31) Fristlos gefeuert

„Gestern statteten wir Mr Kite einen Besuch ab. Wir sprachen über dies und das, unter anderem erwähnte er das letzte Familientreffen. Sie erinnern sich?“

„Aber ja“, antwortete Molly Jones. „Wir haben uns sehr gut unterhalten. Weshalb fragen Sie?“

„Mr Kite hat mich beauftragt, einige Nachforschungen bezüglich eines Gegenstandes anzustellen, der an jenem Abend verschwunden ist“, erklärte Zach. „Können Sie dazu etwas sagen? Ist Ihnen etwas aufgefallen, zum Beispiel ungewöhnliches Verhalten der einen oder anderen Person?“

„Sprechen Sie von dem Manuskript? Das hätte PC31 mitbringen müssen, aber er kam ja dann nicht. Wahrscheinlich dachte er, das Treffen sei verschoben worden.“

„Wie kommen Sie darauf, dass er das dachte? Hat er etwas Entsprechendes gesagt?“

„Ich… weiß nicht“, stotterte die Sekretärin. „Weshalb fragen Sie mich? Stehe ich unter Verdacht?“

„Nein, überhaupt nicht. Sie haben das Schloss verlassen, bevor der Gegenstand abhanden kam. Es geht übrigens um ein Foto. Wurde im Verlauf des Abends über eine solche Aufnahme geredet?“

„Nicht unter meinen Ohren.“

„Worüber wurde dann geredet? Gab es Streit? Begehrlichkeiten?“

„Im Gegenteil. Bis auf das schamlose Verhalten dieses Mädchens, Duchess of Kirkcaldy, verlief es recht harmonisch. Wir sprachen über Objekte, die wir künftig für unsere Sammlung sichern wollten, und wir tauschten Anekdoten über McCartney, Lennon und so weiter aus. Bloß dieses… Flittchen! Sie wollte die ganze Zeit nur über unanständige Dinge reden. Wie die sich schon angezogen hat! Ich hatte den Eindruck, am liebsten wäre sie gleich ganz nackt erschienen.“

„Was missfiel Ihnen an ihrem Aussehen?“

„Sie hatte sich in ein knallrotes Domina-Kostüm gezwängt, oben wie unten keinen Inch länger als unbedingt nötig. Meine Mutter hätte mir den Hintern versohlt, wenn ich in dem Alter so rumgelaufen wäre.“

„Vielleicht war sie ja darauf aus, dass einer der Männer das übernahm? Hatten Sie das Gefühl, sie war hinter einer bestimmten Person her?“

„Nein, sie hat mit allen geflirtet – unangenehm aufdringlich.“

„Sind manche der Männer darauf eingegangen?“

„Sie blieben alle höflich aber distanziert. Gottseidank.“

„Ihnen ist also nicht aufgefallen, dass sie irgendwann mit jemand verschwunden wäre – sagen wir, auf die Toilette?“

Molly Jones kratzte sich an der Wange. „Hmm, nein. Ich fände das auch gar zu lächerlich. Sie ist ja noch ein halbes Kind.“

„Wissen Sie, wie alt?“

„Nicht genau. Siebzehn? Keineswegs volljährig.“

„Woher kommt sie eigentlich? Wer hat sie in die Gruppe eingeführt, beziehungsweise wie kam der Kontakt zustande?“

„Wer sie ist, weiß keiner so genau. Henry vielleicht. Der hat sie letztes Jahr in den Laden mitgebracht. Man erzählt sich, sie sei der illegitime Spross eines Adligen und lebe von dessen großzügigen Unterhaltszahlungen.“

„Wann haben Sie das Schloss verlassen und wer war um die Zeit noch anwesend?“

„Puh, schwer zu sagen. Bis auf meinen Mann waren wir alle schon ziemlich angeheitert. Ich habe nicht auf die Uhr geachtet. Vielleicht zwischen zwölf und ein Uhr? Als feststand, dass PC31 nicht mehr vorbeikommen würde. Der Arme. Wäre er zum Treffen gegangen, könnte er noch leben.“ Sie dachte nach. „Seltsam. Da Sie nun fragen, fällt mir auf, dass nur noch wenige Familienmitglieder zugegen waren, als ich mich verabschiedete: Dr Robert, Mr Mustard, Rocky Raccoon und Henry the Horse. Henry sah ebenfalls aus, als wolle er bald aufbrechen.“

„Wo, glauben Sie, befanden sich die anderen?“

„Mr Kite hat sich eine Stunde früher zurückgezogen. Er sagte, er sei müde und gehe nach oben. Auf die anderen habe ich nicht geachtet.“

„Halten Sie es für möglich, dass er mit Semolina und Duchess ‚nach oben‘ ging?“

Molly Jones schaute ihn an, als käme ihr die Idee zum ersten Mal. Sie blieb stumm, zog jedoch eine Grimasse, die andeutete, sie wisse es nicht und wolle es auch nicht wissen.

„Eine letzte Frage: Sind Sie auf direktem Weg nach Hause gefahren oder haben Sie unterwegs irgendwo angehalten?“

„Wir sind über‘s Zentrum gefahren. Mein Mann wollte mit den Kollegen auf dem Präsidium etwas klären. Dann sind wir nach Hause gegangen.“

„Wie lang dauerte das Gespräch?“

„Etwa eine halbe Stunde. Ich bin im Auto eingeschlafen, sobald wir das Schloss verlassen hatten, und nur kurz aufgewacht, als er nahe der Wache hielt.“

„Wann sind Sie zu Hause angekommen?“

„Gegen vier Uhr. Hören Sie, das war nun die dritte ‚letzte Frage‘“, beschwerte sich Molly Jones. „Macht es Ihnen was aus, wenn wir über nettere Dinge reden?“

„Keineswegs. Entschuldigen Sie bitte meine Zudringlichkeit. Ich habe Ihnen noch gar nicht gesagt, wie sehr Sie mir in Ihrem Kleid gefallen.“

Die Sekretärin errötete und schaute zu Boden. „Dankeschön.“

„Sie hat es bei Paul gekauft“, warf Veronica ein, die das gesamte Interview hindurch still auf einem Schemel neben der kleinen Bar gesessen hatte.

„Ist das wahr? Und ich dachte, wir handeln in Musikalien.“

„Im weitesten Sinne ist das Kleid Teil der Geschichte der Beatles“, sagte Molly Jones. „Es gehörte Pattie Boyd…“

„…der ex-Freundin von George Harrison“, ergänzte Zach. „Ihnen steht es mindestens eben so gut.“

Jones errötete erneut. Von ihr unbemerkt tanzten Veronicas Augenbrauen. Zach zwinkerte seiner Tochter zu. Er sagte: „Würde es Ihnen etwas ausmachen, Ihren Mann zu informieren, dass ich gern mit ihm reden würde?“

„Donald? Er weiß bestimmt nicht mehr als ich.“

„Und wenn schon. Dann unterhalten wir uns eben bei einer Tasse Kaffee über das Sammeln oder den neuesten Ermittlungsstand zum Mord an meinem Stiefbruder. Ich kann Ihnen versichern, dass Veronicas Kaffee den im Präsidium bei weitem aus dem Feld schlägt. Möchten Sie ihn probieren?“

„Hört, hört!“, unkte seine Tochter.

„Einverstanden“, erwiderte Molly Jones.

Und so erhielt Ludwig Lederrachen eine weitere Gelegenheit, seine Künste vorzuführen, wenn auch unbezahlt.


Sehr spät am Abend klingelte das Telefon sein klassisches Metallglockengeläut, das den ganzen Tisch zum Schwingen anregte. Veronica hob den Hörer ab. „Anscchluss von Paul Campbell, Ziegler am Apparat.“

„Guten Abend, Veronica. Holen Sie mir Ihren Vater“, sagte eine hyänenhaft klingende Männerstimme.

„Wer spricht dort?“

„Sie wissen genau, wer hier spricht.“

„Ich weiß nur, dass Ihre Kinderstube zu wünschen übrig lässt. Wer spricht dort?“

„Holen Sie mir Ihren Vater an den Apparat!“, sagte die Stimme mit drohendem Unterton.

„Rufen Sie wieder an, wenn Sie Manieren gelernt haben.“ Veronica legte auf.

