Schloss als Letzter verlassen?“

„Ich. Gelegenheit ins Schlafzimmer zurückzugehen hätten aber alle gehabt. Der Ruf der Natur, Sie verstehen?“

„Was halten Sie für wahrscheinlicher: dass Kite lügt oder dass einer von Ihnen sich das Foto heimlich geschnappt und mitgenommen hat?“

„Ich glaube eher, dass Kite lügt, möchte jedoch grundsätzlich nichts ausschließen.“

„Wer von Ihnen, glauben Sie, käme am ehesten dafür infrage?“

„Robert oder Mustard.“

„Weshalb nicht Semolina?“

Rocky verzog den Mund. „Wenn Sie sie seit längerem kennen würden, hätten Sie sich die Frage geschenkt.“

„Was ist mit Kirk? Sie scheint gerade untergetaucht zu sein. Halten Sie es für möglich, dass sie mit dem Foto abgehauen ist?“

Der Ex-Manager zuckte die Schultern. „Sie müsste vor Kite aufgewacht und dann zu Fuß bis zur Hauptstraße zurückgegangen sein. Sie ist zierlich gebaut, daher vermute ich, die K.O.-Tropfen haben sie härter getroffen. Kite war bestimmt vor ihr wach.“

„Er dürfte über das Fehlen des Fotos wenig amüsiert gewesen sein.“

„Und sie über seine Reaktion.“


„Ich dachte, du und ich seien schon ziemlich weit in den Dschungel vorgedrungen“, bemerkte Zach, während seine Tochter, die von der Minibar aus dem Gespräch gelauscht hatte, die Backen blähte.

„Vielleicht ein bisschen zu weit, um den Überblick zu bewahren“, erwiderte sie.

„Ja. Mr Raccoon hat aus den einzelnen Bäumen einen Wald geformt.“

„Raccoon hat geholfen, aus den vielen Bäumen einen Wald zu formen. Ohne die Einsichten, die Henry und Maria mit uns geteilt haben, wäre ich sehr viel skeptischer, was den Wahrheitsgehalt des eben Gehörten angeht.“

„Es geht mir ähnlich. Was hältst du von seiner Aussage zum Familientreffen?“

„Er bestätigt, was die anderen erzählt haben. Alle einschließlich Kite halten Maria für eine ehrliche, integre Frau. Sie ihrerseits vertraut Henry und sie würde auch nicht zugelassen haben, dass Rocky das Foto einfach einsteckte. Es bleiben tatsächlich nur der Bildersammler Dr Robert und der geheimnisvolle Mr Mustard als Verdächtige übrig – vorausgesetzt, Kite behauptet den Diebstahl nicht lediglich. Miller scheint mir vertrauenswürdig. Mustard… nun, seine Geschichte werden wir heute Nachmittag hören.“


Würden sie nicht. Aaron Senfkorn, Nachfahre deutsch-jüdischer Holocaust-Überlebender, in Sammlerkreisen unter dem Pseudonym Mr Mustard bekannt, rief kurz vor ein Uhr am Nachmittag an, um das Treffen mit Zach abzusagen. Er machte einen kurzfristigen unaufschiebbaren Termin geltend, wirkte dabei jedoch über die Maßen verlegen. Zach ahnte, dass der Sammler ihm auszuweichen versuchte, denn der Vorschlag, das Gespräch am Montag nachzuholen, erntete ebenfalls Ausflüchte.

„Ich könnte auch bei Ihnen vorbeikommen, wenn Ihnen das lieber ist“, bot Zach an. „Mals Koffer enthielt eine nette Sammlung signierter Autogrammkarten, die ich Ihnen gern zeigen möchte.“

„Nein!“, plärrte es schnell aus der Hörmuschel. Dann, wesentlich sanfter, wie um dem Eindruck entgegenzuwirken, dass er etwas zu verbergen hatte, sagte Mustard: „Nein, äh, danke, das wird nicht nötig sein. Ich werde die, äh, erste Gelegenheit nutzen, Sie in der, hm, kommenden Woche aufzusuchen.“

Mustards Antwort war ein deutlich hörbares Klicken vorausgegangen, das im Grunde der Schalter eines beliebigen Geräts verursacht haben konnte. Die Haare, die sich in Zachs Nacken aufstellten, gaben konkretere Auskunft. Er konnte nicht sagen, weshalb, aber er wusste einfach, dass es sich um den Hahn eines Revolvers handelte. Der Detektiv schüttelte die Intuition als irrational ab. Er wurde langsam paranoid, schalt er sich. Zu Mustard sagte er: „Schön, kommen Sie bitte im Lauf der Woche in den Laden. Warten Sie nicht zu lang. Es gibt einige wichtige Entwicklungen zu besprechen. Und natürlich möchte ich Sie unbedingt kennenlernen.“

„Hm, ja, sicher. Leben Sie wohl.“

„Auf bald“, erwiderte Zach.


Das Krematorium Springwood war ein moderner Zweckbau mit klaren Konturen aus Glas, Stahl und Beton. Der Leichenwagen mit dem ihm folgenden Konvoi der Gäste hielt unter einem Vordach, das etwas mehr Platz bot als sein Gegenstück in Wallace Castle. Miller hatte sechs Träger bestellt, die den offenen Kiefernholzsarg aus dem Fahrzeug zogen und auf ihren Schultern in das Gebäude hineintrugen. Am anderen Ende der kleinen Halle, die sie betraten – dem Aussegnungsraum – befand sich eine Bühne, die rechts und links von roten Vorhängen flankiert wurde. Der linke Vorhang war geöffnet. Dahinter erstreckte sich ein drei auf drei Schritte messender Raum, der bis auf Brusthöhe mit einem Marmorpodest gefüllt war. Auf der Bühne stand mittig ein Rednerpult, davor ein langer niedriger Tisch, auf dem die Träger den Sarg abstellten.

Während aus den Lautsprechern leise die letzten Takte des Beatles-Stücks Long, Long, Long ausklangen, schaute Zach in die Runde. Von den anwesenden Personen kannte er nur etwa die Hälfte: seine Tochter, Miller, Maria, Mr und Mrs Wickens, Bishop und Rocky Raccoon. Fünf weitere Gesichter hatte er noch nie gesehen. Doch, einen Augenblick: Der älteren Dame mit den schulterlangen blonden Locken war er bereits einmal auf der Straße begegnet. Sie gehörte zum Laden gegenüber des Fab Stores, wenn er sich nicht irrte. Müsste er einen Tipp abgeben, waren auch die anderen Trauergäste Nachbarn aus dem Cavern-Viertel.

