47) Nachbeben

Der Notsituation geschuldet hatte Johns Mini Cooper stärker gelitten, als Zach vorhersehen konnte. Die von abrupten Brems- und Abbiegemanövern geplätteten Reifen stellten dabei noch den geringsten Schaden dar. Sie konnten leicht ersetzt werden. Größere Probleme bereitete allerdings die Ausbesserung von Steinschlagspuren am Lack und von Beulen am Unterboden. Dem ideellen Wert, der nur am berühmten Erstbesitzer des Fahrzeugs gemessen wurde, tat dies jedoch keinen Abbruch. Zach sah daher keinen Grund zur Zerknirschung, auch wenn Maria ihn noch nach Monaten mit der Sache aufzog. Sie hing an dem Kleinwagen, dessen Beschaffung so viel Mühe und Geld gekostet hatte. Er aber war nur froh, dass sie getan hatten, was sie konnten, um Veronica zurückzubekommen. Zwar trugen sie rein gar nichts dazu bei, sie heil aus den Fängen Desmonds und Kites zu befreien; das Abzeichen für diese Leistung konnte seine Tochter sich selbst an die Brust heften. Aber die Entführung hätte ein ganz anderes Ende nehmen können, und in dem Fall hätte er sich nie verzeihen können, einfach zuhause vergeblich auf sie gewartet zu haben.

Die vierzehn Stunden im Foltergefängnis – einem Versteck, an dem der Wallace-Sprössling offenbar regelmäßig seinen perversen Neigungen nachging – hatten Veronicas Vertrauen in sich selbst und die Welt schwer angeschlagen. Wochenlang hatte sie kaum ein Wort aus eigenem Antrieb gesprochen. Auf Fragen reagierte sie bloß einsilbig.

Pauls Beisetzung, die nur wenige Stunden nach ihrer Heimkehr stattfand, waren sie alle drei fern geblieben. Sie fühlten sich unendlich müde. Und auch wenn an Schlaf wegen der gerade überstandenen Aufregung nicht zu denken war: Der emotionalen Belastung auf dem Friedhof konnten sie sich unmöglich stellen. Das hatte die Trauergäste zu allerhand Vermutungen verleitet, die nur mit Mühe zerstreut werden konnten, wie ihnen Henry später berichtete.

Desmonds Verschwinden löste mehrere Nachbeben aus, die Veronicas Psyche wiederholt erschütterten. Das Telefon klingelte am Nachmittag jenes Tages, als sie in ein Bettlaken gehüllt wieder im Fab Store ankam, fast ohne Unterbrechung, bis Maria es einfach aussteckte. Molly Jones, die vergeblich versucht hatte, den Verbleib ihres Gatten Desmond in Erfahrung zu bringen, erschien daraufhin am folgenden Morgen vor der Ladentür. Sie betätigte die elektrische Glocke so lange, bis Zach ihr schließlich öffnete. Aufgeregt erfragte sie jedes Detail der Vorkommnisse vom Montag und ließ sich nur mit Mühe davon abbringen, Veronica zu sprechen zu wollen. Gegen Abend berichtete der lokale Sender über den Brand des Hauses; mindestens ein Opfer sei zu beklagen gewesen. „Zu beklagen sind wohl eher die, die diesen Mann beklagen“, brummte Zach, verzichtete mit Rücksicht auf das Befinden seiner Tochter weitere Kommentare. In den Tagen darauf veröffentlichte die Polizei Angaben zu Zahl und Identität der Toten, was der Bekanntheit der Personen wegen eine gewisse Aufregung bei der Bevölkerung erzeugte. Fragen wurden laut, was ein leitender Beamter und ein Angehöriger des Geldadels an solch abgelegenem Ort zu tun hatten. Über die Brandursache wollten die Forensiker der Feuerwehr lange Zeit keine Einschätzung abgeben. Mangels Spuren, die die Anwesenheit Dritter nahelegten, einigte man sich auf die Hypothese, unvorsichtiger Umgang mit offenen Flammen – wahrscheinlich Kerzen – habe Kommissar Wickens und den Philanthropen Campbell das Leben gekostet.

Im Zuge der Ermittlungen wurden auch Veronica und Zachary Ziegler ins Präsidium geladen; sie als letzte der Polizei bekannte Person, die Wickens lebend gesehen hatte, und er, Zach, weil er aufgefallen war, als er sich nach dem Kommissar erkundigt hatte. Die Befragung fand mehr oder weniger für die Akten statt, denn es gab keinen Anlass, eine Verwicklung in den Brand zu vermuten. Veronica behauptete, den Kommissar in einem Parkhaus abgesetzt zu haben und dann getrennter Wege gegangen zu sein. Die Erinnerung an das, was der Mann ihr angetan hatte, schürte die Wut, was ihr half, die Zeugenbefragung zu überstehen, ohne in Weinkrämpfe auszubrechen. Die Warnung ihres Vaters, was geschähe, wenn man sie mit dem Angriff auf einen Staatsdiener in Verbindung brachte, ganz zu schweigen von seiner Tötung, verbot jeden Gedanken daran, die Verletzungen und Erniedrigungen, die ihr die beiden Männer zugefügt hatten, zur Anzeige zu bringen. Soweit es die Menschheit außerhalb ihres Haushalts betraf, hatte derlei nie stattgefunden.

Offiziell gab es auch die hunderten von Leichen nicht, die auf dem Grundstück beim abgebrannten Landhaus gefunden worden waren. Die ältesten schätzte man auf dreitausend Jahre, die jüngsten waren gerade einmal seit wenigen Monaten unter der Erde, wie Maria herausfand, als sie vorsichtig ihre Beziehungen spielen ließ, um mehr über den Stand der Ermittlungen herauszubekommen. Veronica fühlte sich im Licht dieser Nachrichten in der Entscheidung bestätigt, ihr Beinahe-Schicksal als weiteres Opfer einer Ritualmord-Dynastie zu verschweigen. Dass sie in Notwehr gehandelt hatte, als sie die Männer tötete, würde sie andernfalls nicht davor bewahren, aus dem Weg geschafft zu werden. Niemand hatte ein Interesse, dass die Öffentlichkeit erfuhr, dass Satanismus kein Nischenphänomen unter Heavy-Metal-Gruppen darstellte, sondern das Glaubensbekenntnis der Wahl von Menschen mit Rang und Namen war. Am wenigsten wollte es besagte Öffentlichkeit selbst wissen.

Insofern gab es keine Dringlichkeit, die Dokumentation von – wie manche es bezeichneten – Unterhaltungsverbrechen voranzutreiben. Es würde noch lange dauern, ehe man offen über das Problem sprechen können würde. Dennoch machte sich eine gewisse Niedergeschlagenheit unter jenen Familienmitgliedern breit, die gehofft hatten, Kites Sammlung von Beweisstücken für McCartneys Tod anzapfen zu können. Die Objekte würden auf unabsehbare Zeit hinter dicken Tresortüren verschwinden.

Mit einem lachenden und einem weinenden Auge nahmen die Zieglers, Rocky, Maria und Henry das Geständnis des Notars auf, dass das Autopsiefoto sich nun doch in seinem Besitz befinde. Sie gingen also – darin bestand die gute Nachricht – nicht mit völlig leeren Händen aus dem fatal verlaufenen Unternehmen heraus, das Familientreffen für ihre Zwecke zu nutzen. Der Preis, den sie dafür bezahlten, war der weitgehende Verlust des Vertrauens in Miller, der zugab, ihre Beute im Auftrag Kites abgefangen zu haben. Obwohl der Notar nie einen Hehl aus seiner juristischen Unterstützung für den Billy-Shears-Nachkommen gemacht hatte, sorgte die Preisgabe dieses Details für große Enttäuschung. Alle waren sich einig, dass die veränderte Lage neue Konzepte erforderte, wie das Projekt vorangetrieben werden sollte.

45) In der Falle

Veronica war es gelungen, Kites Leiche mit ihren Füßen zu packen und näher heranzuziehen, ein halbes Dutzend Zoll bei jedem Durchgang. Die Nacht war kühl, doch die Arbeit trieb ihr Schweiß auf die Haut. Eine Viertelstunde später hatte sie es endlich geschafft. Der Kadaver lag direkt unter ihr. Sie klemmte den Griff des Dolchs zwischen ihre Füße, zog ihn aus den Dielen – das war schwieriger, als sie gedacht hatte – und führte die Beine nach oben. Den ersten Versuch brach sie ab, bevor sie Kopfhöhe erreichte, denn sie hielt die Klinge in einem ungünstigen Winkel. Beim zweiten Versuch gelang es ihr, den Lederstreifen, der ihre Hände mit dem Seil des Flaschenzugs verband, ein Stückchen einzuschneiden, bevor ihr die Kraft ausging. Schließlich, im dritten Anlauf, gab das Leder nach, riss die letzten Millimeter von allein entzwei und entließ Veronica in den freien Fall. Einen Sekundenbruchteil später grub sich ihr Hintern in Kites Bauch und Brust. Seine Rippen zersplitterten mit dem Knirschen einer zerquetschten Tüte Kartoffelchips. Ihr Gewicht presste die Luft aus seinen Lungen. Sie entwich durch den verengten Kanal seines Adamsapfels. Kites Stimmbänder vibrierten ein allerletztes Mal, wobei sie ein hässliches Gurgeln abgaben. Veronica, von ihrer unsanften Landung einem erneuten Schmerzgewitter ausgesetzt, glaubte einen Schrei zu vernehmen. Hatte Kite noch gelebt oder hatte sie den Laut selbst ausgestoßen? Schwer zu sagen.

Langsam rollte sie sich auf die Seite, herunter von dem Hünen. Sie wollte nur die Augen schließen, ruhen… schlafen… Nein! Sie durfte jetzt nicht das Bewusstsein verlieren, musste den Raum verlassen, das Haus, die Gegend. Mühsam rappelte sie sich auf. Von unten war das Stöhnen eines Mannes zu vernehmen. Jemand befand sich im Zimmer direkt unter ihrem. Desmond? Oder gab es einen weiteren Gefangenen? Hatten sie ihren Vater geschnappt? Bei dem Gedanken griff eine eisige Faust nach ihrem Herz. Wenn ihr Vater hier war, durfte sie nicht einfach davonschleichen. Sie musste zweifelsfrei feststellen ob auch er sich in diesem Landhaus befand oder nicht. Und das hieß, sie musste Desmond ausschalten.

Da ihre Muskeln nun entspannten, begann sie die Kühle auf der nackten Haut zu spüren. Sobald sie draußen war, würde sie frieren. Und natürlich lag es ihr fern, bei der Rückkehr nach Liverpool im Adamskostüm – müsste es nicht Evakostüm heißen?, dachte sie – aus dem Wagen zu steigen. Ihr Kleid konnte sie vergessen; es war völlig hinüber. Kites Klamotten mussten mehrere Nummern zu groß ausfallen; sie würden sie beim Kampf mit Desmond behindern. Ihr Blick fiel auf das Bett. Ohne lang zu überlegen zog sie das Laken ab und fabrizierte ein Wickelgewand daraus, das genug Beinfreiheit zum Treten und Rennen ließ. Sie ging zur Tür.

Verdammt! Sie hatte völlig vergessen, dass es im ganzen Haus keine Klinken gab. Wie war Kite hereingekommen? Ein Schlüsselbund klapperte in ihrem Gedächtnis; Desmond, der die Tür hinter Kite wieder zuzog. Ein Augenblick der Panik überrollte Veronica. Falls sie auf den Kommissar angewiesen war, um aus diesem Raum hinaus zu gelangen, standen ihre Chancen ungefähr fünfzig-fünfzig. Hektisch durchsuchte sie die Wäsche des Hünen, die auf den Boden gefallen war, als sie das Laken abzog.

Da – in einer seiner Hemdtaschen, ein einzelner Schlüssel mit einem Plastiketikett. Sie fischte ihn heraus. Auf dem Etikett stand: ‚Landhaus General‘. Die Detektivin schickte ein Dankgebet gen Himmel. Dann schnappte sie den Dolch, schloss leise die Tür auf und trat auf den im Dunkeln liegenden Gang hinaus. Das Streulicht aus dem hinter ihr liegenden Raum ließ wenig erkennen. Sie tastete neben der Tür nach einem Lichtschalter, fand jedoch keinen. Also ging sie zurück. Die Kerzen, die der Psychopath für sein perverses Ritual verwendet hatte, waren bis auf eine, die zu einem Stummel heruntergebrannt war, bei ihrem Kampf erloschen. Sie öffnete das Schränkchen unter dem Fenster, in der Hoffnung, eine Taschenlampe zu finden. In der hintersten Ecke stand eine Kerosinlampe. Sie prüfte den Tank; er war fast maximal gefüllt. Der Docht nahm die Kerzenflamme dankbar entgegen und brannte sofort hell. So ausgestattet begab sie sich umgehend nach draußen.

Der Korridor endete wenige Schritte rechts von ihr an einem Fenster, das sich zum Gelände hinter dem Haus öffnete. In der anderen Richtung erstreckte sich der Gang gute fünfzehn Meter. Einem Impuls folgend entschied sie, zuerst die Tür zu öffnen, um zu sehen, ob sich jemand darin aufhielt. Weder wollte sie etwaige weitere Gefangene zurücklassen, noch war sie darauf erpicht, einen etwaigen Feind im Rücken zu behalten. Sie schloss auf und leuchtete hinein. Der Raum war ähnlich eingerichtet wie ihr ehemaliges Gefängnis aber ansonsten leer. Erleichtert kehrte sie zum Gang zurück, folgte ihm einige Meter nach rechts und sah wie erwartet auf halber Länge ein Treppenhaus das rechter Hand nach unten führte. Veronica lauschte. Unten bewegte sich nichts. Also schlich sie weiter, um die Zimmer hinter den beiden verbliebenen Türen zu untersuchen. Auch sie waren Kopien des ersten, in dem nun Kites Leiche auf den Dielen lag; auch sie waren leer.

Wieder im Gang wagte sie einen Blick aus dem nach vorn zeigenden Fenster. Da es keinerlei Lichtquelle als die Sterne und das Streulicht umliegender Ortschaften gab, konnte sie die Zufahrt nur schemenhaft erkennen. Ihr GT parkte noch genau so, wie sie ihn abgestellt hatte. Schräg dahinter stand ein eiförmiges Etwas, das Kites Fahrzeug sein musste. Sie kehrte um und ging zum Treppenhaus. Wieder lauschte sie, dann stieg sie langsam, Schritt für Schritt, die steilen hölzernen Stufen hinunter. Sie zählte zwölf Stufen, bevor sie die letzte, die dreizehnte betrat. Bis hierhin war es ihr gelungen, völlig geräuschlos ins Erdgeschoss hinabzugehen, doch gerade, als sie auf den Steinfußboden der Eingangshalle treten wollte, knarzte das Holz. Das Geräusch explodierte in die Stille des Hauses wie der Eröffnungsakkord von ‚A Hard Day‘s Night‘ in die Einlaufrille einer LP.

Veronica gefror an Ort und Stelle. Jeden Moment musste sich eine der vier Türen öffnen – sie rechnete mit jener auf der anderen Seite in der linken Ganghälfte; der Tür, die zu dem Raum unterhalb ihres Gefängnisses führte – und dann würde Desmond mit gezücktem Revolver herausstürmen, um sie völlig unzeremoniell niederzustrecken. Sie hielt den Atem an, um jedes noch so kleine Geräusch hören zu können, doch es rührte sich auch weiterhin nichts. Auf Zehenspitzen schlich sie zu besagter Tür, legte ein Ohr an das Blatt, lauschte. Stille. Langsam führte sie den Schlüssel ein. Sein leises metallisches Klickern wuchs in ihrer Vorstellung zu einem unüberhörbaren Rattern an. Sie konnte nur hoffen, dass Desmond zu beschäftigt war, um darauf zu achten. Sie befahl der inneren Stimme, für einen Moment den Mund zu halten. Aber was, wenn auf der anderen Seite sein Schlüssel steckte?, greinte der Quälgeist. Dann locken wir ihn heraus, direkt in die Klinge des Dolches, entgegnete sie; und jetzt halt endlich die Klappe! Die Stimme grummelte, sah jedoch davon ab, auf ein weiteres Dutzend Eventualitäten hinzuweisen, die ihre Pläne durchkreuzen konnten.


