11) Die Willfährigkeit des Hundes gegenüber dem Herrn

Er wusste nicht, was ihn mehr ärgerte: dass er sich lächerlich hatte machen lassen oder dass dieser unglaublich von sich selbst überzeugte Mensch nicht einmal erwägt hatte, die Indizien anzuschauen, sondern sie stattdessen einfach in eine Kiste mit der Aufschrift „dummes Zeug“ steckte, zusammen mit all den anderen Dingen, von denen „jeder weiß“, dass sie nicht sein können. Die Mehrzahl der Leute ging blind durch die Welt, weil sie glaubten, was sie sahen erkläre sich von selbst. Dabei wurde das, was sie sahen, ihnen gezeigt und erklärt – von Medien, die ganz anderen Absichten dienten, als die Wahrheit zu berichten. Als wäre es so abwegig, dass jene, die reich und mächtig waren, das gerne weiterhin bleiben würden. „Hätte ich Milliarden mit Lug, Betrug und Mord gemacht, würde ich ebenfalls alles Notwendige veranlassen, dass die Leute meine harmlosen Erklärungen hören, nicht das Gezeter der Betroffenen oder die Berichte der Aufklärer“, murrte Zach in seinen Drei-Tage-Bart.

Weil die meisten Menschen die Wirklichkeit nicht von der medienproduzierten Theaterkulisse unterscheiden konnten, war es Tony Blair gelungen, Großbritannien in einen Krieg gegen den Irak zu hetzen. Junge Soldaten hatten ihr Leben weggeworfen, als sie nach Massenvernichtungswaffen suchen halfen, die frei erfunden waren… um nur ein belegbares Beispiel der jüngeren Zeit zu nennen, bei dem etablierte Medien in ihrer Gesamtheit willfährig eine falsche Realität zeichneten. Keine Ausnahme, sondern der Regelfall. Es gab größere Verbrechen – sogar von atemberaubenden Dimensionen –, die sich genau hier und jetzt vor aller Augen abspielten, aber man durfte die nackten Tatsachen weder nüchtern noch im Scherz erwähnen, wenn man Einkommen, Wohnung, Freundschaften, Freiheit und Gesundheit behalten wollte. Als Privatermittler wusste er nur zu gut, wie das lief. Das schlimmste Unrecht geschah mit Wissen und Duldung, oft sogar unter Beteiligung der Behörden, gedeckt von ‚Journalisten‘, die wussten, wann sie wegschauen und wen sie vorführen mussten. Darum wunderte es ihn keineswegs, dass mindestens eine der beiden Personengruppen – die Bestätiger beziehungsweise die Leugner der Echtheit des Evans-Koffers – sich hatte benutzen lassen, einen bestimmten Eindruck zu vermitteln. Eigeninitiative wurde bestraft, Willfährigkeit des Hundes gegenüber dem Herrn machte sich bezahlt. Und der Herr wünschte die einhellige Zurschaustellung fachlicher oder administrativer Autorität. Wenn alle sagten: „Hören Sie auf die Experten; es gibt hier nichts weiter zu sehen!“, trauten sich nur die Wenigsten, einen zweiten Blick zu riskieren. Gruppendruck war ein effektives Mittel, frei grasende Schäfchen wieder in die Herde zurückzuholen.

Zachary Ziegler verdankte seinen Erfolg als Detektiv der Tatsache, dass er solchem Druck nicht nachgab, wenn es um die Wahrheit ging. Niemand war gefeit vor Täuschung, aber man musste sich die Freiheit bewahren, seine Fehler bewusst wahrzunehmen und einzugestehen. Wer aus Bequemlichkeit, Furcht vor dem Herausragen aus der Menge oder des Wohlgefühls wegen im Theatersessel kleben blieb – sei es ein Stuhl im Parkett, sei es ein Logenplatz – würde nie erfahren, wer diese Leute auf der Bühne wirklich waren oder was sie hinter den Kulissen trieben. Er lebte in einer aufwändig konstruierten Scheinwelt. Nach einiger Zeit vergaß er, dass sie künstlich war; sie wurde zu der Welt schlechthin, egal wie absurd sie sein mochte. Darum waren solche Leute wie Kommissar Wickens Zach zuwider. Sie spielten sich als Türsteher auf, die anderen vorgaben, in welchen Räumen sie sich geistig bewegen durften, was sie bei Strafe sozialer Ächtung zu tun oder zu lassen, zu denken oder zu ignorieren hatten.