Der Notar betrat nun die Bühne. Er stellte sich hinter dem Rednerpult auf und blickte geduldig in den Raum. Es verging noch etwa eine Minute, bis auch der Letzte sich gesetzt und alle Gespräche eingestellt hatte. Dann begrüßte Jules Robert Miller die Anwesenden und gab mit gestelzten Worten, denen es jedoch nicht an mitfühlender Wärme fehlte, eine kurze Zusammenfassung von Pauls Leben. Bis auf das Wenige, das er in den vergangenen zwei Wochen über seinen Halbbruder in Erfahrung hatte bringen können, handelte es sich um die Biografie eines für Zach völlig fremden Menschen. Er schaute zum Sarg hinüber, dessen Rand um nur wenige Zentimeter vom Leichnam überragt wurde. Auch die Perspektive war ungünstig. Sein Blick fiel auf die Unterseite von Kinn, Nase und Augenlidern. Ob im Kiefernholzsarg tatsächlich sein Stiefbruder Paul lag – zumal um zwanzig Jahre gealtert, von einem brutalen Mord gezeichnet und vom Tod bereits verfremdet – hätte er nicht zu sagen vermocht. Zachs Gedanken schweiften zurück zu dem Paul, den er um die Jahrtausendwende gekannt hatte, und dann noch weiter zurück zu dem Kinderfreund, den er vor fast fünfzig Jahren dank der zweiten Ehe seines Vaters kennengelernt hatte. Das Ende von Millers Rede ging im Rauschen seiner Erinnerungen unter. Aus den Winkeln seiner nun von Tränen verschleierten Augen bemerkte der Detektiv eine Bewegung. Der Notar trat an den Sarg, legte dem Toten für einige Momente still die linke Hand auf die Schulter und platzierte dann eine Nelke auf dessen Brust. Dann nickte er Henry zu und setzte sich auf einen der Sitzplätze in der vorderen Reihe. Thomas Henry Bishop stand auf. Er ging zum Pult und erzählte einige fröhliche Anekdoten, die die vielen Talente des Ladenbesitzers Paulus Campbell würdigten. Anschließend nahm er eine der Nelken, die in einem Korb nahe der Bühne bereit lagen und gesellte sie der Blume bei, die der Notar auf Pauls Brust hinterlassen hatte. Die anderen Gäste taten es ihm einer nach dem anderen gleich.

Zach saß wie gelähmt auf seinem Platz. Jemand legte ihm eine Hand auf die Schulter. Zögernd drehte er den Kopf, folgte mit Blicken dem Arm nach oben, bis er ein Gesicht ausmachen konnte. Er kannte diese Züge. Er überlegte. Es war…, es war… wer? Henry schaute freundlich auf ihn herab. „Magst du ein paar Worte sprechen?“, fragte er. Der Klang seiner Stimme erschütterte Zach. Nein, wollte er nicht. Doch ohne wahrzunehmen, wie er auf die Bühne gelangt war, hielt er sich nun mit beiden Händen am Pult fest, sein Verstand gleichzeitig leer und zum Platzen gefüllt mit unzähligen Gedanken. Er öffnete den Mund. Die Augen der Trauergemeinde in den Stuhlreihen vor ihm war erwartungsvoll auf ihn gerichtet. Er sprach, ohne zu begreifen, was er da sagte. Zwei Sätze, drei vielleicht; Worte des Dankes an die Ersatzfamilie, die fremde Menschen seinem Stiefbruder in der zweiten Hälfte seines Lebens gewesen waren, würde ihm Veronica später berichten. Dann stieg er herab auf den roten Teppich, mit dem die Halle ausgelegt war, nahm im Vorbeigehen eine Nelke aus dem Korb, trat an den Sarg und starrte dem Toten lange Zeit ins Gesicht. Schließlich legte er seufzend die Blume auf die Brust seines Stiefbruders. Er wandte sich ab. Im Vorbeigehen bemerkte er die nackten Füße, die aus dem schwarzen Anzug des Verstorbenen ragten, ganz wie es Sitte auf den Inseln war. „Abbey Road“, schoss ihm ein skurriler Gedanke durch den Kopf, und: „Paul ist tot.“

‚Golden Slumbers‘ begann von der Musikanlage zu spielen. Bevor Zach in hysterisches Gelächter ausbrechen konnte, näherten sich die Sargträger mit dem Deckel. Er trat beiseite, um ihnen Platz zu machen. Nun erhoben sich auch die anderen Gäste. Als das Holzbehältnis verschlossen war, kamen sie herbei und gruppierten sich um ihn. ‚Golden Slumbers‘ wurde gefolgt von ‚Good Night‘. Die Träger bewegten den Sarg zu der Öffnung links von der Bühne, stellten ihn auf dem Granitpodest ab und traten zurück. Als die Musik verklang, schloss sich der rote Vorhang. Einige der Nachbarn bekreuzigten sich, bis auf Maria jedoch niemand aus der ‚Familie‘. Dann drehten sich die ersten um und verließen die Halle.

Zach, noch immer den Blick auf den Vorhang gerichtet, spürte, wie eine warme Hand sanft die seine ergriff. Es war Maria, die ihn traurig ansah. Er wandte sich ihr zu. Im nächsten Moment lagen sie sich in den Armen, schluchzend, zitternd, weinend.

34) Dr Robert

Der orangefarbene Sportwagen bog in die Yewtree Road ein. Nach wenigen hundert Metern blieb er vor dem Haus des Notars Jules R. Miller stehen. Zach und Veronica stiegen aus, gingen den kurzen, von Blumen gesäumten Weg bis zur Vordertür und betraten das Gebäude.

Mrs Wickens, die Sekretärin, begrüßte sie herzlich. „Nehmen Sie im Wartezimmer Platz. Dr Miller kommt in wenigen Minuten aus seiner Besprechung“, fügte sie hinzu.

Vater und Tochter Ziegler kannten den Weg. Sie setzten sich und betrachteten die mit ‚Donna‘ unterzeichneten Gemälde auf der gegenüberliegenden Wand. Eines zeigte Paul McCartney, an seinen dunkelgrünen DB6 gelehnt, ein weiteres porträtierte John Lennon und Yoko Ono Hand in Hand spazieren gehend, und an den Flanken hingen Bilder von George Harrison im Yogi-Sitz und Ringo Starr an seinen Trommeln. Zach stand wieder auf. Er ging hinüber, um sich die darunter angebrachten schwarz-weißen Fotos anzusehen, für die er bei den beiden anderen Besuchen keine Zeit gehabt hatte. Sie zeigten Schnappschüsse und Porträts der vier Beatles, korrespondierend zu den darüber hängenden Gemälden. Jedes Foto entstammte einem anderen Jahr, wie Zach unschwer an den länger werdenden Haaren ablesen konnte. Die Veränderungen bei George und Ringo blieben subtil. Johns Brille änderte sein Erscheinungsbild natürlich viel mehr. Im direkten Vergleich zu früheren Jahren wirkte sein Gesicht in den späten Sechzigern und danach außerdem wesentlich schmaler. Einbildung? Ein natürlicher Prozess? Oder war auch John irgendwann ersetzt worden, temporär oder… wie Paul? Zu Pauls Fotoreihe fiel dem Detektiv nur ein einziges Wort ein: sensationell. Jedes einzelne Bild war eine wirklich gut gelungene Porträtaufnahme, die den Charakter der Person voll zur Geltung brachte. Getrennt betrachtet hätte die Antwort auf die Frage, wen das jeweilige Motiv darstellte, unzweifelhaft immer ‚Paul McCartney‘ lauten müssen. Und genau das verlieh der Reihe Sprengkraft, denn keines der vier Motive zeigte den selben Mann. Unterschiede in Alter, Beleuchtung, Perspektive oder Ausdruck konnten das Auge täuschen, ohne Frage. Aber das waren hier nicht die ausschlaggebenden Faktoren. Es waren die Gesichtsformen und Erkennungsmerkmale selbst, die sich unterschieden: die Nase, die Ohren, der Mund, die Augenbrauen, die Gesichtsform.