Ihr Ritt zum Ferienhaus der Sammler – man konnte die ‚Fahrt‘ über den mit Schotter bestreuten und mit Schlaglöchern reichlich gesegneten Feldweg kaum anders bezeichnen – kostete sie nochmals eine wertvolle halbe Stunde. Die Landschaft um sie herum lag in solch tiefer Finsternis, dass man den Eindruck haben konnte, eine der entlegensten Weltgegenden zu durchqueren, wenn auch die Sterne über ihnen nicht ganz so klar funkelten, wie es in einem solchen Fall zu erwarten gewesen wäre. Dank der Wegbeschreibung des Taxifahrers wussten sie, dass sie das Ziel ihrer Reise beinahe erreicht haben mussten. Bestimmt waren es nur noch wenige hundert Yards bis… Da! Quer über den Feldweg, der rechts und links von Weidezäunen begrenzt wurde, ragte ein verschlossenes Gatter. Hinter diesem, gerade noch im Licht der Mini-Scheinwerfer schattenhaft zu erkennen, lag ein niedriges Gebäude. „Das ist es!“, rief Maria.


Der Schlüssel ließ sich ganz leicht im Schloss drehen. Ein letzter Widerstand gegen eine Federung, als der Riegelbolzen geräuschlos aus seiner Nut glitt, dann konnte Veronica die Tür aufdrücken. Millimeterweise öffnete sie das Blatt, auf jede Regung achtend, die von drinnen vielleicht vernehmbar gewesen wäre. Als sich ein Spalt bildete, sah sie, dass es dahinter fast völlig dunkel war. Nur das Flackern einer Kerzenflamme warf bewegte Schatten an die Wand. Es herrschte Stille. Mutig schob sie die Tür Stück für Stück weiter auf. Zeitungsstapel, Pappkartons, Brennholz, ein Stuhl, die Kante eines niedrigen Tisches, die Lehne eines Sofas kamen zum Vorschein. Es roch nach Alkohol, Zigarettenrauch und Geschlechtsverkehr. Auf der Lehne ruhten ein paar Stiefel; Beine ragten aus ihnen hervor, die eindeutig Desmond gehörten. Vorsichtig bewegte sie den Kopf zur Seite, um mehr von der Szenerie zu erfassen. Der Kommissar lag mit halb heruntergelassenen Hosen auf dem Sofa und schlief.

Veronica packte den Dolch fester, dann betrat sie den Raum. Vorsichtig arbeitete sie sich auf ihr Ziel zu, sorgfältig darauf achtend, nirgends anzustoßen. Auf halbem Wege stellte sie die Kerosinlampe ab. Vielleicht brauchte sie die freie Hand. Sie näherte sich dem Kopfende des Sofas. Wickens atmete gleichmäßig. Sie wusste, was sie zu tun hatte, wusste, dass kein Weg daran vorbeiführte, und hatte dennoch Hemmungen… zögerte, ihm die Gurgel durchzuschneiden. Zitternd führte sie den Dolch an seine Kehle. Millimeter trennten die rasiermesserscharfe Kante des Metalls von der Haut. Sie hielt inne. Eine leichte Berührung nur, doch der Polizist schrak sofort aus dem Schlaf, fuhr hoch und direkt in die Klinge. Ein Schrei entwich ihm; mit panischen Bewegungen rappelte er sich auf. Der Schnitt war nicht tief, aber er begann umgehend zu bluten. Veronica zuckte erschreckt zurück, stolperte über einen Stuhl und landete rücklings auf dem Boden. Der Dolch entglitt ihrer Hand und kreiselte in eine Ecke des Raums. Wickens, der ihr nachsetzen wollte, wurde von seiner auf Halbmast stehenden Hose zu Fall gebracht. Er landete auf Veronicas Beinen. Seine Hände griffen nach ihrem Hals, doch als es ihr gelang, einen rechten Schwinger gegen sein Ohr zu landen, rollte er von ihr herunter. Hastig krabbelte Veronica rückwärts von ihm fort.

Dann bemerkte sie ihren Fehler. Sie hatte dem Mann den Weg zu ihrer Waffe freigegeben. Der zögerte keinen Moment. Er zog die Hose hoch, hechtete nach dem Dolch, fuhr dann sofort herum und stürzte in ungeahnter Geschwindigkeit auf sie zu. Der einzige Gegenstand, den sie zu fassen bekam, war die Kerosinlampe. Mit ausgestrecktem Arm schnappte sie den Tragebügel, führte die Lampe im Halbkreis um ihren Kopf und drosch sie, so kraftvoll sie konnte, gegen Desmonds Schläfe. Glassplitter und Kerosin spritzten durch die Luft; brennbare Flüssigkeit ergoss sich über den Getroffenen, dessen Kopf und Schultern sofort in Flammen aufgingen. Wickens röhrte vor Schmerzen. Er taumelte knapp an der jungen Frau vorbei durch den Raum, die Hände gegen sein Gesicht schlagend. Dann stolperte er, fiel mit dem Kopf voraus gegen eine Wand und brach bewusstlos in der Ecke zusammen, wo die Zeitschriften und das Holz gelagert waren.

Veronica überlegte kurz, ob sie den Brand löschen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Sie war in den Raum gekommen, um Wickens zu töten und sie hatte ihr Ziel fast erreicht. Wodurch er starb, war ihr gleichgültig. Entweder sie machte ihrem Entführer, dem Mörder ihres Onkels, hier und jetzt den Garaus oder er würde sie, ihren Vater und womöglich noch andere Menschen ins Jenseits befördern. Als Polizist standen ihm hierfür zahlreiche Wege offen und er konnte seine Spuren mühelos verwischen.

Nein, dass er jetzt starb, war nur gerecht, und es war besser für alle. Sie wollte Sorge tragen, dass dieser Raum und der darüber liegende mit der Leiche Kites vollständig ausbrannten. Geschwind häufte sie Kartonagen und Papier um den Mann auf und schob das Sofa und die beiden Stühle dicht daneben. Innerhalb einer Minute brannte alles lichterloh. Sie öffnete ein Fenster. Dann zog sie sich eilig zurück, denn es wurde unangenehm heiß hier drin. Schnell durchsuchte sie die drei anderen Räume des Erdgeschosses, eine Küche, ein Bad und einen Lagerraum. Es war überall dunkel, aber es befand sich außer ihr eindeutig niemand mehr im Haus. Auch im Keller sah sie nach. Sie fand einen Lichtschalter. Regale voller Spirituosen und haltbarer Lebensmittel, aber keine lebende Seele. Sie hastete die Treppen hinauf, zurück in die Eingangshalle. Der Raum auf der rechten Seite hatte sich bereits in eine Flammenhölle verwandelt. Das Feuer schlug fauchend durch die Tür, die sie offen gelassen hatte, in den Korridor. Hitze, Qualm und Gestank nach verbranntem Fleisch zogen ihr entgegen.

Veronica rannte nach links, zum Vordereingang. Die Haustür besaß keine Klinke, genau wie alle anderen Durchlässe im Gebäude. Sie brauchte einen Schlüssel! Wo…? Hatte sie ihn etwa…? Sie schaute in Richtung der Feuersbrunst, die keine Rückkehr zulassen würde. Der Schlüssel steckte in der Tür gegenüber, wo sie ihn zurückgelassen hatte, bevor sie in den Keller hinabgestiegen war. Den Versuch, ihn abzuziehen, musste sie abbrechen. Qualm und Hitze ließen es nicht zu, dass sie sich der Tür näherte, doch ohne den Schlüssel gab es keinen Weg hinaus. Die Fenster im Erdgeschoss waren vergittert. Sie saß in der Falle.

44) Verfahren

Es war der heikelste Teil ihres Plans, denn ihre Befreiung und damit ihr Leben hing davon ab, dass sie den Dolch in ihren Besitz bekam. Daher verfolgte ein Teil ihres Bewusstseins mit Interesse jede seiner Positionsveränderungen.

Die Klinge rotierte langsam, während sie einen hohen Bogen durch die Luft beschrieb. Es fehlte nicht viel, dann hätte sie Veronica getroffen. Als Kite die Hände aus seinem malträtierten Schritt zum Hals gerissen hatte, nahmen sie die Waffe mit und gaben sie auf halbem Wege frei. Nachdem sie den höchsten Punkt auf Höhe von Veronicas Ellbogen erreicht hatte, folgte ihre Flugbahn wieder der Schwerkraft. Knapp hinter Veronica bohrte die gefährliche Spitze sich in die Holzdielen des Bodens. Während die junge Frau ihre Pendelbewegung zum zweiten Mal innerhalb einer Minute aufzuhalten versuchte, achtete sie darauf, ihr nicht zu nahe zu kommen. Zum einen wollte sie natürlich keine Verletzung riskieren; zum anderen hoffte sie, ihre Fußfessel mit der Schneide öffnen zu können.

Zuerst musste sie jedoch neben den Pendelschwingungen auch ihre Muskeln und ihren Geist wieder unter Kontrolle bringen. Ihr Atem ging in schweren, rauhen Stößen, einem halben Grunzen, das womöglich auch in anderen Teilen des Hauses zu hören war. Es ließ sich leider nicht vermeiden. Als ihr Körper wieder still stand, konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit auf die Lunge, holte in regelmäßigen tiefen Zügen Luft durch die Nase und entließ sie in rhythmischen Stößen durch die Lippen. Sie zählte im Stillen mit. Nach etwa dreißig Durchgängen hatte sie sich so weit wieder in der Gewalt, dass sie es wagen konnte, die akrobatischen Anstrengungen zu unternehmen, mit denen sie ihre Fesseln durchtrennen wollte. Sie trippelte zum Dolch, der glücklicherweise fast direkt unter ihrer Aufhängung stecken geblieben war, stützte sich auf den rechten Fuß und begann mit dem linken eine winzige Auf- und Abbewegung. Der Lederstreifen glitt über die Klinge, leistete jedoch einigen Widerstand. Eine ganze Weile war nur das rhythmische Tappen ihrer Fußsohle auf den Dielen zu hören. Veronica musste das Gewicht mehrmals auf das jeweils andere Bein verlagern, bis die Fessel endlich entzwei ging.

Wieder verschnaufte sie einige Minuten. Ihr Rücken schmerzte, die mit frischem Blut versorgten Füße begannen zu kribbeln und ihre Arme und Hände waren ihrer unnatürlichen Haltung wegen beinahe taub. Noch immer lagen zwei schwere Arbeiten vor ihr. Sie musste, den Dolch zwischen die Füße geklemmt, ihre Handfesseln aufschneiden. Es würde unausweichlich dazu führen, dass sie in fötaler Haltung, Steiß voraus, zu Boden fiele. Wahrscheinlich würde es ihr das Becken brechen. Sie brauchte etwas Weiches. Das Bett stand leider außerhalb ihrer Reichweite, stellte sie fest. Keine Chance, die Matratze zu erreichen, um sie mit den Füßen auf den Boden zu ziehen. Kurz erwägte sie, die zerfetzten Überreste des schwarzen Kleides, das Kite ihr im Stürzen vom Leib gerissen hatte, zu verwenden, doch der Stoff war zu dünn, um den Aufprall nennenswert mildern zu können. Sie hätte etwas Ordentliches anziehen sollen, meldete sich eine innere Stimme. Resolut würgte sie sie ab. Es nützte nichts, Fehlentscheidungen zu betrauern; sie ließen sich nicht mehr ändern, und vermutlich böte selbst eine gut gefütterte Daunenjacke zu wenig Puffer.

Da fiel ihr Blick auf den Hünen.


Sie waren natürlich nicht die einzigen Reisenden, die der M6 den Rücken kehrten, um ihr Glück auf Landstraßen zu versuchen. Auch dort bewegte der Verkehr sich nur zähflüssig, aber immerhin bewegte er sich. Trotzdem waren Maria und Zach froh, jenseits der Unfallstelle wieder die wesentlich schnelleren Motorways benutzen zu können. Fast hätten sie der hypnotischen Wirkung des unter ihnen hinwegsausenden Asphaltbandes wegen die Ausfahrt verpasst. Der Mini besaß zum Glück gute Bremsen, und im letzten Moment nahmen sie die Kurve mit quietschenden Reifen. Die schleichende Müdigkeit verflog in Sekunden. Sie würden es brauchen. Der letzte Streckenabschnitt kostete die größte Anstrengung, denn in dieser ländlichen Gegend konnte man sich leicht verfahren. Maria hatte den Weg zum Ferienhaus der Familie noch nie bei Nacht zurückgelegt und hoffte, dass sie trotz der widrigen Umstände die Orientierung behielt.


Donald Wickens lag bequem auf einige Kissen gebettet auf der altmodischen Couch im Zimmer direkt unter Veronicas Gefängnis. Er schaute zur Decke und lauschte den Geräuschen, die durch die Bohlen zu ihm herunter drangen. Holz war ein guter Schallträger. Er hatte ein Bier in der Linken und eine Kippe zwischen den Lippen. Zwar bedauerte er, dieser naseweisen Göre nicht selbst bescheidstoßen zu können, dafür genoss er das akustische Lustspiel, das der Boss mit ihr veranstaltete. Er hörte Kites Schritte, als dieser sein Opfer umrundete, hörte das Reißen des Stoffs, von der Klinge zerschnitten, hörte die Kommentare des Schlossherrn über Veronicas Körper und malte sich die Szene aus, die sich ihm bieten musste. Seine Rechte öffnete Knopf und Reißverschluss seiner Hose, die schnell eng zu werden drohte.

Wieder Schritte über ihm, kurz Stille, dann schrie Veronica heiser, Kite grunzte. Es folgte fast sofort ein schweres Poltern auf den Deckendielen. „Ja, gib‘s ihr feste!“, feuerte Wickens knurrend seinen Boss an. Als hätte Kite ihn gehört, war sogleich ein dumpfer Schlag und ein weiterer lauter Schrei des Mädchens zu hören, während ihr Peiniger undefinierbare tierische Laute von sich gab. Sie japste ein paar Mal stöhnend. Wickens, höchst erregt, lauschte begierig nach weiteren Reizen, doch dann kehrte wieder Stille ein. Er schaute auf die Wanduhr; Punkt Mitternacht. Schnitt Kite ihr gerade die Kehle durch? Enttäuscht seufzte er und wollte sich eben aufsetzen. Es konnte sein, dass der Boss ihn gleich zu sich rief, um die blutige Sauerei aufzuräumen. Doch da erklang von oben ein leises rhythmisches Stampfen. Die Reprise. Ein seliges Grinsen legte sich auf sein Gesicht, während seine Rechte den Rhythmus wie von selbst übernahm.

Nach wenigen Minuten erneut ein Augenblick der Stille. Was geschah nun? Etwas Schweres wurde über den Boden geschleift und mit einem satten Rummsen losgelassen. Schleifen, Rummsen, Schleifen, Rummsen. Im Takt dazu hörte er Veronica grunzen, den Lautäußerungen bei einem Tennismatch der Damen nicht unähnlich. Plötzlich ein schweres Poltern; etwas knirschte und splitterte. Das Mädchen stieß einen lauten, heiseren Schrei aus, Kites Lungen entwich ein hässliches Gurgeln. Wickens verlor die Kontrolle über seinen Körper und glitt in einen tranceähnlichen Wachtraum. Als sein Verstand das Steuer wieder übernahm, herrschte völlige Stille über ihm. Das Bier und das warme Licht der Kerze trugen ihn übergangslos in den tiefen Schlaf danach.