Für jemand wie Zach warfen die von Leuten wie Wickens postulierten Tabus Fragen auf. Der Detektiv hatte befürchtet, mehr preisgegeben als erfahren zu haben, bis der Kommissar ihn quasi mit der Nase auf etwas gestoßen hatte: Das Motiv für die beiden gewaltsamen Tode im Zusammenhang mit den Evans-Erinnerungen – und für das Verschwinden des Manuskripts – könnte die drohende Entlarvung eines Hochstaplers in den Reihen der erfolgreichsten Band der Welt gewesen sein. Wenn Zweitligisten wie die Monkees oder Milli Vanilli bereits mit kommerzieller Vernichtung bestraft wurden, weil sie lediglich vorgetäuscht hatten, Musiker zu sein, würde derselbe Vorwurf im Fall der Beatles zu einem Erdbeben führen. Es würde die lieb gewonnenen Erinnerungen von ungezählten Millionen Musikhörern überschatten, die Glaubwürdigkeit von international bedeutenden Persönlichkeiten untergraben und das Image eines Landes und einer Industrie ruinieren. Nicht zuletzt ging es um Milliarden Britischer Pfund. Was waren dagegen eine lumpige Million für das vergilbte Manuskript oder die Leben zweier kleiner Lichter, die ihren Unterhalt aus den Abfällen dieser Beatles-Maschinerie bestritten hatten?

Zach wollte sehen, ob ihn die Spur, von der Wickens ihn hatte abbringen wollen, vielleicht weiterführte.


Als er zurückgekehrt war, fand er das Erdgeschoss leer vor. Ein appetitanregender Geruch nach Gemüse und Gewürzen hing am Fuß der Treppe in der Luft. Zach stieg hinauf. In der Küche stöberte er Veronica auf, die gerade einen Kessel voll Eintopf vom Gasherd nahm.

„Oh, wie schön. Du kommst genau zur rechten Zeit. Das Essen ist fertig.“

„Himmel, Veronica, wie viele Besucher erwartest du denn?“

„Dich. Heute irgendwann. Scharf gewürzten Eintopf kann man problemlos ein paar Tage aufbewahren und er ist bei Bedarf in wenigen Minuten wieder heiß.“

„Ich habe jedenfalls ungeheuren Hunger und ich liebe Eintopf! Der erste Teller geht auf ex.“

„Untersteh dich! Wir setzen uns jetzt schön gemütlich hin und du erzählst mir, wie‘s bei der Polizei gelaufen ist. Danach würde ich gern deine Meinung zu ein paar weiteren Widersprüchen hören, die mir im Zusammenhang mit dem Evans-Archiv aufgefallen sind.“

Zach trug den Kessel zum Esstisch, Veronica legte zwei Gedecke auf. Sie schlürften in aller Ruhe die ersten drei Portionen, bevor der Detektiv begann, von seiner Begegnung mit Kommissar Wickens zu berichten.

„Viel Neues ist das wirklich nicht“, bemerkte Veronica, als ihr Vater sich wieder dem Essen zuwandte. „Seltsam finde ich, dass er einerseits solches Interesse an Henry zeigte, dann aber direkt abwiegelte, als es um das Manuskript ging“.

„Ja, das war echt auffällig. Ich möchte es fast als die dritte Instanz bezeichnen, in der das Buch als Informationsquelle sozusagen aus dem Weg geräumt wurde, wenn auch nur verbal.“

„Ich würde nicht so weit gehen, ihm Absicht zu unterstellen. Dafür haben wir keine Beweise. Er könnte auf deine Andeutung vielleicht sogar völlig frei von Hintergedanken so herablassend reagiert haben. Wenn das einen weiteren Bildpunkt zu unserem Muster beiträgt, dann einen ziemlich schwachen.“

