Die Stimme explodierte in Veronicas Gehörgängen wie ein brutal übersteuerter Konzertlautsprecher. Sie zog eine Grimasse. Langsam drehte sie sich auf die Seite und winkelte die Ellbogen an, um sich aufzurichten.
„Lass dir helfen“, sagte die Stimme. Es klang wie ein Brüllen. Hand über Hand zog der Polizist geschwind an dem Seil. Über ihr quietschte Metall. Dann spannte sich der Strick und riss die Arme unter ihr weg. Schmerzhaft klatschte sie mit Brust und Bauch auf den Boden, wurde aber sogleich an den Händen in die Höhe gerissen, wobei sich ihr Rücken bis zur Grenze des Erträglichen durchbog. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten entfuhr ihr ein Schrei. Der Strick schleifte sie ein Stück nach vorn, während er ihren Körper in aufrechte Stellung zog, zunächst auf die Knie, dann auf die Füße. Bei dem Versuch, Halt zu finden, spürte sie, dass auch diese gefesselt worden waren.
Sie stand nun, an den eigenen Armen hängend, zu fast voller Höhe aufgerichtet. Die Aufwärtsbewegung stoppte. Desmond war drei Schritte zurückgetreten. Er wickelte das Seil um die schmiedeeiserne Halterung einer klotzigen Wandlampe. Er kam wieder näher, umrundete ihre Gestalt. Mit kurzen Blicken prüfte er den Sitz der Lederstreifen um ihre Hand- und Fußgelenke. „So gefällst du mir besser“, sagte er. „Du hast wohl geglaubt, du kannst mich drankriegen, hm? Da musst du früher aufstehen.“
Veronica schwieg. Sie fühlte sich noch zu schwach, um auf eigenen Beinen zu stehen. Das Bild, das ihre Augen lieferten, wurde immer wieder unscharf. Der Polizist legte eine Hand auf ihre linke Hüfte und begann ihren wie ein Sack an dem Strick hängenden Körper erneut im Uhrzeigersinn zu umrunden, wobei er die Hand erst über ihren Bauch, dann die rechte Hüfte und schließlich ihr Kreuz gleiten ließ. Die Furcht, dass aus der Belästigung Missbrauch werden könnte, schoss weitere Nadeln in ihr Hirn, gab ihr aber gleichzeitig die Kraft, die Kontrolle über ihren Körper wieder zu erlangen. Sie drückte die Knie durch. Endlich stand sie auf ihren Fußsohlen. Um Desmond aus seinen Phantasien zu reißen, sprach sie ihn an: „Wo ist Kirk? Was haben Sie mit ihr gemacht?“
Der Polizist, der nun wieder links neben ihr stand, lachte, schüttelte den Kopf, lachte erneut. „Die gute Duchess feierte ein Wiedersehen mit ihrem Märchenprinz“, raunte er ihr ins Ohr. „Ich glaube, die beiden hatten eine ganze Menge besprechen.“ Seine Hand strich in einer illustrativen Geste über ihren Hintern.
„Ist sie hier?“, würgte Veronica hervor.
„Nie gewesen.“ Der Polizist überlegte. „Eines der Dinge, die wir von ihr in Erfahrung zu bringen versuchten, ist der Verbleib des Fotos. Weißt du zufällig, wer es gestohlen hat?“
„Ja…“, sagte Veronica, der ein Ausdruck von Ekel über die Gesichtszüge lief.
„Geht‘s auch ein bisschen konkreter oder muss ich es dir mit einem Angelhaken aus der Nase ziehen?“
„Sie selbst, Wickens. Sie haben das Bild aus den Polizeiarchiven gestohlen.“
Donald Wickens alias Desmond Jones verlor für einen Moment die Fassung. Mit hassverzerrter Grimasse spuckte er: „Das hat dir der Teufel verraten!“
Es war ihrer prekären Lage unangemessen, doch Veronica konnte das Lachen, das aus ihr hervorbrach, beim besten Willen nicht zurückhalten. Zu sehr erinnerte Desmonds Ausbruch an das Märchen vom Rumpelstilzchen. Es fehlte nur noch, dass er mit dem Fuß aufstampfte und im Boden versank. „Genau der ist es gewesen“, prustete sie.
