20) Der letzte Beatle

Nachdem die Italienerin das Hinterzimmer gereinigt hatte, stieg sie die Treppen hinauf, um die Wohnung zu putzen. In der Küche traf sie Veronica, die mit einer Tasse Tee am Tisch saß. Sie entschuldigte sich für die Störung und teilte ihr mit, dass sie ihre Arbeit in den anderen Zimmern fortsetzen würde. Veronica schüttelte jedoch den Kopf und lud sie ein, sich zu ihr zu setzen. „Möchten Sie auch einen Darjeeling?“, fragte sie. Sie machte Anstalten, sich zu erheben, um eine Tasse aus dem Schrank zu nehmen.

„Bleiben Sie sitzen, Veronica.“ Maria öffnete das Fach mit den Gläsern und Tassen und nahm einen der Humpen heraus. Der zeigte eine Karikatur von Ringo; darunter stand: ‚Der letzte Beatle.‘ „Meine“, sagte sie, und als die Detektivin sie erstaunt ansah, ergänzte sie: „Ihr Onkel und ich verstanden uns sehr gut…“ Sie schien die Worte im Geiste auf ihre Wirkung zu prüfen. „Ich war jeden Tag zum Putzen hier. Wir diskutierten manchmal stundenlang über mögliche Suchwege, um ein Objekt wiederzufinden – oft genug genau hier, an diesem Tisch.“

Ein mitfühlender Ausdruck legte sich auf Veronicas Gesicht. „Die eigene Tasse am Arbeitsplatz aufzubewahren stellt kein Verbrechen dar.“ Sie schenkte Tee in den Ringo-Humpen. „Sie vermissen ihn, hm?“

Maria Borghese schloss ihre Finger um das sich erhitzende Gefäß. Sie nickte, sagte jedoch nichts weiter. Die beiden Frauen nippten eine Weile still an ihren Tassen. Schließlich begann die Italienerin: „Ich war ungefähr in Ihrem Alter, Anfang zwanzig. Ich hatte eine Tochter, gerade ein Jahr, und einen Freund, den ich heiraten wollte. Er stammte von der Alb. Wir studierten in Tübingen, er Medizin, ich Bibliothekswesen. Seine Familie gab mir ständig das Gefühl, dass ich als Katholikin und Gastarbeiterkind nicht dazugehörte. Die Leute beschweren sich, dass die Katholische Kirche fürchterlich altmodisch sei, und da ist ja auch etwas dran; aber im Vergleich zur Engstirnigkeit vieler Protestanten in Deutschland verhalten sich italienische Katholiken geradezu liberal. Ich hielt es nur mit Mühe aus und wollte fort, aber ich blieb, um mein Studium abzuschließen, und natürlich meinem Freund zuliebe. Mit der Zeit wurde mir klar, dass er es vermied, über unsere gemeinsame Zukunft zu sprechen. Er wich ganz besonders der Erörterung unserer Hochzeit aus. Irgendwann stellte ich ihn zur Rede. Er gestand mir, dass seine Eltern gegen mich eingestellt waren und dass er einfach unsere formlose Freundschaft weiterführen wollte. Ich sagte, dass ich das unserer Tochter gegenüber nicht fair fand. Ich hatte eine Stelle bei einem Dokumentationsprojekt in Liverpool in Aussicht; also schlug ich vor, wir könnten nach England gehen, er könnte sein Studium dort abschließen, und dann könnten wir heiraten.“

Die Italienerin betrachtete eine Weile ihr schaukelndes Spiegelbild im Tee. Dann schaute sie auf. „Er weigerte sich. Also habe ich einfach meine Sachen gepackt und bin abgereist. Ich nahm die Stelle bei dem Projekt an; sie stellten ein Buch zur Geschichte populärer Musik in Liverpool zusammen. Ich war verantwortlich für die Bibliografie. Ich produzierte eine Liste von Zeitschriftenartikeln für sie, die, glaube ich, ihresgleichen suchte, doch leider zerstritten sich die Projektleiter, bevor das Werk veröffentlicht werden konnte. Eines Tages erhielt ich den Kündigungsbrief, aber der Beatles-Virus hatte mich längst befallen. Die Widersprüche in der offiziellen Story faszinierten mich über alle Maßen, also begann ich, mich tiefer in die Bandgeschichte einzulesen. Die meisten Buchautoren schwelgten in kritikloser Heldenverehrung. Das Internet befand sich gerade erst im Entstehen. Da war ebenfalls nur wenig zu finden – oftmals von mehr Enthusiasmus als von Sachkenntnis getragen. Also suchte ich nach Zeitzeugen.“

Maria nahm einen Schluck aus ihrer Tasse, hob den Blick zur Decke. Sie fort: „Auch da stieß ich überwiegend auf Menschen, die die Beatles auf ein Podest stellten oder gar zu Göttern der Rockmusik erhoben, aber es gab ein paar, deren Erinnerungen mir reflektierter schienen. Langsam formte sich ein Bild, das die Sechzigerjahre in einem weniger verklärten Licht zeichnete. Ich begann zu verstehen, dass Musik auf dieselbe Weise zum Showbiz gehört wie die Schauspielerei. Das gilt bis heute. Es kommt auf die vermittelte Attitüde an. Die weit überwiegende Zahl der Gruppen und Solomusiker erhielten ihre Verträge mit den Labels für ihr Aussehen und ihr Auftreten, nicht für ihre Qualitäten als Songschreiber oder Künstler. Die Firmen heuerten damals professionelle Songschreiber und Sessionmusiker an, um Platten aufzunehmen. Alle Profis aus der Zeit bestätigten, dass die wenigsten Major-Bands auf ihren eigenen Alben spielten. Hinter den meisten großen Namen der Sechziger und Siebziger standen Studioorchester wie die Wrecking Crew oder Mietmusiker wie der Trommler Bernard Purdie, der behauptet, auf über 20 Stücken der Beatles zu spielen. Ringo Starr sei an den ersten Alben der Band überhaupt nicht beteiligt gewesen.“