„Zugegeben. Ich werde das berücksichtigen.“ Er löffelte schweigend seinen Eintopf. Dann sagte er: „Die Beatles waren meine ganze Jugend hindurch dauernd mit irgendwas in den Schlagzeilen: George auf Tour, Ringo macht Fotos, ein neues McCartney-Album, John wird erschossen… ich erinnere mich an diese Dinge eher nebelhaft. Und dann die ewigen Gerüchte über das geheime Leben der Stars – die Medien schienen einen Wettbewerb um die groteskesten Nachrichten zu führen. Ich könnte schwören, nie von der Doppelgängertheorie gehört zu haben, aber das ist ziemlich unwahrscheinlich. Viel eher habe ich sie einfach als Zeitungsente abgetan und direkt ins Gedächtnisloch verbannt. Elvis lebt, Paul ist tot und die Erde ist eine Scheibe, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Ja klar. Da ging es dir genau wie diesem Kommissar, wie hieß er gleich?“

„Wickens. Ich kann ihn ja verstehen. Ohne strenge Geisteshygiene verkäme unser jeweiliges Bild von der Wirklichkeit zu einer schlimmeren Karikatur, als es eh schon ist. Man sollte jedoch für neue Informationen offen sein, um fehlerhafte Ansichten korrigieren zu können; zumindest würde ich das von einem Ermittler erwarten. Täuschungen auseinanderzunehmen ist unser Geschäft.“

Veronica zuckte mit den Schultern. „Wir alle haben blinde Flecken.“

„Mit einem ermordeten Stiefbruder und einer gestohlenen Million am Bein will ich mir diesen blinden Fleck nicht leisten. Netterweise hat Wickens das Manuskript in einen neuen Kontext gerückt, der erklären könnte, worin das Tatmotiv bestand. Angenommen, die dreckige Wäsche der Beatles beinhaltet einen Doppelgänger, einen Hochstapler, der weder singen noch komponieren noch spielen konnte; angenommen, dieser Evans hat eine Skandalstory geschrieben, um noch einmal ordentlich Reibach zu machen, nachdem klar war, dass die Band sich unwiederbringlich aufgelöst hatte – der Schaden hätte so hoch sein können, dass nicht einmal ein Konzern, geschweige denn ein einzelner Mensch ihn auszugleichen in der Lage gewesen wäre. Will sagen: Der Rechtsweg hätte in diesem Fall weniger Erfolg versprochen, als … ein beherztes Einschreiten der betroffenen Parteien.“

„Darauf könntest du deinen Hintern verwetten. Bevor ich dir das gestatte, müssen wir jedoch die Annahme in eine Gewissheit verwandeln.“

„Schwierig. Wir müssten das Manuskript lesen, um zu verstehen, ob beziehungsweise warum es aus dem Verkehr gezogen wurde.“

„Nicht notwendigerweise“, widersprach Veronica. „Es genügt, dass die Hintermänner der Tat – wenn es eine Tat gegeben hat – wussten oder glaubten, Mal Evans tanze aus der Reihe. Das impliziert, dass sie Grund zur Sorge hatten – Dreck am Stecken.“

„Weiß nicht… üble Nachrede kann den selben Effekt haben wie echte Skandale aufzudecken. Sofern wir nichts Konkreteres herausfinden, stecken wir erst einmal fest.“

Wieder senkte sich für einige Minuten Schweigen über den Tisch.

„Gibt es denn nirgends irgendwelche Kopien, ausschnittweise Vorabveröffentlichungen oder jemand, der das Original gelesen hat? Was hat Mal Evans selbst darüber gesagt? Du erwähntest gestern, er habe sein Buch über Rundfunk beworben.“