Sie hatten die Orientierung verloren. Es war müßig gewesen, unter den gegebenen Umständen etwas anderes zu erhoffen. Lag der Feldweg, der über eine halbe Stunde bis zum Haus führte, noch vor ihnen oder hatten sie ihn bereits verpasst? Alles sah in der Dunkelheit ganz anders aus, als in ihrer Erinnerung, doch Maria war sich fast sicher, dass sie die Abzweigung übersehen hatten. „Fahr bis zur nächsten Ortschaft“, wies sie Zach an. „Vielleicht können wir jemand nach dem Weg fragen.“

„Um ein Uhr in der Nacht?“, erwiderte der Detektiv zweifelnd. Man merkte ihm die Müdigkeit nach der langen Wegstrecke an. Dennoch weigerte er sich, ihr das Steuer zu überlassen. „Du darfst mich auf dem Rückweg ablösen“, hatte er gesagt. Er folgte jedoch ihrem Rat. Die Ortschaft, die sie gerade erreichten, bestand nur aus einigen wenigen Häusern. Es gab weder Seitenstraßen noch Laternen. Alle Gebäude lagen im Dunkeln, nichts regte sich. Nur in einem Fenster des letzten Hauses, am anderen Ende des Weilers, flackerte einsam das Licht eines Fernsehers. Zach hielt an, stieg aus und ging zur Tür des Gebäudes. Kein Klingelknopf. Er schaute sich suchend um. Da, ein Glockenseil. Er zog daran. Lautes metallisches Geläut, das bestimmt im halben Dorf gehört werden konnte, drang von hinter der Tür nach draußen. Ein Gesicht erschien am Fenster des Raums, in dem der Fernseher stand. Es sah verschlafen aus. Zach winkte. Das Gesicht verschwand wieder, dann öffnete sich eine Tür im Gebäudeinneren; schlurfende Schritte auf einem Dielenboden – unendlich langsam, wie es Zach schien.

„Wer ist da?“, fragte eine schläfrig klingende Stimme.

„Mein Name ist Ziegler. Ich… wir sind auf der Suche nach einem Ferienhaus und haben uns verfahren.“

Das Geräusch eines Riegels, der zurückgeschoben wurde. Die Tür ging halb auf. Ein Mann, vielleicht Mitte dreißig, gekleidet in eine von Trägern gehaltene Anzughose und Feinrippunterhemd, sah ihn müden Blickes an.

„Ich hoffe, wir haben Sie nicht geweckt“, erkundigte sich Zach.

„Kein Problem. Ich habe Fahrbereitschaft und bin vor dem Fernseher eingenickt. Danke für‘s Wecken.“ Ein Lächeln flog über das Gesicht des Mannes. „Wo soll‘s denn hingehen?“

Nun bemerkte der Detektiv das in die Jahre gekommene schwarze Taxi, das in einer offenen Garage neben dem Haus stand. „Ihres?“, fragte er, mit einer Kopfbewegung in Richtung des Wagens. Der Mann nickte. Zach sagte: „Hier in der Nähe gibt es einen abseits gelegenen alten Hof, der von unseren Freunden in Liverpool als Ferienwohnung benutzt wird. Kennen Sie den?“

„Den von den Beatles-Freaks?“, fragte der Taxifahrer zurück, das Gesicht skeptisch verzogen.

„Genau den“, bestätigte Zach, erleichtert, dass ihnen das Glück gleich bei der ersten Erkundigung wohl gesonnen war.

„Mann, Mann, ihr Stadtleute habt echt Nerven!“, kam die etwas unwillige Erwiderung.

Der Detektiv hätte gern gewusst, welche Bewandtnis es mit der Bemerkung hatte, befürchtete jedoch eine Tirade auszulösen, falls er fragte. Also erkundigte er sich erneut nach dem Weg: „Tut uns wirklich leid für die Störung. Können Sie uns sagen, wo wir abbiegen müssen, um hinzugelangen? Ich nehme doch an, die Zufahrt mündet hier in diese Straße; richtig?“

Der Taxifahrer erklärte ihm den Weg.

42) Auf sich allein gestellt

Desmond war ohne weiteren Kommentar durch die Tür nach draußen entschwunden. Sie hörte ihn die Treppe hinuntergehen. Veronica blieb sich selbst überlassen in dem Raum zurück. Das zur Decke führende Seil hielt ihre Arme nach oben ausgestreckt, so dass sie sich weder setzen noch hinlegen, sondern nur stehen oder hängen konnte. Stehfolter, dachte sie. Doch schlimmer als das Stehen empfand sie das Kribbeln in ihren Armen und Händen, gegen das sie nichts unternehmen konnte. Sie drehte sich um ihre eigene Achse, um den Raum in Augenschein zu nehmen. Der stechende Kopfschmerz hatte etwas nachgelassen und auch ihr Sehvermögen stabilisierte sich so langsam. Leider herrschte nun finstere Nacht. Ohne den Mond und ohne eine künstliche Beleuchtung in der Nähe spendete nur das Band der Milchstraße ein schwaches Licht, das die Gegenstände in ihrem Gefängnis als undeutliche Schemen, schwarz vor dunklerem Schwarz, erkennen ließ.

Es gab ein kleines quadratisches Tischchen oder Schränkchen unter dem rechten Fenster; sie sah nur die Deckplatte. Rechts daneben, in einer Ecke des Raums, zeichnete sich wegen der vermutlich weißen Laken etwas heller ein Bett ab. Unter dem anderen Fenster sah es so aus, als stünde dort ein Stuhl. Links an der einwärts führenden Wand sah sie die Umrisse des eisernen Leuchters, an dem ihr Seil befestigt war. Am anderen Ende der Wand hing ein weiterer, meinte sie zu erkennen. Es folgte die Zimmerecke, auf deren Existenz sie nur schließen konnte, denn die Innenwand lag vollständig im Schatten. Außer der mittig angebrachten Türöffnung, die sie gesehen hatte, als Desmond hindurchgegangen war, kannte sie keine Details ihrer Beschaffenheit.

Noch immer wusste sie nicht, wie spät es war. Als sie aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war, hatte sie gerade noch die letzten Augenblicke der Dämmerung erlebt. Wie lang hatte sie mit Wickens gesprochen? Es mochten fünfzehn oder zwanzig Minuten gewesen sein, plus die Zeit, die sie auf die Inspektion des Raums verwendet hatte. Sie schätzte, es musste nun halb acht Uhr sein. Sie drehte sich der Fensterseite zu. Ihr Blick wanderte hinaus zum Sternenhimmel. Die Stellung der Konstellationen über dem Horizont sagte ihr, dass ihre Schätzung gut getroffen war. Ab jetzt würde ihre innere Uhr mitlaufen, die sie zuletzt im Wallace-Schloss trainiert hatte. Das verschaffte ihr drei Annehmlichkeiten: Sie würde orientiert bleiben, sie wäre beschäftigt und es beruhigte die Nerven. Wenn sie eine Chance haben wollte, hier lebend und un… Sie schauderte, als Marias Beschreibung aus ihrer Erinnerung aufstieg, wie Kite mit Kirk umgesprungen war.

Wenn sie hier lebend herauskommen wollte, griff sie den Gedanken neu auf, musste sie voll konzentriert bleiben. Sie musste jeden noch so kleinen Vorteil mit maximaler Wirkung gegen ihre Entführer einsetzen. Einer dieser Vorteile bestand darin, dass man sie wahrscheinlich unterschätzte. Mit ihren fünf Fuß zehn war sie nicht übermäßig groß; sie war jung und hatte ein sanftes Gesicht, und sie hatte ihre Kenntnis verschiedener Kampfsportarten noch nicht in Liverpool anwenden müssen. Das Überraschungsmoment war auf ihrer Seite, aber natürlich nur ein einziges Mal. Sie würde Erfolg haben oder… Der Gedanke war müßig.


„Ist es möglich, dass der Polizist meinte, Desmond sei nur im Moment abwesend?“, fragte Maria Borghese.

Zach schüttelte energisch den Kopf. „Nein, er hat ausdrücklich gesagt, der Kommissar sei heute nicht im Dienst. Er war jedoch auf der Wache und hat diese laut Angaben des Jungspunds an der Rezeption zusammen mit Veronica verlassen. Wenn er nicht am Fall Senfkorn arbeitet, wo könnte er dann hingegangen sein?“

„Frag mich etwas Leichteres. Das einzige, das mir einfällt, ist unser Ferienhaus an der schottischen Grenze.“

„Du meinst, Kirk befindet sich dort und sie sind hingefahren? Gibt es ein Telefon im Haus?“

„Das Gebäude liegt dermaßen abseits, dass wir mehrere Kilometer Kabel aus eigener Tasche hätten bezahlen müssen. Das war es uns nicht wert, zumal man ja ein Mobiltelefon mitnehmen kann, wenn man erreichbar sein möchte. In der Regel wollten wir aber nur unsere Ruhe.“

Zach richtete sich plötzlich in seinem Sitz auf der Rückbank des Taxis auf, das sie ins Stadtzentrum trug. „Ha! Du bist ein Genie!“ Er drückte Maria einen Kuss auf die Wange.

„Ich weiß,“ sagte sie lächelnd, „ aber womit habe ich deine Lobpreisung verdient?“

„Mir hätte schon längst einfallen können, Kirk mittels Handy-Ortung aufzuspüren.“ Die restlichen Fahrminuten schwieg der Detektiv. Er rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her. Als sie endlich vor dem Laden angekommen waren, warf er eine Einhundert-Pfund-Note auf den Beifahrersitz und sprang ohne weiteres Aufhebens aus dem Wagen.

Maria bedankte sich beim Fahrer. „Behalten Sie den Rest“, sagte sie. Dann folgte sie Zach in den Laden. Als sie die Tür hinter sich schloss, war er schon nirgends mehr zu sehen.


Die Zeit verrann, ihre innere Uhr tickte mit. Veronica begann, sich Pläne für mehrere Szenarien zurechtzulegen. Als sie zufrieden war, dachte sie an ihren Vater. Er vermisste sie bestimmt schon seit der Mittagszeit. Was würde er unternommen haben, als klar war, dass sie sich wahrscheinlich in Schwierigkeiten befand? Bestimmt drehte er jeden Stein auf der Suche nach ihr um, doch ob er in der Lage war, ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort nicht nur in Erfahrung zu bringen, sondern auch rechtzeitig zu erreichen, musste sie bezweifeln. Also: keine Fehler! Sie war auf sich allein gestellt.

Die Detektivin überlegte gerade, ob sie ihren Geist und die Beine erfrischen sollte, indem sie zu schlafen versuchte, oder ob sie Hände und Arme noch etwas schonte, um sie gegebenenfalls gegen Kite einsetzen zu können. Alles hing davon ab, wie lange man sie noch in dieser quälenden Haltung stehen ließ. Ihre innere Uhr zeigte elf. Sie hörte draußen einen Käfermotor näherkommen. Das Geräusch war einfach mit nichts zu verwechseln. Das musste Kite sein. Man hatte ihr die Entscheidung abgenommen: Sie würde wach bleiben.

Das Knattern erstarb. Eine dünne Blechtür wurde zugeschlagen. Kurz darauf hörte sie den satten Ton der ins Schloss fallenden schweren Haustür. Ein kurzer unverständlicher Wortwechsel zwischen zwei Männern. Danach herrschte wieder Stille.


Der Laptop fuhr in nervenzerfetzend geringer Geschwindigkeit hoch. Kurz vor der Passworteingabe blieb er stecken. Zach fluchte und startete den Rechner neu. Maria legte eine Hand auf seinen Arm. „Vielleicht sollten wir Pauls Arbeitsrechner benutzen. Der läuft sehr viel schneller. Außerdem wird er besser gegen Schnüffelversuche abgesichert sein.“

„Ich brauche ein paar Spezialprogramme. Ohne die geht‘s nicht weiter.“ Zach presste die Lippen zusammen.

„Nimm den Laptop mit. Wir können ja parallel arbeiten“, erwiderte sie.

Maria fand tatsächlich einige nützliche Anwendungen auf Pauls Rechner, bevor es Zach gelang, den Laptop ans Laufen zu bringen. Der Detektiv hob eine Augenbraue, wunderte sich über die ungewöhnliche Ausstattung, stellte aber keine Fragen. Zu seiner Enttäuschung half ihnen das Ergebnis ihrer Recherche nicht weiter. Kirks Mobilnummer war seit einem Monat offline. Zuletzt war sie bei ihr zuhause registriert worden.


Eine halbe Stunde nach Eintreffen des Wagens hörte Veronica schwere Schritte auf der Treppe, dann auf den Holzdielen des Gangs. Vor ihrem Zimmer legte der Mann (?) eine Pause ein. Ein Schlüsselbund klackerte und klirrte, Metall schabte über das Holz der Tür. Mit einem Klicken öffnete sie sich. Licht fiel durch den schnell breiter werdenden Spalt. Es blendete sie, da ihre Augen auf die tiefe Dunkelheit des nächtlichen Raums eingestellt waren. Sie schloss die Lider gerade rechtzeitig, bevor grelle Wandlampen neben der Tür aufflammten. Die Gestalt, die sie kurz davor im Rahmen gesehen hatte, gehörte unverkennbar dem Schlossbesitzer mit seiner großen, kräftigen Figur. Sie hielt die Lider noch immer zugekniffen, als er sie ansprach.

„Welch seltenes Vögelchen hat sich da in meiner Falle gefangen? Hmhm!“, höhnte er im Tonfall eines Snobs. Als sie nicht reagierte, sagte er: „Du kannst die Augen wieder öffnen. Ich werde dich nicht fressen – jedenfalls nicht sofort.“ Wieder lachte er, doch diesmal ohne die geringste Spur von adligem Getue. Die Hyäne hatte die Oberhand gewonnen.

Vorsichtig linste Veronica aus zu schmalen Schlitzen verengten Lidern hervor. Das Licht blendete sie noch immer. Ihr Kopfschmerz flammte wieder auf, wenn auch ohne nennenswerten Biss. Gut. Zumindest würde sie sich konzentrieren können, wenn es die Situation erforderte. Hinter Kite, der sich direkt vor ihr aufgebaut hatte, sah sie Wickens im Türrahmen stehen. Ohne sich umzudrehen signalisierte der Hüne, der Polizist möge sie allein lassen. Desmond gehorchte. Die Tür fiel ins Schloss. Wie ihre Schwestern im Untergeschoss besaß auch sie keine Klinken, weder außen noch innen, bemerkte die junge Frau.

„Desmond hat mir berichtet, dass du die Kooperation verweigerst“, sagte Kite.

Veronica bemerkte die Klinge in seiner rechten Hand, einen zweischneidigen sehr kurzen Dolch. Ihr stockte der Atem. Sie hatte mit einer Pistole gerechnet und würde nun ihre Pläne buchstäblich aus dem Stand der neuen Situation anpassen müssen. Sie lachte unsicher.

„Das Lachen wird dir schon noch vergehen. Sieh, es ist nicht weiter schlimm. Im Grunde plagt mich nur die Neugier, wie weit ihr mit eurem albernen Detektivspiel gekommen seid. Ich glaube nicht, dass es euch gelungen ist, Beweise gegen mich zu sammeln. Falls doch – ich habe den guten Desmond Jones, der polizeiliche Ermittlungen stets von mir ablenkt.“ Der Dolch wanderte von der rechten in seine linke Hand, dann wieder zurück.

„Was haben Sie vor?“, fragte Veronica.

„Was ich vorhabe? Das liegt doch auf der Hand! Ich schaffe zuerst dich aus dem Weg, anschließend deinen Vater.“

„Das wird Ihnen überhaupt nichts bringen!“, rief sie. „Die gesamte ‚Familie‘ weiß bescheid. Wollen Sie die alle umbringen?“

„Das könnte ich natürlich. Es sind eh nur noch wenige übrig. PC31 habe ich als ersten erledigen lassen. Kirk hat meinen Dobermännern sehr gut geschmeckt, und gestern ist Mr Mustard zur Strafe für den Diebstahl über die Klinge gesprungen…“

Gegen den Entschluss, ihre Gefühle streng im Zaum zu halten, durchlief ein Schock Veronicas sämtliche Glieder. Ihre Lippen formten ein O. Sie wurde kreidebleich. Ohne das Seil, das sie in aufrechter Stellung hielt, hätte sie womöglich das Gleichgewicht verloren.