„Faszinierend, nicht wahr?“, sagte eine Stimme hinter Zach. Sie gehörte Jules R. Miller, dem Notar, der ‚in Sammlerkreisen‘ als Dr Robert bekannt war. „Man fragt sich ständig, welcher Paul McCartney der echte ist. Haben Sie einen Favoriten? Guten Tag, übrigens.“

„Guten Tag, Dr Miller. Spielt das eine Rolle? Ich komme langsam zu der Ansicht, dass sie wahrscheinlich alle Schauspieler sind. Wenn es einen echten, einen Ur-McCartney gegeben hat, war er ja ebenfalls teilweise Musikdarsteller.“

Miller nickte. „Manches spricht dafür. Es ergibt ökonomisch einfach mehr Sinn. Der Markenname zieht die Kundschaft, nicht das Individuum. Und Hand aufs Herz: Irgendwie wissen wir alle, dass wir nur eine Scheinwelt vorgespielt bekommen, wenn wir die Stars auf der Mattscheibe oder in der Zeitung sehen. Nichts ist real. Trotzdem möchten wir nicht darauf hingewiesen werden. Zusammenstellungen wie diese“ – er deutete auf die Galerie – „suchen Sie bei den sogenannten Qualitätsmedien vergeblich. Bei aller Liebe zur Sensation beißen die Journaillisten niemals die Hand, die sie füttert.“

Mit geschlossenen Augen lebt man bequem…‘“, warf Veronica ein. „Die Beatles gaben die entscheidenden Hinweise ja selbst.“

„Korrekt. Ich glaube aber nicht, dass es lange so bleiben kann. Je mehr die Kontrolleure die Schrauben anziehen, desto unbequemer wird es für das gewöhnliche Volk – und desto mehr Leute erwachen aus ihrem Dornröschenschlaf.“

Zach setzte eine skeptische Miene auf. „Das merke ich zwar auch, speziell seit der Plandemie. Die Verstrickungen zwischen Politik, Wirtschaft, NGOs und Medien sind inzwischen selbst für Blinde sichtbar geworden. Das Problem ist nur, dass so wenige Menschen bereit sind, ihren Lebenswandel an die neuen Erkenntnisse anzupassen und damit ihren Gehaltsscheck zu riskieren.“

Der Notar zuckte die Schultern. „Das liegt nicht in unserer Hand. Im Übrigen sind es vielleicht mehr Menschen, als wir denken. Man kann es nur schwer abschätzen, weil sie aus dem System herausfallen und damit weitgehend unsichtbar werden.“

„Was liegt dann in unserer Hand?“, fragte Veronica.

„Unser eigenes Erwachen“, sprang Zach für den Notar ein. „Sich bewusst in den Prozess der Desillusionierung zu begeben und ihn aktiv voranzutreiben. Es gibt stets noch eine weitere Zwiebelschicht, hinter der sich eine tiefere Wahrheit verbirgt.“

Miller nickte. „Darum, finde ich, ist die Geschichte der Beatles ein solch geeigneter Einstieg in den Ausstieg.“

„Oder auch nicht. Wer sieht schon gern seine Idole vom Sockel gestoßen?“, widersprach die junge Detektivin.

„Wer sieht schon gern, dass die Renten nicht sicher sind? Wer sieht schon gern, wie der Grundrechtekatalog zur Verweigerung der Grundrechte missbraucht wird? Wer sieht schon gern, dass das Nachrichtenmagazin seines Vertrauens ihn jahrzehntelang in die Irre geführt hat? Wer sieht schon gern, dass Mutter Kirche von Satanisten gelenkt wird, oder dass keine Demokratie im Land herrscht, sondern nur ein weiteres Regime in einer zehntausend Jahre alten Reihe solcher Regimes?“, forderte Miller sie heraus. „Niemand sucht sich das Ereignis aus, das dazu führt, dass er aus der fabrizierten Realität herausfällt. Aber eins ist sicher: Der Schmerz missbrauchten Vertrauens und frustrierter Träume lehrt uns, künftig genauer hinzusehen.“

Zach zeigte mit einer bogenförmigen Geste in den Raum. „Haben Sie hiermit vielen Menschen die Falltür nach draußen geöffnet?“

„Wer kann das sagen? Der Impuls, den die Bilder setzen, mag erst Jahre oder Jahrzehnte später zünden. Ich kenne jedoch zahlreiche Leute in Liverpool – auch außerhalb der ‚Familie‘ –, für die Paul McCartneys Tod Fragen an unsere Gesellschaft aufgeworfen hat; Fragen, die von offiziellen Stellen entweder gar nicht oder mit offensichtlichen Lügen beantwortet werden. Vielleicht lassen sie sich noch ein paar Jahre länger irreführen, aber die Wirklichkeit hat einen Fuß bei ihnen in die Tür bekommen. Ihr Ausstieg ist nur eine Frage der Zeit.“

„Ich wünschte, ich könnte Ihre Zuversicht teilen.“ Zach schaute nachdenklich drein.

Veronica trat an dicht vor das Gemälde, auf dem der dunkelgrüne Aston Martin DB6 zu sehen war. „Diese Donna, die die Gemälde geschaffen hat, ist das zufällig die Frau, die in McCartneys Wagen saß?“

Wenn es tatsächlich einen Unfall gab und wenn McCartney diese Anhalterin dabei hatte und wenn sie Donna hieß, dann stimmt sicherlich auch der Rest der Geschichte, das heißt, sie ist damals zusammen mit ihm gestorben“, spekulierte der Notar. „Donna steht der ‚Familie‘ nahe, hält aber Abstand zu Kite. Sie sammelt nicht Altes, sie erschafft Neues. Ich mag den Kontrast zwischen den heiteren Farbgemälden, die den Mythos der Pop-Idole pflegt, und den düsteren Abbildern der Realität. Leider sehen viel zu viele nur die hübschen Farben.“

„Es braucht beides, oder?“, bemerkte Veronica.

