5) Kraut wider Willen

Auf dem Weg nach oben mussten die drei am Fuß der Treppe einen größeren Fleck eingetrockneter dunkler Flüssigkeit überqueren. Am Boden und auf den ersten drei Stufen waren mit weißer Kreide die Umrisse einer Person markiert. Sie stakten mit weiten Schritten darüber hinweg, dann eilten sie den Rest des Weges hinauf. Die Wohnung erstreckte sich über zwei Stockwerke. Sie zeigte sich so unspektakulär wie der Laden darunter. Die Wände waren in angenehmen blassen Pastellfarben tapeziert, die Möblierung war schlicht aber edel. Weder schien die Wohnung überladen noch wirkte sie spartanisch; sie stellte in ihrer unaufdringlichen Schönheit ein Meisterwerk dar, für das die Welt edelstahlgerahmten Glases einerseits und skandinavischer Billigmöbel andererseits keine Sinne besaß. Zach und Veronica sahen sich befangen um, während der Notar eine Tür nach der anderen öffnete, damit sie hineinschauen konnten. Dann entschuldigte er sich noch einmal bei ihnen; die Pflicht rufe ihn nun. Gemeinsam begaben sie sich wieder in den Laden hinunter.

„Wir danken Ihnen für Ihre Bemühungen,“ ließ Zach ihn wissen, als er ihm die Hand schüttelte. „Ich möchte Sie wirklich nicht länger aufhalten, aber eine Frage hätte ich noch: Wo liegt mein Stiefbruder begraben?“

„Mr Campbell befindet sich in der forensischen Pathologie. Ich erhielt gestern Nachricht von der Mordkommission, dass sein Leichnam nun zur Bestattung freigegeben sei. Entsprechend seiner Anweisungen habe ich die Einäscherung und anschließende Beisetzung auf dem Toxteth Park Cemetary veranlasst. Darf ich Ihnen die Einladung an diese Adresse hier schicken oder haben Sie vor, nach London zurückzukehren?“

Veronica und Zach schauten einander an. Auf ein unauffälliges Handzeichen seiner Tochter hin erklärte der Detektiv, dass sie vorerst in Liverpool bleiben würden und ihm bescheid gäben, falls sie es sich anders überlegen sollten. „Dürfen wir Sie eventuell noch einmal mit Fragen belästigen? Sie wissen schon – es ist immer von Vorteil, wenn man jemand kennt, der mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut ist.“

„Selbstverständlich, Mr Ziegler. Jederzeit. Auf Wiedersehen! Goodbye, Ms Veronica.“

Der Notar hob den Schlüsselbund auf Augenhöhe, dann legte er ihn auf die Ladentheke. Er ging durch die Fronttür, wandte sich nach rechts und verschmolz innerhalb weniger Sekunden mit den seit ihrem Eintreffen merklich zahlreicher gewordenen Fußgängern.

Schweigen breitete sich aus. Veronica beäugte kurz den Postkartenständer, bevor sie zum Bücherregal wanderte, um dessen Inhalt mit schief gelegtem Kopf zu inspizieren. Zach blätterte ohne großes Interesse durch die Vinylscheiben in den Sortierkästen. Nach einer Weile sagte er: „Hast du auch so einen Durst? Komm, lass uns irgendwo hingehen.“

Ein breites Grinsen legte sich auf Veronicas Gesicht. „Zwei Dumme – ein Gedanke,“ stimmte sie zu. „Ich habe auf dem Weg hierher einen Irish Pub gesehen.“


Es wurde dann doch nicht der Pub. Sie ließen sich von Touristen und Feierabendpendlern durch die Fußgängerzone des Cavern-Viertels treiben, vorbei an Restaurants, Andenkenläden, Bekleidungshändlern und um diese Uhrzeit geschlossenen Nachtbars. Schließlich, als sie genug frische Luft getankt hatten, betraten sie eine italienische Gaststätte. Sie nahmen einen Tisch direkt an der Fensterfront, von wo sie das Geschehen draußen weiter verfolgen konnten.

„Die Atmosphäre in Liverpool gefällt mir,“ verkündete Zach.

„Ja, man könnte sich daran gewöhnen. Hier in der Altstadt wird man sein Geld aber schneller los, als wieder welches hereinkommt,“ erwiderte Veronica.

„Das ist nun buchstäblich ein Luxusproblem, für dessen Lösung wir uns jahrelang Zeit nehmen können.“

„Wenn wir wie Rockstars in Hotels wohnen und jeden Abend auf einer Flaniermeile essen gehen, wird es nicht übermäßig lang dauern, Paps. Wir sollten behutsam damit umgehen und uns gut überlegen, wofür wir es ausgeben.“

„Ich bin sehr froh, eine solch verantwortungsvolle Tochter großgezogen zu haben. Aber wir sind gerade erst angekommen. Dein Onkel Paul hat uns ein unglaublich großzügiges Geschenk hinterlassen. Gleichzeitig verbinden sich damit eine ganze Reihe Verpflichtungen und Probleme. Ich denke, es steht uns zu, das Notwendige mit dem Angenehmen zu verbinden.“

Eine etwa fünfzigjährige Frau erschien mit einer Wasserkaraffe und Gläsern, schenkte ein und reichte ihnen die Karte.

