16) Das Bild im Spiegel

Sie gingen zuerst in das von Veronica in Besitz genommene Gästezimmer, da ihnen der kleinere Buchbestand trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit bewältigbar schien.

„Hast du schon in die Fächer des Sekretärs geschaut?“, fragte der Detektiv.

„Nicht in alle. Soll ich ihn mir vornehmen?“

„Unbedingt.“ Er trat an eines der maßgeschneiderten Regale und legte den Kopf schief, um die Titel auf den Buchrücken zu lesen. Allein in diesem Zimmer mochten an die zweitausend Bände stehen. Im Raumschiffleitstand, wie er Pauls Studierzimmer bei sich nannte, mochten drei bis vier Mal mehr untergebracht sein. Veronica hatte recht. Die Aufgabe, Pauls Leben in allen Einzelheiten zu untersuchen, wäre eine angemessene Strafe für jenen Verbrecher, der ihn ermordet hatte. Diese Sache besaß das Potenzial, sie auf Jahre hinaus mit nichtigen Details zu beschäftigen. Im Moment interessierten sie sich jedoch nur für die groben Züge, und sie waren auf der Suche nach Auffälligkeiten. Er wollte den Mann kennenlernen, dem er seinen unverdienten Wohlstand verdankte, nicht nur dessen Nutznießer sein. Da war es wieder, dieses Wort. Es trug den Beigeschmack des Parasitären. Wer hatte es sich auf die Fahnen geschrieben? Zach schob den Gedanken an den Rand seines Bewusstseins und konzentrierte sich wieder auf die Bücherwand vor ihm. Er mochte den literarischen Geschmack, der sich hier manifestierte. Paul hatte seinen Gästen eine große Bandbreite von Klassikern zur Verfügung gestellt, dazwischen einige wenig bekannte Perlen wie John Christophers ‚Leere Welt‘ oder Daniel Quinns ‚Ismael.‘

Veronica sprach ihn an. Sie hatte die Inspektion des Sekretärs zügig beendet und meldete nun, dass sie außer mit Rosenwasser parfümiertem Briefpaper und einigen Haarbändern nichts gefunden hatte, das der Erwähnung wert wäre. Sie vermute, dass sich weibliche Gäste hier aufgehalten hatten. Zach brummte. Veronica ging zum Bett, setzte sich auf die Kante, schaute sich um.

Zach nahm die Begutachtung der Büchersammlung wieder dort auf, wo er unterbrochen worden war. ‚Die drei Sonnen‘ von Cixin Liu; Simmels ‚Bis zur bitteren Neige‘, B. Travens ‚Das Totenschiff‘. Er zog den Band heraus. Eine Postkarte steckte als Lesezeichen darin; das Motiv zeigte den Hafen von Lissabon, die Nachricht auf der Rückseite war schwer zu entziffern. Er legte die Karte wieder ins Buch und stellte dieses an seinen Platz im Regal. Weitere Buchrücken, und noch weitere. Er zog einen dicken Schinken heraus. Ein Spalt im oberen Schnitt ließ erkennen, dass etwas in ihm steckte. ‚Die Brüder Karamasow‘ las er auf dem Einband. Er schlug das Buch auf. Ein Foto, das ihm bekannt vorkam. Zuerst begriff er nicht. Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schock: Das waren er und sein Stiefbruder, vor genau zweiundzwanzig Jahren. Sie standen vor der Kirche, Paul hielt Veronica, sein Patenkind, auf dem Arm, kurz nach der Taufe.

Zach drehte sich zu der jungen Frau um, die sie heute war. „Schau, das ist Paul…“

Sie lag auf dem Bett, die Augen geschlossen, die Füße noch immer auf dem Boden stehend. Ihr Atem ging ruhig. Ihr Vater betrachtete sie; ein sanfter Ausdruck legte sich auf seine Züge. Er holte tief Luft, schlug einen Zipfel der Tagesdecke über sie und stellte das Bild so auf den Sekretär, dass sie es beim Aufwachen sehen musste. Dann las er die Stelle, an der er es gefunden hatte. Sie schien ihm nichtssagend. Also schlug er das Buch zu, stellte es wieder ins Regal und verließ das Zimmer. Leise schloss er die Tür hinter sich.


Veronica erwachte irgendwann in der Nacht. Ihre Augen öffneten sich zuckend. Es war stockfinster. Sie fühlte sich, als schmerze jeder einzelne Wirbel. Vorsichtig stützte sie sich zunächst auf ihre Ellbogen, dann richtete sie sich vorsichtig in sitzende Position auf. Wo war sie? Schwaches Licht drang durch zwei Fenster. Ein kleiner Raum. Nachdem sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, schälten sich die groben Umrisse der Einrichtung schattenhaft heraus. Regale. Bücher. Ein Schränkchen… ein Sekretär! Ach ja, das Gästezimmer… nein, ihr Zimmer im neuen Zuhause, korrigierte sie sich. Die Erinnerung an den frühen Abend kehrte zurück. Sie war eingeschlafen, einfach so. Zu viel Information, zu viel Gefühlsachterbahn. „Bäääh!“, blökte ein Schaf in einem Winkel ihres Geistes. Veronica musste unwillkürlich lachen. „Danke fürs Wecken“, sagte sie. Sie rieb sich die Augen, dann tastete sie sich zur Tür und dem Lichtschalter daneben. Als das Licht aufflammte, kniff sie die Lider fest zusammen. Mann, war das grell. Durch enge Schlitze schaute sie zum Sekretär hinüber, auf dem ein Taschenwecker stand. Fast zwölf Uhr! Den Sonntag hatte sie also mit Bravour in süßem Nichtstun vergeudet. „Gut gemacht, Veronica!“, schalt sie sich. „Weit hast du‘s gebracht mit deinen Recherchen.“