Miller warf ihr wieder seinen scharfen, durchdringenden Blick zu, der sie die Male zuvor so sehr gestört hatte. Dann entspannte er seine Gesichtszüge, lächelte sie an und sagte: „Die Weisheit des Alters aus dem Mund der Jugend… Sie haben recht: Schön oder unschön, wir müssen sehen, was ist, statt das, was wir glauben, wünschen, befürchten, vermuten, erschließen, lesen oder hören. Die meisten Leute haben große Probleme zu verstehen, dass die Wirklichkeit realer ist, als alles, was in ihrem Kopf stattfindet.“

„Mr Miller,“ begann Zach.

Der Notar hob beide Hände abwehrend vor seine Brust. „Bitte nennen Sie mich Robert. Wir sind Mitglieder der Familie; mehr noch: Brüder und Schwestern im Geiste.“

„Okay, Robert. Nennen Sie mich gern Zach. Aber Mitglieder der Familie werden wir wohl nie werden.“

„Kite?“

„Kite.“

Jules Robert Miller seufzte. „Eines baldigen Tages wird es zum Bruch kommen. Viele von uns sind längst nicht mehr damit einverstanden, wohin das Schiff steuert.“

„Das ist uns bereits zu Ohren gekommen. Wenn ich recht verstehe, haben Sie auf der letzten Versammlung Schritte unternommen, die geeignet scheinen, einen solchen Bruch herbeizuführen. Können Sie uns etwas über den Verlauf des Abends erzählen?“

„Nun, es gibt wie gesagt eine Gruppe von Mitgliedern, die andere Vorstellungen davon pflegt, wie mit dem Sammelgut umgegangen werden sollte. Wir möchten das Material zur Dokumentation der Zeitgeschichte der Sechzigerjahre verwenden. Gegebenenfalls wird manches für Prozesse oder Tribunale relevant werden, wenn es gelingen sollte, die Kontrolleure aus dem Sattel zu heben – keine besonders wahrscheinliche Entwicklung der nahen Zukunft, aber wir wollen vorbereitet sein. Es wurde uns jedoch zunehmend offensichtlicher, dass Kite Beweismaterial für Paul McCartneys Ermordung sammelt, um es im Interesse seines Großvaters aus dem Verkehr zu ziehen. Unser Plan für den besagten Abend bestand darin, Kites Wachsamkeit zu schwächen, um Kopien von solchen Stücken anzufertigen.“

„Es ging dabei konkret um Mal Evans‘ Erinnerungen, richtig?“

„Richtig.“

„Wie gedachten Sie, ‚Kites Wachsamkeit zu schwächen‘?“

„Duchess of Kirkcaldy, eines unserer Mitglieder, erklärte sich bereit, sein Interesse auf sich zu ziehen.“

„Ist Ihnen bekannt, dass das Mädchen minderjährig ist?“, fragte Veronica.

„Sicher. Aber es war ihre eigene Idee. Sie hat auf dieser Rolle bestanden, und keiner von uns ist in einer Position, ihr Anordnungen zu erteilen.“

„Sie hätten das Vorhaben abblasen können“, sagte Zach.

„Vor wenigen Minuten haben Sie darüber geklagt, dass zu wenige Menschen bereit sind, für die Wahrheit Opfer zu bringen. Ich hege genau wie Sie meine Zweifel, ob Kirk genügend Lebenserfahrung besaß, die Folgen ihrer Entscheidung abzusehen, aber ich bewundere ihre Entschlossenheit.“

„Die nötige Erfahrung besitzt sie nach jener Nacht bestimmt. Es muss traumatisierend gewesen sein. Hat sich ihr Opfer wenigstens gelohnt?“

„Ich würde das bejahen wollen. Wir konnten ein Foto kopieren, das Paul McCartney auf dem Seziertisch zeigt.“

„Kein Richter würde eine Kopie als Beweismittel akzeptieren. Nicht einmal Ihnen als Sammler würde es genügen. Die Versuchung muss doch groß gewesen sein, das Original einzupacken und mitzunehmen.“

„Wem sagen Sie das? Ich bin ein Sammler seltener Fotografien, aber ich bin auch den anderen Sammlern in der Familie freundschaftlich verbunden. Überdies muss ich als Notar die Gesetze des Königreichs achten. Wenn wir das Bild gestohlen hätten, hätte Kirk das womöglich mit dem Leben bezahlt, und ich könnte von Glück sagen, wenn ich lediglich meine Lizenz verliere.“

„Sie haben das Originalfoto also im Schloss zurückgelassen?“

„Wir haben es nur abfotografiert. Semolina steckte es wieder in seinen Plastikumschlag und gab es Kirk zurück. Wir Männer – Mr Mustard, Rocky Raccoon und ich – haben uns anschließend in den Salon begeben, um auf das Gelingen anzustoßen. Semolina holte kurz darauf Mustard zu Hilfe, weil Kirk bewusstlos am Boden lag. Er berichtete, dass er das Foto auf einem Nachttisch in Kites Schlafzimmer gesehen habe. Kite ahnt bestimmt nicht einmal, dass…“

„Irrtum!“, unterbrach ihn der Detektiv. „Kite weiß davon, denn er sagte mir, dass man ihm das Foto entwendet hat.“

Miller sah schockiert aus.

„Halten Sie es für möglich, dass Mustard das Bild eingesteckt hat? Oder Semolina? Die beiden waren allein; die Gelegenheit war günstig.“

„Für Semolina lege ich meine Hand ins Feuer. Sie würde weder stehlen noch zulassen, dass in ihrer Gegenwart gestohlen wird.“

„Hätten Mr Mustard oder Rocky Raccoon später zurückgehen können, um das Foto zu klauen?“

Miller überlegte, dann zuckte er die Achseln. „Ich nehme es an. Ich habe das Schloss zwanzig Minuten nach Semolina verlassen, kurz nach zwei Uhr. Anschließend – wer weiß, was ihnen in ihrer Trunkenheit eingefallen sein mag.“

„Kite hat sich nicht bei Ihnen nach dem Foto erkundigt?“

„Nein. Er hat keinerlei Kontaktversuch unternommen.“

„Haben Sie seither andere Mitglieder ihrer Gruppe getroffen oder mit ihnen telefoniert? Ist über den Abend gesprochen worden?“

„Nein. Außer Molly, meine Sekretärin, habe ich niemand gesehen. Sie mokierte sich wegen Kirks Aufzug. Das war alles, was wir über jenen Abend austauschten.“

„Sie haben nicht versucht, herauszufinden, wie Kirk die Nacht überstanden hat?“, hakte Veronica nach.