„Ich habe keine Zitate aus den Memoiren gefunden. 2005 sind in der Sunday Times ein paar harmlose Einträge aus seinem Tagebuch erschienen, die seine Witwe Lily freigegeben hatte. Die Familie schien chronisch an knappem Geld zu leiden. Evans verdiente wenig und war selten zuhause. Lily ließ durchscheinen, dass sie dies bis heute belastet und dass sie findet, die Band habe Mal schlecht behandelt. Er selbst, das zeigen die Zitate deutlich, hatte weniger Probleme damit. Er verstand sich bis zum Schluss als enger Freund der vier Musiker und blieb ein Fan der Gruppe. Dass er mit seinem Insiderwissen einmal richtig Kasse machen wollte, passt nicht recht ins Bild, das ich von ihm gewonnen habe. Du solltest dir die Interviews von Ende 1975 anhören. Er hat keinen Versuch unternommen, Skandale anzupreisen oder Sensationsgier zu wecken. Über die Beatles redete er ausschließlich in respektvollem Ton – und sie über ihn: Sie nannten ihn den ‚sanften Riesen‘.“

„Zwischen den Reden und den Taten liegen oft Welten“, warf Zach ein.

„Bei manchen Leuten mehr, bei anderen weniger. Ich würde diesen Mann zu letzteren zählen. Er hat sein ganzes Leben als Enthusiast gehandelt. Aber wie gesagt, mach dir selbst ein Bild.“

„Noch heute. Deine Schilderung klingt danach, als führe diese Fährte in eine Sackgasse oder auf einen Holzweg. Dem harmlosen Image stehen jedoch der gewaltsame Tod des Mannes und die vielen Ungereimtheiten um seine Hinterlassenschaften gegenüber. Legen wir gleich los? Bei der Gelegenheit kannst du mich endlich in die Mysterien von Pauls Studierzimmer einweihen.“

10) Nicht mehr alle Beatles in der Band

Sie saßen in einer Art Katerstimmung am Frühstückstisch. Keiner von ihnen hatte gut geschlafen in dieser ersten Nacht im neuen Domizil. Zach hatte von reißzahnbewehrten Koffern geträumt, die nach seinen Ärmeln und Hosenaufschlägen schnappten und ihn in verschiedene Richtungen zu zerren versuchten.

Bevor sie in einen traumlosen Schlaf gesunken war, hatte Veronica stundenlang über der Frage gebrütet, wie man alltägliche Zufälle von absichtlich inszenierten Ereignissen unterscheiden könnte. „Cui bono,“ sagte sie in die Stille der Campbell‘schen Küche hinein.

„Wie bitte?“, erkundigte sich ihr Vater, dessen Blick aus weiter Ferne zurückkehrte.

„Wem nützt es – cui bono“, erklärte Veronica. „Alte lateinische Redewendung. Heute würde man sagen: Folge dem Geld. Für sich genommen ist ein starker finanzieller Anreiz natürlich kein Schuldbeweis, kann aber ein vielversprechender Ermittlungsansatz sein.“

„Gelegenheit und Fähigkeit zur Tat müssen ebenfalls gegeben sein, wenn man eine Jury überzeugen möchte“, ergänzte Zach. „Außerdem mag es andere Motive als Geld geben.“

Veronica nickte. „Und man müsste den Beweis antreten, dass der Verdächtigte es auch wirklich getan hat. Was uns auf seine Fährte helfen könnte, wäre ein Muster, ein wiederkehrendes Element.“

Zach runzelte die Stirn. „Du siehst hier einen Fall?“

„Du nicht? Onkel Paul wurde ermordet; ein potenziell brisantes Dokument aus seinem Besitz verschwand in derselben Nacht. Es geht wahrscheinlich um Millionen von Pfund. Selbstverständlich ist das ein Fall.“

„Um den sich die örtliche Polizei oder Scotland Yard kümmert.“

„Das mag stimmen. Ich wage jedoch zu bezweifeln, dass sie die unbestreitbaren Parallelen zum Fall Mal Evans berücksichtigen.“

„Der echt schräg aussieht, aber man kann nicht vollständig ausschließen, dass die meisten Widersprüche in der Berichterstattung über Evans auf Kommunikationsstörungen zurückzuführen sind. Zufälle soll es geben.“

„Wer sagt ständig: ‚Ein Mal ist Zufall, zwei Mal ist Dummheit und drei Mal ist Absicht‘?“

„Zachary Archibald Ziegler.“

Veronica nickte. „Ein kluger Mann. Möchtest du hören, was seine noch klügere Tochter denkt?“

„Klär mich auf.“

Veronica kicherte vergnügt.