Sie fühlte sich gleichzeitig wach und antriebslos und setzte sich daher auf den Boden, den Rücken ans Bett gelehnt. Was jetzt? Duschen? Dann wäre an Schlaf wohl nicht mehr zu denken; es würde ein langer, langer Tag werden, dieser Montag. Ihre Augen schweiften über die unteren Fächer des gegenüberliegenden Regals, ohne zu begreifen, was sie sah. „Bha-ga-vad-gi-ta“, buchstabierte sie träge den Titel eines dicken Buches. „Christian Rosenkreutz“ las sie auf dem nächsten Buchrücken. Darauf folgten „Das Ägyptische Totenbuch“, einige Bände aus der Hand Aleister Crowleys, drei Bände der „Geheimlehre“ von Helena Blavatsky, „Die Lehren des Hermes Trismegistus“, „Kybalion“, „Kabbala für Fortgeschrittene“ und dieser seltsame Band mit den ihr unbekannten Symbolen auf dem Rücken. Sie zog ihn heraus und öffnete ihn wahllos: das Faksimile einer alten Handschrift, Bilder von ihr unbekannten Pflanzen und Tieren, eingerahmt von schwer leserlichem Kauderwelsch, den sie nicht entziffern konnte. Schön aber schräg, dachte sie und stellte ihn zurück. Eine „Einführung in die Numerologie“ stand rechts daneben. Bedeutungsschwer, stellte sie fest, ungeeignet für diesen Moment. Sie würde Maria fragen, ob sie wusste, was es damit auf sich hatte. Die Müdigkeit drohte sie wieder zu übermannen. Um nicht erneut in zerknitterten Klamotten aufwachen zu müssen, zog sie sich aus, ließ alles einfach zu Boden gleiten, schlüpfte unter die Decke und war im Nu eingeschlafen.


Sechs Uhr früh. Erneut war sie die erste, die den beginnenden Tag begrüßte. Das wurde langsam zur Marotte. Draußen herrschte nebliges Grau, das jede Regung, das warme Bett zu verlassen, absurd erscheinen ließ. „Bleib doch noch ein wenig liegen,“ suggerierte es, „schließ die Augen und genieß das zwielichtige Reich des Halbschlafs.“ Doch Maria Borghese würde heute erneut vorsprechen. Veronica wollte besser darauf vorbereitet sein als tags zuvor, als das plötzliche Wiedersehen mit der sympathischen Bedienung aus dem italienischen Restaurant sie völlig überrumpelt hatte. Die Offenbarung, dass sich mit Maria eine Gelegenheit eröffnete, Onkel Pauls Werk fortzuführen, statt bei Null beginnen zu müssen oder den Laden einfach zu schließen, hatte sie ebenso unverhofft getroffen. Sie überlegte, wie sie Marias Talente auf die Probe stellen konnte. Ein, zwei vage Ideen begannen Form anzunehmen, während die junge Detektivin die Bettdecke beiseite schlug, die Füße auf den weichen Teppichboden stellte und sich auf den Weg zur Dusche machte.

Erfrischt und wesentlich erfolgreicher als bei ihrem nächtlichen Versuch, ihr Wachbewusstsein wieder herzustellen, schnappte sie zehn Minuten später einen Taschenspiegel von einer Ablage im Badezimmer. Sie eilte die Treppen hinunter, wo wie einen Blick auf das runde Bild unter McCartneys jugendlichem Gesicht warf. Spontan nahm sie es von der Wand, dann öffnete sie die Tür zum Verkaufsraum, schaltete das Licht ein und suchte nach der Stelle, an der Henry das Album aus den LP-Sortierkästen gezogen hatte. Sie blätterte durch fast zwei Dutzend Beatles-Scheiben, bevor sie fand, was sie seit Tagen unterschwellig beschäftigt hatte: Das Cover zeigte zahlreiche bekannte Gesichter – von Cassius Clay über Lorenz von Arabien und die Monroe bis zu Karl Marx – vor einem blauen Hintergrund. Dessen farbliche Intensität wurde nur durch die vier Gestalten im Vordergrund des bunten Haufens in seiner Dominanz angegriffen. Die Blasinstrumente, die sie in Händen hielten und ihre pseudomilitärischen Karnevalsuniformen wiesen sie als Marschkapelle aus. Ihre schnurrbärtigen Gesichter schauten selbstbewusst in die Kamera – ganz im Gegensatz zu den vier kindlichen dunkel gekleideten Pilzköpfen neben ihnen, die einen frisch aufgeworfenen Erdhügel am unteren Bildrand anstarrten. Auf ihm formten rote Blumen das Wort „Beatles“. Darüber, genau im Zentrum des Covers, zu Füßen der Marschkapelle, nahm das auffälligste Element der ganzen Szenerie den Blick der Betrachterin gefangen. Die große Basstrommel trug die Aufschrift „SGT.PEPPERS LONELY HEARTS CLUB BAND“.