„Sie meinen, die Beatles waren vom ersten Tag an fake?“

„Ein hartes Wort. Innerhalb der Szene war das Musikdarstellertum keine Schande sondern der Normalfall. Die Masse der Konsumenten verlangte nach dem schönen Schein, nach Vielfalt der Stile und Ausdrucksformen. Sie identifizierten sich mit Elvis, Fats Domino, den Beatles oder Aretha Franklin, aber letztlich hörten sie immer wieder dieselben Musiker in stets neuer Verpackung. Die Hülle einer Schallplatte erfüllt genau die Funktion, die das Wort ‚Cover‘ benennt: Sie verdeckt den realen Produktionsprozess und bemäntelt ihn mit einem ‚Image‘, einer Scheinwirklichkeit.“

Veronica seufzte. „Das hat also funktioniert wie in der Politik. Wer blühende Landschaften verspricht, wird gewählt. Wer wahrheitsgemäß berichtet, wie‘s aussieht, landet im Abseits.“

„Der Sturz der Monkees war für die gesamte Szene eine Warnung, den Schein des begnadeten Talents unter allen Umständen zu wahren. Purdie erwähnte, dass er nicht nur für seine handwerklichen Dienste fürstlich entlohnt worden sei sondern auch für sein Schweigen.“

„Okay, aber was die Beatles von den anderen unterschied, war vor allem ihre Fähigkeit, tolle Songs zu schreiben, die selbst fünfzig bis sechzig Jahren später noch die Menschen begeistern. Bis heute sagen viele Bands, dass die Pilzköpfe sie am meisten beeinflusst hätten.“

„Als Ihr Onkel Paul Anfang der 2000er in Liverpool ankam und seinen Laden eröffnete, freundete ich mich sofort mit ihm an. Im Gegensatz zu diesen ganzen Andenkenläden und Rockschuppen im Cavern-Viertel, die die Idolverehrung ihrer touristischen Kundschaft bedienen, folgte er einem völlig anderen Konzept. Er wollte wissen, was damals wirklich geschah, denn das eröffnete ihm neue Fährten, die verloren geglaubte Unikate wieder zutage fördern halfen. Die Pädophilie-Affäre in der BBC hatte seinen Blick für die dunklen Ecken der Musikindustrie geschärft. An der Behauptung, jemand könne ein ganzes Album mit über einem Dutzend Stücken in ein paar Stunden rundfunkreif einspielen, hegte er schon immer seine Zweifel. Er wusste, wie viel Arbeit es kostete, professionell klingende Arrangements zu erzeugen. Den Nachweis, dass es sich bei der offiziellen Story von den angeblich genialen Beatles nur um eine Schneewittchengeschichte handelt, lieferten jedoch andere, und erst sehr viel später. Ein gewisser Mike Williams nahm die Chronologie der Aufnahmen für das Album Rubber Soul auseinander. Die Behauptung, die Beatles hätten sechzehn Songs in 30 Tagen geschrieben, eingeübt, eingespielt, gemischt und produziert, ist seiner Erfahrung als Musiker zufolge völlig unglaubwürdig. Technisch unmöglich wird die Geschichte, wenn man bedenkt, dass für die Veröffentlichung lediglich drei weitere Wochen zur Verfügung standen. Das war nur machbar, wenn außer dem Pressen und Verpacken der Vinylscheiben nichts mehr zu tun blieb. Das hieß, die Labels und das Cover mussten fertig gedruckt sein, und das setzte voraus, dass die Titel der Songs, ihre Spiellänge und Anordnung bekannt waren – Wochen oder Monate bevor die Beatles, angeblich mit leeren Händen, ins Studio gingen.“

„Häh?“ Veronica schüttelte den Kopf. „Wer spielt dann auf dem Album? Und wenn alles Fake ist, wieso überhaupt ins Studio gehen? Warum gibt man nicht von vorn herein eine glaubwürdigere Chronologie an?“

„Die Beatles nahmen 1965 das Album Help! auf, gingen auf Tour, und standen für einen Film vor der Kamera. Der Öffentlichkeit war bekannt, wo sie sich zu jeder beliebigen Zeit aufhielten. Fürs Songschreiben und Aufnehmen blieb ihnen nach ihrer Ochsentour keine Zeit, denn zu Weihnachten musste eine weitere Scheibe, Rubber Soul, in den Läden stehen, um das Produkt The Beatles kommerziell maximal auszuschlachten. Sie selbst sagten, sie seien ausgebrannt gewesen und hätten keine Songs in Reserve gehabt, die sie hätten einbringen können. Der Weihnachtstermin ließ sich nur halten, wenn die Stücke fertig geschrieben und die Instrumente weitgehend eingespielt waren, als die Beatles ins Studio gingen. Sehr wahrscheinlich haben sie dort kaum mehr getan, als die Gesänge beigesteuert. Ihnen blieben pro Stück gerade einmal ein oder zwei Tage Zeit, es perfekt hinzubekommen.“

„Was ist mit den Credits? Lennon-McCartney?“

„Lassen Sie mich aus einem Mersey Beat-Artikel zitieren, der kurz vor den Aufnahmen zu ihrem ersten Album im September 1962 erschien: ‚Die Beatles werden nach London fliegen, um in den EMI-Studios aufzunehmen. Sie werden Stücke einspielen, die sie von ihrem Aufnahmeleiter George Martin erhalten haben und die eigens für die Gruppe geschrieben worden sind.‘ Der selbe George Martin erzählte später in Interviews, dass er in der Band weder die künstlerischen noch die handwerklichen Fähigkeiten gegeben sah, die es seiner Ansicht nach für einen Erfolg gebraucht hätte.“

Veronica stand der Mund offen.