„Was gibt es da zu lachen?“

„‚Tochter klärt Vater auf‘ – wäre das eine coole Schlagzeile für die Bild?“

„In Zeiten um sich greifender Gender-Verwirrung ist das kein Witz, sondern eine zu Tränen reizende Notwendigkeit. Ich läse daher lieber ‚Mann beißt Hund‘; das gäbe mir ein lang vermisstes Gefühl von Normalität wieder… Worauf willst du eigentlich hinaus, Liebes?“

„Weißt du, wie die Leute bei SETI außerirdische Signale von kosmischem Hintergrundrauschen zu unterscheiden versuchen?“, fragte Veronica zurück. Ohne eine Antwort abzuwarten erläuterte sie: „Kommunikation kann man immer daran erkennen, dass sie Muster im ‚Text‘ hinterlässt, die man mit statistischen Graphen oder arithmetischen Formeln entdecken beziehungsweise darstellen kann. Dabei ist es egal, ob es sich um ägyptische Steintafeln, viktorianische Romane, mongolische Radiosendungen, italienische Schnulzenfilme oder verschlüsselte KGB-Nachrichten handelt. Man muss die enthaltene Botschaft nicht verstehen können, um zu erkennen, dass höchstwahrscheinlich ein sinntragendes Signal vorliegt. Eine statistisch signifikante Häufung bestimmter Marker teilt uns mit, dass wir es mit mehr als dem reinen Zufall zu tun haben.“

„Verstehe. Und das willst du nun auf Ereignisse übertragen?“

„Wie kommen die Ermittler der Mordkommission zu dem Schluss, es mit einem Serientäter zu tun zu haben?“

„Anhand identischer Spuren an verschiedenen Tatorten.“

„Exakt. Ein einzelner Mord stellt keine Serie dar. Ein erster weiterer Mord mit identischen Spuren sieht vielleicht nur zufällig so aus, als gehöre er zu einer Serie. Je mehr solcher Fälle man jedoch vorliegen hat, desto eindeutiger tritt die Absicht hinter ihnen zutage. Was wir brauchen, sind mehr Daten!“

„Ich hatte eigentlich vor, der Polizeiwache erst nächste Woche einen Besuch abzustatten…“

Veronica setzte ihr bezauberndstes Lächeln auf und klimperte mit den Wimpern. Zach brummte, dann griff er nach einer weißen Serviette und schwenkte sie über seinem Kopf.


Zach lenkte den GT aus der Tiefgarage in den morgendlichen Berufsverkehr. Die Parkgebühren für zwei Tage hatten bereits ein kleines Vermögen gekostet. Zum Glück musste er sich darüber keine Gedanken mehr machen. Dank der Erbschaft würde er das jahrelang durchhalten. Doch falls sie hier blieben, würde er einen festen Platz kaufen; oder den Mini Cooper verkaufen, um den Opel an seiner Statt abzustellen.

Da es noch recht früh war, beschloss er, zunächst zum Hotel zu fahren, um das Zimmer zu kündigen und ihre Sachen in die Rainford Gardens zu bringen. Danach, gegen zehn Uhr, betrat er die Polizeiwache, wo er verlangte, den Leiter der Ermittlungen im Mordfall Campbell zu sprechen. Man führte ihn zu einer Bürotür und bat ihn, auf einem der Stühle davor Platz zu nehmen. Drinnen hörte er einen Mann telefonieren. Er konnte sich zwar auf den Inhalt des Gesprächs keinen Reim machen, aber diese Stimme fand er beeindruckend kräftig. Einige Minuten später fiel ein Hörer auf die Gabel, und kurz darauf näherten sich Schritte. Die Tür wurde aufgerissen.