Zach streckte den Kopf zur Tür herein. „Wer war das?“

„Woher soll ich das wissen? Er wollte seinen Namen nicht nennen. Wahrscheinlich unser spezieller Freund der Schlossbesitzer.“

„Du hast echt Haare auf den Zähnen, dem Mann den Hörer aufzulegen. Ich bin ihm einen Anruf schuldig; erster Report.“

„Schlossbesitzer oder nicht – wenn er meint, mich herumkommandieren zu können, dann gibt‘s nur eine Antwort: Arsch lecken. Du lässt dir seine Gestapo-Manieren ja auch nicht gefallen.“

Zach verdrehte die Augen. Was erwartete er? Er hatte sie so erzogen – und er war zufrieden. Er lachte. „Dann will ich mal anrufen, um mir die Prügel abzuholen.“

„Gib bloß nicht klein bei. Für mein Verhalten stehe ich selbst ein“, sagte Veronica energisch, die Augenbrauen zusammengezogen.

Exakt in jenem Moment, als Zachs Hand über dem Hörer hing, klingelte das Telefon erneut. Er riss ihn von der Gabel und sagte barsch: „Ja!?“

„Mister Ziegler,“ sagte die Stimme am anderen Ende, „ist das Ihre Art, einen Auftrag zu erledigen?“

„Was gefällt Ihnen daran nicht?“

„Ihr Tonfall, zum Beispiel, oder dass man einfach auflegt. Was ist außerdem aus Ihrem versprochenen Tagesbericht geworden?“

„Wenn Sie einen anderen Tonfall wünschen, bekommen Sie ihn, sobald Sie anfangen, respektvoll mit Ihren Gesprächspartnern umzugehen. Ich bin keiner Ihrer Lakaien.“ Der Detektiv sprach langsam, ruhig und ziemlich leise. Vom anderen Ende hörte er kein Geräusch. Als der Anrufer Luft holte, schnitt er ihm das Wort ab: „Soweit es Ihren Auftrag betrifft: Ich war heute mit vorbereitenden Arbeiten beschäftigt, ohne die weitere Ermittlungen nur ein Stochern im Nebel darstellen – und ich habe zwei Zeugen vernommen. Es liegt in der Natur der Sache, dass deren Aussagen erst im Licht weiterer Erkenntnisse einzuordnen sind. Falls Sie in der Lage sind, die Lösung des Falls durch sachdienliche Hinweise zu beschleunigen – etwa, indem Sie die Tatsache erwähnen, dass das fehlende Objekt die ganze Nacht unbeaufsichtigt außerhalb des Safes herumlag –, wäre ich Ihnen sehr dankbar.“

„Ich sagte Ihnen, Sie sollen nicht gegen mich ermitteln!“, bellte Kites Stimme aus dem Hörer.

„Und ich sage Ihnen, dass es so nicht funktioniert. Sie lassen mich meine Arbeit auf meine bewährte Weise erledigen oder Sie suchen sich einen anderen Dummen, der Ihre eklatanten Verstöße gegen Vernunft und Anstand korrigiert.“

„Mit wem haben Sie gesprochen?“

„Das steht in meinem Abschlussbericht am kommenden Dienstag.“

„Sie sind gefeuert!“, schrie Kite ihn an.

„Wie Sie wünschen. Ich mache die Rechnung gleich fertig“, erwiderte Zach und ließ den Hörer auf die Gabel fallen. Das Geräusch und die Vibrationen, die der alte, schwere Festnetzapparat dabei erzeugte, befriedigten ihn zutiefst. Die Körperlichkeit des Vorgangs blieb nur wenig hinter dem Gefühl zurück, dem anmaßenden Anrufer tatsächlich eine schallende Ohrfeige verpasst zu haben. An dem Tag, an dem eine App erschien, die es realitätsgetreu emulieren konnte, würde er seine ablehnende Haltung gegenüber Smartphones vielleicht revidieren.

Veronica blähte die Backen und ließ die Luft langsam zwischen den Lippen entweichen. „Ich fürchte, die großen Aufträge können wir uns aus dem Kopf schlagen, ganz zu schweigen von unserer Aufnahme in die Familie.“

„Ganz recht. Daraus wäre sowieso nichts geworden, weil ich nie vorhatte, sein Schwarzgeld anzunehmen. Im Übrigen wird mir dieser seltsame Club mit seinen dehnbaren Moralvorstellungen immer suspekter. Wie hat Kite Maria und Henry bezeichnet – nicht flexibel genug?“

„Dass er uns keine Aufträge geben wird – okay. Mit unseren bescheidenen Erwartungen ans Einkommen kommen wir bestimmt auch ohne ihn blendend zurecht. Mir kann der Abstand zu dem Typ gar nicht groß genug sein. Dass wir ihn nun gegen uns aufgebracht haben, könnte dagegen das Ende des Fab Store bedeuten.“

„Und darum werde ich den Teufel tun, die Ermittlungen einzustellen. Wir brauchen etwas gegen ihn in der Hand. Was wir von Maria und Molly gehört haben, verschafft uns möglicherweise großkalibrige Munition.“

32) Gestern und heute

Veronica begann den Morgen mit einer kleinen Recherche. Molly Jones hatte am Vortag sehr seltsam reagiert, als Zach gescherzt hatte, der Koffer eigne sich fast für die Aufnahme eines Menschen. Die Sekretärin hatte das Album ‚Yesterday and Today‘ erwähnt und sich geschüttelt. Veronica kannte den Titel nicht, ging aber wie selbstverständlich davon aus, dass es sich um ein Beatles-Werk handelte. Sie blätterte durch die LP-Sortierkästen des Ladens. Sie fand drei Exemplare des Albums. Eines zeigte drei der Pilzköpfe um einen auf seiner kleinsten Seitenfläche stehenden Kistenkoffer geschart. Der Deckel war geöffnet und im Inneren saß Paul McCartney. Obwohl die Gesichter der vier Musiker keine Trauer ausdrückten, stellte Veronicas Imagination die Verbindung zu einem Sarg oder dem Verscharren eines Leichnams her. Sie suchte auf der Rückseite des Covers nach dem Copyright-Datum. Da, 1966. Yesterday and Today‘ musste eine der letzten Veröffentlichungen gewesen sein, an denen der biologische Paul McCartney mitgewirkt hatte. Im Gegensatz zu Molly Jones war sie nicht der Meinung, dass der dort abgebildete Koffer dem von Jane Asher glich, verstand jedoch ihre instinktive Reaktion auf den Scherz ihres Vaters.

Die Hüllen der beiden anderen LPs zeigten ein völlig anderes Bild: Die Beatles trugen weiße Arbeitskittel. Man hatte sie mit etwas garniert, das auf den ersten Blick wie Leichenteile aussah. Bei näherer Betrachtung erkannte sie, dass es sich um Körperteile aus der Tierschlachtung sowie lebensgroße nackte Baby-Plastikpuppen handelte, deren Köpfe nicht mehr auf den Rümpfen saßen. Die vier Musiker schienen die Metzgerszene zu genießen. Sie strahlten und grinsten, als habe ihnen jemand einen guten Witz erzählt. McCartney saß genau im Zentrum. Das Motiv stach schockierend aus der ihr bekannten Parade biederer Sechzigerjahre-Produktionen heraus. Das Spiel mit Ekel und Gewalt als Verkaufsargument trieben eigentlich Punk- und Metal-Bands, zehn beziehungsweise zwanzig Jahre später. Nicht einmal die Stones hatten Vergleichbares gewagt.

Veronica stellte fest, dass Onkel Paul die Scheibe mit dem Kofferbild für vergleichsweise kleines Geld verkaufte, für das Metzger-Ding hingegen Mondpreise im fünfstelligen Bereich aufrief. Sie leitete daraus ab, dass der Koffer die reguläre Version schmückte, die Schlachter-Clique eine limitierte, zensierte oder nur regional verkäufliche, jedenfalls rare Version. Sie wunderte sich erneut über die bizarren Dinge, die allenthalben zum Vorschein kamen, wenn man ein wenig am glänzenden Lack der Fab Four kratzte.

Ein Geräusch an der Ladentür ließ Veronica herumfahren. Ihr Nervenkostüm hatte gelitten, seit sie in Liverpool angekommen waren, stellte sie fest. Sie sah Maria, die den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte und gerade im Begriff stand, sich selbst einzulassen. Veronica winkte ihr, während sie sich in Bewegung setzte, um ihr zu öffnen. Die Italienerin zog den Schlüssel wieder ab. „Guten Morgen, Signorina Veronica“, sagte sie dankbar.