Der Fausthieb, der sie in die Niere traf, kam unerwartet, und er trieb ihr alle Luft aus den Lungen. Ihre Beine gaben nach, sie baumelte erneut an ihren Handgelenken vom Kälberstrick. Wutentbrannt trat Desmond in ihr Sichtfeld. Es sah aus, als wolle er sie auch von vorn bearbeiten, doch er hatte sich schon wieder im Griff. „Halt dein loses Mundwerk im Zaum oder ich vergesse, dass du für den Chef reserviert bist“, zischte er. „Los, sag mir, was du und dein Alter herausgefunden habt. Vielleicht lässt Kite dann noch genug von dir übrig, dass du aus eigener Kraft von hier rauskriechen kannst.“
„Andernfalls passiert… was?“, wagte sie ihn herauszufordern, da er offenbar Befehl hatte, sie in Ruhe zu lassen. Vielleicht konnte sie ihm nützliche Informationen entlocken.
„Andernfalls kommst du auf einem Altar zu liegen. Oder Kite überlässt dich mir, wenn er mit dir durch ist. Es wird mir eine ganz besondere Freude sein, dich möglichst lange am Leben zu halten.“ Ein Grinsen mit weit aufgerissenen Augen und gebleckten Zähnen huschte über seine Visage. Die Dämonenfratze verschwand so schnell wieder, wie sie erschienen war. „Leider war mir mit deinem Onkel weniger Zeit vergönnt. Ich musste kurzen Prozess machen. Befehl ist Befehl.“
Veronica, die sich aufgerappelt hatte, öffnete den Mund. „Sie…?“
„Ja, ich. Kite trug mir auf, Paul anzurufen und ihm mitzuteilen, dass das Treffen verschoben sei. Aus irgend einem Grund schien der Penner ganz froh darüber zu sein. Nachts um halb vier ging ich dann zum Laden und klingelte ihn raus. Er machte auf und ich sagte, es gäbe etwas Wichtiges zu besprechen. Wie erwartet führte er mich nach hinten. Ich streckte ihn mit sechs Stichen in Kreuzform nieder, genau um 3:33 Uhr. Dann plünderte ich die Kasse, um eine falsche Spur zu legen, und ging zum Wagen zurück.“ Der Polizist schien mich seiner Leistung zufrieden zu sein.
An Veronicas staubverschmierten Wangen bahnten Tränen zwei Flüsse bis zum Kinn. „Warum?“, wimmerte sie, „Warum nur?“
„Na, du kannst Fragen stellen… Zur höheren Ehre Luzifers natürlich – und damit der blöde Sack das Maul darüber hält, was in dem Manuskript steht oder wer es jetzt besitzt.“
„Verdammte Schweine!“, presste die junge Frau zwischen zwei Schluchzern hervor.
„Sieht nicht so aus, als könnte ich dich überzeugen, mit mir auszugehen.“ Desmond kicherte. „Wie dem auch sei, ich habe Kite informiert. Er müsste bald eintreffen. Soll der entscheiden, wie es mit dir weitergeht. Ich denke, wir können noch mehrfach Nutzen aus dir ziehen, bevor wir dich entsorgen.“
Er hinterließ eine Notiz für Veronica an der Tür zum Hinterzimmer, dann verließ Zach den Laden. Ein Taxi wartete bereits vor dem Fab Store auf ihn. Innerhalb fünfundzwanzig Minuten erreichte das Fahrzeug die Straße, in der Mr Mustard wohnte. Polizeifahrzeuge blockierten die Zufahrt. Zach stieg aus und ging zur Barriere. Ein Beamter trat auf ihn zu. „Sie können hier nicht weitergehen,“ sagte er, „wir haben die Straße für Ermittlungszwecke gesperrt.“
Hielt der Mann ihn für blind? Am liebsten hätte er ihn einfach beiseite geschoben, aber das war natürlich nicht ratsam, wenn man an seiner Freiheit hing. Er versuche es stattdessen mit einem Trick: „Mein Name lautet Ziegler. Ich habe einen Termin bei Kommissar Wickens. Man sagte mir, er leite die Untersuchung hier.“
Das Gesicht des Uniformierten verwandelte sich plötzlich in eine steife Maske. „Papiere!“, herrschte er den Detektiv an. Zach reichte ihm seinen Ausweis. Der Polizist rief einen Kollegen herbei und zeigte ihm das Dokument. Die beiden flüsterten kurz miteinander, dann ging der Kollege mit dem Ausweis zu einem der Fahrzeuge hinüber. „Was wollen Sie von Kommissar Wickens?“, fragte der Polizist.