„Mr Ziegler? Guten Tag. Kommen Sie herein.“

Zach war ein klein wenig enttäuscht von der Entdeckung, dass die Bärenstimme einem Mann von durchschnittlicher Größe, mittlerer Körperfülle und unauffälligen Gesichtszügen gehörte. Er nahm sich jedoch vor, ihn nicht zu unterschätzen. Der bleigraue Bürstenhaarschnitt vermittelte den Eindruck eines starken Willens. Er musterte das Namensschild, dem zufolge er mit D. Wickens sprach. „Guten Tag, Sir. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit nehmen, mir die Umstände des Todes meines Stiefbruders zu erläutern.“

„Ich bitte Sie! Als Angehöriger haben Sie ein berechtigtes Interesse an diesen Informationen. Soweit es die Ermittlungen zulassen, will ich Ihnen gern Auskunft geben… Setzen Sie sich doch.“ Er deutete auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Ehrlich gesagt hoffe ich auch, dass Ihnen etwas ein- oder aufgefallen ist, das uns weiterhelfen könnte.“

„Ich befürchte, dass ich Sie enttäuschen muss. Mein Stiefbruder und ich haben uns Jahrzehnte nicht gesehen oder gesprochen. Weder bin ich mit seiner Lebenswirklichkeit noch mit seinen Einstellungen, Gewohnheiten oder persönlichen Beziehungen vertraut. Außer dass er sich anscheinend zu einer der führenden Kapazitäten in Sachen The Beatles entwickelt hat, weiß ich praktisch überhaupt nichts über den Mann, der er zuletzt gewesen ist.“

„Das ist bedauerlich. Dennoch – falls Sie unter den Hinterlassenschaften Mr Campbells etwas finden, das eventuell einen Hinweis auf den Mord liefern könnte, rufen Sie mich jederzeit an.“ Er schob Zach eine Visitenkarte zu.

Der Detektiv nickte und steckte die Karte nach flüchtiger Betrachtung in eine Jackentasche. „Wären Sie so freundlich, die letzten Stunden in Mr Campbells Leben zu beschreiben, soweit Sie diese rekonstruieren konnten?“

„Viel zu erzählen gibt es nicht. Laut Zeugenaussagen einer Nachbarin verließ kurz vor acht Uhr abends ein letzter Kunde den Laden. Mr Campbell schloss die Tür von innen ab und knipste das Licht aus. Er hat eine Mahlzeit eingenommen. Gegen elf Uhr gingen auch in der Wohnung die Lichter aus. Um 3:05 Uhr in der Frühe registrierte die Außenkamera eine Gestalt, die im Eingang verschwand. Die Qualität der Aufnahmen lässt keinerlei Einzelheiten erkennen. Das Ladenlicht ging nicht an. Um 3:40 Uhr tritt die Gestalt wieder auf die Straße heraus und wendet sich in Richtung Whitechapel. Der Autopsiebefund besagt, dass Mr Campbell zwischen drei und vier Uhr verstorben ist. Ursache waren sechs Messerstiche im Brustbereich. Einer traf die Halsschlagader, ein weiterer das Herz. Wenn dieser Sache etwas Positives abzugewinnen ist, dann lediglich, dass Ihr Verwandter nicht gelitten hat.“

„Gab es Hinweise auf einen Kampf? Hat niemand etwas gehört?“, hakte Zach nach.

„Keine Hinweise, und alle schliefen fest – behaupten sie zumindest.“

„Wie stellt sich die Tat für die Polizei dar? Haben Sie Anhaltspunkte für ein Motiv? In welche Richtung ermitteln Sie?“

„Obwohl wir das Türschloss unbeschädigt fanden, glauben wir dennoch, dass es sich um einen Einbruch handelt. Mr Campbell hat die Person wohl überrascht und ist von ihr in einer Art Panikreaktion angegriffen worden.“

„Das schließen Sie woraus?“

„Dass der Täter Geld aus dem Laden entwendet hat, jedoch kaum Wertgegenstände.“

„Mit ‚Wertgegenstände‘ meinen Sie sicher das Evans-Manuskript. Fehlte sonst noch etwas?“

Wickens lächelte dem Detektiv freundlich zu. „Sehen Sie? Sie wissen tatsächlich etwas, das wir noch nicht wussten.“

„Ich dachte, das Fehlen des Manuskripts wäre Ihnen bekannt.“

„Ja, es steht schließlich im Warenbuch verzeichnet. Leider nennt der Eintrag nicht den Verfasser des Dokuments. Woher kennen Sie seinen Namen?“