„…aber so weit brauche ich gar nicht zu gehen“, fuhr Kite fort. „Keine von diesen Memmen wird es wagen, einen Finger gegen mich zu erheben… Was ist? Wird dir übel? Soll ich den Onkel Doktor holen?“ Er verzog abschätzig den Mund. „Nein, den Anruf kann ich mir sparen. Bis er hier eintrifft, brauchen wir eher einen Bestatter.“ Er kicherte.

Veronica spuckte ihm ins Gesicht. Zum einen befriedigte sie damit ein tiefes Bedürfnis, zum anderen hoffte sie, ihn zu unbedachten Handlungen zu provozieren. Doch der Hüne wischte sich nur mit dem linken Ärmel den Speichel von der Wange. „Natürlich bist du sauer. Was habe ich erwartet?“ Dann setzte er wieder sein fieses Grinsen auf. „Du gefällst mir. Endlich eine, die Widerstand leistet. Ich liebe Herausforderungen.“ Seine Rechte fuhr nach vorn, dicht vor ihren Bauch, und ließ den Dolch in atemberaubender Geschwindigkeit zwischen Daumen und Zeigefinger kreiseln. Die junge Frau blieb unbewegt stehen. Sie starrte ihm feindselig in die Augen.

„Das Schicksal hat bestimmt, dass wir heute eine Neumondnacht haben;“ bemerkte Kite, „wie geschaffen für ein kleines Ritual. Hast du Lust?“

41) Selbstmord?

Die Stimme explodierte in Veronicas Gehörgängen wie ein brutal übersteuerter Konzertlautsprecher. Sie zog eine Grimasse. Langsam drehte sie sich auf die Seite und winkelte die Ellbogen an, um sich aufzurichten.

„Lass dir helfen“, sagte die Stimme. Es klang wie ein Brüllen. Hand über Hand zog der Polizist geschwind an dem Seil. Über ihr quietschte Metall. Dann spannte sich der Strick und riss die Arme unter ihr weg. Schmerzhaft klatschte sie mit Brust und Bauch auf den Boden, wurde aber sogleich an den Händen in die Höhe gerissen, wobei sich ihr Rücken bis zur Grenze des Erträglichen durchbog. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten entfuhr ihr ein Schrei. Der Strick schleifte sie ein Stück nach vorn, während er ihren Körper in aufrechte Stellung zog, zunächst auf die Knie, dann auf die Füße. Bei dem Versuch, Halt zu finden, spürte sie, dass auch diese gefesselt worden waren.

Sie stand nun, an den eigenen Armen hängend, zu fast voller Höhe aufgerichtet. Die Aufwärtsbewegung stoppte. Desmond war drei Schritte zurückgetreten. Er wickelte das Seil um die schmiedeeiserne Halterung einer klotzigen Wandlampe. Er kam wieder näher, umrundete ihre Gestalt. Mit kurzen Blicken prüfte er den Sitz der Lederstreifen um ihre Hand- und Fußgelenke. „So gefällst du mir besser“, sagte er. „Du hast wohl geglaubt, du kannst mich drankriegen, hm? Da musst du früher aufstehen.“

Veronica schwieg. Sie fühlte sich noch zu schwach, um auf eigenen Beinen zu stehen. Das Bild, das ihre Augen lieferten, wurde immer wieder unscharf. Der Polizist legte eine Hand auf ihre linke Hüfte und begann ihren wie ein Sack an dem Strick hängenden Körper erneut im Uhrzeigersinn zu umrunden, wobei er die Hand erst über ihren Bauch, dann die rechte Hüfte und schließlich ihr Kreuz gleiten ließ. Die Furcht, dass aus der Belästigung Missbrauch werden könnte, schoss weitere Nadeln in ihr Hirn, gab ihr aber gleichzeitig die Kraft, die Kontrolle über ihren Körper wieder zu erlangen. Sie drückte die Knie durch. Endlich stand sie auf ihren Fußsohlen. Um Desmond aus seinen Phantasien zu reißen, sprach sie ihn an: „Wo ist Kirk? Was haben Sie mit ihr gemacht?“

Der Polizist, der nun wieder links neben ihr stand, lachte, schüttelte den Kopf, lachte erneut. „Die gute Duchess feierte ein Wiedersehen mit ihrem Märchenprinz“, raunte er ihr ins Ohr. „Ich glaube, die beiden hatten eine ganze Menge besprechen.“ Seine Hand strich in einer illustrativen Geste über ihren Hintern.

„Ist sie hier?“, würgte Veronica hervor.

„Nie gewesen.“ Der Polizist überlegte. „Eines der Dinge, die wir von ihr in Erfahrung zu bringen versuchten, ist der Verbleib des Fotos. Weißt du zufällig, wer es gestohlen hat?“

„Ja…“, sagte Veronica, der ein Ausdruck von Ekel über die Gesichtszüge lief.

„Geht‘s auch ein bisschen konkreter oder muss ich es dir mit einem Angelhaken aus der Nase ziehen?“

„Sie selbst, Wickens. Sie haben das Bild aus den Polizeiarchiven gestohlen.“

Donald Wickens alias Desmond Jones verlor für einen Moment die Fassung. Mit hassverzerrter Grimasse spuckte er: „Das hat dir der Teufel verraten!“

Es war ihrer prekären Lage unangemessen, doch Veronica konnte das Lachen, das aus ihr hervorbrach, beim besten Willen nicht zurückhalten. Zu sehr erinnerte Desmonds Ausbruch an das Märchen vom Rumpelstilzchen. Es fehlte nur noch, dass er mit dem Fuß aufstampfte und im Boden versank. „Genau der ist es gewesen“, prustete sie.

Der Fausthieb, der sie in die Niere traf, kam unerwartet, und er trieb ihr alle Luft aus den Lungen. Ihre Beine gaben nach, sie baumelte erneut an ihren Handgelenken vom Kälberstrick. Wutentbrannt trat Desmond in ihr Sichtfeld. Es sah aus, als wolle er sie auch von vorn bearbeiten, doch er hatte sich schon wieder im Griff. „Halt dein loses Mundwerk im Zaum oder ich vergesse, dass du für den Chef reserviert bist“, zischte er. „Los, sag mir, was du und dein Alter herausgefunden habt. Vielleicht lässt Kite dann noch genug von dir übrig, dass du aus eigener Kraft von hier rauskriechen kannst.“

„Andernfalls passiert… was?“, wagte sie ihn herauszufordern, da er offenbar Befehl hatte, sie in Ruhe zu lassen. Vielleicht konnte sie ihm nützliche Informationen entlocken.

„Andernfalls kommst du auf einem Altar zu liegen. Oder Kite überlässt dich mir, wenn er mit dir durch ist. Es wird mir eine ganz besondere Freude sein, dich möglichst lange am Leben zu halten.“ Ein Grinsen mit weit aufgerissenen Augen und gebleckten Zähnen huschte über seine Visage. Die Dämonenfratze verschwand so schnell wieder, wie sie erschienen war. „Leider war mir mit deinem Onkel weniger Zeit vergönnt. Ich musste kurzen Prozess machen. Befehl ist Befehl.“

Veronica, die sich aufgerappelt hatte, öffnete den Mund. „Sie…?“

„Ja, ich. Kite trug mir auf, Paul anzurufen und ihm mitzuteilen, dass das Treffen verschoben sei. Aus irgend einem Grund schien der Penner ganz froh darüber zu sein. Nachts um halb vier ging ich dann zum Laden und klingelte ihn raus. Er machte auf und ich sagte, es gäbe etwas Wichtiges zu besprechen. Wie erwartet führte er mich nach hinten. Ich streckte ihn mit sechs Stichen in Kreuzform nieder, genau um 3:33 Uhr. Dann plünderte ich die Kasse, um eine falsche Spur zu legen, und ging zum Wagen zurück.“ Der Polizist schien mich seiner Leistung zufrieden zu sein.

An Veronicas staubverschmierten Wangen bahnten Tränen zwei Flüsse bis zum Kinn. „Warum?“, wimmerte sie, „Warum nur?“

„Na, du kannst Fragen stellen… Zur höheren Ehre Luzifers natürlich – und damit der blöde Sack das Maul darüber hält, was in dem Manuskript steht oder wer es jetzt besitzt.“

„Verdammte Schweine!“, presste die junge Frau zwischen zwei Schluchzern hervor.

„Sieht nicht so aus, als könnte ich dich überzeugen, mit mir auszugehen.“ Desmond kicherte. „Wie dem auch sei, ich habe Kite informiert. Er müsste bald eintreffen. Soll der entscheiden, wie es mit dir weitergeht. Ich denke, wir können noch mehrfach Nutzen aus dir ziehen, bevor wir dich entsorgen.“


Er hinterließ eine Notiz für Veronica an der Tür zum Hinterzimmer, dann verließ Zach den Laden. Ein Taxi wartete bereits vor dem Fab Store auf ihn. Innerhalb fünfundzwanzig Minuten erreichte das Fahrzeug die Straße, in der Mr Mustard wohnte. Polizeifahrzeuge blockierten die Zufahrt. Zach stieg aus und ging zur Barriere. Ein Beamter trat auf ihn zu. „Sie können hier nicht weitergehen,“ sagte er, „wir haben die Straße für Ermittlungszwecke gesperrt.“

Hielt der Mann ihn für blind? Am liebsten hätte er ihn einfach beiseite geschoben, aber das war natürlich nicht ratsam, wenn man an seiner Freiheit hing. Er versuche es stattdessen mit einem Trick: „Mein Name lautet Ziegler. Ich habe einen Termin bei Kommissar Wickens. Man sagte mir, er leite die Untersuchung hier.“

Das Gesicht des Uniformierten verwandelte sich plötzlich in eine steife Maske. „Papiere!“, herrschte er den Detektiv an. Zach reichte ihm seinen Ausweis. Der Polizist rief einen Kollegen herbei und zeigte ihm das Dokument. Die beiden flüsterten kurz miteinander, dann ging der Kollege mit dem Ausweis zu einem der Fahrzeuge hinüber. „Was wollen Sie von Kommissar Wickens?“, fragte der Polizist.

„Mit Verlaub, das geht nur ihn und mich etwas an.“

„Er ist heute nicht im Dienst. Wer hat Sie hierher geschickt?“

Was geht hier vor sich?, überlegte Zach. Ein Todesfall mit seltsamen Umständen, der Leiter der Mordkommission nicht im Dienst, und dann dieses Quasi-Verhör – hier stimmte entschieden ganz und gar nichts. Ohne mit der Wimper zu zucken sagte er: „Der junge Mann an der Rezeption des Reviers. Naja, wenn der Kommissar schon fort ist, kann man nichts machen. Wissen Sie zufällig, wo ich ihn finde?“

„Tut mir leid, darüber kann ich Ihnen gegenüber keine Angaben machen. Und nun verlassen Sie bitte den Ort. Es gibt hier nichts zu sehen!“

Fast hätte Zach laut aufgelacht. Das sah den Bullen wieder ähnlich. Ein Mann lag in seinem eigenen Blut, doch nein, es gab hier nichts zu sehen. „In Ordnung. Könnte ich bitte meinen Ausweis zurück haben? – Danke, Officer.“

Der Detektiv wanderte zur anderen Straßenseite, wo eine kleine Menschenmenge auf dem Gehweg stand. Einige diskutierten angeregt, die meisten anderen starrten neugierig herüber, in der Hoffnung, einen Blick auf die Geschehnisse am Tatort erhaschen konnten. Sein kleiner Wortwechsel mit dem Polizisten war eine willkommene Abwechslung gewesen, die die wahrscheinlich seit Stunden andauernde Ereignislosigkeit unterbrach. Routinemäßig prüfte er die Gesichter der Anwesenden, suchte nach besonderen Gefühlsregungen und speicherte seine Eindrücke in einer eigens dafür reservierten Ecke seines Gedächtnisses. Er entdeckte Maria Borghese etwas abseits der Menge. Sie unterhielt sich mit einer kleinen schmächtigen Frau gehobenen Alters. Beide sahen mitgenommen aus. Er trat hinzu und sagte: „Grüß dich, Maria.“

„Zach, was machst du denn hier?“ Sie umarmten einander kurz.

„Ich bin auf der Suche nach Veronica und Desmond, und dachte, ich versuche mein Glück einmal hier“, sagte der Detektiv, nachdem sie wieder auf Abstand gegangen waren.

„Es gibt keine Neuigkeiten. Sie lassen nichts heraus“, erwiderte die Italienerin. Mit gesenkter Stimme fuhr sie fort: „Ohne meine Freundin hier, eine von Mr Senfkorns Nachbarinnen, würde ich völlig im Dunkeln tappen.“ Sie stellte die beiden einander vor.

Die ältere Dame hieß Cilia Appleby. Sie trug eine dünnrandige Brille mit einer Silberkette um den Hals und machte einen aufgeweckten Eindruck. Ihr listiger Blick glitt schnell über die versammelten Menschen, wohl um sicherzustellen, dass niemand Interesse an ihnen zeigte. Die Erkundung schien zu ihrer Zufriedenheit ausgefallen zu sein, denn sie sagte leise: „Ich war eine der ersten, die den Leichnam gefunden hat. Mr Senfkorn lag in seinem Wohnzimmer in Hockstellung auf der Seite, ein kleines Loch im Nacken und ein weiteres im Hinterkopf. Das halbe Gesicht war weggesprengt…“ Sie schüttelte sich. „Da habe ich entschieden, dass ich nicht als Zeugin in Erscheinung treten werde. Das ist mir zu heiß. Wissen Sie, junger Mann, ich war früher Kriegsberichterstatterin für die Times. Ich erkenne eine Hinrichtung, wenn ich eine sehe, und ich habe kein Bedürfnis, den Leuten, die das verbrochen haben, im Wege zu stehen.“

„Eine weise Entscheidung. Ich habe mich vor etwa einer Stunde auf der Polizeiwache nach dem Fall erkundigt. Ein Beamter antwortete mir, dass er zu diesem Selbstmord nichts sagen könne.“ Er ließ die Brauen tanzen. Sowohl Maria als auch Cilia Appleby rissen die Augen auf. „Machen wir, dass wir hier weg kommen. Mein Taxi wartet an der nächsten Straßenecke.“

Maria drückte die alte Dame herzlich, dann verabschiedeten sie sich.

40) Gefesselt

Hecken und niedrige Natursteinmauern behinderten die Sicht. Der Weg führte mehrere Kilometer lang einspurig über holprige Traktorpfade. Im tief liegenden GT war von der Landschaft wenig zu sehen. Er rollte wegen seiner zu geringen Bodenfreiheit außerdem lediglich in Fahrradgeschwindigkeit seinem Ziel entgegen. Wer hier draußen lebte, sollte besser in keine Situation geraten, die schnelle Hilfe von außen erforderte, dachte Veronica. Bis Krankenwagen, Polizei oder Feuerwehr einträfen, hätte sich das Problem von selbst erledigt, wenn auch nicht notwendigerweise zum Guten. Doch schließlich deutete Desmond auf eine Öffnung in dem Wall, dem sie seit einigen Minuten schon gefolgt waren. Sie bog ab, und da war es: das Ferienhaus der ‚Familie‘.