Maria Borghese lächelte. „Natürlich sind das alles keine gerichtsfesten Beweise, aber starke Indizien. Die hochtrabenden Behauptungen der offiziellen Story hingegen sind durch überhaupt nichts belegt. Niemand hat bezeugt, die Jungs Stücke schreiben zu sehen. Von den Aufnahmeterminen gibt es kein Filmmaterial. Die wenigen Fotos sehen gestellt aus. Von den einhundert Songs, die sie angeblich bis zu ihrer ersten Scheibe geschrieben haben sollen, finden offiziell nur eine Hand voll Verwendung; vom Rest sind nicht einmal die Titel bekannt. Fast die Hälfte des Materials, das sie live und auf Schallplatten zum besten geben, besteht aus Coverstücken, und das bleibt so bis zum letzten Konzert 1966. Es ändert sich erst, als mit Billy Shears ein ausgebildeter, erfahrener Studiomusiker McCartneys Platz einnimmt. Darum hatte Signore Campbell die Peppers-Skulptur und das Rubber Soul-Bild im Schaufenster angebracht. Sie symbolisieren die beiden großen Lügen um diese Band: dass sie Ausnahmetalente gewesen seien, die Hits auf Kommando ausspucken konnten, und dass sie von Anfang bis Ende die selben vier Freunde geblieben seien. Die Beatles waren das Produkt einer Industrie, die massenkompatible Illusionen verkaufte.“

„Es gab also ein virtuelles Fließband, das Hits nach Plan produzierte, und die Verkaufsfronten waren die Bands“, spann Veronica den Faden weiter.

„Nicht gab – gibt!“, erwiderte die Italienerin. Wenn sich junge Musiker heute wundern, weshalb sie trotz unbestreitbarer Fähigkeiten nicht weiterkommen, liegt es daran, dass es für die Labels in der Regel teurer wird, wenn sie wilde Talente fördern, als wenn sie den Nachwuchs selbst züchten. Die einen sind schwer zu kontrollieren, denn sie besitzen Kreativität und einen eigenen Willen, diese zu entwickeln; die anderen sind willenlose, abhängige Werkzeuge in den Händen einer Maschinerie, die sie in vorgefertigte Formen pressen und mit einem konstruierten Image versehen kann.“

Veronica zog ein säuerliches Gesicht. „Mir haben die Sechziger, die ich aus dem Fernsehen kenne, besser gefallen.“ Sie leerte ihre Tasse, schaute das Bild McCartneys darauf an und sagte angeekelt: „Bäääh!“

„Bä-ä-äh!“, korrigierte Maria sie im Tonfall eines blökenden Schafs.

Die beiden Frauen sahen sich gegenseitig an, dann begannen sie zu lachen.

„Wirklich? Bä-ä-äh? Was macht Sie so sicher?“

„Ich habe die Tasse für Paul anfertigen lassen. Sie war mein letztes Geburtstagsgeschenk an ihn…“ Maria seufzte. „Sie kennen die dargestellte Szene nicht?“

„Würde ich sonst fragen?“

„Sir Paul stellte sich bei einer Veranstaltung in Moskau den Fragen einiger Reporter. Jemand wollte wissen, ob er echt oder ein Double sei. Er antwortete, das könne er nicht sagen, es sei ein Geheimnis. Als er kurz darauf den Platz verließ, drehte er sich nochmals um und meckerte ziemlich überzeugend ins Mikrofon.“

„Bizarr! Und was sollte das?“

„Manche meinen, es sei eine herablassende Geste gegenüber den ‚sheeple‘, den Schafmenschen gewesen, die sich von den Massenmedien einseifen lassen, aber das ergibt keinen Sinn. Wenn man weiß, dass einer der Namen des Doubles William Shepherd, also Schäfer, lautet, bekommt man auf die Frage des Reporters eine klare Antwort.“

Veronica schaute noch immer zweifelnd drein. „Maria, wenn ich Ihnen zuhöre, komme ich mir dumm vor, diese Dinge nicht selbst schon längst entdeckt zu haben. Mein Vater und ich haben vor ein paar Tagen versucht, mehr über Mal Evans‘ Archiv herauszufinden, und sind dabei auf ähnlich skandalöse Zustände gestoßen. Einerseits sieht es nach einer regelrechten Desinformationskampagne aus, andererseits könnte der Anschein auf eine Reihe von Missverständnissen, Missinterpretationen und ungeschickten Äußerungen zurückzuführen sein. Die Sache ist wirklich riesig, wenn man die ganzen Implikationen bedenkt. Verstehen Sie, was ich meine?“