„Ob sie auch Käsespätzle haben?“, scherzte Zach auf Deutsch.

„Dad! Mach jetzt keine Faxen. Wir hatten Aufregung genug.“

„Noi, hemmer net,“ mischte sich die Kellnerin in breitestem Schwäbisch ein, „abr probierat Se onsre Käs-Schbageddie; die send fascht genau so guat.“

Vater und Tochter schauten ihr erstaunt ins Gesicht, dann brachen sie in prustendes Lachen aus. Gäste an den Nachbartischen drehten sich neugierig zu ihnen um.

„Von Timbuktu bis Tokyo – die Schwaben sind auch überall anzutreffen,“ frotzelte Zach. „Leider bin ich selbst keiner. Nur im Ländle geboren. Wir unterhalten uns besser auf Hochdeutsch.“

„Kann ich nicht,“ gab die Kellnerin in aufgesetzt königlichem Englisch zurück. Sie grinste breit. „Ich bin übrigens auch keine Schwäbin. Meine Großeltern kamen in den 1960ern als Gastarbeiter von Milano nach Sindelfingen.“

„Und nun sind sie keine Engländerin,“ spann Veronica den Faden weiter.

„Ganz recht. Hier bin ich ‚die Kraut‘, aber das macht mich zu etwas Liebenswertem in den Augen der Leute. In Württemberg wären meine Kinder als Reingeschmeckte aufgewachsen. Im Übrigen liegt Liverpool nicht gerade in Afrika. Hier leben die Leute eben so gut wie im Ländle.“

Zach nickte wissend. Veronica schenkte der Frau ein warmes Lächeln. Diese nahm nun Haltung an, brachte ihren Bestellblock in Anschlag und erkundigte sich in gestelztem Englisch: „Wünscht der geschätzte Herr die Käse-Spaghetti zu ordern?“

„Gerne. Bitte mit geschmelzten Zwiebeln oben drauf. Und ein Bier dazu.“

„Sehr wohl, Sir.“

Veronica bestellte Lasagna und ließ sich Wein empfehlen. Dann verließ die Kellnerin den Tisch.

Zach wechselte das Thema. „Was hältst du von dem guten Doktor?“, erkundigte er sich.

„Miller? Ich weiß nicht. Hast du bemerkt, wie er mich anschaut?“

„Er scheint ein Mensch zu sein, der hinter Fassaden zu sehen versteht.“

„Das ging für meinen Geschmack ein wenig zu tief.“

„Na komm, er blieb streng auf dein Gesicht fixiert. Und du hast dich sehr gut gehalten. Ich denke, du hast den Test bestanden.“

„Den Test?“

„Ich vermute, er versucht herauszufinden, ob wir das Zeug haben, an Pauls Stelle zu treten.“

„Da hege ich so meine Zweifel,“ sagte Veronica. „Keiner von uns kann eine massenproduzierte Schallplatte von einer Rarität unterscheiden, geschweige denn die Geschichte der Beatles in allen Details wiedergeben. ‚In Sammlerkreisen steht die Nummer ‚LGF 969D‘ für einen Wagen, der vor vielen Jahren spurlos von der Bildfläche verschwunden ist‘,“ äffte sie den belehrenden Tonfall des Notars nach.

„696. Lennons Zulassung lautete LGF 696D.“

Veronica verdrehte die Augen.

„Gib dem Mann eine Chance. Der Verlust von Paul war für ihn größer als für uns, das Trostpflaster dagegen bedeutend kleiner. Und unterschätze deinen alten Herrn nicht. Vielleicht finde ich einen Weg, wie wir den Laden weiterlaufen lassen können. Auf seine besondere Weise scheint er für das kulturelle Leben hier ähnlich wichtig zu sein wie der Cavern-Club.“

„Ich kann‘s nicht erklären, weshalb, aber ich habe ein komisches Bauchgefühl bei Miller.“

„Ich möchte mich bald etwas ausführlicher mit ihm über Paul unterhalten. Vielleicht nach der Beerdigung. Ich habe immer noch keine Ahnung, wie er zu dem Mann geworden ist, als der er starb, was ihn bewegt hat, wer seine Freunde waren und all das. Was wir über sein Ende in Erfahrung gebracht haben, ist ebenfalls nicht gerade viel,“ lamentierte Zach.

Veronica griff nach seiner Hand. „Dann lass uns doch in den nächsten Tagen mit der Polizei reden. Die können uns sicher mehr sagen.“

„Gute Idee.“

Die Kellnerin servierte ihre Getränke, lächelte ihnen zu und verkündete, dass das Essen nicht lange auf sich warten lassen würde. Die Stimmung erholte sich deutlich. Sie speisten genussvoll und redeten bis in die späten Abendstunden. Als sie sich auf den Rückweg zum Hotel begaben, herrschte in Liverpools Gassen bereits feuchtfröhliches Partygedränge.