Seine Form lies auf ein historisches Bauernhaus schließen, dessen Erbauer wohlhabend gewesen sein mussten, denn es besaß sowohl einen großzügigen Grundriss als auch ein zweites Stockwerk. Es war gut in Schuss gehalten worden; der Dachstuhl hing nicht durch, die Schindeln glänzten im Sonnenlicht, die Wände standen gerade und waren sauber verputzt. Doch das Gebäude sah verlassen aus. Die Holzläden an den Fenstern des Erdgeschosses waren sämtlich geschlossen. Keine Wäsche hing zum Trocknen auf der Leine, kein Fahrzeug stand im Hof.

Das Gefühl von weiträumiger Einsamkeit war mit Händen zu greifen. Wenn man ein bisschen Abstand zur Zivilisation brauchte, konnte dieser Ort Balsam für die geschundene Seele bieten. Doch sie suchten ja nicht das Alleinsein, sondern eine junge Menschin, die seit einem Monat aus Liverpool verschwunden war. Wenn sie sich hier draußen befand, verheimlichte sie ihre Anwesenheit sogar vor jenen, die sich zufällig in diese gottverlassene Gegend verirrten. Und wer an einem ohnehin versteckt liegenden Ort seine Spuren verwischte, hatte Grund zur Furcht. Veronica spürte Kribbeln im Bauch, das Kitzeln einer Intuition, die wenig Gutes verhieß. Es gelang ihr auf den wenigen Metern, die der GT brauchte, um auszurollen und stehen zu bleiben, jedoch nicht, eine Ursache dafür zu ergründen. Sie stellte den Motor ab.

Sie öffneten die Fahrzeugtüren nicht sofort aus, sondern blieben einen Augenblick sitzen. und lauschten den Geräuschen, die durch die heruntergekurbelten Seitenfenster hereindrangen. Abgesehen vom Knacken des Motors, der abzukühlen begann, hörten sie lediglich einige Singvögel und das Säuseln eines leichten Windes. Ihre Augen suchten die Hausfront und die nähere Umgebung ab, doch an dem Eindruck von Verlassenheit änderte sich nichts. Veronica sah Desmond fragend an. Er schaute zurück, dann deutete er durch eine Kopfbewegung an, sie sollten zur Haustür gehen. Also stiegen sie aus. Veronica zog das halblange schwarze Kleid glatt, das vom Sitzen zerknittert war.

Langsam näherten sie sich der Eingangstür, die die Längsseite mittig in zwei gleich große Hälften teilte. Dem wuchtigen Rahmen und der groben Machart der Tür nach zu urteilen musste sie dem Ansturm eines Rammbocks standhalten können. Der Polizist griff in eine der Taschen seiner ärmellosen Strickjacke. Ein Sicherheitsschlüssel kam zum Vorschein. Er steckte ihn ins Schloss und drehte zwei Mal. Ein leises Klickern verkündete, dass der Mechanismus den Weg freigeben würde. Das Türblatt gab dem Druck der Schultern des Mannes sofort nach. Es schwang ohne Geräusch nach innen und zeigte sich im Profil genau so kräftig, wie Veronica vermutet hatte. Desmond trat ein; die Detektivin folgte ihm dichtauf. Er schloss die Tür sofort wieder. Sie rastete mit sattem Ton ein.

Sie befanden sich in einem Gang, der, wie es für sie aussah, durch das ganze Haus bis zur rückwärtigen Außenmauer verlief, wo eine weitere massive Tür wieder nach draußen führte. Rechts und links gingen je zwei Türen ab. Zwischen ihnen sah Veronica auf der linken Seite eine Treppe nach oben und direkt gegenüber eine eben solche nach unten führen. Eine dünne Staubschicht bedeckte den Boden. Nichts wies darauf hin, dass das Haus derzeit eine Bewohnerin hatte. Sie wollte sich eben zu Desmond umdrehen, um ihn zu fragen, weshalb keine der Türen eine Klinke besaß, da traf sie ein harter Schlag an der linken Schläfe. Sie rollte die Augen nach oben und fiel bewusstlos zu Boden.


Gegen halb zwei verließen Henry und Maria den Laden. Beide umarmten Zach noch einmal und sprachen ihm Mut zu. Der Detektiv brütete weitere zwanzig Minuten über der Geschichte von Mustards Tod, bevor ihm einfiel, dass Veronica aufs Polizeirevier gefahren war. Sie sollte eigentlich längst zurückgekehrt sein. Da er es nicht länger allein aushielt, schnappte er eine Jacke und ging zu Fuß zur Wache. So würde er nebenbei vielleicht Gelegenheit erhalten, ein paar Worte mit Wickens zu wechseln, der ihm, wenn er darüber sprechen durfte, bestimmt mehr über Mustards Tod erzählen konnte als das Lokalradio. Doch an der Rezeption teilte ihm ein junger Polizist mit, dass der Kommissar und Veronica bereits am frühen Morgen das Haus mit unbekanntem Ziel verlassen hatten. Über den Stand der Ermittlungen zum Selbstmord des reichen Sammlers dürfe er nichts sagen. Es werde aber nach Rückkehr des Kommissars eine offizielle Verlautbarung geben.

„Sagten Sie ‚Selbstmord‘?“ fragte Zach verdutzt.

„Tut mir leid, ich darf Ihnen wirklich keine weiteren Auskünfte erteilen.“

Zach schaute den jungen Uniformierten zweifelnd an, dann machte er kehrt, um nach Hause zurück zu gehen. Ein Gefühl der Beklemmung nistete sich in seinem Geist ein. Wo befanden sich Wickens und Veronica? Redeten sie noch immer miteinander? Er glaubte eher, dass sie schon getrennter Wege gingen. Wickens mochte sich zwecks Ermittlungen am Tatort befinden; Veronica wollte ein paar Besorgungen erledigen. Sie bummelt womöglich gerade durch die Innenstadt und konnte jederzeit wieder im Laden eintreffen. Er beschleunigte seine Schritte. Doch als er den Fab Store in den Rainford Gardens betrat, fand er das Gebäude verlassen vor. Zach beschloss, noch ein wenig zu warten. Er setzte zwei Tassen Kaffee auf, die er, als die Brühe durchgezogen war, umgehend hinunterstürzte. Er ging zum Telefon neben der Registrierkasse, nahm den Hörer ab und rief Molly Jones, Wickens‘ Frau, an ihrem Arbeitsplatz bei Notar Miller an.

„Mrs Wickens, guten Tag. Hier spricht Zachary Ziegler.“

Good day, Mr Ziegler“, flötete die Sekretärin. „Was können wir für Sie tun?“

„Mrs Wickens, entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich suche nach Ihrem Mann. Auf der Wache teile man mir mit, er habe das Gebäude in der Frühe verlassen. Wissen Sie zufällig, wohin er gegangen ist?“

„Nein, da kann ich Ihnen leider nicht helfen. Er sagt mir selten, was er tagsüber unternimmt. Das bringt sein Beruf so mit sich, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sie hatten doch einen Termin mit ihm. Ist er nicht erschienen?“

„Eine andere Verpflichtung kam mir dazwischen. Veronica ging an meiner statt zum Gespräch. Seither sind die beiden verschwunden.“

„Ach, die werden schon wieder auftauchen. Machen Sie sich keine Sorgen“, erwiderte die Sekretärin gut gelaunt.

„Wahrscheinlich haben Sie recht“, erwiderte Zach. „Haben Sie übrigens heute die Lokalnachrichten gehört?“

„Dazu hatte ich keine Zeit. Es war viel Betrieb bei uns. Wie hoch hat der FC Liverpool gewonnen?“

„Keine Ahnung. Ich meinte die Meldung über Mr Mustard.“

„Mustard? Hält er wieder peinliche Reden über Corbyns angeblichen Antisemitismus?“

„Kaum. Er wurde gestern Nacht erschossen.“

„Erschossen?“, quiekste es aus dem Schellack-Hörer.

Zach nickte. Dann fiel ihm ein, dass sie es nicht sehen konnte. Er sagte: „Ja. Es kam kurz nach zehn Uhr im Radio. Wissen Sie, ob er sich Feinde gemacht hat?“

„Zeigen Sie mir einen Juden, der keine Feinde hat. Aber gleich erschießen? Wer macht den so etwas?“

„Wir werden es früh genug erfahren, hoffe ich. Schalten Sie das Radio ein. Die Polizei will bald eine Stellungnahme abgeben.“

„Mache ich. Mr Ziegler, ich muss nun leider das Gespräch beenden. Soeben sind Kunden eingetreten. Richten Sie Veronica Grüße von mir aus, wenn sie zurückkehrt. Auf Wiedersehen!“

„Auf Wiedersehen, Mrs Wickens.“ Er legte auf.

Zach knirschte mit den Zähnen. „Verdammt!“, knurrte er. Seine beiden aussichtsreichsten Versuche, etwas über Veronicas Verbleib und den Mustard-Fall herauszufinden, waren ohne Ergebnis geblieben. Was nun?


Ein stechender Schmerz in ihrem Kopf war das erste, was sie bei der Wiederkehr ihres Bewusstseins begrüßte. Ihre Augenlider fühlten sich geschwollen an, daher entschied sie, dass sie diese erst einmal geschlossen halten würde. Sie prüfte den Zustand ihres Körpers, indem sie ihre Aufmerksamkeit von der pochenden Schläfe abwandte und langsam der Wirbelsäule entlang nach unten schickte. Sie lag auf der Seite, unter ihr eine Strohmatte. Gesicht und Hals meldeten keine Probleme. Die rechte Schulter fühlte sich an, als habe sie einen Boxhieb erhalten, schien abgesehen davon jedoch okay zu sein. Als ihr geistiges Auge bei den Handgelenken ankam, bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Sie… war gefesselt! Ein Alarmsignal raste durch die Arme ins Gehirn. Die junge Frau erwachte schockartig aus ihrer Benommenheit. Sie riss die Lider auf und betrachtete ihre Hände, die durch einen kräftigen Lederstreifen in Gebetsstellung zusammengebunden waren. Ein dort angeknoteter Kälberstrick wand sich von ihr fort über den Boden, um in etwa einem Meter Entfernung wie eine Kobra in die Höhe zu steigen. Mehr konnte sie aus ihrer Position nicht erkennen.

Es herrschte schummriges Zwielicht in dem Raum, dessen holzvertäfelten Wände nur wenige Meter entfernt aufragten. Wie spät mochte es sein? Veronica versuchte die Lichtquelle auszumachen. Langsam drehte sie sich auf den Rücken. Sie stöhnte laut. Ihr Kopf drohte zu explodieren. Als der sternenbesetzte Himmel vor ihren Augen sich wieder auflöste, folgte ihr Blick dem Seil nach oben. Was war das? Sie sah, dass es um mehrere Rollen geschlungen war, die an einem Haken von der Balkendecke herabhingen. Jenseits davon fiel es wieder dem Boden entgegen. Die Auflösung des Bildrätsels lag gefühlt in Griffweite, aber verborgen durch einen Nebel aus Kopfschmerzen und Desorientiertheit.

Die Lichtquelle! Sie hatte doch herausfinden wollen, woher das Licht kam, in der Hoffnung, die Tageszeit abschätzen zu können. Unter Vermeidung jeglicher anderer Bewegungen lies sie langsam den Blick kreisen. Es gab zwei Fenster auf der einen Seite des Raums. Die Dämmerung war schon weit fortgeschritten, doch die Reste von Tageslicht am schwarzblauen Himmel und tauchten alles in geisterhaftes Grau. Dann hatte sie also den ganzen Tag bewusstlos dagelegen… „Desmond!“, war ihr nächster Gedanke. Er hatte sie in diese Einöde gelockt und dann niedergeschlagen. Warum? Wollte er sie umbringen, weil sie ihm auf die Spur gekommen war? Panik flammte auf und ließ sogleich wieder nach. Das hätte er längst erledigen können. Er wollte etwas von ihr, brauchte sie noch für etwas, das zu ergründen im Moment zu viel Geisteskraft von ihr erfordert hätte. Sie ließ den Gedanken fahren und wandte sich erneut dem Problem ihrer gefesselten Hände zu. Als sie diese vor ihr Gesicht hob, bemerkte sie dahinter eine Gestalt an der Stelle, wo das Seil von den mysteriösen Rollen bis zum Boden hing. Ihre Umrisse glichen jenen des Polizisten.

Bis jetzt hatte er reglos außerhalb des Gesichtskreises der jungen Frau gestanden und still beobachtet, wie sie langsam wieder zu Bewusstsein gelangte. Als deutlich wurde, dass sie ihn bemerkt hatte, erhob er seine Stimme.„Ah, Miss Schlaumeier ist aufgewacht. Ich habe mich schon gesorgt, dass der Schlag ein wenig zu hart gewesen sein könnte“, sagte er höhnisch.

38) Findet Kirk!

Punkt acht Uhr fuhr der orange lackierte Opel GT auf den Parkplatz der Polizeiwache. Diese befand sich zwar nur wenige Minuten zu Fuß vom Fab Store entfernt, doch Veronica wollte anschließend ein paar Dinge für den Haushalt einkaufen. Sie ließ sich dem Leiter der Mordkommission vorführen. Es entging ihr nicht, dass der junge Kollege, der sie zu Donald Wickens‘ Amtsstube begleitete, heimlich ihre Figur bewunderte. „Da wären wir wieder“, dachte sie. „Was ein schickes schwarzes Kleid doch ausmacht. Wäre ich in Pulli und Jeans erschienen, hätte er mich nach meinem Ausweis gefragt. Nun aber beeilt er sich, mir jeden Wunsch zu erfüllen.“ Sie hoffte, dass sie auf den Kommissar ähnlich attraktiv wirkte. Ihrer Erfahrung nach löste körperbetonte Kleidung die Zungen der meisten Männer schnell und zuverlässig. Aber Wickens war natürlich ein alter Hase in seinem Geschäft. Möglicherweise konnte er entsprechende Impulse routiniert zügeln. Seine forsche Stimme forderte sie auf, einzutreten, nachdem der junge Polizist angeklopft hatte. Wickens saß hinter dem Schreibtisch. auf dessen Oberfläche sich mehrere Stapel mit Aktenordnern türmten. Als Veronica den Arbeitsplatz fast erreicht hatte, stand er auf und reichte ihr über den Tisch hinweg die Hand. Dann wies er auf den Stuhl davor. „Setzen Sie sich“, forderte er sie auf.

„Hübsch haben Sie‘s hier“, sagte Veronica ironisch. Sie bemerkte an seinen irritierten Gesichtszügen, dass sie ihn mit ihrer Bemerkung auf dem falschen Fuß erwischt hatte. Das Büro war ein ebenso zweckmäßig wie hässlich eingerichteter Raum, an dem rein gar nichts hübsch oder schön aussah; eine durchschnittliche Amtsstube, wenn man so wollte.

„Wirklich?“, erwiderte er. „Nominieren Sie uns gern im Wettbewerb für die malerischsten Polizeiwachen Großbritanniens. Wo bleibt übrigens der Herr Papa? Sind Sie allein hergekommen?“

„Er hat leider geschäftlich zu tun und bedauert darüber hinaus sehr, dass ihr Kaffeeautomat… sie verstehen schon.“

Wieder dieser irritierte Blick. „Nein, ich verstehe nicht. Was ist das Problem mit dem Kaffee?“

„Das… fragen Sie ihn am besten selbst. Ich hoffe aber, dass wir uns trotzdem gut unterhalten.“ Sie zog ihr Kleid straff, dann setzte sie sich. „Mr Wickens, wir haben um dieses Gespräch ersucht, weil William Campbell – Mr Kite – uns beauftragt hat, den Verbleib eines Gegenstandes aus seinem Besitz zu ermitteln.“

Der Kommissar hob die Augenbrauen. „So?“

„Dieser wurde in der Nacht der letzten Familienfeier entwendet,“ fuhr sie fort, „dieselbe Nacht, in der Paulus Campbell ermordet wurde.“

„So so!“, sagte der Kommissar wieder.

Diesen Mann zu befragen würde mühselig werden, fürchtete Veronica. Er schien entschlossen, sich jedes Wort aus der Nase ziehen zu lassen. „Können Sie mir erzählen, wie der Abend des 30. April aus Ihrer Perspektive verlaufen ist?“, begann sie ihre Erkundigung.