„Ich wählte ihre Nummer mehrfach, aber sie nahm das Gespräch nicht an.“

„Könnte sie in Schwierigkeiten stecken?“

„Wenn es stimmt, was Sie sagen: möglicherweise in den allergrößten. Ich dachte, sie genießt noch ein wenig länger die Annehmlichkeiten auf Wallace Castle.“

„Woher kommt das Mädchen eigentlich?“

„Ich weiß es nicht. Eines Tages war sie einfach da. Ich denke zuweilen, dass sie für jemand ein Auge auf uns gerichtet hält. Aber ist das wahrscheinlich? Sie ist noch so jung…“

„Ich habe schon Pferde kotzen gesehen. Finden Sie es normal, dass man ein tiefes gemeinsames Interesse teilt und einander ‚Familie‘ nennt, aber nicht weiß, wie der andere heißt oder woher er kommt?“

„Sie haben natürlich recht. Zu Ihrem Stiefbruder Paul unterhielt ich ein ungleich intensiveres Verhältnis. Nur – wer könnte ein Interesse an uns haben?“

„Kites Familie, die sich sorgt, mit wem er sein gefährliches Wissen teilt? Ein Freimaurerorden, der Kites Aktivitäten unter Kontrolle halten will? Die Geheimdienste? Über Kite wissen wir ja auch nur das, was er uns erzählt. Er zeigte sich allerdings erstaunlich besorgt, dass ich gegen ihn ermitteln könnte.“

Miller lächelte. „Dass jemand gegen ihn vorgeht, sollen Desmond und ich verhüten. Ich darf Ihnen meiner anwaltlichen Schweigepflicht wegen natürlich keine Angaben zu seinen rechtlichen Angelegenheiten machen, aber ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass wir ein eingespieltes und erfolgreiches Team bilden.“

„Vielleicht wird es Zeit, Loyalitäten zu wechseln.“

„Vielleicht.“

„Gut, Robert. Dann sehen wir uns übermorgen, Sonntag, zur Einäscherung. Soll ich etwas mitbringen oder organisieren? Brauchen Sie Unterstützung?“, erkundigte sich Zach.

„Danke, es ist für alles gesorgt. Ich werde eine kurze Rede halten. Jeder, der möchte, darf sich anschließen und ein paar Worte verlieren. Anschließend gehen wir in eine Bar, um auf Paul anzustoßen. Zwischen elf und zwölf Uhr sind die Feierlichkeiten für den Tag beendet. Wir treffen uns am Dienstag Vormittag auf dem Toxteth Park Cemetary zur Beisetzung wieder.“

„Wie viele Leute werden voraussichtlich teilnehmen?“

„Zur Einäscherung sind nur die engsten Freunde eingeladen. Ich rechne mit zehn bis fünfzehn Personen. Die Beisetzung wurde bereits in der Zeitung annonciert. Viele kannten Paul; mal sehen, wie viele ihm die letzte Ehre erweisen werden.“

31) Fristlos gefeuert

„Gestern statteten wir Mr Kite einen Besuch ab. Wir sprachen über dies und das, unter anderem erwähnte er das letzte Familientreffen. Sie erinnern sich?“

„Aber ja“, antwortete Molly Jones. „Wir haben uns sehr gut unterhalten. Weshalb fragen Sie?“

„Mr Kite hat mich beauftragt, einige Nachforschungen bezüglich eines Gegenstandes anzustellen, der an jenem Abend verschwunden ist“, erklärte Zach. „Können Sie dazu etwas sagen? Ist Ihnen etwas aufgefallen, zum Beispiel ungewöhnliches Verhalten der einen oder anderen Person?“

„Sprechen Sie von dem Manuskript? Das hätte PC31 mitbringen müssen, aber er kam ja dann nicht. Wahrscheinlich dachte er, das Treffen sei verschoben worden.“

„Wie kommen Sie darauf, dass er das dachte? Hat er etwas Entsprechendes gesagt?“

„Ich… weiß nicht“, stotterte die Sekretärin. „Weshalb fragen Sie mich? Stehe ich unter Verdacht?“

„Nein, überhaupt nicht. Sie haben das Schloss verlassen, bevor der Gegenstand abhanden kam. Es geht übrigens um ein Foto. Wurde im Verlauf des Abends über eine solche Aufnahme geredet?“

„Nicht unter meinen Ohren.“

„Worüber wurde dann geredet? Gab es Streit? Begehrlichkeiten?“

„Im Gegenteil. Bis auf das schamlose Verhalten dieses Mädchens, Duchess of Kirkcaldy, verlief es recht harmonisch. Wir sprachen über Objekte, die wir künftig für unsere Sammlung sichern wollten, und wir tauschten Anekdoten über McCartney, Lennon und so weiter aus. Bloß dieses… Flittchen! Sie wollte die ganze Zeit nur über unanständige Dinge reden. Wie die sich schon angezogen hat! Ich hatte den Eindruck, am liebsten wäre sie gleich ganz nackt erschienen.“

„Was missfiel Ihnen an ihrem Aussehen?“

„Sie hatte sich in ein knallrotes Domina-Kostüm gezwängt, oben wie unten keinen Inch länger als unbedingt nötig. Meine Mutter hätte mir den Hintern versohlt, wenn ich in dem Alter so rumgelaufen wäre.“

„Vielleicht war sie ja darauf aus, dass einer der Männer das übernahm? Hatten Sie das Gefühl, sie war hinter einer bestimmten Person her?“

„Nein, sie hat mit allen geflirtet – unangenehm aufdringlich.“

„Sind manche der Männer darauf eingegangen?“

„Sie blieben alle höflich aber distanziert. Gottseidank.“

„Ihnen ist also nicht aufgefallen, dass sie irgendwann mit jemand verschwunden wäre – sagen wir, auf die Toilette?“

Molly Jones kratzte sich an der Wange. „Hmm, nein. Ich fände das auch gar zu lächerlich. Sie ist ja noch ein halbes Kind.“

„Wissen Sie, wie alt?“

„Nicht genau. Siebzehn? Keineswegs volljährig.“

„Woher kommt sie eigentlich? Wer hat sie in die Gruppe eingeführt, beziehungsweise wie kam der Kontakt zustande?“

„Wer sie ist, weiß keiner so genau. Henry vielleicht. Der hat sie letztes Jahr in den Laden mitgebracht. Man erzählt sich, sie sei der illegitime Spross eines Adligen und lebe von dessen großzügigen Unterhaltszahlungen.“

„Wann haben Sie das Schloss verlassen und wer war um die Zeit noch anwesend?“

„Puh, schwer zu sagen. Bis auf meinen Mann waren wir alle schon ziemlich angeheitert. Ich habe nicht auf die Uhr geachtet. Vielleicht zwischen zwölf und ein Uhr? Als feststand, dass PC31 nicht mehr vorbeikommen würde. Der Arme. Wäre er zum Treffen gegangen, könnte er noch leben.“ Sie dachte nach. „Seltsam. Da Sie nun fragen, fällt mir auf, dass nur noch wenige Familienmitglieder zugegen waren, als ich mich verabschiedete: Dr Robert, Mr Mustard, Rocky Raccoon und Henry the Horse. Henry sah ebenfalls aus, als wolle er bald aufbrechen.“

„Wo, glauben Sie, befanden sich die anderen?“

„Mr Kite hat sich eine Stunde früher zurückgezogen. Er sagte, er sei müde und gehe nach oben. Auf die anderen habe ich nicht geachtet.“

„Halten Sie es für möglich, dass er mit Semolina und Duchess ‚nach oben‘ ging?“

Molly Jones schaute ihn an, als käme ihr die Idee zum ersten Mal. Sie blieb stumm, zog jedoch eine Grimasse, die andeutete, sie wisse es nicht und wolle es auch nicht wissen.