„Guten Morgen, Maria. Überpünktlich wie immer.“

„Störe ich?“

„Im Gegenteil. Ich kann Gesellschaft heute ganz gut gebrauchen.“

„Haben Sie schlecht geträumt?“

„Danke der Nachfrage. Ich hätte Anlass dazu gehabt.“

Maria sah die Schallplatten, die die Detektivin auf den Sortierkisten liegen gelassen hatte. „Na, da kann einem aber auch schlecht werden, wenn man den Tag mit solchen Szenen beginnt.“

Veronica schnaubte. „Können Sie mir erklären, weshalb eine angeblich für Frieden und Liebe stehende Band sich in einer derart morbiden Aufmachung fotografieren lässt?“

„Von wegen, morbide – Avant-Garde! So lautet zumindest die gängige Erklärung.“

„Morbide und geschmacklos. Wie lautet die zweitgängigste Erklärung?“

Maria warf ihr einen listigen Blick zu und fragte zurück: „Wie kommen Sie darauf, dass es die gibt?“

„Weil das, was in den Zeitschriften und Büchern über die Beatles steht, mehr Löcher enthält als ein Schweizer Käse, mehr Widersprüche aufweist als ein falsches Geständnis, und weil ich bisher für jede solche Story eine besser zu den Tatsachen passende gefunden habe.“

„Schön beobachtet. Wie wär‘s dann hiermit: Die Beatles hatten die Nase voll davon, dass ihre Alben für US-Veröffentlichungen von der Plattenfirma verhackstückt wurden. Capitol Records hat sie gekürzt, umgestellt und mit anderen ihrer Werke kombiniert. In diesem Fall hat das Label einige Songs vom noch nicht erschienenen ‚Revolver‘-Album mit Stücken von den beiden Vorgängern auf ‚Yesterday and Today‘ gepresst. Das ‚Butcher-Cover‘, wie es von Kennern genannt wird, sollte ein visueller Protest werden. Der Schuss ging nach hinten los; die schon ausgelieferten Chargen mussten nach massiven Beschwerden von Händlern und Kunden zurückgerufen und neu verpackt werden. Die Band hat aber zumindest erreicht, dass ‚Yesterday and Today‘ das letzte solche Produkt blieb.“

„Grimms Märchen, die Zweite. Als ob die PR-Leute des Labels keine Ahnung hatten, welch eklatanten Tabubruch sie begingen! Waren sie auf Schockwirkung aus? Schließlich ist auch schlechte Presse gute Werbung.“

Maria wiegte den Kopf. „Es gibt hier zwei sehr interessante Umstände, die gegen eine simple PR-Aktion sprechen – und für eine tiefer gehende Manipulation. Ad 1: Yesterday and Today wurde am 15.6.‘66 veröffentlicht. Nehmen wir eine einfache numerologische Operation vor: Eins plus fünf ergibt sechs, für all jene, denen die drei weiteren Sechsen nicht genügen. Vier mal sechs ergibt 24. Zwei plus vier ergibt wieder…“

„Sechs! Hol‘s der Teufel.“

„Nur eins von vielen Beispielen, in denen die Veröffentlichung an Daten mit esoterischer Bedeutung stattfand. Ad 2: Im August, vier Tage vor Beginn der US-Tour erschienen drüben sowohl das Album ‚Revolver‘ als auch die Single-Auskopplung ‚Eleanor Rigby / Yellow Submarine‘. Von den insgesamt vierzehn Songs spielten sie wie viele live? Was glauben Sie?“

„Die Bands, auf deren Konzerten ich war, haben stets mehr als die Hälfte, manchmal sogar alle Lieder von ihrer neuesten Scheibe gespielt.“

„Die Beatles spielten keinen einzigen aktuellen Song, nur zwei vom Vorgänger ‚Rubber Soul‘, und neun alte Kamellen, darunter zwei Coverstücke.“

Veronica runzelte die Stirn. „Ich bin zwar keine PR-Spezialistin; vielleicht hat man den Zweck von Öffentlichkeitsarbeit in den Sechzigern auch anders verstanden als heute, aber aus meiner Sicht wurde bei der Vermarktung von ‚Revolver‘ Murks gebaut. ‚Yesterday and Today‘ fraß Aufmerksamkeit und Kaufkraft auf. Gleichzeitig sorgte das Butcher-Cover für einen Skandal, der bestimmt manche von ihrer Beatlemania kurierte. Und zu guter Letzt wird das neue Material überhaupt nicht live gespielt? Was sollte die Tour überhaupt bringen?“

„Wie ich schon sagte, es sieht mehr nach Massenmanipulation aus. Die Beatles wurden über Monate ins Bewusstsein der Konsumenten gepresst. Ein Compilation-Album, eine Single, eine neue LP, Interviews, Zeitungsberichte, Skandalnachrichten, Tour… Die simplen Melodien und albernen Teenie-Liebestexte der frühen Alben gingen gut ins Ohr; ‚Revolver‘ klang weniger gefällig, die neuen Stücke waren wesentlich komplexer. Also hat man sie weggelassen, um die Stimmung bis zum 29. August, dem Tag des allerletzten Konzerts vor einem Massenpublikum, nochmals richtig aufzuheizen. Dreizehn Tage später stirbt McCartney; eine neue Ära beginnt, in der die Band Psychedelic-Musik schreibt, deren Texte fast ausschließlich aus unterschwelligen Botschaften bestanden, und in der ihre Mitglieder offen den Gebrauch von Hasch und LSD befürworten.“

„Verstehe,“ sagte Veronica, „Die Fans und die Radio hörende Bevölkerung vollzogen die Lockerung der Moralvorstellungen mit, denn wenn‘s ihre Lieblinge, die vier netten Jungs aus Liverpool, gut fanden, musste es cool sein. Dann folgte der Sommer der Liebe, Flower Power, Vietnam-Proteste, New Age – was gibt es daran auszusetzen? War das nicht eine Verbesserung gegenüber dem verkrusteten, verklemmten Zustand vorher?“

„Relativ gesehen schon, aber es geht den Olympiern nicht um Reformen. Billy Shears schreibt in seinen Memoiren, dass es ihr Ziel sei, die alte Ordnung komplett zu zerstören, um ihre neue Weltordnung wie Phoenix aus der Asche daraus erstehen zu lassen. Institutionen, Traditionen, Religionen, Nationen und so weiter – Konzepte, die dem Leben einen Halt und einen Rahmen geben – sollen ihrer Grundlagen beraubt und aufgelöst werden. Dann folgt ‚der Große Neustart‘. Die Unterhaltungsindustrie spielt eine wesentliche Rolle im Zerstörungswerk, weil sie zum einen für harmlos gehalten wird, zum anderen jedoch ihre Inhalte tief ins Unterbewusste des Menschen einpflanzt. Gerade junge Menschen, die sowohl formbar sind als auch gern gegen die herkömmlichen Normen rebellieren, können auf diesem Weg leicht für die Sache der Olympier eingespannt werden. Billy schreibt, die Beatles und die Rolling Stones seien gezielt aufgebaut und eingesetzt worden, um Barrieren zu brechen.“

„Wer sind diese Olympier? Halten die sich für Götter? Was wollen sie von uns?“, wunderte sich Veronica.