„Wie viele Aussagen wie die in Moskau brauchen Sie, bevor Sie zu der Ansicht gelangen, dass er sich nicht lediglich ungeschickt verhalten hat? Drei? Sechs? Zehn? Ich kann Ihnen wenigstens ein Dutzend davon zeigen. Sir Paul ist oft zur Doppelgängertheorie befragt worden. Jedes Mal antwortet er zweideutig, statt sich klar von der Behauptung zu distanzieren. Es gibt fast eben so viele belegte Äußerungen von engen Freunden und Kollegen, die ihn mit ‚Billy‘ oder ‚William‘ anreden oder von McCartney in der Vergangenheitsform sprechen. Er hier –“ sie zeigte auf die Ringo-Karikatur auf ihrer Tasse, „behauptet von sich, der letzte lebende Beatle zu sein. McCartneys Bruder Mike sagte einmal, er habe Paul zuletzt auf dessen Beerdigung gesehen. Ab wann werden aus vermeintlichen Missverständnissen Einsichten? Ich verstehe Ihre Befürchtungen nur zu gut, Signorina. Es geht nicht um die John White Band aus Chickenham, sondern um die größte und bis heute einflussreichste Musikgruppe der Geschichte. Es handelt sich ‚bloß‘ um Unterhaltung, doch wenn hier unter den Augen der interessierten Weltöffentlichkeit solche Stunts abgezogen werden konnten, was geschieht dann an weniger beachteten Stellen, die wirklich von Bedeutung sind? Die Antwort auf diese Frage erschüttert das gesamte Bild, das man sich von der Welt gemacht hat. Es hat mein Weltbild erschüttert. Es schmerzt; glauben Sie mir, ich weiß das. Aber sie müssen sich entscheiden, was Ihnen wichtiger ist: die hübsche Fassade Ihres Denkgebäudes oder die Integrität seiner Substanz.“

15) Eine wichtige Botschaft

„Ich suche Sie im Auftrag von Mr Kite auf. Er ist Stammkunde in Campbell‘s Fab Store und…“

„Ich weiß, wer Mr Kite ist, –“ schnauzte Zach, wenngleich weniger druckvoll, als er beabsichtigt hatte. Sein Ärger über die Störung begann sich bereits aufzulösen. Als Vollblutddetektiv plagte ihn permanent die Neugier. So auch jetzt. Welch kauziger Auftritt dieses Typen, der keinen eigenen Namen nannte, sondern sich als Besitz eines wesentlich bedeutsameren Befehlsgebers zu verstehen schien – formell gekleidet, aber eben lediglich der Hund eines Herrchens, unter dem er sich zweifelsohne eine Ehrfurcht gebietende Präsenz vorzustellen hatte. Seit Paul ihm gezeigt hatte, wie man die unbesiegbare Aura der scheinbar Allmächtigen brach, beeindruckten ihn Äußerlichkeiten wie Kleidung, Posen oder Wortgewalt jedoch überhaupt nicht mehr. Er würde diesem Wauwau die Hausregeln erklären und ihm dann freundlicherweise erlauben, den Wunsch seines Herrn vorzutragen. „– aber am siebten Tage ruhte selbst Gott, der Herr,“ fuhr er fort, „und ich habe nicht vor, daran etwas zu ändern. Sonntags bleibt dieses Geschäft geschlossen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag.“

Er tat so, als wolle er der Melone die Tür vor der Nase zuschlagen. Diese öffnete und schloss ihren Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen, hob schnell die Hand und würgte ein krächzendes „Aber…!“ hervor.

„Ist noch was?“, fragte Zach.

Melone fasste sich mit der Rechten ins Revers, tastete eine gefühlte Ewigkeit darin herum und produzierte schließlich eine Visitenkarte, die er dem Detektiv wortlos entgegenstreckte. Zach musterte den Mann von oben bis unten, bevor er sie annahm. Lässig drehte er sie zwischen den Fingern, dann schaute er nach unten. Er las:

‚M. Kite, Nutznießer. The Wallace Castle Liverpool, Scotland Road,‘ und eine Telefonnummer.

„Mr Kite, ja. So weit waren wir schon.“

Erneut hatte er Melone auf dem falschen Fuß erwischt. Die Augen weiteten sich, der Mund formte ein O, durch das Luft hörbar nach innen strömte. Einen Moment schien es, als wolle er zu weinen anfangen, doch dann begann der Mann, seine Fassung wiederzugewinnen. Er räusperte sich und sagte: „Mr… hrm… Kite wünscht mit Ihnen zu sprechen und schlägt ein Treffen auf seinem Schloss vor. Er lässt fragen, ob es Ihnen gleich morgen recht wäre.“

Zach ging im Geist ihre Vorhaben für den kommenden Tag durch. „Nein,“ erwiderte er. Sie würden ausgiebig mit Maria Borghese sprechen. Eventuell würde auch Henry hereinschauen; wer konnte sagen, wie viel Zeit sie danach brauchten, alles zu verarbeiten, oder welche Erledigungen umgehend zu tätigen sein würden. „Morgen bleibt keine Zeit für zusätzliche Termine,“ fuhr er fort. „Was, meinen Sie, wird Mr Kite von dem Vorschlag halten, das Treffen um einen oder zwei Tage zu verschieben?“

Der Mann zog ein Taschentuch heraus, nahm seine Melone ab und tupfte sich die Stirn. Dieses Gespräch schien seinem Handlungsspielraum das letzte abzuverlangen. Zach hegte fast so etwas wie Mitgefühl für ihn, doch so leid es ihm tat – man musste seine Pflöcke früh genug einschlagen, sonst wurde man gnadenlos überfahren. Er hatte nicht vor, den Laufburschen für die örtliche Schickeria zu spielen, und er würde es sie von der ersten Sekunde an wissen lassen.