„Gestern kam ein Kunde in den Laden, der erklärte, das Manuskript sei Teil einer Sammelbestellung, die er mit anderen Beatles-Freunden in Auftrag gegeben habe. Es handle sich um Mal Evans‘ Erinnerungen.“

Der Kommissar stutzte. „Wie heißt dieser Mann? Haben Sie sich den Namen gemerkt?“

Zach war sich nicht sicher, ob er Bishops Identität preisgeben sollte. Es könnte dem Mann, der sein erster Freund in Liverpool geworden war, eine Menge Schwierigkeiten bereiten. Er beschloss, darüber nachzudenken und Wickens eventuell später mehr zu erzählen. Er überlegte. Was konnte er dem Kommissar sagen? „Ich erinnere mich an seinen Vornamen. Er heißt Henry.“

Wickens‘ Gesicht verriet, dass er eine Spur witterte. „Henry? Sind Sie ganz sicher? Irgendwas vom Nachnamen – Angangsbuchstabe, Länge, Nationalität – im Gedächtnis hängen geblieben?“

Zach schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Im Moment geht alles drunter und drüber. Ich muss an hundert Dinge gleichzeitig denken. Es war ein englischer Name, wenn ich mich recht erinnere.“

„Wie sah er aus? Können Sie ihn beschreiben?“ Wickens schien aufgeregt.

„Er sah ein bisschen aus wie dieser berühmte Produzent aus den 1960ern… Wie hieß er gleich?“

„Phil Spector? Quincy Jones? George Martin?…“

„George Martin, genau. Sehr gepflegt, vielleicht gerade im Pensionsalter. Hilft Ihnen das weiter?“

Der Kommissar hatte sich wieder unter Kontrolle. Sein Gesichtsausdruck war nun verschlossen. „Man wird sehen. Natürlich darf ich Ihnen zu Details der Ermittlungen nichts sagen. Ich persönlich glaube aber, dass diesem Manuskript keine besondere Rolle zukommt.“

„Falls doch, ist mein Stiefbruder mindestens das zweite Mordopfer im Zusammenhang mit dem Ding.“

„Sie spielen auf diese Verschwörungstheorie an, nach der die L.A. Police auf Mr Evans gehetzt worden sei, um McCartneys Doppelgänger vor Entlarvung zu schützen?“ Wickens begann herzhaft zu lachen. „Vergessen sie‘s. Die Leute, die so etwas behaupten, haben nicht mehr alle Beatles in der Band.“ Er lachte erneut. „Überlegen Sie nur mal, wie viele Menschen Sir Paul persönlich kennen; er hat Familie hier in Liverpool. Was glauben Sie, wäre da los, wenn plötzlich ein fremder Mann vor der Tür stünde und sagte: ‚Hey, hier bin ich‘?“ Er musste gesehen haben, dass Zach diese Reaktion sauer aufstieß. Er lenkte ein: „Nichts für ungut, aber manchen ist die aufregendste Band der Welt, scheint es, nicht aufregend genug. Von diesen Revolvergeschichten sind so viele in Umlauf, dass keiner sie mehr ernst nimmt.“

„Mag sein“, knurrte Zach, dem die kräftige Stimme des Beamten inzwischen zuwider geworden war. Er wollte nur schnell hier weg. So stellte er seine letzte drängende Frage: „Kann ich meinen Verwandten in der Pathologie sehen?“

„Der Leichnam wird in Kürze an einen von Mr Campbells Anwalt beauftragten Bestatter übergeben. Danach sollte es möglich sein.“

Zach erhob sich unsicher aus seinem Stuhl. Er schüttelte Kommissar Wickens die Hand und versprach, sich melden zu wollen, falls ihm noch etwas einfallen sollte. Der Polizist versicherte, er werde Zach bei neuen Erkenntnissen auf dem Laufenden halten. Dieser verließ das Zimmer und steuerte zielstrebig auf den Kaffeeautomaten im Gang zu. Ein Pappbecher gefärbten Wassers verschwand in Sekundenschnelle in seinem Hals. Zach feuerte den leeren Behälter in den neben der Maschine stehenden Eimer. Diese Plörre rechtfertigte keinen weiteren Besuch, entschied er.