„Die Kontrolleure nennen sich so. Sie entstammen uralten Blutlinien, Dynastien, die Jahrtausende in die Vergangenheit zurückreichen, vielleicht sogar bis zum Beginn der Zivilisation. Sie bedienen sich der Illuminati, diese bedienen sich der Freimaurer, und letztere bedienen sich der gesellschaftlichen Hierarchien, um die gewöhnliche Bevölkerung zu lenken. Letztlich geht es um die Schaffung eines neuen Menschen, einer künstlichen Spezies – unsterblich, allwissend, allmächtig –, die den Göttern, der Natur, ja dem gesamten Universum trotzen kann.“

„Größenwahn, wie er im Lehrbuch steht.“

„Psychopathen und Soziopathen, Signorina, wenn man es in psychologischen Begriffen ausdrücken will; Satanisten, wenn man es aus religiöser Sicht betrachtet. Falls es stimmt, was Billy Shears schreibt, sind nicht nur die oberen Ränge der Freimaurer und die Illuminaten Satanisten. Die Olympier selbst glauben, dass Luzifer die Welt regiert.“

„Jetzt verstehe ich so langsam, weshalb Mr Kite sagte, McCartney habe es verdient, Luzifer übergeben zu werden. Er meinte buchstäblich eine Opferung, richtig?“

„Si. Ich deutete es vor ein paar Tagen schon einmal an.“

„John Lennons Spruch, er habe seine Seele an den Teufel verkauft, muss man dann ebenfalls wörtlich nehmen, oder?“

„So ist es. Manche glauben, es geschah am 27. Dezember 1960, als das erste Mal ein Beatlemania-ähnlicher hysterischer Ausbruch auf einem ihrer Konzerte entstand; Billy nennt den 24. Oktober 1963. Es spielt keine Rolle. Paul und John, und vielleicht auch George, sagten Dinge, deren Tragweite sie in ihrem jugendlichen Leichtsinn kaum abschätzen konnten. Geld, Mädchen, Ruhm, Einfluss – der Teufel gibt dir alles, wenn du ihm im Gegenzug deinen größten Schatz versprichst: deine unsterbliche Seele.“

„Ich mag das Wort ‚Gott‘ nicht; es ist überfrachtet mit Vorstellungen, die ich nicht teile“, sagte Veronica, „aber ich glaube, es gibt etwas Höheres, eine ordnende Kraft, die das Leben liebt. Die Seele ist es, die uns lebendig macht, oder?“

Maria nickte.

„Ich glaube aber nicht an den Teufel. Der wurde doch nur erfunden, um den Menschen Gehorsam beizubringen.“

Die Italienerin lachte trocken. „Ich würde mich hüten, ihn zu unterschätzen. Erstens besitzt das Böse eine eigene Dynamik, eine Kraft, die dem Guten, dem Göttlichen, entgegen gerichtet ist. So wie Christus das Fleisch gewordene Gute darstellt, personifiziert der Teufel das Böse. Sie können sich die beiden Seiten in ganz verschiedenen Worten, Bildern und Konzepten zurechtlegen, aber ihre Existenz als solche bleibt davon unberührt.“

„Verstehe. Jede Kultur formt ihre eigenen Mythen, um die Kräfte zu erklären, die ihr Dasein beeinflussen.“

„Si, Signorina Veronica. Deshalb spielt es – zweitens – keine Rolle, ob Sie den Teufel, Satan oder Luzifer für real halten oder nicht. Was zählt ist vielmehr, dass die Olympier und ihre Untergebenen an ihn glauben, denn es hat Auswirkungen auf alles, was sie tun. Paul McCartney mag den Teufel für einen Witz gehalten haben, fiel aber dennoch dem Silberhammer der Satansdiener zum Opfer. Da sie global alle Machtstrukturen kontrollieren, stimmt Billys Aussage, dass Luzifer die Welt beherrscht; ob im übertragenen oder wörtlichen Sinn, bleibt sich gleich.“

Im Gesicht der jungen Detektivin zeigte sich Betroffenheit.

„Es gibt hierbei noch einen dritten Aspekt, der genau wie die beiden anderen von der Mehrzahl unserer Zeitgenossen abgestritten und daher überhaupt nicht beachtet wird. Die Riten, Opfer und Beschwörungsformeln des religiösen Satanismus sind nicht der Kern seiner Lehre. Das sind sie bei keiner Religion. Der Lohn des Satanisten sind weltliche Güter. Mit anderen Worten: Er glaubt an den radikalen Materialismus und verankert den Menschen daher in der rein physisch-rationalen Ebene, die seinem niederen Ego-Bewusstsein entspricht. Wenn wir bedenken, wie die Wirklichkeit in den Medien gezeichnet wird, wie Geld alle Bereiche der Gesellschaft dominiert, was die Leute allgemein für erstrebenswert halten und wer in ihrem Leben die Hauptrolle spielt – nämlich nur sie selbst –, dann können wir ohne Einschränkung festhalten, dass die Mehrzahl der Menschen Materialisten und Egoisten sind. De facto handeln sie wie Satanisten.“

33) Käferplage

Veronica fühlte sich in ihrem Innersten erschüttert. Die Informationen, die sie von Maria erhielt, verliehen dem, was sie zu wissen glaubte, eine völlig neue Bedeutung. Sie veränderten das Bild, das sie sich von der Welt gemacht hatte, dramatisch. Die Weiterungen, die sich daraus ergaben, konnte sie im Moment natürlich nur schemenhaft absehen, doch ihr Ausmaß mutete schon jetzt monströs an. Etwas in ihr stellte sich quer, wollte nicht wahrhaben, was ein anderer Teil ihres Verstandes als korrekt erkannte. Dass die Wirklichkeit anders beschaffen war, als offizielle Stellen sie darstellten, hatte sie dank langer tiefschürfender Gespräche mit ihrem Vater längst begriffen, aber konnte denn… alles falsch sein, einschließlich ihrer eigenen Erklärung dafür, weshalb so vieles zwischen den Menschen – gelinde gesagt – ungünstig verlief?

Sie unternahm einen schwachen Versuch, Marias Erläuterungen zu relativieren: „Mir scheint das übertrieben. Die meisten Leute, die ich kenne, hegen keine bösen Absichten. Sie wollen nur das Beste für sich, ihre Familie und Nachbarn. Man kann ihnen doch nicht vorwerfen, dass sie Spaß haben oder ihre Jobs behalten möchten.“

„Wir alle wollen das. Es ist völlig natürlich. Aber wenn das alles ist – wenn es jenseits von mir selbst und dem, was zu mir gehört, keine Werte, Tugenden oder Ziele gibt, und wenn ich nicht bereit bin, meinen Vorteil mit dem Wohlergehen anderer in Einklang zu bringen –, dann entsage ich dem Guten. Und ich fördere den Zerfall aller Gemeinschaft. Inzwischen lösen sich nicht mehr nur unsere Gesellschaften und Familien auf, sondern auch der einzelne Mensch als Person: Viele haben keine Ahnung, wer sie sind oder was sie sind. Sie besitzen keine eigene Identität mehr und damit auch keinen eigenen Willen. Sie werden zu Freiwild für jeden Rattenfänger mit genug Geld und Einfluss, der sie für seine Zwecke instrumentalisiert. Sagen Sie mir: Wo stehen wir heute im Vergleich zu den Sechzigern? Sieht es danach aus, als ob der naive Wunsch, es möge mir und den Meinen gut gehen, zu einer besseren Welt geführt hat? Gibt es weniger Verbrechen, Lügen, Kriege, Armut, Ausbeutung und Umweltprobleme? Oder geht der Plan der Olympier auf, das Vertrauen in die alten Strukturen zu zerstören und die Gesellschaft immer mehr zu atomisieren?“

Veronica schüttelte den Kopf. „Sie stellen es so dar, als hätte diese ominöse… Elite… alles unter Kontrolle. Ich kann einfach nicht glauben, dass sie mit solch monströsen Plänen durchkommen könnten. Die Leute würden sich wehren.“

„Oh, die Kontrolleure müssen ihre satanische Zielen nicht einmal hinter dem Berg halten. Alles, was ich Ihnen erzähle – und mehr –, können Sie in Veröffentlichungen von Regierungen, globalistischen NGOs, transatlantischen Thinktanks und so weiter wiederfinden. Der Chef des Weltwirtschaftsforums – selbst eine Marionette – brüstet sich damit, seine Puppen weltweit in Regierungen, Parlamenten und Konzernen sitzen zu haben. Ihre Namen stehen in öffentlich zugänglichen Listen, aber die Bevölkerungen gehen weiterhin schön brav wählen und arbeiten. Erinnern Sie sich; es ist ja gar nicht lang her: Wie viele Leiter von Institutionen, Verwaltungsstellen, Organisationen, Medienhäusern, Gewerkschaften, Kirchen, Verbänden, Kultureinrichtungen, großen Vereinen und Konzernen haben Sie gezählt, die dem Narrativ vom Killervirus widersprochen haben? Wie viele haben Zweifel an der Wirksamkeit der Maßnahmen geäußert? Wie viele haben Bedenken wegen der eklatanten Rechts- und Verfassungsbrüche im Namen der Gesundheit zu Protokoll gegeben oder die massiven Angriffe auf die Menschenwürde verurteilt? Wie viele Maßnahmenverweigerer kennen Sie in Ihrem Umfeld? – Und was geschah mit den wenigen, die es wagten, aufzumucken?“

„Ich…“ Die Stimme der jungen Detektivin versagte.