„Mit Verlaub, das geht nur ihn und mich etwas an.“
„Er ist heute nicht im Dienst. Wer hat Sie hierher geschickt?“
Was geht hier vor sich?, überlegte Zach. Ein Todesfall mit seltsamen Umständen, der Leiter der Mordkommission nicht im Dienst, und dann dieses Quasi-Verhör – hier stimmte entschieden ganz und gar nichts. Ohne mit der Wimper zu zucken sagte er: „Der junge Mann an der Rezeption des Reviers. Naja, wenn der Kommissar schon fort ist, kann man nichts machen. Wissen Sie zufällig, wo ich ihn finde?“
„Tut mir leid, darüber kann ich Ihnen gegenüber keine Angaben machen. Und nun verlassen Sie bitte den Ort. Es gibt hier nichts zu sehen!“
Fast hätte Zach laut aufgelacht. Das sah den Bullen wieder ähnlich. Ein Mann lag in seinem eigenen Blut, doch nein, es gab hier nichts zu sehen. „In Ordnung. Könnte ich bitte meinen Ausweis zurück haben? – Danke, Officer.“
Der Detektiv wanderte zur anderen Straßenseite, wo eine kleine Menschenmenge auf dem Gehweg stand. Einige diskutierten angeregt, die meisten anderen starrten neugierig herüber, in der Hoffnung, einen Blick auf die Geschehnisse am Tatort erhaschen konnten. Sein kleiner Wortwechsel mit dem Polizisten war eine willkommene Abwechslung gewesen, die die wahrscheinlich seit Stunden andauernde Ereignislosigkeit unterbrach. Routinemäßig prüfte er die Gesichter der Anwesenden, suchte nach besonderen Gefühlsregungen und speicherte seine Eindrücke in einer eigens dafür reservierten Ecke seines Gedächtnisses. Er entdeckte Maria Borghese etwas abseits der Menge. Sie unterhielt sich mit einer kleinen schmächtigen Frau gehobenen Alters. Beide sahen mitgenommen aus. Er trat hinzu und sagte: „Grüß dich, Maria.“
„Zach, was machst du denn hier?“ Sie umarmten einander kurz.
„Ich bin auf der Suche nach Veronica und Desmond, und dachte, ich versuche mein Glück einmal hier“, sagte der Detektiv, nachdem sie wieder auf Abstand gegangen waren.
„Es gibt keine Neuigkeiten. Sie lassen nichts heraus“, erwiderte die Italienerin. Mit gesenkter Stimme fuhr sie fort: „Ohne meine Freundin hier, eine von Mr Senfkorns Nachbarinnen, würde ich völlig im Dunkeln tappen.“ Sie stellte die beiden einander vor.
Die ältere Dame hieß Cilia Appleby. Sie trug eine dünnrandige Brille mit einer Silberkette um den Hals und machte einen aufgeweckten Eindruck. Ihr listiger Blick glitt schnell über die versammelten Menschen, wohl um sicherzustellen, dass niemand Interesse an ihnen zeigte. Die Erkundung schien zu ihrer Zufriedenheit ausgefallen zu sein, denn sie sagte leise: „Ich war eine der ersten, die den Leichnam gefunden hat. Mr Senfkorn lag in seinem Wohnzimmer in Hockstellung auf der Seite, ein kleines Loch im Nacken und ein weiteres im Hinterkopf. Das halbe Gesicht war weggesprengt…“ Sie schüttelte sich. „Da habe ich entschieden, dass ich nicht als Zeugin in Erscheinung treten werde. Das ist mir zu heiß. Wissen Sie, junger Mann, ich war früher Kriegsberichterstatterin für die Times. Ich erkenne eine Hinrichtung, wenn ich eine sehe, und ich habe kein Bedürfnis, den Leuten, die das verbrochen haben, im Wege zu stehen.“
„Eine weise Entscheidung. Ich habe mich vor etwa einer Stunde auf der Polizeiwache nach dem Fall erkundigt. Ein Beamter antwortete mir, dass er zu diesem Selbstmord nichts sagen könne.“ Er ließ die Brauen tanzen. Sowohl Maria als auch Cilia Appleby rissen die Augen auf. „Machen wir, dass wir hier weg kommen. Mein Taxi wartet an der nächsten Straßenecke.“
Maria drückte die alte Dame herzlich, dann verabschiedeten sie sich.