„Eine letzte Frage: Sind Sie auf direktem Weg nach Hause gefahren oder haben Sie unterwegs irgendwo angehalten?“

„Wir sind über‘s Zentrum gefahren. Mein Mann wollte mit den Kollegen auf dem Präsidium etwas klären. Dann sind wir nach Hause gegangen.“

„Wie lang dauerte das Gespräch?“

„Etwa eine halbe Stunde. Ich bin im Auto eingeschlafen, sobald wir das Schloss verlassen hatten, und nur kurz aufgewacht, als er nahe der Wache hielt.“

„Wann sind Sie zu Hause angekommen?“

„Gegen vier Uhr. Hören Sie, das war nun die dritte ‚letzte Frage‘“, beschwerte sich Molly Jones. „Macht es Ihnen was aus, wenn wir über nettere Dinge reden?“

„Keineswegs. Entschuldigen Sie bitte meine Zudringlichkeit. Ich habe Ihnen noch gar nicht gesagt, wie sehr Sie mir in Ihrem Kleid gefallen.“

Die Sekretärin errötete und schaute zu Boden. „Dankeschön.“

„Sie hat es bei Paul gekauft“, warf Veronica ein, die das gesamte Interview hindurch still auf einem Schemel neben der kleinen Bar gesessen hatte.

„Ist das wahr? Und ich dachte, wir handeln in Musikalien.“

„Im weitesten Sinne ist das Kleid Teil der Geschichte der Beatles“, sagte Molly Jones. „Es gehörte Pattie Boyd…“

„…der ex-Freundin von George Harrison“, ergänzte Zach. „Ihnen steht es mindestens eben so gut.“

Jones errötete erneut. Von ihr unbemerkt tanzten Veronicas Augenbrauen. Zach zwinkerte seiner Tochter zu. Er sagte: „Würde es Ihnen etwas ausmachen, Ihren Mann zu informieren, dass ich gern mit ihm reden würde?“

„Donald? Er weiß bestimmt nicht mehr als ich.“

„Und wenn schon. Dann unterhalten wir uns eben bei einer Tasse Kaffee über das Sammeln oder den neuesten Ermittlungsstand zum Mord an meinem Stiefbruder. Ich kann Ihnen versichern, dass Veronicas Kaffee den im Präsidium bei weitem aus dem Feld schlägt. Möchten Sie ihn probieren?“

„Hört, hört!“, unkte seine Tochter.

„Einverstanden“, erwiderte Molly Jones.

Und so erhielt Ludwig Lederrachen eine weitere Gelegenheit, seine Künste vorzuführen, wenn auch unbezahlt.


Sehr spät am Abend klingelte das Telefon sein klassisches Metallglockengeläut, das den ganzen Tisch zum Schwingen anregte. Veronica hob den Hörer ab. „Anscchluss von Paul Campbell, Ziegler am Apparat.“

„Guten Abend, Veronica. Holen Sie mir Ihren Vater“, sagte eine hyänenhaft klingende Männerstimme.

„Wer spricht dort?“

„Sie wissen genau, wer hier spricht.“

„Ich weiß nur, dass Ihre Kinderstube zu wünschen übrig lässt. Wer spricht dort?“

„Holen Sie mir Ihren Vater an den Apparat!“, sagte die Stimme mit drohendem Unterton.

„Rufen Sie wieder an, wenn Sie Manieren gelernt haben.“ Veronica legte auf.

Zach streckte den Kopf zur Tür herein. „Wer war das?“

„Woher soll ich das wissen? Er wollte seinen Namen nicht nennen. Wahrscheinlich unser spezieller Freund der Schlossbesitzer.“

„Du hast echt Haare auf den Zähnen, dem Mann den Hörer aufzulegen. Ich bin ihm einen Anruf schuldig; erster Report.“

„Schlossbesitzer oder nicht – wenn er meint, mich herumkommandieren zu können, dann gibt‘s nur eine Antwort: Arsch lecken. Du lässt dir seine Gestapo-Manieren ja auch nicht gefallen.“

Zach verdrehte die Augen. Was erwartete er? Er hatte sie so erzogen – und er war zufrieden. Er lachte. „Dann will ich mal anrufen, um mir die Prügel abzuholen.“

„Gib bloß nicht klein bei. Für mein Verhalten stehe ich selbst ein“, sagte Veronica energisch, die Augenbrauen zusammengezogen.

Exakt in jenem Moment, als Zachs Hand über dem Hörer hing, klingelte das Telefon erneut. Er riss ihn von der Gabel und sagte barsch: „Ja!?“

„Mister Ziegler,“ sagte die Stimme am anderen Ende, „ist das Ihre Art, einen Auftrag zu erledigen?“

„Was gefällt Ihnen daran nicht?“

„Ihr Tonfall, zum Beispiel, oder dass man einfach auflegt. Was ist außerdem aus Ihrem versprochenen Tagesbericht geworden?“

„Wenn Sie einen anderen Tonfall wünschen, bekommen Sie ihn, sobald Sie anfangen, respektvoll mit Ihren Gesprächspartnern umzugehen. Ich bin keiner Ihrer Lakaien.“ Der Detektiv sprach langsam, ruhig und ziemlich leise. Vom anderen Ende hörte er kein Geräusch. Als der Anrufer Luft holte, schnitt er ihm das Wort ab: „Soweit es Ihren Auftrag betrifft: Ich war heute mit vorbereitenden Arbeiten beschäftigt, ohne die weitere Ermittlungen nur ein Stochern im Nebel darstellen – und ich habe zwei Zeugen vernommen. Es liegt in der Natur der Sache, dass deren Aussagen erst im Licht weiterer Erkenntnisse einzuordnen sind. Falls Sie in der Lage sind, die Lösung des Falls durch sachdienliche Hinweise zu beschleunigen – etwa, indem Sie die Tatsache erwähnen, dass das fehlende Objekt die ganze Nacht unbeaufsichtigt außerhalb des Safes herumlag –, wäre ich Ihnen sehr dankbar.“

„Ich sagte Ihnen, Sie sollen nicht gegen mich ermitteln!“, bellte Kites Stimme aus dem Hörer.