„Die Olympier haben uns genau dort, wo sie es wollen. Wachen Sie auf, Veronica. Die Welt, in der wir leben, ist kein Zufallsprodukt. Sie wird aktiv gestaltet von Leuten, die Motive, Mittel und Gelegenheit haben, ihre erklärten Ziele durchzusetzen.“


Alright!“, brüllte John Lennon, dann verklangen die letzten verzerrten Gitarrentöne. Zach, der den frühen Nachmittag nutzte, ein paar der besten Gassenhauer der Beatles auszugraben, fühlte sich in seiner Rolle als Diskjockey wie um dreißig Jahre verjüngt. Veronica nahm die Ablenkung dankbar an. Während ihr Vater den Plattenspieler am Verkaufstresen bestückte, tanzte sie die Gänge des Ladens entlang nach hinten und wieder nach vorn. Gemeinsam hatten sie ‚Michelle‘ und ‚All You Need Is Love‘ mitgesungen und zu den aggressiven Tönen von ‚Revolution‘ abgerockt.

„Nach all dem, was ich über sie in Erfahrung gebracht habe, gefällt mir ihre Musik noch immer so gut wie in meiner Jugend“, sagte Zach.

„Und doch fühlt es sich ein wenig anders an“, widersprach Veronica. „Es geht zumindest mir so. Dir nicht?“

„Klar. Da schwingt nun etwas mit, das wir früher nicht gehört haben – besonders, was die Texte angeht. Wenn damals ‚Revolution‘ lief, sprach es meine rebellische Ader an. Du verstehst schon: der Sound, der Titel… Heute bemerke ich erst, dass das Stück eigentlich gar kein Aufwiegler ist. John gibt zu verstehen, dass manche scheinbar revolutionären Handlungen ins Leere laufen, und, naja, wir alle wollen Veränderung; was soll‘s?“

„Ja. Maria erwähnte heute früh so etwas in der Art. Alle schreien ‚Revolution! Revolution!‘, ohne zu wissen, was sie jenseits der Zerstörung der alten Ordnung damit erreichen wollen. Was am Ende im Gedächtnis hängen bleibt, ist der Titel des Stücks und die Unzufriedenheit mit dem eigenen Dasein. Ich vermute, die Beatles hätten ihre Hände in Unschuld gewaschen, wenn ihnen jemand Aufruf zur Rebellion vorgeworfen hätte.“

„Bei mir hat‘s ganz toll funktioniert“, stimmte Zach ihr zu.

„Ist dir übrigens aufgefallen, dass John singt: ‚But when you talk about destruction, don‘t you know that you can count me out… in‘? Was soll das denn aussagen?“

Zach blickte erstaunt auf. „Wirklich?“

„Ja, am Ende der ersten Strophe.“

„Nein, habe ich überhört.“ Er startete den Plattenspieler erneut und legte den Tonarm auf die Einlaufrille der Scheibe. Diesmal wiegte er nur sanft mit dem Kopf im Takt, während er intensiv den Textzeilen folgte. „Tatsächlich!“, brach es aus ihm hervor, als kurz nach Johns Äußerung, dass man nicht auf ihn zählen solle, ein winziges dahingehauchtes Wörtchen das genaue Gegenteil verkündete. „Kreuzdonnerwetter,“ fluchte er, „gibt‘s denn bei diesem Musikverein kein einziges Mal eine klare Aussage?“

Veronica grinste. „Vielleicht solltest du zu den Stones wechseln. Von denen bekommst du Satan, Sex und Drogen ohne alberne Versteckspiele geliefert.“

Zach suchte etwas, das er nach ihr werfen konnte, fand aber nur einen Bleistiftstummel. Veronica fing ihn aus der Luft. Sie legte den Kopf schief und kicherte: „Dann lass dich halt weiter von deiner Käferbande plagen.“


Spät am Abend steckte Veronica ihren Kopf ins Studierzimmer. Zach saß noch immer über seine Karteikarten gebeugt und schrieb Notizen. „Willst du nicht bald ein Ende finden? Es geht auf Mitternacht zu.“

„Was bist du? Die Weltuntergangsuhr?“, scherzte der Detektiv.

„Nein, deine Mutter. Und nun ab ins Bett!“

„Och, jetzt schon?“, quengelte Zach. „Darf ich das hier noch fertig machen?“

„Zachary Archibald!“, donnerte Veronica.

„Na schön. Es geht eh nur um Kleinigkeiten. Sieh mal, das ist der Plan für die Interviews. Ich habe heute die restlichen Zeugen abtelefoniert.“ Er zeigte ihr den Terminkalender.

Sie las: „Freitag 14 Uhr: Miller; Samstag 9 Uhr: Rocky; 13 Uhr: Mustard; Sonntag 9 Uhr: Paul; Montag 10 Uhr: Henry. – Okay, wir werden also zügig durchkommen, trotzdem bleibt genug Luft für vertiefende Recherchen… oder Verschnaufpausen. Was geschieht am Sonntag?“

„Der Postbote brachte heute einen Brief von Miller. Pauls Einäscherung ist für neun Uhr angesetzt.“

„Oh…“ Sie schwieg einen Augenblick. Dann fragte sie: „Ich war noch nie bei so etwas dabei. Ist das gruselig anzusehen?“

„Nein. Wir werden am offenen Sarg Abschied nehmen – also im konkreten Fall erst einmal ‚Hallo‘ sagen. Zwanzig Jahre… davor gruselt mich am meisten.“

Veronica nickte. Sie hatte schon Erfahrungen mit dem Tod gesammelt, sogar Leichen angefasst. Pauls Anblick würde sie wohl nicht schockieren. Aber sie konnte sich vorstellen, dass es besonders bedrückend für ihren Vater sein musste, nach so langer Zeit der Trennung nur noch einem Toten zu begegnen.

„Danach wird die Kiste verschlossen und verschwindet durch eine Öffnung“, fuhr Zach fort. „In ein paar Tagen bekommen wir die Asche in einer Urne überreicht; alles sehr sauber und antiseptisch. Es ist kein Vergleich zu dem, was ich in Varanasi gesehen habe. Dort verbrennen sie die Leichen offen auf Holzstößen und streuen die Asche danach in den Ganges. Du kannst alles ganz genau beobachten.“

„Eines Tages werde ich es mir ansehen. Doch gerade jetzt…“

„Gerade jetzt brauchen wir keinen weiteren Nervenkitzel. Ganz meine Meinung.“ Er klappte den Bildschirm in die Tischfläche zurück und erhob sich. „Zeit, etwas Ruhe zu finden.“

Sie verließen das Studierzimmer. Veronica hielt vor ihrer Tür inne. Ohne sich umzudrehen sagte sie: „Gute Nacht, John-Boy.“

Zach lächelte. „Gute Nacht, Elizabeth.“


„Guten Morgen, Signore Ziegler“, grüßte Maria ihren Arbeitgeber am Freitag Morgen. „Heute sind sie aber früh auf den Beinen. Haben Sie etwas vor?“

„Guten Morgen, Mrs Borghese. Ja, ich habe tatsächlich Termine, aber erst am Nachmittag. Ich schlief ein wenig unruhig. Da dachte ich, der Tag nimmt einen besseren Anfang, wenn ich etwas tue, statt mir das Kreuz platt zu liegen. Übrigens…“

„Si, Signore?“

„Was halten Sie davon, wenn wir uns die Höflichkeiten schenken uns beim Vornamen anreden?“

„Einverstanden.“

„Ich auch,“ rief Veronica, die gerade aus dem Hinterzimmer zu ihnen gestoßen war. „Veronica.“ Sie streckte der Italienerin die Hand hin. Die ergriff sie, schüttelte sie ein Mal und sagte: „Maria.“

„Nenn mich Zach“, sagte der Detektiv und streckte ihr ebenfalls die Hand hin. Maria reichte die ihre. Die beiden sahen sich einen Moment länger in die Augen, als die Etikette es erlaubte. Ein Hauch von Röte flog über Zachs Gesicht. Maria lächelte verträumt. Schließlich lösten sie die Hände.

„Steht heute etwas Besonderes an?“, erkundigte Maria sich.