„Nun, viel zu erzählen gibt es da nicht“, erwiderte er erwartungsgemäß. „Wir hatten uns in Kites Schloss versammelt, um den Erwerb von Mal Evans‘ Koffer zu feiern. Laut der Gerüchte, die seit Jahrzehnten umgingen, sollte er zahlreiche begehrte Gegenstände enthalten, die zusammen wahrscheinlich mehrere Millionen Pfund auf dem freien Markt wert sind. Paulus Campbell, der das Geschäft für uns abgeschlossen hat, hätte ihn mitbringen sollen, doch er ist nicht erschienen. Also betranken wir uns einfach und unterhielten uns über dies und das.“

„Hat denn niemand versucht, ihn telefonisch zu erreichen?“

„Aber ja. Sowohl Kite als auch ich haben ihn mehrmals angerufen, doch er hob nicht ab.“

„Was, glauben Sie, hielt ihn davon ab, auf der Feier zu erscheinen?“

„Keine Ahnung. Ein Missverständnis vielleicht?“

„Fiel Ihnen am Verhalten der Gäste etwas auf, das vom Gewohnten abwich? Gab es Anspielungen auf Dinge, die über den Kopf eines Uneingeweihten gingen? Gab es Begehrlichkeiten? Streit?“

„Nicht dass ich wüsste.“

„Ist Ihnen bekannt, welchen Gegenstandes wegen unsere Detektei ermittelt?“

„Kite erwähnte ein Foto.“

„Er bat sie nicht, bei der Wiederbeschaffung zu helfen?“

„Nein. Er erzählte es nur so nebenbei.“

„Wenn Sie einen Tip abgeben müssten, auf wen fiele Ihr Verdacht?“

„Ich habe wirklich nicht genug Informationen über die Sache, als dass ich mir eine Meinung bilden könnte.“

„Sie und Ihre Frau haben das Treffen als erste verlassen. Um welche Uhrzeit waren Sie zuhause?“

„Puh, keine Ahnung. Am frühen Morgen des 1. Mai irgendwann.“

„Sind Sie vom Schloss direkt zu Ihrer Wohnung gefahren?“

Wickens zeigte erneut Zeichen der Irritation. Er runzelte die Stirn. „Was soll die Frage? Inwiefern hat das mit dem Diebstahl zu tun? Verdächtigen Sie mich etwa?“

„Bitte geben Sie mir einfach eine Antwort.“

„Wir waren beide ziemlich müde. Meine Frau schlief bereits während der Rückfahrt ein. Keine weiteren Partys also.“

„Es hätte ja sein können, dass Sie sich gleich wieder in Ihre Arbeit stürzen wollten.“ Veronica ließ es wie eine scherzhafte Bemerkung klingen.

„Meine Kollegen sind durchaus in der Lage, für ein paar Stunden meiner Abwesenheit die Stellung zu halten. Sie genießen mein vollstes Vertrauen.“

„In gleicher Weise genießen Sie meines. Als neue Bürgerin Liverpools fühle ich mich beruhigt.“

Wickens musterte sie mit durchdringendem Blick, als wolle er abschätzen, ob sie es ernst oder ironisch meinte, doch Veronica hatte ein Pokerface aufgesetzt. Er wurde nicht schlau aus ihr. Sie beschloss, ihn aus der Reserve zu locken. Sie behauptete: „Wir haben Grund zu der Annahme, dass Duchess of Kirkcaldy die Gunst der Stunde genutzt hat. Mehrere der Gäste berichteten uns, dass sie in auffälliger Weise mit dem Hausherrn anzubändeln versuchte. Teilen Sie diese Einschätzung?“

Wickens lachte trocken. „Anzubändeln – nett ausgedrückt. Sie hat ihn vom Moment ihres Eintreffens angebettelt, flachgelegt zu werden, wenn Sie mich fragen. Geht mich aber nichts an.“

„Unsere Informationen besagen, dass sie dieses Ziel nicht nur erreicht hat, sondern im Zuge dessen auch Zugang zu dem Foto erhielt. Seit dem 1. Mai fehlt von ihr außerdem jede Spur. Wir vermuten nun, dass sie sich mit der Beute abgesetzt hat.“

Der Kommissar stutzte. Hatte er den Köder gefressen? Veronica legte nach. „Wir vermuten des weiteren, dass sie sich noch irgendwo in der Nähe aufhält, vielleicht bei Verwandten oder Freunden im Umland von Liverpool. Ist Ihnen darüber etwas bekannt? Haben Sie Kirk im vergangenen Monat eventuell sogar gesehen?“

Wickens setzte eine Miene konzentrierten Nachdenkens auf. Dann sagte er: „Ich habe sie tatsächlich gesehen. Sie kam zu mir und bat um den Schlüssel zum Landhaus der Familie. Wir haben einen alten Bauernhof in den Bergen nördlich von hier restauriert, müssen Sie wissen. Wir nutzen ihn als Ort für besondere Gelegenheiten. Kirk sagte, sie brauche eine Auszeit.“

„Meinen Sie, sie hält sich noch immer dort auf?“

„Sie hat den Schlüssel jedenfalls noch nicht zurückgegeben.“

„Wie finden wir das Landhaus?“

„Es steht ziemlich abgelegen; so abgelegen, dass selbst die meisten Routenplaner Ihnen keinen Weg weisen können. Wahrscheinlich finden Sie es ohne Hilfe überhaupt nicht.“ Wickens schaute Veronica forschend ins Gesicht. Als sie Anstalten machte, die logische nächste Frage zu stellen, kam er ihr zuvor. Er sagte: „Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen den Weg.“

„Das würden Sie tun? Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar. Wann hätten Sie denn Zeit?“

Der Kommissar zuckte mit den Schultern. „Gleich, wenn Sie wollen.“ Er zeigte auf die Aktenstapel auf seinem Schreibtisch. „Ich suche gerade eh einen Vorwand, dem hier zu entkommen.“


Veronica und der Kommissar eilten längst im GT nach Norden, als Henry the Horse den Fab Store betrat. Zach empfing ihn wie einen alten Freud. Sie umarmten sich und klopften einander auf den Rücken. „Schön, dass du dir Zeit für mich nimmst“, sagte der Detektiv.

„Keine Ursache,“ erwiderte der ältere Mann, „du weißt doch, dass ich Rentner bin und Montag vormittags sowieso zum Frühstücken in die Altstadt komme. Ehrlich gesagt vermisse ich die langen Gespräche hier im Laden.“

„Na, dann lass uns doch die Tradition wieder aufnehmen.“ Zach wies mit der Rechten auf die Tür im Hintergrund des Ladenlokals. „Komm, ich mach uns einen Kaffee.“

Eine Viertelstunde später, als der Duft des heißen Aufgussgetränks dem Raum eine gewisse Atmosphäre der Gemütlichkeit verliehen hatte, schwenkte Zach auf das Thema über, das ihm für heute am Herzen lag. „Henry, ich glaube, die ‚Familie‘ steckt in großen Schwierigkeiten.“ Der Detektiv ließ den Satz in der Luft hängen. Er betrachtete das Gesicht seines Gegenübers auf der Suche nach Zeichen der Zustimmung oder Ablehnung.

Henrys Mundwinkel zuckten, doch er antwortete nicht sofort. Er nahm seine Tasse vom Tisch, führte sie langsam an die Lippen und nippte vorsichtig daran. Erst nachdem er sie zurückgestellt und es sich wieder im Sessel bequem gemacht hatte, erwiderte er: „Und nicht erst seit heute.“

„Zu dem Eindruck bin auch ich gekommen, nachdem ich mit vielen von euch gesprochen habe. Wenn ich es recht verstehe, gibt es unter den Sammlern zwei grundlegend verschiedene Auffassungen darüber, wo eure Aktivitäten hinführen sollen, resultierend aus unvereinbaren Ansichten über die menschliche Natur. Würdest du mir zustimmen?“

„Brillant auf den Punkt gebracht, mein lieber Zachary. Auf der einen Seite steht ein elitärer Haufen, der sich für Übermenschen hält, während er den Rest der Menschheit als unnützes, dummes Volk betrachtet, dem man sagen muss, was es tun und lassen soll. Auf der anderen Seite – zu der ich selbst mich zähle – befinden sich jene unter uns, die die Kontroll- und Manipulationsbemühungen Ersterer als das erkennen, was sie eigentlich sind: selbsterfüllende paranoide Wahnvorstellungen. Ich glaube… nein, ich weiß, dass Menschen im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, wie die Floskel so schön besagt, zu unendlich viel mehr Gutem fähig sind als wir gerade sehen, wenn man sie nur lässt. Die moderne Welt ist nicht das Ergebnis einer angeblich fehlerhaft geschaffenen Spezies, sondern legt Zeugnis vom Scheitern des Kontrollwahns eines engen Kreises von Nutznießern ab.“

„Ich hätte es nicht treffender formulieren können,“ stimmte Zach dem Älteren zu, „doch meine Bemerkung zielte weniger auf das latente Konfliktpotenzial in der Familie ab sondern vielmehr auf eine akute Notlage. Eure Gruppe hat Kites Regime auf eine Weise herausgefordert, die der Mann als Kriegserklärung auffasst. Die Detektei wurde von ihm beauftragt, ein von euch entwendetes Foto wieder zurückzuführen.“

Henrys Augenbrauen zuckten in die Höhe.

„Darüber kam es auch zwischen uns und Kite zum Bruch. Also mach dir keine Sorgen. Ich werde bestimmt niemand an ihn ausliefern. Ich möchte dich aber darauf aufmerksam machen, dass eure gewohnten Routinen auf unabsehbare Zeit der Vergangenheit angehören. Möglicherweise steht die Familie als solche vor der Auflösung.“

„Danke für deine Offenheit. Ich werde dir natürlich als Kunde treu bleiben.“

„Freut mich zu hören, Henry. Im Moment plagen mich eine ganze Reihe anderer Sorgen. Ich möchte dieses Foto auftreiben; ich versuche, den Mörder meines Stiefbruders zu finden; ich brauche Munition, die mir Kite vom Leib hält, und, am drängendsten: Ich muss mit Kirk sprechen. Leider ist sie seit dem Familientreffen spurlos verschwunden.“

„Das fiel mir ebenfalls auf“, erwiderte Henry. „Ich habe mehrfach versucht, sie anzurufen, doch sie geht nie an die Leitung. So langsam mache ich mir Sorgen.“

„Ohne Umschweife: Weißt du, wer das Foto mitgenommen hat?“

„Nein. Ich hätte jedem abgeraten, es einzustecken. Viel zu gefährlich. Und ich hoffe für Kirk, dass sie nicht Diejenige-welche war, denn sonst wird sie es mit Kites unbeherrschtem Zorn zu tun bekommen.“

„Ehrlich gesagt befürchten wir genau das, unabhängig davon, ob sie es war oder nicht. Sie bot sich als Blitzableiter geradezu an, nachdem sie Kites Wachsamkeit geschwächt hat.“

37) Schlachtplan

In einer Bar unweit des Krematoriums nahmen die Trauergäste einen Umtrunk ein. Mr und Mrs Wickens hatten sich jedoch bereits in der Aussegnungshalle verabschiedet, Donalds dienstlicher Pflichten wegen, die ihn auch an diesem Sonntag nicht zur Ruhe kommen ließen. Das Verbrechen nehme keinen Urlaub, hatte der Kommissar halb im Scherz gesagt, und seine Frau Mary hatte dabei eine säuerliche Miene gezogen.

Veronica unterhielt sich mit der blonden Frau, die, genau wie Zach vermutet hatte, im Laden gegenüber arbeitete. Ein Auge hielt die junge Detektivin auf ihren Vater gerichtet, der mit Maria Borghese ein paar Meter weiter auf einem Barhocker am Tresen saß. Sie sprachen leise miteinander, steckten dabei immer wieder die Köpfe zusammen oder streichelten einander den Rücken. Veronica freute sich für ihrem Vater, der anscheinend endlich Klarheit gefunden hatte, wie er emotional mit dem Verlust seines Stiefbruders umgehen sollte. Maria, die zwar nie auf dem Stiefel gelebt aber von ihrer Familie eben doch einiges vom heißblütigen Nationalcharakter der Italiener vererbt bekommen hatte, musste der Katalysator gewesen sein. Sie wünschte sich, die ‚Putzhilfe‘, die für sie so viel mehr als nur eine einfache Angestellte geworden war, möge ihnen noch lange erhalten bleiben. Veronica war sie sehr ans Herz gewachsen, und wenn sie die Zeichen recht deutete, ging das auch ihrem Vater so. Sie lächelte.


„Hältst du es für wahrscheinlich, dass sie tatsächlich nach Bath gefahren ist, wie sie am Telefon behauptete?“, fragte Zach Maria. Er schaute zu seiner Tochter hinüber, die mit dieser blonden Frau ein paar Meter entfernt an einem der Tische saß. Sie sah ihn lächelnd an, dann konzentrierte sie sich wieder auf ihre Gesprächspartnerin. Veronica hatte das Durcheinander der letzten beiden Wochen besser verkraftet als er, schien es, und er war heilfroh deswegen. Sie konnten alles miteinander bereden, was emotionale Belastungen für sie beide viel leichter erträglich machte, aber er bemühte sich zur Zeit, ihr die düsteren Gedanken zu ersparen, die ihn häufig quälten. Dankbarerweise war nun Maria in das Leben der Zieglers getreten. Sie konnte nicht nur gut zuhören sondern mochte auch eine echte Stütze für sie werden, wie sich heute gezeigt hatte.

Auf seine Frage antwortete Maria: „Ganz ehrlich, ich glaube es eher nicht. Aber wer weiß, vielleicht wohnt jemand aus ihrer Familie dort. Über die wissen wir rein gar nichts.“

„Wo könnte sie sonst hingegangen sein?“

„Das frage ich mich auch schon die ganze Zeit. Es sind fast vier Wochen vergangen, seit ich sie zuletzt am Telefon sprach. Gestern Nacht kam mir eine Idee.“

„Die da lautet?“

„Die ‚Familie‘ hat einen alten Bauernhof nahe der schottischen Grenze gepachtet. Wir feiern dort einmal im Jahr ein großes Fest zusammen, aber wir nutzen das Haus auch für unsere individuellen Zwecke.“

„Wie ist das geregelt? Haben alle von euch einen Schlüssel?“, hakte Zach nach.

„Man muss das mit Desmond verhandeln. Er verwahrt den Schlüssel und achtet darauf, dass keine Überschneidungen entstehen.“

„Mit anderen Worten: Falls Kirk sich dort aufhält, müsste Desmond es wissen.“

Maria nickte.

„Okay, das hilft mir weiter. Ich werde morgen Vormittag mit ihm über das Familientreffen reden. Bei der Gelegenheit kann ich mich gleich nach Kirk erkundigen. Falls sie nicht auf den Bauernhof gegangen ist, besitzt er vielleicht andere Mittel, sie aufzuspüren.“

Die Italienerin schüttelte den Kopf. „Wenn sie in Schwierigkeiten steckt, dann wegen Mr Kite. Desmond ist ihm treu ergeben. Von dem erfährst du rein gar nichts.“

„Ich muss es versuchen, und sei es nur, um ihn wissen zu lassen, dass jemand ein Auge auf ihre Aktivitäten hat. Die Zeiten, da sie in Liverpool schalten und walten konnten, wie sie wollten, sind ab jetzt vorbei.“

„Spiel nicht ‚Don Camillo und Peppone‘ mit denen, Zach. Diese Typen sind gefährlich.“

„Ich bestehe ebenfalls nicht aus Schokolade.“

„Schade eigentlich“, sagte Maria und nahm seine Hand in die ihre.