„Und ich sage Ihnen, dass es so nicht funktioniert. Sie lassen mich meine Arbeit auf meine bewährte Weise erledigen oder Sie suchen sich einen anderen Dummen, der Ihre eklatanten Verstöße gegen Vernunft und Anstand korrigiert.“

„Mit wem haben Sie gesprochen?“

„Das steht in meinem Abschlussbericht am kommenden Dienstag.“

„Sie sind gefeuert!“, schrie Kite ihn an.

„Wie Sie wünschen. Ich mache die Rechnung gleich fertig“, erwiderte Zach und ließ den Hörer auf die Gabel fallen. Das Geräusch und die Vibrationen, die der alte, schwere Festnetzapparat dabei erzeugte, befriedigten ihn zutiefst. Die Körperlichkeit des Vorgangs blieb nur wenig hinter dem Gefühl zurück, dem anmaßenden Anrufer tatsächlich eine schallende Ohrfeige verpasst zu haben. An dem Tag, an dem eine App erschien, die es realitätsgetreu emulieren konnte, würde er seine ablehnende Haltung gegenüber Smartphones vielleicht revidieren.

Veronica blähte die Backen und ließ die Luft langsam zwischen den Lippen entweichen. „Ich fürchte, die großen Aufträge können wir uns aus dem Kopf schlagen, ganz zu schweigen von unserer Aufnahme in die Familie.“

„Ganz recht. Daraus wäre sowieso nichts geworden, weil ich nie vorhatte, sein Schwarzgeld anzunehmen. Im Übrigen wird mir dieser seltsame Club mit seinen dehnbaren Moralvorstellungen immer suspekter. Wie hat Kite Maria und Henry bezeichnet – nicht flexibel genug?“

„Dass er uns keine Aufträge geben wird – okay. Mit unseren bescheidenen Erwartungen ans Einkommen kommen wir bestimmt auch ohne ihn blendend zurecht. Mir kann der Abstand zu dem Typ gar nicht groß genug sein. Dass wir ihn nun gegen uns aufgebracht haben, könnte dagegen das Ende des Fab Store bedeuten.“

„Und darum werde ich den Teufel tun, die Ermittlungen einzustellen. Wir brauchen etwas gegen ihn in der Hand. Was wir von Maria und Molly gehört haben, verschafft uns möglicherweise großkalibrige Munition.“

29) Die Nacht im Schloss

„Konnten Sie hören, was die beiden besprachen?“, erkundigte sich Zach.

„Nein, aber es war offensichtlich, dass Kirk ihre Rolle spielte. Sie feuerte den einen Schuss ab, den sie im Lauf hatte, ohne Garantie, dass der Plan zum Ziel führen würde. Falls Paul nicht mit dem Manuskript auftauchte, würde es keine weitere Gelegenheit geben. Ein zweites Mal würde ihre Masche nicht funktionieren.“

„Und er ist nie aufgetaucht, richtig? Stattdessen wurde er in der selben Nacht ermordet und das Manuskript verschwand.“

Maria Borghese nickte wortlos.

„Was geschah dann?“, fragte Zach.

„Eine halbe Stunde vor Mitternacht flüsterte Kite dem Mädchen etwas ins Ohr. Er verließ den Raum. Zehn Minuten später folgte sie ihm. Ich gab Mr Mustard das vereinbarte Zeichen, dass die heiße Phase des Plans nun anlief und folgte ihr. Ich signalisierte Kirk, dass ich in der Nähe war. Wir stiegen zwei Treppen nach oben, dann wandte sie sich dem rechten Schlossflügel zu und folgte dem Gang bis zu einer Tür in der Wand, an der der er endet. Dort gibt es viele Nischen, Säulen, Vasen und Skulpturen. Ich versteckte mich hinter einer Säule nahe der Tür. Sie zeigte mir den erhobenen Daumen, bevor sie eintrat. Ich musste über eine Stunde lang warten, bevor ich sie wiedersah.“

„Hat Ihnen Kirk erzählt, was sich abspielte? Oder haben Sie gehört, was in der Zeit geschah?“

„Letzteres, zu meinem Bedauern.“ Maria verdrehte die Augen. „Er hat sie ziemlich hart rangenommen. Sie gaben sich außerdem keine Mühe, leise zu sein. Ich wäre am liebsten wieder davongeschlichen, aber ich hatte ihr mein Wort gegeben. Ich fürchtete auch, ihr könnte etwas zustoßen. Es kam schon vor, dass Kite die Kontrolle verlor.“

„Inwiefern verlor er manchmal die Kontrolle?“

„Er… schlägt manchmal zu fest zu.“ Sie schaute zu Boden.

„Hat er auch in jener Nacht fest zugeschlagen?“

„Ich glaube nicht, aber er hat sie, wie gesagt, ziemlich roh behandelt. Als sie die Tür öffnete, sah sie übel zerzaust aus. Ich sah auch blaue Flecken auf Schenkeln und Schultern, aber keine im Gesicht.“

Zach schüttelte missbilligend den Kopf. „Kirk war also unbekleidet, als sie wieder herauskam. Das wird wann gewesen sein? Ein Uhr? Später?“

„Ja, sie war splitterfasernackt, schien sich dessen aber nicht bewusst zu sein. Das war kurz vor halb zwei. Sie reichte mir einen durchsichtigen Plastikumschlag. Er enthielt das Foto aus der Pathologie. Sie sagte, ich solle mich beeilen. Ich fragte sie, was mit Kite sei. Er schlafe, sagte sie. Sie habe ihm die K.O.-Tropfen verabreicht, aber er habe sie einen Schluck aus dem Glas trinken lassen und sie fühle sich unglaublich müde. Dann ging sie wieder hinein.“

„Weiter. Was taten Sie?“

„Ich versteckte den Umschlag in einer der Ziervasen. Dann ging ich zu den anderen in den Salon hinunter. Desmond, Molly und Henry hatten bereits das Haus verlassen, da sie die Hoffnung aufgegeben hatten, Paul werde noch eintreffen. Robert, Rocky und Mustard kehrten mit mir auf den Gang vor dem Schlafzimmer zurück. Ich zeigte ihnen, was Kirk ergattert hatte. ‚Das ist verdammt wenig‘, klagte Mustard. Rocky schien derselben Meinung zu sein. Robert schnauzte, sie hätten keine Ahnung und seien wohl zu betrunken, um zu erkennen, was ihnen da in die Hände gefallen sei.“

„Und dann hat Dr Robert das Bild mitgehen lassen?“, hakte Zach ein.