„Du kochst uns allen einen schönen starken Kaffee“, kommandierte Zach. „Und währenddessen erzählst du uns, wie du zu deinem kuriosen Spitznamen gekommen bist.“

„Semolina Pilchard?“

Zach und Veronica nickten in perfektem Einklang, als folgten sie einer Choreographie. Maria lachte amüsiert. „Das ist schnell erklärt“, antwortete sie. „Er stammt aus dem Song ‚I am the Walrus‘ und verballhornt laut John den Namen eines englischen Polizisten, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, bekannte Musiker bei Drogendelikten zu erwischen.“

„Sowohl du als auch Onkel Paul führten Polizistennamen. Zufall?“, erkundigte sich Veronica.

Maria zuckte mit den Schultern. „Wir beide waren die Schnüffler der Familie, und wie die beiden Charaktere aus den Songs waren wir gut bei dem, was wir taten. Es passte gewissermaßen.“

34) Dr Robert

Der orangefarbene Sportwagen bog in die Yewtree Road ein. Nach wenigen hundert Metern blieb er vor dem Haus des Notars Jules R. Miller stehen. Zach und Veronica stiegen aus, gingen den kurzen, von Blumen gesäumten Weg bis zur Vordertür und betraten das Gebäude.

Mrs Wickens, die Sekretärin, begrüßte sie herzlich. „Nehmen Sie im Wartezimmer Platz. Dr Miller kommt in wenigen Minuten aus seiner Besprechung“, fügte sie hinzu.

Vater und Tochter Ziegler kannten den Weg. Sie setzten sich und betrachteten die mit ‚Donna‘ unterzeichneten Gemälde auf der gegenüberliegenden Wand. Eines zeigte Paul McCartney, an seinen dunkelgrünen DB6 gelehnt, ein weiteres porträtierte John Lennon und Yoko Ono Hand in Hand spazieren gehend, und an den Flanken hingen Bilder von George Harrison im Yogi-Sitz und Ringo Starr an seinen Trommeln. Zach stand wieder auf. Er ging hinüber, um sich die darunter angebrachten schwarz-weißen Fotos anzusehen, für die er bei den beiden anderen Besuchen keine Zeit gehabt hatte. Sie zeigten Schnappschüsse und Porträts der vier Beatles, korrespondierend zu den darüber hängenden Gemälden. Jedes Foto entstammte einem anderen Jahr, wie Zach unschwer an den länger werdenden Haaren ablesen konnte. Die Veränderungen bei George und Ringo blieben subtil. Johns Brille änderte sein Erscheinungsbild natürlich viel mehr. Im direkten Vergleich zu früheren Jahren wirkte sein Gesicht in den späten Sechzigern und danach außerdem wesentlich schmaler. Einbildung? Ein natürlicher Prozess? Oder war auch John irgendwann ersetzt worden, temporär oder… wie Paul? Zu Pauls Fotoreihe fiel dem Detektiv nur ein einziges Wort ein: sensationell. Jedes einzelne Bild war eine wirklich gut gelungene Porträtaufnahme, die den Charakter der Person voll zur Geltung brachte. Getrennt betrachtet hätte die Antwort auf die Frage, wen das jeweilige Motiv darstellte, unzweifelhaft immer ‚Paul McCartney‘ lauten müssen. Und genau das verlieh der Reihe Sprengkraft, denn keines der vier Motive zeigte den selben Mann. Unterschiede in Alter, Beleuchtung, Perspektive oder Ausdruck konnten das Auge täuschen, ohne Frage. Aber das waren hier nicht die ausschlaggebenden Faktoren. Es waren die Gesichtsformen und Erkennungsmerkmale selbst, die sich unterschieden: die Nase, die Ohren, der Mund, die Augenbrauen, die Gesichtsform.

„Faszinierend, nicht wahr?“, sagte eine Stimme hinter Zach. Sie gehörte Jules R. Miller, dem Notar, der ‚in Sammlerkreisen‘ als Dr Robert bekannt war. „Man fragt sich ständig, welcher Paul McCartney der echte ist. Haben Sie einen Favoriten? Guten Tag, übrigens.“

„Guten Tag, Dr Miller. Spielt das eine Rolle? Ich komme langsam zu der Ansicht, dass sie wahrscheinlich alle Schauspieler sind. Wenn es einen echten, einen Ur-McCartney gegeben hat, war er ja ebenfalls teilweise Musikdarsteller.“

Miller nickte. „Manches spricht dafür. Es ergibt ökonomisch einfach mehr Sinn. Der Markenname zieht die Kundschaft, nicht das Individuum. Und Hand aufs Herz: Irgendwie wissen wir alle, dass wir nur eine Scheinwelt vorgespielt bekommen, wenn wir die Stars auf der Mattscheibe oder in der Zeitung sehen. Nichts ist real. Trotzdem möchten wir nicht darauf hingewiesen werden. Zusammenstellungen wie diese“ – er deutete auf die Galerie – „suchen Sie bei den sogenannten Qualitätsmedien vergeblich. Bei aller Liebe zur Sensation beißen die Journaillisten niemals die Hand, die sie füttert.“

Mit geschlossenen Augen lebt man bequem…‘“, warf Veronica ein. „Die Beatles gaben die entscheidenden Hinweise ja selbst.“

„Korrekt. Ich glaube aber nicht, dass es lange so bleiben kann. Je mehr die Kontrolleure die Schrauben anziehen, desto unbequemer wird es für das gewöhnliche Volk – und desto mehr Leute erwachen aus ihrem Dornröschenschlaf.“

Zach setzte eine skeptische Miene auf. „Das merke ich zwar auch, speziell seit der Plandemie. Die Verstrickungen zwischen Politik, Wirtschaft, NGOs und Medien sind inzwischen selbst für Blinde sichtbar geworden. Das Problem ist nur, dass so wenige Menschen bereit sind, ihren Lebenswandel an die neuen Erkenntnisse anzupassen und damit ihren Gehaltsscheck zu riskieren.“

Der Notar zuckte die Schultern. „Das liegt nicht in unserer Hand. Im Übrigen sind es vielleicht mehr Menschen, als wir denken. Man kann es nur schwer abschätzen, weil sie aus dem System herausfallen und damit weitgehend unsichtbar werden.“

„Was liegt dann in unserer Hand?“, fragte Veronica.

„Unser eigenes Erwachen“, sprang Zach für den Notar ein. „Sich bewusst in den Prozess der Desillusionierung zu begeben und ihn aktiv voranzutreiben. Es gibt stets noch eine weitere Zwiebelschicht, hinter der sich eine tiefere Wahrheit verbirgt.“

Miller nickte. „Darum, finde ich, ist die Geschichte der Beatles ein solch geeigneter Einstieg in den Ausstieg.“

„Oder auch nicht. Wer sieht schon gern seine Idole vom Sockel gestoßen?“, widersprach die junge Detektivin.

„Wer sieht schon gern, dass die Renten nicht sicher sind? Wer sieht schon gern, wie der Grundrechtekatalog zur Verweigerung der Grundrechte missbraucht wird? Wer sieht schon gern, dass das Nachrichtenmagazin seines Vertrauens ihn jahrzehntelang in die Irre geführt hat? Wer sieht schon gern, dass Mutter Kirche von Satanisten gelenkt wird, oder dass keine Demokratie im Land herrscht, sondern nur ein weiteres Regime in einer zehntausend Jahre alten Reihe solcher Regimes?“, forderte Miller sie heraus. „Niemand sucht sich das Ereignis aus, das dazu führt, dass er aus der fabrizierten Realität herausfällt. Aber eins ist sicher: Der Schmerz missbrauchten Vertrauens und frustrierter Träume lehrt uns, künftig genauer hinzusehen.“

Zach zeigte mit einer bogenförmigen Geste in den Raum. „Haben Sie hiermit vielen Menschen die Falltür nach draußen geöffnet?“

„Wer kann das sagen? Der Impuls, den die Bilder setzen, mag erst Jahre oder Jahrzehnte später zünden. Ich kenne jedoch zahlreiche Leute in Liverpool – auch außerhalb der ‚Familie‘ –, für die Paul McCartneys Tod Fragen an unsere Gesellschaft aufgeworfen hat; Fragen, die von offiziellen Stellen entweder gar nicht oder mit offensichtlichen Lügen beantwortet werden. Vielleicht lassen sie sich noch ein paar Jahre länger irreführen, aber die Wirklichkeit hat einen Fuß bei ihnen in die Tür bekommen. Ihr Ausstieg ist nur eine Frage der Zeit.“

„Ich wünschte, ich könnte Ihre Zuversicht teilen.“ Zach schaute nachdenklich drein.