Verworrene Träume und wiederholtes Erwachen hatten dafür gesorgt, dass sie beide In der Nacht nur wenig erholsamen Schlaf erhielten. Um sechs Uhr früh rollte Zach schließlich aus dem Bett, ging in die Küche und setzte eine Kanne Kaffee auf. Veronica, die seine Schritte auf dem Gang gehört hatte, gesellte sich ihm wenige Minuten später bei. Im trüben Schein einer heruntergedimmten Lampe hockten sie am Tisch und wärmten sich die Finger an den Tassen – Zach an einer bereits leeren, Veronica an einer noch vollen.

„Bei dem Gedanken an das gefärbte Wasser im Präsidium revoltiert mein Magen“, knurrte der Detektiv.

„So schlimm?“, fragte seine Tochter mitleidig.

„Du hast keine Ahnung, wie schlimm!“ Zach seufzte. „Mir mangelt es an jeglichem Drang, diesen Termin wahrzunehmen. Und das, obwohl es sich um einen der wichtigsten in der ganzen Serie handeln dürfte.“

„Weil Desmond das Foto ursprünglich beschafft hat?“

„Das ist nur einer von mehreren Gründen. Er hat vermutlich zahlreiches andere für Kite ‚organisiert‘. Er hält ihm den Rücken frei, wie wir von Miller gehört haben. Er verwahrt den Schlüssel für das Ferienhaus der Familie, in dem sich Kirk womöglich aufhält. Vor allem aber möchte ich abklären, ob er irgendwie in den Mord an Onkel Paul verwickelt war.“

„Wird er uns wohl kaum einfach so auf die Nase binden.“

„Seine Frau hielt den Zwischenstop in der Stadt zur fraglichen Zeit für harmlos genug. Falls er es anders sieht, wird er eine davon abweichende Geschichte erzählen beziehungsweise sich in Widersprüche verstricken.“

„Ah, jetzt verstehe ich, was du vorhast“, erwiderte Veronica. „Pass auf, ich mache dir einen Vorschlag: Wir arbeiten heute getrennt. Ich übernehme das Wickens-Interview und du knöpfst dir Henry the Horse vor. So können wir dem Kommissar mehr Zeit widmen, während wir sichergehen, dass Henry jemand im Laden antrifft. Ich weiß, dass du dich eh die ganze Woche schon auf das Gespräch mit ihm freust. Außerdem hat er Kirk angeblich damals in die Familie eingeführt. Wenn jemand etwas über ihren Hintergrund oder Verbleib weiß, dann er. Wir dürfen ihn heute auf keinen Fall verpassen.“

Zach grübelte eine halbe Minute. Er stierte auf die leere Tasse nieder, die er zwischen seinen Händen drehte, erst nach links, dann nach rechts, nach links, rechts, links rechts. Als er wieder aufblickte, sagte er: „So vernünftig dein Vorschlag klingt – mich beschleicht ein ungutes Gefühl, dich mit dem Mann allein zu lassen.“

„Traust du mir den Job nicht zu?“

„Ich vertraue niemandem mehr als dir, aber es könnte sein, dass Wickens ein falsches Spiel spielt. Wenn er mit Pauls Tod zu tun hatte…“

„Ach komm schon, was soll mir groß passieren? Ausgerechnet in einer Polizeiwache?“

„Was soll in der Höhle des Löwen schon groß passieren – von allen Orten jener, den Leute wie Wickens vollständig unter Kontrolle haben? Mit all den Typen um dich herum, die ihre moralische Kompetenz aufgegeben haben, um wie Roboter unpersönliche Regeln zu befolgen und wie Sklaven die Befehle ihrer Vorgesetzten unhinterfragt auszuführen?“

Veronica schluckte. „Aus der Warte habe ich das noch nie betrachtet. Ich war der Ansicht, dass ein Polizeigebäude eine Umgebung mit stärker kontrollierten Bedingungen ist als die meisten anderen, abgesehen vielleicht von Militärgeländen und Regierungsvierteln.“

„Ja selbstverständlich sind sie unvergleichlich viel stärker kontrolliert, aber doch nicht, um dich, sondern um sich selbst zu schützen. Wenn jemand mit denen in Konflikt kommt, dann ist er sofort mit dem Gesetz in Konflikt. Wenn deine Aussage gegen ihre steht, glaubt man eher dir oder dem treuen Staatsdiener?“

Seine Tochter schnitt eine Grimasse.

„Wenn einer von denen dich aus dem Verkehr ziehen will, findet er immer einen Grund, dich einzusperren. Und wenn er dich erschießt, so nur, weil du Widerstand geleistet hast – genau wie Mal Evans.“

„Willst du, dass ich zuhause bleibe?“

Zach zögerte. „Nein“, sagte er dann bestimmt. „Gefahren sind Teil unseres Daseins. Den Schwanz einzuziehen und sich in einer Festung zu verschanzen kann nicht die Antwort darauf sein.“

„Also…?“

„Geh hin und versuche, möglichen Schwierigkeiten mit offenen Sinnen zu begegnen. Was unberechenbare Momente betrifft: Vor denen bist du eh nicht gefeit. Man fährt besser, wenn man sie willkommen heißt.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Ich glaube, das ist der wichtigste Unterschied zwischen uns und jenen, die – egal auf welcher Etage – ihren Platz in der Machtpyramide einnehmen: Sie sind Kontroll-Freaks. Sie hassen alles Natürliche, Lebendige, aus dem Moment Geborene, sich frei Entfaltende.“

31) Fristlos gefeuert

„Gestern statteten wir Mr Kite einen Besuch ab. Wir sprachen über dies und das, unter anderem erwähnte er das letzte Familientreffen. Sie erinnern sich?“

„Aber ja“, antwortete Molly Jones. „Wir haben uns sehr gut unterhalten. Weshalb fragen Sie?“

„Mr Kite hat mich beauftragt, einige Nachforschungen bezüglich eines Gegenstandes anzustellen, der an jenem Abend verschwunden ist“, erklärte Zach. „Können Sie dazu etwas sagen? Ist Ihnen etwas aufgefallen, zum Beispiel ungewöhnliches Verhalten der einen oder anderen Person?“

„Sprechen Sie von dem Manuskript? Das hätte PC31 mitbringen müssen, aber er kam ja dann nicht. Wahrscheinlich dachte er, das Treffen sei verschoben worden.“

„Wie kommen Sie darauf, dass er das dachte? Hat er etwas Entsprechendes gesagt?“

„Ich… weiß nicht“, stotterte die Sekretärin. „Weshalb fragen Sie mich? Stehe ich unter Verdacht?“

„Nein, überhaupt nicht. Sie haben das Schloss verlassen, bevor der Gegenstand abhanden kam. Es geht übrigens um ein Foto. Wurde im Verlauf des Abends über eine solche Aufnahme geredet?“

„Nicht unter meinen Ohren.“

„Worüber wurde dann geredet? Gab es Streit? Begehrlichkeiten?“

„Im Gegenteil. Bis auf das schamlose Verhalten dieses Mädchens, Duchess of Kirkcaldy, verlief es recht harmonisch. Wir sprachen über Objekte, die wir künftig für unsere Sammlung sichern wollten, und wir tauschten Anekdoten über McCartney, Lennon und so weiter aus. Bloß dieses… Flittchen! Sie wollte die ganze Zeit nur über unanständige Dinge reden. Wie die sich schon angezogen hat! Ich hatte den Eindruck, am liebsten wäre sie gleich ganz nackt erschienen.“

„Was missfiel Ihnen an ihrem Aussehen?“

„Sie hatte sich in ein knallrotes Domina-Kostüm gezwängt, oben wie unten keinen Inch länger als unbedingt nötig. Meine Mutter hätte mir den Hintern versohlt, wenn ich in dem Alter so rumgelaufen wäre.“

„Vielleicht war sie ja darauf aus, dass einer der Männer das übernahm? Hatten Sie das Gefühl, sie war hinter einer bestimmten Person her?“

„Nein, sie hat mit allen geflirtet – unangenehm aufdringlich.“

„Sind manche der Männer darauf eingegangen?“

„Sie blieben alle höflich aber distanziert. Gottseidank.“

„Ihnen ist also nicht aufgefallen, dass sie irgendwann mit jemand verschwunden wäre – sagen wir, auf die Toilette?“

Molly Jones kratzte sich an der Wange. „Hmm, nein. Ich fände das auch gar zu lächerlich. Sie ist ja noch ein halbes Kind.“

„Wissen Sie, wie alt?“

„Nicht genau. Siebzehn? Keineswegs volljährig.“

„Woher kommt sie eigentlich? Wer hat sie in die Gruppe eingeführt, beziehungsweise wie kam der Kontakt zustande?“

„Wer sie ist, weiß keiner so genau. Henry vielleicht. Der hat sie letztes Jahr in den Laden mitgebracht. Man erzählt sich, sie sei der illegitime Spross eines Adligen und lebe von dessen großzügigen Unterhaltszahlungen.“

„Wann haben Sie das Schloss verlassen und wer war um die Zeit noch anwesend?“

„Puh, schwer zu sagen. Bis auf meinen Mann waren wir alle schon ziemlich angeheitert. Ich habe nicht auf die Uhr geachtet. Vielleicht zwischen zwölf und ein Uhr? Als feststand, dass PC31 nicht mehr vorbeikommen würde. Der Arme. Wäre er zum Treffen gegangen, könnte er noch leben.“ Sie dachte nach. „Seltsam. Da Sie nun fragen, fällt mir auf, dass nur noch wenige Familienmitglieder zugegen waren, als ich mich verabschiedete: Dr Robert, Mr Mustard, Rocky Raccoon und Henry the Horse. Henry sah ebenfalls aus, als wolle er bald aufbrechen.“

„Wo, glauben Sie, befanden sich die anderen?“

„Mr Kite hat sich eine Stunde früher zurückgezogen. Er sagte, er sei müde und gehe nach oben. Auf die anderen habe ich nicht geachtet.“

„Halten Sie es für möglich, dass er mit Semolina und Duchess ‚nach oben‘ ging?“

Molly Jones schaute ihn an, als käme ihr die Idee zum ersten Mal. Sie blieb stumm, zog jedoch eine Grimasse, die andeutete, sie wisse es nicht und wolle es auch nicht wissen.

„Eine letzte Frage: Sind Sie auf direktem Weg nach Hause gefahren oder haben Sie unterwegs irgendwo angehalten?“

„Wir sind über‘s Zentrum gefahren. Mein Mann wollte mit den Kollegen auf dem Präsidium etwas klären. Dann sind wir nach Hause gegangen.“

„Wie lang dauerte das Gespräch?“

„Etwa eine halbe Stunde. Ich bin im Auto eingeschlafen, sobald wir das Schloss verlassen hatten, und nur kurz aufgewacht, als er nahe der Wache hielt.“

„Wann sind Sie zu Hause angekommen?“

„Gegen vier Uhr. Hören Sie, das war nun die dritte ‚letzte Frage‘“, beschwerte sich Molly Jones. „Macht es Ihnen was aus, wenn wir über nettere Dinge reden?“

„Keineswegs. Entschuldigen Sie bitte meine Zudringlichkeit. Ich habe Ihnen noch gar nicht gesagt, wie sehr Sie mir in Ihrem Kleid gefallen.“

Die Sekretärin errötete und schaute zu Boden. „Dankeschön.“

„Sie hat es bei Paul gekauft“, warf Veronica ein, die das gesamte Interview hindurch still auf einem Schemel neben der kleinen Bar gesessen hatte.

„Ist das wahr? Und ich dachte, wir handeln in Musikalien.“

„Im weitesten Sinne ist das Kleid Teil der Geschichte der Beatles“, sagte Molly Jones. „Es gehörte Pattie Boyd…“

„…der ex-Freundin von George Harrison“, ergänzte Zach. „Ihnen steht es mindestens eben so gut.“

Jones errötete erneut. Von ihr unbemerkt tanzten Veronicas Augenbrauen. Zach zwinkerte seiner Tochter zu. Er sagte: „Würde es Ihnen etwas ausmachen, Ihren Mann zu informieren, dass ich gern mit ihm reden würde?“

„Donald? Er weiß bestimmt nicht mehr als ich.“

„Und wenn schon. Dann unterhalten wir uns eben bei einer Tasse Kaffee über das Sammeln oder den neuesten Ermittlungsstand zum Mord an meinem Stiefbruder. Ich kann Ihnen versichern, dass Veronicas Kaffee den im Präsidium bei weitem aus dem Feld schlägt. Möchten Sie ihn probieren?“

„Hört, hört!“, unkte seine Tochter.

„Einverstanden“, erwiderte Molly Jones.

Und so erhielt Ludwig Lederrachen eine weitere Gelegenheit, seine Künste vorzuführen, wenn auch unbezahlt.


Sehr spät am Abend klingelte das Telefon sein klassisches Metallglockengeläut, das den ganzen Tisch zum Schwingen anregte. Veronica hob den Hörer ab. „Anscchluss von Paul Campbell, Ziegler am Apparat.“

„Guten Abend, Veronica. Holen Sie mir Ihren Vater“, sagte eine hyänenhaft klingende Männerstimme.

„Wer spricht dort?“

„Sie wissen genau, wer hier spricht.“

„Ich weiß nur, dass Ihre Kinderstube zu wünschen übrig lässt. Wer spricht dort?“

„Holen Sie mir Ihren Vater an den Apparat!“, sagte die Stimme mit drohendem Unterton.

„Rufen Sie wieder an, wenn Sie Manieren gelernt haben.“ Veronica legte auf.

Zach streckte den Kopf zur Tür herein. „Wer war das?“

„Woher soll ich das wissen? Er wollte seinen Namen nicht nennen. Wahrscheinlich unser spezieller Freund der Schlossbesitzer.“

„Du hast echt Haare auf den Zähnen, dem Mann den Hörer aufzulegen. Ich bin ihm einen Anruf schuldig; erster Report.“

„Schlossbesitzer oder nicht – wenn er meint, mich herumkommandieren zu können, dann gibt‘s nur eine Antwort: Arsch lecken. Du lässt dir seine Gestapo-Manieren ja auch nicht gefallen.“

Zach verdrehte die Augen. Was erwartete er? Er hatte sie so erzogen – und er war zufrieden. Er lachte. „Dann will ich mal anrufen, um mir die Prügel abzuholen.“

„Gib bloß nicht klein bei. Für mein Verhalten stehe ich selbst ein“, sagte Veronica energisch, die Augenbrauen zusammengezogen.

Exakt in jenem Moment, als Zachs Hand über dem Hörer hing, klingelte das Telefon erneut. Er riss ihn von der Gabel und sagte barsch: „Ja!?“

„Mister Ziegler,“ sagte die Stimme am anderen Ende, „ist das Ihre Art, einen Auftrag zu erledigen?“

„Was gefällt Ihnen daran nicht?“

„Ihr Tonfall, zum Beispiel, oder dass man einfach auflegt. Was ist außerdem aus Ihrem versprochenen Tagesbericht geworden?“

„Wenn Sie einen anderen Tonfall wünschen, bekommen Sie ihn, sobald Sie anfangen, respektvoll mit Ihren Gesprächspartnern umzugehen. Ich bin keiner Ihrer Lakaien.“ Der Detektiv sprach langsam, ruhig und ziemlich leise. Vom anderen Ende hörte er kein Geräusch. Als der Anrufer Luft holte, schnitt er ihm das Wort ab: „Soweit es Ihren Auftrag betrifft: Ich war heute mit vorbereitenden Arbeiten beschäftigt, ohne die weitere Ermittlungen nur ein Stochern im Nebel darstellen – und ich habe zwei Zeugen vernommen. Es liegt in der Natur der Sache, dass deren Aussagen erst im Licht weiterer Erkenntnisse einzuordnen sind. Falls Sie in der Lage sind, die Lösung des Falls durch sachdienliche Hinweise zu beschleunigen – etwa, indem Sie die Tatsache erwähnen, dass das fehlende Objekt die ganze Nacht unbeaufsichtigt außerhalb des Safes herumlag –, wäre ich Ihnen sehr dankbar.“

„Ich sagte Ihnen, Sie sollen nicht gegen mich ermitteln!“, bellte Kites Stimme aus dem Hörer.