Melone hatte sich endlich zu einer Antwort durchgerungen. Er sagte: „Ich… äh, betrachten Sie Dienstag als bestätigt. Bitte finden Sie sich pünktlich um 11 Uhr mittags in Wallace Castle ein. Auch Ihre Begleiterin ist willkommen.“ Er tupfte erneut Schweiß von der Stirn.

Zach nickte ihm zu. „Einverstanden. Richten Sie Mr Kite meinen Dank für seine Einladung aus. Ich freue mich, mit ihm plaudern zu können.“ Er griff in die Gesäßtasche seiner Hose, holte eine Zehn-Pfund-Note heraus und steckte sie der Melone in die Brusttasche. Er lächelte dem Mann freundlich zu, dann drehte er sich um, ging in den Laden zurück und schloss die Tür. Ohne sich noch einmal umzusehen strebte er der hell erleuchteten Tür des Hinterzimmers zu, diesmal sorgfältig darauf achtend, nicht mit Hindernissen zusammenzustoßen. Auf dem Weg nach hinten entgleisten ihm sämtliche Gesichtszüge; er zwang sich zu einem ruhigen aber zügigen Schritt. Doch sobald er die Tür hinter sich zugeworfen hatte, platzte es aus ihm heraus. Er begann lauthals zu lachen. Veronica, die die seltsame Unterhaltung verfolgt hatte, stimmte sofort mit ein. Sie prusteten und keuchten und krümmten sich mehrere Minuten lang. Jedes Mal, wenn einer der beiden sich etwas beruhigen wollte, überwältigte sie eine erneute Lachsalve. Tränen rannen ihnen an den Wangen herab. Sie klopften sich gegenseitig auf den Rücken, stampften mit den Füßen und ließen sich etliches später endlich halb entkräftet auf ihre Sitze fallen.

„Hätte ich ihn fragen müssen, ob wir etwas aus der Pommesbude zu essen mitbringen sollen?“, setzte Zach erneut an. Die Frage löste eine weitere Runde vergnügten Gackerns aus.

„Schluss jetzt, ich kann nicht mehr!“, japste Veronica.

„Schmeiß den Film wieder an,“ krakeelte ihr Vater, „ich sehne mich nach echten Menschen.“

„Und ich nach authentischen Außerirdischen“, ergänzte sie.


Der Film lenkte sie für ein Stündchen von der Begegnung ab, und von all dem, was mit dem Mord an dem armen Onkel Paul zusammenhing. Weder Zach noch Veronica war wohl zumute, wenn sie daran dachten, welche Umstände sie nach Liverpool in dieses Haus geführt hatten. Ihre flippigen Unterhaltungen, durch die sie ein Stück ihrer Londoner Normalität in diese unbekannte Stadt importierten, und das hysterische Gelächter von gerade eben, das ihrem irrationalen Spiel mit schwer einzuschätzenden Gefahrenquellen geschuldet war, lagen wie ein dünner Firnis über dem tief sitzenden Gefühl von Bedrohung, das sie beschlichen hatte. Erst vor fünf Tagen waren sie hier eingetroffen, aber Thomas Henry Bishops Warnung, dass der Abgrund, in den sie gerade blickten, zu ihnen zurückschauen könnte, verfolgte sie bis in die unruhigen Träume des langen Mittagsschlafs, den sie sich heute gönnten. Als sie gegen drei Uhr nachmittags erwachten – mit Schmerzen im Hintern, gebrochenem Kreuz und zerknittertem Gesicht – hatte sich ihre Stimmung ins Gegenteil dessen verwandelt, was sie am Morgen gewesen war. Veronica setzte eine neue Kanne Kaffee auf, dann machten die beiden es sich in einer Art Katzenjammer am Küchentisch bequem.

„Was mich seit Tagen irritiert,“ begann Zach, „ist diese seltsame Leere an der Stelle, an der Paul einen Platz in meinem Herz haben müsste. Er war mein bester Freund, als wir zur Schule gingen, und eine große Stütze zu der Zeit, als du zur Welt gekommen bist. Er verdiente ein Dankeschön und eine Entschuldigung, doch er ließ sie mich nie aussprechen. Zwanzig Jahre lang hielt er sich vor mir versteckt, und dann plötzlich dieser gewaltsame Tod, der endgültig alle Brücken zwischen uns einreißt. Diese Erkenntnis der unwiderruflichen Trennung war es, die mich im ersten Moment schockierte. Ich sollte traurig sein oder auf eine egozentrische Weise verärgert, weil er mir jede Gelegenheit genommen hat, unser geknicktes Verhältnis wieder zu kitten. Aber: nichts. Da ist nichts. Ich fühle – nichts! Er ist als ein unbekannt Gewordener gestorben, als Kondensationskern einer Gemeinschaft schattenhafter Fremder, als Kenner einer untergegangenen Kultur, der es zu Reichtum gebracht hat, indem er deren Artefakte aus dem Dunkel der Zeit ins Licht der Gegenwart zerrte. Weder zu dem Mann noch zu dem, was er uns hinterlassen hat, kann ich eine Beziehung herstellen… verstehst du, was ich sagen will?“