Veronica trat an dicht vor das Gemälde, auf dem der dunkelgrüne Aston Martin DB6 zu sehen war. „Diese Donna, die die Gemälde geschaffen hat, ist das zufällig die Frau, die in McCartneys Wagen saß?“

Wenn es tatsächlich einen Unfall gab und wenn McCartney diese Anhalterin dabei hatte und wenn sie Donna hieß, dann stimmt sicherlich auch der Rest der Geschichte, das heißt, sie ist damals zusammen mit ihm gestorben“, spekulierte der Notar. „Donna steht der ‚Familie‘ nahe, hält aber Abstand zu Kite. Sie sammelt nicht Altes, sie erschafft Neues. Ich mag den Kontrast zwischen den heiteren Farbgemälden, die den Mythos der Pop-Idole pflegt, und den düsteren Abbildern der Realität. Leider sehen viel zu viele nur die hübschen Farben.“

„Es braucht beides, oder?“, bemerkte Veronica.

Miller warf ihr wieder seinen scharfen, durchdringenden Blick zu, der sie die Male zuvor so sehr gestört hatte. Dann entspannte er seine Gesichtszüge, lächelte sie an und sagte: „Die Weisheit des Alters aus dem Mund der Jugend… Sie haben recht: Schön oder unschön, wir müssen sehen, was ist, statt das, was wir glauben, wünschen, befürchten, vermuten, erschließen, lesen oder hören. Die meisten Leute haben große Probleme zu verstehen, dass die Wirklichkeit realer ist, als alles, was in ihrem Kopf stattfindet.“

„Mr Miller,“ begann Zach.

Der Notar hob beide Hände abwehrend vor seine Brust. „Bitte nennen Sie mich Robert. Wir sind Mitglieder der Familie; mehr noch: Brüder und Schwestern im Geiste.“

„Okay, Robert. Nennen Sie mich gern Zach. Aber Mitglieder der Familie werden wir wohl nie werden.“

„Kite?“

„Kite.“

Jules Robert Miller seufzte. „Eines baldigen Tages wird es zum Bruch kommen. Viele von uns sind längst nicht mehr damit einverstanden, wohin das Schiff steuert.“

„Das ist uns bereits zu Ohren gekommen. Wenn ich recht verstehe, haben Sie auf der letzten Versammlung Schritte unternommen, die geeignet scheinen, einen solchen Bruch herbeizuführen. Können Sie uns etwas über den Verlauf des Abends erzählen?“

„Nun, es gibt wie gesagt eine Gruppe von Mitgliedern, die andere Vorstellungen davon pflegt, wie mit dem Sammelgut umgegangen werden sollte. Wir möchten das Material zur Dokumentation der Zeitgeschichte der Sechzigerjahre verwenden. Gegebenenfalls wird manches für Prozesse oder Tribunale relevant werden, wenn es gelingen sollte, die Kontrolleure aus dem Sattel zu heben – keine besonders wahrscheinliche Entwicklung der nahen Zukunft, aber wir wollen vorbereitet sein. Es wurde uns jedoch zunehmend offensichtlicher, dass Kite Beweismaterial für Paul McCartneys Ermordung sammelt, um es im Interesse seines Großvaters aus dem Verkehr zu ziehen. Unser Plan für den besagten Abend bestand darin, Kites Wachsamkeit zu schwächen, um Kopien von solchen Stücken anzufertigen.“

„Es ging dabei konkret um Mal Evans‘ Erinnerungen, richtig?“

„Richtig.“

„Wie gedachten Sie, ‚Kites Wachsamkeit zu schwächen‘?“

„Duchess of Kirkcaldy, eines unserer Mitglieder, erklärte sich bereit, sein Interesse auf sich zu ziehen.“

„Ist Ihnen bekannt, dass das Mädchen minderjährig ist?“, fragte Veronica.

„Sicher. Aber es war ihre eigene Idee. Sie hat auf dieser Rolle bestanden, und keiner von uns ist in einer Position, ihr Anordnungen zu erteilen.“

„Sie hätten das Vorhaben abblasen können“, sagte Zach.

„Vor wenigen Minuten haben Sie darüber geklagt, dass zu wenige Menschen bereit sind, für die Wahrheit Opfer zu bringen. Ich hege genau wie Sie meine Zweifel, ob Kirk genügend Lebenserfahrung besaß, die Folgen ihrer Entscheidung abzusehen, aber ich bewundere ihre Entschlossenheit.“

„Die nötige Erfahrung besitzt sie nach jener Nacht bestimmt. Es muss traumatisierend gewesen sein. Hat sich ihr Opfer wenigstens gelohnt?“

„Ich würde das bejahen wollen. Wir konnten ein Foto kopieren, das Paul McCartney auf dem Seziertisch zeigt.“

„Kein Richter würde eine Kopie als Beweismittel akzeptieren. Nicht einmal Ihnen als Sammler würde es genügen. Die Versuchung muss doch groß gewesen sein, das Original einzupacken und mitzunehmen.“

„Wem sagen Sie das? Ich bin ein Sammler seltener Fotografien, aber ich bin auch den anderen Sammlern in der Familie freundschaftlich verbunden. Überdies muss ich als Notar die Gesetze des Königreichs achten. Wenn wir das Bild gestohlen hätten, hätte Kirk das womöglich mit dem Leben bezahlt, und ich könnte von Glück sagen, wenn ich lediglich meine Lizenz verliere.“

„Sie haben das Originalfoto also im Schloss zurückgelassen?“

„Wir haben es nur abfotografiert. Semolina steckte es wieder in seinen Plastikumschlag und gab es Kirk zurück. Wir Männer – Mr Mustard, Rocky Raccoon und ich – haben uns anschließend in den Salon begeben, um auf das Gelingen anzustoßen. Semolina holte kurz darauf Mustard zu Hilfe, weil Kirk bewusstlos am Boden lag. Er berichtete, dass er das Foto auf einem Nachttisch in Kites Schlafzimmer gesehen habe. Kite ahnt bestimmt nicht einmal, dass…“

„Irrtum!“, unterbrach ihn der Detektiv. „Kite weiß davon, denn er sagte mir, dass man ihm das Foto entwendet hat.“

Miller sah schockiert aus.

„Halten Sie es für möglich, dass Mustard das Bild eingesteckt hat? Oder Semolina? Die beiden waren allein; die Gelegenheit war günstig.“

„Für Semolina lege ich meine Hand ins Feuer. Sie würde weder stehlen noch zulassen, dass in ihrer Gegenwart gestohlen wird.“

„Hätten Mr Mustard oder Rocky Raccoon später zurückgehen können, um das Foto zu klauen?“

Miller überlegte, dann zuckte er die Achseln. „Ich nehme es an. Ich habe das Schloss zwanzig Minuten nach Semolina verlassen, kurz nach zwei Uhr. Anschließend – wer weiß, was ihnen in ihrer Trunkenheit eingefallen sein mag.“

„Kite hat sich nicht bei Ihnen nach dem Foto erkundigt?“

„Nein. Er hat keinerlei Kontaktversuch unternommen.“

„Haben Sie seither andere Mitglieder ihrer Gruppe getroffen oder mit ihnen telefoniert? Ist über den Abend gesprochen worden?“

„Nein. Außer Molly, meine Sekretärin, habe ich niemand gesehen. Sie mokierte sich wegen Kirks Aufzug. Das war alles, was wir über jenen Abend austauschten.“

„Sie haben nicht versucht, herauszufinden, wie Kirk die Nacht überstanden hat?“, hakte Veronica nach.