„Da laus mich doch der Affe!“, dachte Veronica, die das Cover natürlich schon unzählige Male in ihrem Leben gesehen hatte, zuletzt mehrfach bei ihrem Gang durch Liverpools Cavern-Viertel – nur eben nie mit den Augen einer Detektivin, die ein Geheimnis aufzuklären versuchte. Es war so offensichtlich. Trotzdem war ihr früher nie der Gedanke gekommen, dass es sich um eine Begräbnisszene handeln könnte. Die kräftigen Farben und die vielen zuversichtlichen, teils lachenden Gesichter der versammelten Prominenz hatten sie glauben lassen, es handle sich um einen fröhlichen Anlass, an dem alle für ein Foto posierten. Doch der Spielmannszug hieß nicht „The Beatles“; diese lagen unter einer Blumenrabatte begraben. An ihre Stelle war Sergeant Peppers Klub der einsamen Herzen getreten, ein neuer Stern am britischen Rockmusikhimmel.

Veronica ging zum Tresen, legte die Schallplatte darauf und das runde Bild direkt daneben. Sie zückte den Taschenspiegel und hielt ihn waagerecht genau mittig über den Schriftzug „LONELY HEARTS”, so dass er den oberen Teil der Basstrommel spiegelte. Sie hatte halb gehofft, dass Onkel Pauls mysteriöse Wanddekoration lediglich ein schrulliges Stück bildender Kunst darstellte, bei dem der Urheber die Wirklichkeit ein wenig zurechtgezupft hatte, um sich interessant zu machen. Doch was ihr Spiegel zeigte, war mit dem Bild im schwarzen runden Rahmen völlig identisch. Statt „LONELY HEARTS“ las sie nun:

I ONEI X HE DIE

„Oh shit!“, zischte sie leise. Sie hatte keinen blassen Schimmer, was die linke Hälfte des kryptischen Schriftzugs zu bedeuten hatte. Es musste sich um eine Art Code handeln. Dafür schien die Aussage der rechten um so klarer. Die kleine Raute entpuppte sich als Pfeil. Was man auf dem Bild ihres Onkels nicht sehen konnte: Sie zeigte auf den Mann in der leuchtend blauen Uniform. Sie zeigte auf McCartney – Paul McCartney.

Halt, unterbrach Veronica sich selbst. Der Zusammenhang war auch im Hinterzimmer hergestellt. Es war das Porträt des jugendlichen Paul McCartney, das oberhalb des kleinen runden Rahmens hing. In ihrem Kopf brach ein Sturm zahlreicher Stimmen los, die alle gleichzeitig um Aufmerksamkeit buhlten: Was sollte das? Wollte die Band mitteilen, dass der Musiker gestorben war? Verschlüsselte der kryptische Teil des Codes den Hergang, das Datum oder den Grund? Wer spielte nun an Pauls Stelle?, ratterten manche ihren langen Fragenkatalog herunter, während andere, ohne eine schlüssige Antwort zu geben, jeden Zweifel an der Kontinuität der Bandgeschichte als Quatsch deklassierten; das Spiegelbild musste durch reinen Zufall entstanden sein, behaupteten sie. Es sei ein technisches Artefakt, in das Unsinn hineininterpretiert wurde.

„Aber weshalb hat Onkel Paul dieses Artefakt an die Wand gehängt?“, quengelten weitere Stimmen. „Doch bestimmt nicht, weil er es für Unsinn hielt. Und falls jener andere, jener bekanntere Paul verstorben ist, spielte das eine Rolle beim Mord an dem Ladenbesitzer desselben Vornamens?“

Veronica hatte den Eindruck, einer Pressekonferenz oder einer heftigen Parlamentsdebatte beizuwohnen, die durch eine provokante Äußerung des Redners in einen Hexenkessel erhitzter Gemüter verwandelt worden war – nur dass sich die „Debatte“, wenn man das erregte Geschrei so bezeichnen wollte, in ihrem Geist abspielte. Sie rieb sich die Schläfen, atmete tief durch. Das kakophone Geschnatter und Geratter wurde leiser und verstummte nach einer Minute regelmäßiger Atemzüge schließlich ganz. Sie würde dem nachgehen – aber nicht jetzt. Jetzt würde sie das Frühstück für ihren Vater und sich selbst auftischen, danach einen Imbiss für drei zubereiten.