Veronica, über ihren Humpen gebeugt, den sie mit beiden Händen festhielt, hob den Blick, um ihrem Vater direkt in die Augen zu schauen. „Ich kann nur vermuten, was du fühlst – oder eher, was du nicht fühlst“, antwortete sie langsam. „Vielleicht ist es schwieriger für dich als für mich, weil du ihn einmal gekannt hast. Für mich besitzt er kaum mehr Substanz als der König aus einem Märchen oder irgendein Fremder, über den die Zeitungen berichten. Ich fühle keine Trauer, weil Onkel Paul nie einen Raum hier drin“ – sie klopfte sich auf die Brust – „eingenommen hat.“ Veronica überlegte kurz. „Total abgefahren! Ich meine, von einem Moment auf den anderen tritt jemand in mein Leben, der die Macht hat, es völlig auf den Kopf zu stellen, und ich weiß nicht einmal, wie er aussieht… aussah. Ich lerne ihn kennen, indem ich seine Überreste vom Boden kratze, seine Wohnung benutze, mit seinen Geschäftspartnern den Faden wieder aufnehme und mich für die Dinge zu interessieren beginne, die für ihn eine Bedeutung hatten. All das scheint mir mehr abenteuerlich als traurig.“

„Bäääh!“ – das Meckern eines Schafs.

Veronica sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. „Womit habe ich diesen Kommentar verdient, Herr Ziegler? Gerade noch wähne ich mich in einem ernsthaften Gespräch, und plötzlich reden Sie in Zungen.“

„Dank deiner Erläuterungen kam mir gerade der Gedanke, dass Paul hier“ – er drehte seine Tasse so, dass seine Tochter das Foto McCartneys sehen konnte und tippte mit dem Zeigefinger darauf – „nicht etwa seine Meinung zur Qualität des Tasseninhalts abgibt, sondern eine wichtige Botschaft für uns hat.“

Veronica schüttelte irritiert den Kopf. „Die da lautet?“

„Steht doch da.“

„Bäääh!? Das ist mir zu hoch.“

Zach stieß ein bellendes Lachen aus. „Wenn wir den wahren Paul erkennen wollen, müssen wir ihn völlig neu sehen lernen“, sagte er. „Nicht so, wie andere ihn für uns zeichnen – den netten Mann, der stets etwas Schönes für die Leute aus dem Hut zauberte –, aber auch nicht so, wie er sich selbst verstand: als Schäfer einer Herde, die zu dumm ist, seine wahre Funktion zu erkennen.“

„Okaay…“, sagte Veronica gedehnt. „Und wie stellen wir das an?“

„Indem wir ihn beobachten, ihn regelrecht ausspionieren – so, wie wir es bei einem Auftrag normalerweise tun. Wir lesen seine Emails, scannen seine Festplatte, prüfen seine Kontobewegungen, schauen in seine Manteltaschen,“ – Veronica schluckte; – „durchsuchen seine Möbel, leuchten in die staubigen Ecken seiner Wohnung, suchen nach verborgenen Hohlräumen, vollziehen seine Tagesaktivitäten nach. Was wir finden, vergleichen wir mit dem, was er über sich selbst erzählt hat und was andere über ihn sagen.“

„Arbeit für eine, die Vater und Mutter erschlagen hat… Na gut. Da passt ja unser Vorhaben, die Hausbibliotheken zu inspizieren, perfekt ins Programm. Suchen wir nach etwas Bestimmtem oder wollen wir uns zunächst ein allgemeines Bild von der Sammlung machen?“

„Lass uns schauen, womit er sich beschäftigt hat, welche Fächer und Themen ihn interessierten. Vielleicht fällt uns dabei schon etwas auf, dem man weiter nachgehen kann: viel benutzte Bücher mit Markierungen, Widmungen oder Randnotizen; Briefe und Fotos, die als Lesezeichen eingelegt wurden – derlei.“

14) Sterne, Raumschiffe, Aliens

„Keine Brezeln“, verkündete Zach die schlechten Neuigkeiten, nachdem er von der Jagd zurückgekehrt war. „Was schwäbische Spezialitäten angeht, liegt Liverpool eben doch in Afrika.“

Der Tisch war für zwei gedeckt, der Kaffee brodelte auf seiner Warmhalteplatte und die Sonne schien zum Fenster herein und tauchte den Raum in ein warmes Licht. Die Szene machte Lust auf einen gemütlichen Tag. Tochter und Vater setzten sich einander gegenüber.

„Apropos Afrika,“ begann Veronica das Gespräch, während sie Zach schwarze Brühe in die vorgewärmte Tasse goss. „Rate mal, wer heute früh vor dem Laden stand?“

Der Detektiv nippte kurz, dann goss er sich die Hälfte seines Humpens hinter die Binde. Veronica hatte in Pauls Küchenschränken eine bunte Sammlung von Motivtassen in allen Größen gefunden, die meisten mit Beatles- oder sonstigem Musikbezug. Die größte unter ihnen, die sie Zachs Gedeck beigefügt hatte, trug auf einer Seite ein Foto des mittelalten Paul McCartney; er schaute direkt in die Kamera, hatte die Augenbrauen angehoben, den Mund halb geöffnet, die Lippen gespreizt; ein Schriftzug verkündete, was das Bild fast von allein zu sagen schien: „Bäääh!“ Sie hegte den Verdacht, dass sich dahinter mehr als nur Klamauk verbarg, fand das Motiv jedoch auch ohne Insiderwissen urkomisch.

„Ist das wieder eins von deinen Ratespielchen, mit denen du mich morgens so gern quälst?“

Veronica ließ einen Moment verstreichen, während sie ihn herausfordernd anschaute. „Ja,“ sagte sie gedehnt.