„Davon weiß ich nichts. Ich habe keine Ahnung wer es mitnahm, und es war auch nicht vorgesehen. Ich erfuhr erst heute von Ihnen, Signore, dass es überhaupt fehlt.“

„Kite hat keine Nachforschungen angestellt? Hat er nicht gefragt, ob Sie etwas wissen, oder Ihnen gar gedroht?“

„Nein.“

„Wenn Sie das Foto nicht stehlen wollten, was wollten Sie mit dem ganzen Spuk dann erreichen?“

„Die Männer machten Mikrofilm-Aufnahmen von Vorder- und Rückseite, anschließend gingen sie zurück nach unten. Ich steckte das Foto wieder in seinen Plastikumschlag und dann in die Vase. Ich klopfte an die Tür. Niemand antwortete. Also ging ich hinein.“

„Was fanden Sie?“

„Kite lag bäuchlings auf der Matratze, wahrscheinlich besinnungslos. Ich sah hinter dem Bett zwei Beine hervorragen, eilte hin und sah, dass Kirk zusammengebrochen war, bevor sie wieder hineinkriechen konnte. Ich warf ein Laken über sie, holte das Foto, legte es auf ihren Nachttisch. Ich wollte sichergehen, dass das erledigt war, damit Kite keinen Verdacht schöpfte. Dann holte ich Mustard, der mir half, das Mädchen aufs Bett zu heben. Anschließend gingen wir hinunter. Robert bestand darauf, dass wir den Erfolg feierten. Also tranken wir eine weiteren Sekt. Dann verabschiedete ich mich. Ich brauchte mehr als eine Stunde, bis ich wieder zuhause ankam, weil ich so langsam fuhr.“

„Wann sind Sie angekommen?“

„Genau um halb vier Uhr. Ich weiß es deshalb, weil ich beim Einparken vor meiner Wohnung aus Versehen die Hupe betätigt habe. Als ich ausstieg, rief eine Nachbarin aus einem Fenster, es sei halb vier; ob ich noch nie etwas von Nachtruhe gehört hätte?“

„Es gab also Zeugen für Ihre Rückkehr. Wann haben die Männer und das Mädchen das Schloss verlassen?“

„Ich weiß es nicht. Wir haben das Thema seither gemieden. Ich versuchte am Sonntag mehrfach, Kirk telefonisch zu erreichen. Sie ging nicht ran. Es gelang mir erst am Montag Abend. Sie klang heiser und antwortete nur lakonisch.“

„Was hat sie gesagt?“

„Es gehe ihr okay. Sie habe viel geschlafen. Sie werde vielleicht ein paar Tage nach Bath an den Strand fahren, um sich zu erholen.“

„Das war alles?“

Maria verzog den Mund. Sie kehrte ihre Handflächen nach oben und ließ sie dann wieder in ihren Schoß fallen.

„Erschien Ihnen Kirks Verhalten auffällig?“

„Ja und nein. Unter den Umständen fand ich es nachvollziehbar, dass eine Sechzehnjährige mitgenommen oder geschockt klingt. Sie war zwar keine Jungfrau mehr, vermute ich, aber ich bezweifle, dass sie schon Erfahrung mit brutalem Sex hatte.“

„Sechzehn, um Himmels Willen!“ Zach legte eine Hand an seine Stirn. Er schloss die Augen und nahm einige tiefe Atemzüge. „Wo finde ich das Mädchen?“

„Wie ich schon sagte hat sie möglicherweise das Haus verlassen. Ich konnte sie seither nicht mehr erreichen und sie hat sich nicht mehr bei mir gemeldet.“ Sie zog eine Geldbörse aus ihrer Handtasche, entnahm ihr eine Visitenkarte und reichte sie dem Detektiv. „Hier, ihre Kontaktdaten.“

Der leerte seine Tasse in einem Zug. Dass ihr Inhalt kalt geworden war, entging seinem Wachbewusstsein. Eintrainierte Reflexe verformten seine Gesichtszüge missbilligend. Er beäugte den bunt bedruckten kleinen Papierstreifen. „Hätten Sie zufällig auch ein Foto von ihr?“

Maria zeigte auf die Karte. „Die Webadresse verweist auf ihr Facebook-Profil.“


Herrlicher Sonnenschein, der durch die großen Maßwerkfenster hereinfiel, wärmte ihr angenehm den Rücken. Sie lag auf dem Bauch, zu voller Länge ausgestreckt. Das Tageslicht blendete sie, als sie die Augen öffnete. Es mochte zehn Uhr oder später sein. Etwas Schweres, von dem sie vermutete, es müsse ein quer über dem Bett liegender Kite sein, drückte auf ihr Gesäß. Sie versuchte, die Arme an sich zu ziehen, um ihren Oberkörper für einen Blick nach hinten aufzurichten – vergeblich. Ihre Hände waren am Gestell des Bettes festgebunden. Als sie daran zerrte, sagte er leise: „Guten Morgen, Prinzessin. Hast du gut geschlafen?“

Er saß rittlings auf ihrem Po, registrierte sie nun, und die Erinnerung an die gewaltsame Behandlung während der Nacht entlockte ihr ein Stöhnen. „Massierst du mir die Schultern?“, bat sie ihn, hoffend, heute umsichtiger behandelt zu werden.

Kite blieb reglos sitzen. Einen Moment später fragte er: „Wo ist es?“

Kirk verstand nicht, was er meinte. „Wo ist was?“, fragte sie zurück.

„Wo ist das Foto?“ Seine Stimme, immer noch leise, klang nun scharf.

„Auf dem Nachttisch, glaube ich“, sagte sie verschlafen.

Ein brutaler Fausthieb in die rechten Rippen trieb ihr die Luft aus de Lunge. Sie schrie laut auf. „Falsche Antwort“, erwiderte er. „Nochmal: Wo ist das Foto?“

Kirk warf den Kopf hin und her. Ihr Blick suchte das Wenige zu erfassen, das ihre Bauchlage sie sehen ließ. „Ich weiß nicht,“ hustete sie, „es müsste doch hier sein.“

Ein weiterer Faustschlag traf sie, diesmal auf der linken Seite. Sie schrie, dann wimmerte sie. „Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. Bitte nicht schlagen, bitte…“ Die nächste Faust landete auf ihrer Wirbelsäule. Sie warf den Kopf zurück, den Mund weit geöffnet, als sie nach Luft schnappte.

Seine linke Hand fuhr ihr ins Haar, zog grob daran, während seine rechte vor ihrem Gesicht auftauchte. Sie hielt einen kurzen zweischneidigen Dolch, dessen Klinge irgendwelche symbolischen Gravuren aufwies. Dann setzte er den Dolch an ihren Hals. „Was hast du getan?“, brüllte er in ohrenbetäubender Lautstärke.

Sie sagte es ihm.