„Und ich sage Ihnen, dass es so nicht funktioniert. Sie lassen mich meine Arbeit auf meine bewährte Weise erledigen oder Sie suchen sich einen anderen Dummen, der Ihre eklatanten Verstöße gegen Vernunft und Anstand korrigiert.“

„Mit wem haben Sie gesprochen?“

„Das steht in meinem Abschlussbericht am kommenden Dienstag.“

„Sie sind gefeuert!“, schrie Kite ihn an.

„Wie Sie wünschen. Ich mache die Rechnung gleich fertig“, erwiderte Zach und ließ den Hörer auf die Gabel fallen. Das Geräusch und die Vibrationen, die der alte, schwere Festnetzapparat dabei erzeugte, befriedigten ihn zutiefst. Die Körperlichkeit des Vorgangs blieb nur wenig hinter dem Gefühl zurück, dem anmaßenden Anrufer tatsächlich eine schallende Ohrfeige verpasst zu haben. An dem Tag, an dem eine App erschien, die es realitätsgetreu emulieren konnte, würde er seine ablehnende Haltung gegenüber Smartphones vielleicht revidieren.

Veronica blähte die Backen und ließ die Luft langsam zwischen den Lippen entweichen. „Ich fürchte, die großen Aufträge können wir uns aus dem Kopf schlagen, ganz zu schweigen von unserer Aufnahme in die Familie.“

„Ganz recht. Daraus wäre sowieso nichts geworden, weil ich nie vorhatte, sein Schwarzgeld anzunehmen. Im Übrigen wird mir dieser seltsame Club mit seinen dehnbaren Moralvorstellungen immer suspekter. Wie hat Kite Maria und Henry bezeichnet – nicht flexibel genug?“

„Dass er uns keine Aufträge geben wird – okay. Mit unseren bescheidenen Erwartungen ans Einkommen kommen wir bestimmt auch ohne ihn blendend zurecht. Mir kann der Abstand zu dem Typ gar nicht groß genug sein. Dass wir ihn nun gegen uns aufgebracht haben, könnte dagegen das Ende des Fab Store bedeuten.“

„Und darum werde ich den Teufel tun, die Ermittlungen einzustellen. Wir brauchen etwas gegen ihn in der Hand. Was wir von Maria und Molly gehört haben, verschafft uns möglicherweise großkalibrige Munition.“

11) Die Willfährigkeit des Hundes gegenüber dem Herrn

Er wusste nicht, was ihn mehr ärgerte: dass er sich lächerlich hatte machen lassen oder dass dieser unglaublich von sich selbst überzeugte Mensch nicht einmal erwägt hatte, die Indizien anzuschauen, sondern sie stattdessen einfach in eine Kiste mit der Aufschrift „dummes Zeug“ steckte, zusammen mit all den anderen Dingen, von denen „jeder weiß“, dass sie nicht sein können. Die Mehrzahl der Leute ging blind durch die Welt, weil sie glaubten, was sie sahen erkläre sich von selbst. Dabei wurde das, was sie sahen, ihnen gezeigt und erklärt – von Medien, die ganz anderen Absichten dienten, als die Wahrheit zu berichten. Als wäre es so abwegig, dass jene, die reich und mächtig waren, das gerne weiterhin bleiben würden. „Hätte ich Milliarden mit Lug, Betrug und Mord gemacht, würde ich ebenfalls alles Notwendige veranlassen, dass die Leute meine harmlosen Erklärungen hören, nicht das Gezeter der Betroffenen oder die Berichte der Aufklärer“, murrte Zach in seinen Drei-Tage-Bart.

Weil die meisten Menschen die Wirklichkeit nicht von der medienproduzierten Theaterkulisse unterscheiden konnten, war es Tony Blair gelungen, Großbritannien in einen Krieg gegen den Irak zu hetzen. Junge Soldaten hatten ihr Leben weggeworfen, als sie nach Massenvernichtungswaffen suchen halfen, die frei erfunden waren… um nur ein belegbares Beispiel der jüngeren Zeit zu nennen, bei dem etablierte Medien in ihrer Gesamtheit willfährig eine falsche Realität zeichneten. Keine Ausnahme, sondern der Regelfall. Es gab größere Verbrechen – sogar von atemberaubenden Dimensionen –, die sich genau hier und jetzt vor aller Augen abspielten, aber man durfte die nackten Tatsachen weder nüchtern noch im Scherz erwähnen, wenn man Einkommen, Wohnung, Freundschaften, Freiheit und Gesundheit behalten wollte. Als Privatermittler wusste er nur zu gut, wie das lief. Das schlimmste Unrecht geschah mit Wissen und Duldung, oft sogar unter Beteiligung der Behörden, gedeckt von ‚Journalisten‘, die wussten, wann sie wegschauen und wen sie vorführen mussten. Darum wunderte es ihn keineswegs, dass mindestens eine der beiden Personengruppen – die Bestätiger beziehungsweise die Leugner der Echtheit des Evans-Koffers – sich hatte benutzen lassen, einen bestimmten Eindruck zu vermitteln. Eigeninitiative wurde bestraft, Willfährigkeit des Hundes gegenüber dem Herrn machte sich bezahlt. Und der Herr wünschte die einhellige Zurschaustellung fachlicher oder administrativer Autorität. Wenn alle sagten: „Hören Sie auf die Experten; es gibt hier nichts weiter zu sehen!“, trauten sich nur die Wenigsten, einen zweiten Blick zu riskieren. Gruppendruck war ein effektives Mittel, frei grasende Schäfchen wieder in die Herde zurückzuholen.

Zachary Ziegler verdankte seinen Erfolg als Detektiv der Tatsache, dass er solchem Druck nicht nachgab, wenn es um die Wahrheit ging. Niemand war gefeit vor Täuschung, aber man musste sich die Freiheit bewahren, seine Fehler bewusst wahrzunehmen und einzugestehen. Wer aus Bequemlichkeit, Furcht vor dem Herausragen aus der Menge oder des Wohlgefühls wegen im Theatersessel kleben blieb – sei es ein Stuhl im Parkett, sei es ein Logenplatz – würde nie erfahren, wer diese Leute auf der Bühne wirklich waren oder was sie hinter den Kulissen trieben. Er lebte in einer aufwändig konstruierten Scheinwelt. Nach einiger Zeit vergaß er, dass sie künstlich war; sie wurde zu der Welt schlechthin, egal wie absurd sie sein mochte. Darum waren solche Leute wie Kommissar Wickens Zach zuwider. Sie spielten sich als Türsteher auf, die anderen vorgaben, in welchen Räumen sie sich geistig bewegen durften, was sie bei Strafe sozialer Ächtung zu tun oder zu lassen, zu denken oder zu ignorieren hatten.

Für jemand wie Zach warfen die von Leuten wie Wickens postulierten Tabus Fragen auf. Der Detektiv hatte befürchtet, mehr preisgegeben als erfahren zu haben, bis der Kommissar ihn quasi mit der Nase auf etwas gestoßen hatte: Das Motiv für die beiden gewaltsamen Tode im Zusammenhang mit den Evans-Erinnerungen – und für das Verschwinden des Manuskripts – könnte die drohende Entlarvung eines Hochstaplers in den Reihen der erfolgreichsten Band der Welt gewesen sein. Wenn Zweitligisten wie die Monkees oder Milli Vanilli bereits mit kommerzieller Vernichtung bestraft wurden, weil sie lediglich vorgetäuscht hatten, Musiker zu sein, würde derselbe Vorwurf im Fall der Beatles zu einem Erdbeben führen. Es würde die lieb gewonnenen Erinnerungen von ungezählten Millionen Musikhörern überschatten, die Glaubwürdigkeit von international bedeutenden Persönlichkeiten untergraben und das Image eines Landes und einer Industrie ruinieren. Nicht zuletzt ging es um Milliarden Britischer Pfund. Was waren dagegen eine lumpige Million für das vergilbte Manuskript oder die Leben zweier kleiner Lichter, die ihren Unterhalt aus den Abfällen dieser Beatles-Maschinerie bestritten hatten?

Zach wollte sehen, ob ihn die Spur, von der Wickens ihn hatte abbringen wollen, vielleicht weiterführte.


Als er zurückgekehrt war, fand er das Erdgeschoss leer vor. Ein appetitanregender Geruch nach Gemüse und Gewürzen hing am Fuß der Treppe in der Luft. Zach stieg hinauf. In der Küche stöberte er Veronica auf, die gerade einen Kessel voll Eintopf vom Gasherd nahm.

„Oh, wie schön. Du kommst genau zur rechten Zeit. Das Essen ist fertig.“

„Himmel, Veronica, wie viele Besucher erwartest du denn?“

„Dich. Heute irgendwann. Scharf gewürzten Eintopf kann man problemlos ein paar Tage aufbewahren und er ist bei Bedarf in wenigen Minuten wieder heiß.“

„Ich habe jedenfalls ungeheuren Hunger und ich liebe Eintopf! Der erste Teller geht auf ex.“

„Untersteh dich! Wir setzen uns jetzt schön gemütlich hin und du erzählst mir, wie‘s bei der Polizei gelaufen ist. Danach würde ich gern deine Meinung zu ein paar weiteren Widersprüchen hören, die mir im Zusammenhang mit dem Evans-Archiv aufgefallen sind.“

Zach trug den Kessel zum Esstisch, Veronica legte zwei Gedecke auf. Sie schlürften in aller Ruhe die ersten drei Portionen, bevor der Detektiv begann, von seiner Begegnung mit Kommissar Wickens zu berichten.

„Viel Neues ist das wirklich nicht“, bemerkte Veronica, als ihr Vater sich wieder dem Essen zuwandte. „Seltsam finde ich, dass er einerseits solches Interesse an Henry zeigte, dann aber direkt abwiegelte, als es um das Manuskript ging“.

„Ja, das war echt auffällig. Ich möchte es fast als die dritte Instanz bezeichnen, in der das Buch als Informationsquelle sozusagen aus dem Weg geräumt wurde, wenn auch nur verbal.“

„Ich würde nicht so weit gehen, ihm Absicht zu unterstellen. Dafür haben wir keine Beweise. Er könnte auf deine Andeutung vielleicht sogar völlig frei von Hintergedanken so herablassend reagiert haben. Wenn das einen weiteren Bildpunkt zu unserem Muster beiträgt, dann einen ziemlich schwachen.“

„Zugegeben. Ich werde das berücksichtigen.“ Er löffelte schweigend seinen Eintopf. Dann sagte er: „Die Beatles waren meine ganze Jugend hindurch dauernd mit irgendwas in den Schlagzeilen: George auf Tour, Ringo macht Fotos, ein neues McCartney-Album, John wird erschossen… ich erinnere mich an diese Dinge eher nebelhaft. Und dann die ewigen Gerüchte über das geheime Leben der Stars – die Medien schienen einen Wettbewerb um die groteskesten Nachrichten zu führen. Ich könnte schwören, nie von der Doppelgängertheorie gehört zu haben, aber das ist ziemlich unwahrscheinlich. Viel eher habe ich sie einfach als Zeitungsente abgetan und direkt ins Gedächtnisloch verbannt. Elvis lebt, Paul ist tot und die Erde ist eine Scheibe, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Ja klar. Da ging es dir genau wie diesem Kommissar, wie hieß er gleich?“

„Wickens. Ich kann ihn ja verstehen. Ohne strenge Geisteshygiene verkäme unser jeweiliges Bild von der Wirklichkeit zu einer schlimmeren Karikatur, als es eh schon ist. Man sollte jedoch für neue Informationen offen sein, um fehlerhafte Ansichten korrigieren zu können; zumindest würde ich das von einem Ermittler erwarten. Täuschungen auseinanderzunehmen ist unser Geschäft.“

Veronica zuckte mit den Schultern. „Wir alle haben blinde Flecken.“

„Mit einem ermordeten Stiefbruder und einer gestohlenen Million am Bein will ich mir diesen blinden Fleck nicht leisten. Netterweise hat Wickens das Manuskript in einen neuen Kontext gerückt, der erklären könnte, worin das Tatmotiv bestand. Angenommen, die dreckige Wäsche der Beatles beinhaltet einen Doppelgänger, einen Hochstapler, der weder singen noch komponieren noch spielen konnte; angenommen, dieser Evans hat eine Skandalstory geschrieben, um noch einmal ordentlich Reibach zu machen, nachdem klar war, dass die Band sich unwiederbringlich aufgelöst hatte – der Schaden hätte so hoch sein können, dass nicht einmal ein Konzern, geschweige denn ein einzelner Mensch ihn auszugleichen in der Lage gewesen wäre. Will sagen: Der Rechtsweg hätte in diesem Fall weniger Erfolg versprochen, als … ein beherztes Einschreiten der betroffenen Parteien.“

„Darauf könntest du deinen Hintern verwetten. Bevor ich dir das gestatte, müssen wir jedoch die Annahme in eine Gewissheit verwandeln.“

„Schwierig. Wir müssten das Manuskript lesen, um zu verstehen, ob beziehungsweise warum es aus dem Verkehr gezogen wurde.“

„Nicht notwendigerweise“, widersprach Veronica. „Es genügt, dass die Hintermänner der Tat – wenn es eine Tat gegeben hat – wussten oder glaubten, Mal Evans tanze aus der Reihe. Das impliziert, dass sie Grund zur Sorge hatten – Dreck am Stecken.“

„Weiß nicht… üble Nachrede kann den selben Effekt haben wie echte Skandale aufzudecken. Sofern wir nichts Konkreteres herausfinden, stecken wir erst einmal fest.“

Wieder senkte sich für einige Minuten Schweigen über den Tisch.

„Gibt es denn nirgends irgendwelche Kopien, ausschnittweise Vorabveröffentlichungen oder jemand, der das Original gelesen hat? Was hat Mal Evans selbst darüber gesagt? Du erwähntest gestern, er habe sein Buch über Rundfunk beworben.“

„Ich habe keine Zitate aus den Memoiren gefunden. 2005 sind in der Sunday Times ein paar harmlose Einträge aus seinem Tagebuch erschienen, die seine Witwe Lily freigegeben hatte. Die Familie schien chronisch an knappem Geld zu leiden. Evans verdiente wenig und war selten zuhause. Lily ließ durchscheinen, dass sie dies bis heute belastet und dass sie findet, die Band habe Mal schlecht behandelt. Er selbst, das zeigen die Zitate deutlich, hatte weniger Probleme damit. Er verstand sich bis zum Schluss als enger Freund der vier Musiker und blieb ein Fan der Gruppe. Dass er mit seinem Insiderwissen einmal richtig Kasse machen wollte, passt nicht recht ins Bild, das ich von ihm gewonnen habe. Du solltest dir die Interviews von Ende 1975 anhören. Er hat keinen Versuch unternommen, Skandale anzupreisen oder Sensationsgier zu wecken. Über die Beatles redete er ausschließlich in respektvollem Ton – und sie über ihn: Sie nannten ihn den ‚sanften Riesen‘.“

„Zwischen den Reden und den Taten liegen oft Welten“, warf Zach ein.

„Bei manchen Leuten mehr, bei anderen weniger. Ich würde diesen Mann zu letzteren zählen. Er hat sein ganzes Leben als Enthusiast gehandelt. Aber wie gesagt, mach dir selbst ein Bild.“

„Noch heute. Deine Schilderung klingt danach, als führe diese Fährte in eine Sackgasse oder auf einen Holzweg. Dem harmlosen Image stehen jedoch der gewaltsame Tod des Mannes und die vielen Ungereimtheiten um seine Hinterlassenschaften gegenüber. Legen wir gleich los? Bei der Gelegenheit kannst du mich endlich in die Mysterien von Pauls Studierzimmer einweihen.“