Zach seufzte. „Afrika-Bezug also. Jemand, den ich kenne, natürlich.“

„Ja.“

„Aus London?“

„Nein.“ Sie schlachtete die Bäckereitüte, in der sich sechs Brötchen befanden. Eines von ihnen zog sie heraus und legte es demonstrativ bei sich auf den Teller. „Du hast noch fünf Fehlversuche, dann wärme ich dir Eintopf auf.“

Zach feixte. „Aus Liverpool dann?“

„Ja.“

„War Henry the Horse wieder hier?“

„Nein. Der sagte doch, dass er immer Montags in der Stadt frühstückt – morgen erst.“ Sie zog ein zweites Brötchen aus der Tüte und legte es wiederum auf ihren Teller. „Das war ein dummer Fehler, Herr Ziegler.“

„Miller?“

Veronica griff wortlos ein weiteres Brötchen aus der Tüte, um es den anderen beizugesellen.

Aus Zachs Kehle ertönte ein Grollen, das geeignet war, einem Pitbull Minderwertigkeitskomplexe einzuflößen. „Ich kenne niemand aus Afrika. Keiner von unseren Bekannten ist dort gewesen. Ist das wieder so ein Ding mit Beatles-Bezug?“

Veronica überlegte. „Ja, aber davon kannst du nichts wissen. Daher: nein!“ Sie schnappte sich eine vierte Schrippe aus der braunen Papiertüte.

„Leg das zurück! Du verstößt gegen die Regeln!“

„Verklag mich doch. Möchtest du einen Hinweis kaufen?“

„Ja; und wehe, du führst mich aufs Glatteis…“

„Würde ich nie wagen.“ Sie kassierte das vorletzte Brötchen aus der Tüte, grinste. „Sie spricht Schwäbisch, aber kein Hochdeutsch.“

Zach klatschte sich mit der Hand auf die Stirn. Ein Stöhnen entrang sich seiner Brust. „Ach, klar. Die Reingeschmeckte – die Kraut mit den italienischen Wurzeln. Die war heute Morgen hier? Hast du mit ihr gesprochen?“

Als Veronica nach der Bäckertüte griff, um ihm das verbliebene Brötchen zu reichen, schnappte er blitzschnell selbst danach und riss sie an sich. Sie zuckte die Achseln. „Ja, die war‘s. Siehst du – kein Beatles-Bezug, soweit es dich betrifft. Ich habe völlig fair und korrekt gespielt.“

„Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen. Was sucht eine katholische Frau zu solch unchristlicher Zeit in einem Rockmusikladen? Was erzählte sie?“

Veronica berichtete unter wortgetreuer Wiedergabe von ihrer Begegnung mit Maria Borghese.

Zach bestrich sein einsames Brötchen mit Butter und Marmelade und kaute genüsslich auf den großen Bissen, die er sich davon einverleibte, während er seiner Tochter zuhörte. „So heißt sie also. Maria,“ kommentierte er, als sie geendet hatte. „Ein hübscher Name; der passt zu ihr.“

„Das ist alles, was dir zu ihr einfällt? Ein hübscher Name? Muss Liebe schön sein“, stichelte sie gutmütig.

„Also, man wird doch noch…“ Er schnaufte, schaute sehnsüchtig auf den gegenüberliegenden Teller und fragte: „Leihst du mir eins von denen?“

Veronica lächelte warmherzig. „Nimm so viele, wie du magst. Mehr als eins oder zwei schaffe ich eh nicht.“ Dann fuhr sie fort: „Ich fand, sie war gut gekleidet, sah selbstbewusst aus und sie hat einen geistig wachen Eindruck auf mich gemacht. Ich glaube außerdem, sie verfügt über einige Menschenkenntnis und Mitgefühl. Sie zeigt Sinn für Humor, muss wohl detektivisches Gespür besitzen, wenn sie Pauls Suchaktionen zu Erfolg verholfen hat, und scheint entscheidende Einzelheiten in großem Umfang wahrnehmen und erinnern zu können.“

„Fast zu gut, um wahr zu sein“, pflichtete Zach ihr zufrieden kauend bei. „Bist du womöglich diejenige hier, die sich ein bisschen verknallt hat?“ Er zwinkerte, als sie empört schnaubte. „Schon okay, ich werde morgen mit ihr reden. Wenn sie auch nur halb so kompetent ist, wie es aussieht, kann sie bei uns bleiben. Wir brauchen dringend Hilfe, sobald wir den Laden wiedereröffnen.“

„Wow, das kommt überraschend. Du hast dich entschieden, ihn zu behalten?“

„Vorerst. Mit Marias Hilfe werden wir den Abverkauf von Teilen des Bestands durchführen. Falls das klappt, könnten wir einen Kundenauftrag annehmen, um zu sehen, ob wir in der Lage sind, den Fab Store gewinnbringend weiterzuführen. Über ein mögliches Engagement jenseits davon will ich im Augenblick gar nicht nachdenken. Die großen Herausforderungen beginnen dort gerade erst. Eine Chance auf Erfolg hat der Laden einerseits eh nur mit deiner Unterstützung, andererseits müssen wir die Detektei in unsere Planungen einbeziehen. Für dich als Mitinhaberin könnte sie das Rückgrat deiner beruflichen Zukunft darstellen. Wir sollten uns in den kommenden Wochen und Monaten also ausgesprochen vorsichtig auf eine endgültige Entscheidung zubewegen.“

„Oder mit allen vier Händen die einmalige Gelegenheit beherzt beim Schopf packen. Dank Onkel Pauls Barvermögen verfügen wir über ausreichend Substanz, gegebenenfalls jederzeit irgendwo etwas Neues anzufangen. Bessere Ausgangsbedingungen werden wir niemals wieder bekommen. Auf, lass uns das Ding reißen!“


Sie hatten mit Kaffeetassen auf ihren Wagemut angestoßen, sich gegenseitig beglückwünscht und anschließend beratschlagt, was aus diesem Sonntag werden sollte. Sie einigten sich auf ‚keine Arbeit‘, ‚Film anschauen‘, ‚Mittagsschlaf‘ und zum Ausklang des Tages ‚Buchbestand in Augenschein nehmen.‘ Veronica holte ihren Laptop aus jenem Zimmer, das gerade eben per Beschluss des Familienrats ihr persönlicher Raum geworden war. Sie trug das Gerät die Treppe hinunter ins Hinterzimmer des Ladens und baute es auf dem Tischchen vor dem Sofa auf. Sie rückte den Sessel so zurecht, dass sie sowohl den Bildschirm als auch die Straße vor ihrem Laden, die sie durch die geöffnete Zimmertür sah, bequem beobachten konnte. Sie wollte ein besseres Bild von den Zyklen der Betriebsamkeit im Cavern-Viertel gewinnen. Es interessierte sie, welche Art Leute zu welchen Zeiten die Rainford Gardens bevölkerten. Am vierten Tag ihres Aufenthalts im Fab Store wusste sie außerdem noch immer nicht, welche Läden es neben und gegenüber dem ihren gab und wer sie führte. Sie würde vielleicht morgen Vormittag, nachdem sie mit Maria gesprochen hatten, eine Runde durch die Nachbarschaft drehen, um sich vorzustellen.

Das Gebläse des Mobilrechners arbeitete hörbar angestrengt, um die CPU mit genügend Kühlung zu versorgen, damit diese das übergewichtige Betriebssystem hochfahren konnte. Das arme Ding wuchtete Modul um Modul in den Speicher, während Veronica gelangweilt die Köpfe zählte, die auf der Straße am Laden vorbeigingen. Zach kam die Treppe heruntergestiegen. Er pflanzte sich der Länge nach aufs Sofa. „Okay, was schauen wir an?“, fragte er.

„Magst du das Genre oder den Titel aussuchen?“, fragte sie zurück.

„Den Titel. Sag an, nach was ist dir zumute?“

„Gib mir was Lustiges.“

Zachs Augen schienen die Decke nach passenden Filmtiteln abzusuchen. Nach einigen Momenten konnte Veronica seinem Gesichtsausdruck entnehmen, dass er fündig geworden war. Er stieß ein bellendes Lachen aus.

„Ja, ich glaube, der Film wird mir gefallen“, sagte sie spöttisch. „Wie heißt er denn?“

„‚Dark Star‘ eins von John Carpenters Frühwerken.“

„Sterne, Raumschiffe, Aliens. Gähn!“

„Das Raumschiff sieht aus wie ein Bügeleisen, das Alien wie ein Hüpfgemüse und eine philosophierende Bombe befindet sich ebenfalls an Bord..“

„Na gut, mein Interesse ist geweckt. Leg ein.“

Eine halbe Stunde vergnügter Lautäußerungen später hatte Veronica vergessen, weshalb die Tür zum benachbarten Verkaufsraum offen stand. Der B-Streifen zog all ihre Aufmerksamkeit auf den Schirm. Ihr Vater und sie schossen kichernd Kommentare hin und her. Dann holte sie ein Klopfen an der Ladentür aus dem Raum zwischen den Sternen in das Hinterzimmer ihres Geschäfts in Liverpool zurück. Zunächst ging das Geräusch in der Soundkulisse des Films unter, doch seine kräftigere Wiederholung veranlasste Veronica schließlich, nach draußen zu schauen. Ein Mann in der traditionellen Kleidung englischer leitender Büroangestellter – komplett mit Aktentasche, schwarzem Anzug, Juppe, weißem Hemd und Melone auf dem Kopf – hatte sich vor ihrem Eingang aufgebaut. Er setzte gerade erneut an, die Tür mit seinen Fingerknöcheln zu bearbeiten. Veronica stoppte den Film, sehr zum Ärger ihres Vaters, der sich köstlich über Sgt. Pinbacks Kapriolen amüsiert hatte, das ausgebüxte Alien wieder einzufangen. Er zog die Augenbrauen zusammen. Eine steile Falte bildete sich über seiner Nasenwurzel. „Was ist?“

„Besuch. Sieht offiziell aus.“

„An einem Sonntag?“, quäkte er. „Der soll sich verzischen!“

Er stand dennoch auf, schlüpfte in seine Pantoffel und schlurfte durchs Halbdunkel des unbeleuchteten Verkaufsraums zur Fronttür. Dabei stieß er mit den Zehen des rechten Fußes gegen ein Tischbein. Er fluchte leise und hüpfte auf dem anderen Bein der Tür entgegen. Der Besucher hatte ihn nun bemerkt und das Klopfen eingestellt. Geduldig blickte er Zach entgegen, der sich um eine würdigere Fortbewegungsweise bemühte. Der Detektiv griff nach dem Schlüssel, den er bei der Rückkehr vom Bäcker auf dem Tresen liegen gelassen hatte. Zügig schloss er auf, öffnete die Tür und herrschte den Mann an: „Ja? Sie wünschen?“

„Mr Zachary Ziegler?“

„Will wer wissen?“