„Ich wählte ihre Nummer mehrfach, aber sie nahm das Gespräch nicht an.“

„Könnte sie in Schwierigkeiten stecken?“

„Wenn es stimmt, was Sie sagen: möglicherweise in den allergrößten. Ich dachte, sie genießt noch ein wenig länger die Annehmlichkeiten auf Wallace Castle.“

„Woher kommt das Mädchen eigentlich?“

„Ich weiß es nicht. Eines Tages war sie einfach da. Ich denke zuweilen, dass sie für jemand ein Auge auf uns gerichtet hält. Aber ist das wahrscheinlich? Sie ist noch so jung…“

„Ich habe schon Pferde kotzen gesehen. Finden Sie es normal, dass man ein tiefes gemeinsames Interesse teilt und einander ‚Familie‘ nennt, aber nicht weiß, wie der andere heißt oder woher er kommt?“

„Sie haben natürlich recht. Zu Ihrem Stiefbruder Paul unterhielt ich ein ungleich intensiveres Verhältnis. Nur – wer könnte ein Interesse an uns haben?“

„Kites Familie, die sich sorgt, mit wem er sein gefährliches Wissen teilt? Ein Freimaurerorden, der Kites Aktivitäten unter Kontrolle halten will? Die Geheimdienste? Über Kite wissen wir ja auch nur das, was er uns erzählt. Er zeigte sich allerdings erstaunlich besorgt, dass ich gegen ihn ermitteln könnte.“

Miller lächelte. „Dass jemand gegen ihn vorgeht, sollen Desmond und ich verhüten. Ich darf Ihnen meiner anwaltlichen Schweigepflicht wegen natürlich keine Angaben zu seinen rechtlichen Angelegenheiten machen, aber ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass wir ein eingespieltes und erfolgreiches Team bilden.“

„Vielleicht wird es Zeit, Loyalitäten zu wechseln.“

„Vielleicht.“

„Gut, Robert. Dann sehen wir uns übermorgen, Sonntag, zur Einäscherung. Soll ich etwas mitbringen oder organisieren? Brauchen Sie Unterstützung?“, erkundigte sich Zach.

„Danke, es ist für alles gesorgt. Ich werde eine kurze Rede halten. Jeder, der möchte, darf sich anschließen und ein paar Worte verlieren. Anschließend gehen wir in eine Bar, um auf Paul anzustoßen. Zwischen elf und zwölf Uhr sind die Feierlichkeiten für den Tag beendet. Wir treffen uns am Dienstag Vormittag auf dem Toxteth Park Cemetary zur Beisetzung wieder.“

„Wie viele Leute werden voraussichtlich teilnehmen?“

„Zur Einäscherung sind nur die engsten Freunde eingeladen. Ich rechne mit zehn bis fünfzehn Personen. Die Beisetzung wurde bereits in der Zeitung annonciert. Viele kannten Paul; mal sehen, wie viele ihm die letzte Ehre erweisen werden.“

35) Hier stehe ich, …

„Mrs Wickens, haben Sie Ihren Koffer geliefert bekommen?“, fragte Zach die Sekretärin, als sie auf dem Weg nach draußen an der Empfangstheke vorbeigingen.

„Danke, er kam gestern Nachmittag an – heil, ohne Hinzufügungen oder Weglassungen.“

„Gut. Bei diesem Teil weiß man ja nie. Es scheint Fundbüros zu mögen.“

„Von jetzt an wird er schön auf meinem Dachboden stehen bleiben. Keine Ausflüge mehr nach New York oder Melbourne.“

Veronica und Zach lachten. Sie verabschiedeten sich von der Sekretärin und wandten sich zum Gehen. Dann drehte Zach sich noch einmal um. „Ach, Mrs Wickens,“ sagte er, „haben Sie Ihrem Mann meinen Wunsch nach einem Gespräch weiterleiten können?“

„Gut, dass Sie es erwähnen. Fast hätte ich es vergessen. Er lässt ausrichten, Sie sollen Montag um acht Uhr auf der Wache vorbeischauen.“


Der GT-Motor röhrte, Veronica setzte den Blinker und lenkte den Wagen in den Feierabendverkehr. Die Ampel am Ende der Yewtree Road war auf lange Rot- und kurze Grünphasen eingestellt. Sie näherten sich ihr im Schritttempo.

„Glaubst du ihm?“, fragte Veronica.

„Misstraust du ihm noch immer?“, stellte Zach die Gegenfrage.

„Ich habe mich heute mit der Möglichkeit angefreundet, dass dein erster Eindruck der treffendere war: Miller hat Tiefgang, und deshalb schaut er gern hinter die Fassade. Er kommt mir nun nicht mehr so unheimlich vor. Seine Aussagen passen außerdem haargenau zu Marias Bericht, den ich glaubhaft fand. Und er hat die schwierigen Fragen offen beantwortet.“

„Aber?“

„Aber ich finde es schwer zu glauben, dass ausgerechnet der Fotosammler der Familie sich die Gelegenheit durch die Lappen hat gehen lassen, eines der für ihn interessantesten und wichtigsten Objekte einzupacken. Erinnere dich: Er war laut Maria derjenige, der die Bedeutung des Bildes sofort erkannt hat. Wenn die bisher befragten Personen die Wahrheit gesagt haben, bleiben nur Mr Mustard, Rocky Raccoon und Duchess of Kirkcaldy im Kreis der Verdächtigen – Leute mit völlig anderen Interessengebieten. Ich bin geneigt, das Mädchen auszuschließen, weil ihr klar gewesen sein muss, dass sie sich für Kite zur offensichtlichen Zielscheibe gemacht hätte.“ Veronica überlegte.

Die Ampel schaltete auf Grün, ließ die letzten vor ihnen verbleibenden Fahrzeuge passieren und wechselte erneut zu Rot. Zach schnaufte und verdrehte die Augen.

„Was wäre, wenn es gar keinen Diebstahl gegeben hätte?“, fragte Veronica nun. „Hältst du es für denkbar, dass Kite denselben Trick abzieht, wie beim Manuskript – offiziell gestohlen, aber längst im Campbell‘schen Tresor verstaut?“

„Brillant. Du denkst wie eine echte Mafiosa. Wir hätten damit einen plausiblen Grund, weshalb er die eigene Person von den Ermittlungen ausgenommen sehen möchte. Doch weshalb beauftragte er überhaupt einen Detektiv?“

„Erstens, das würde seine Behauptung glaubhafter erscheinen lassen. Er ruft ‚Haltet den Dieb!‘ und begibt sich damit in die Opferrolle, während sich die Blicke aller Anwesenden suchend von ihm abwenden. Zweitens könnte er mit unserer Hilfe herausbekommen, ob er tatsächlich einem Komplott auf den Leim gegangen ist, wer daran beteiligt war und was die Gruppe erreicht hat.“

Zach brummte. Grimmig starrte er die noch immer rote leuchtende Ampel an. Hinter ihnen hupte jemand so ungeduldig, wie der Detektiv sich fühlte. „Vielleicht müssen wir eine Münze einwerfen, damit das blöde Ding uns durchlässt“, grollte er.


Der Mittfünfziger saß zurückgelehnt im Sessel, ein Bein lässig über das andere geschlagen. Er hatte kurze schwarze Haare und trug T-Shirt und Bluejeans, die nur auf den ersten Blick wie gewöhnliche Straßenkleidung aussahen, in Wirklichkeit jedoch teure Designertextilien waren. Sein Verhalten gab Zach unmissverständlich zur Kenntnis, dass der Mann eine klar geschnittene Vorstellung von der Welt besaß, dass er wusste, was er wollte, dass er es gewohnt war, Anweisungen zu geben, und dass er nicht lange um den heißen Brei herumredete. Rocky Raccoon weigerte sich, seinen bürgerlichen Namen zu nennen.

„Seit meiner Jugend kenne ich nichts anderes als Musik“, sagte er. “Mein Vater war einer dieser Starproduzenten, die man anrief, wenn man garantierte Hits brauchte. Er sorgte dafür, dass ich eine solide Ausbildung als Musiker, Tontechniker und Volkswirt erhielt und benutzte seine Kontakte, um mich im Management eines der größten Labels im Land zu platzieren. Ich habe die Firma über ein Jahrzehnt geleitet, bevor ich mich mit Fünfzig zur Ruhe setzte. Das hier –“ er zeigte mit dem Daumen über die Schulter zur Tür, die in den Laden führte, „– das hier ist mein privater Feldzug, eine mir selbst gestellte Aufgabe, die ich streng getrennt von meiner beruflichen Laufbahn halte. Die beiden schließen sich gegenseitig aus.“

„Ich bin sicher, manche in der Familie sehen das anders. Ich verstehe aber inzwischen, dass das Vorhaben ihrer… Gruppe den Interessen des Establishments, speziell der Musikindustrie, vollständig zuwider läuft. Ist es das, was Sie sagen wollen?“

„Haarscharf. Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, die Masche, mit Hilfe derer die Beatles groß geworden sind, bei jeder einzelnen Kapelle zu reproduzieren, die sie –“, er zeigte nach oben, „– in den Hitparaden platzieren wollten. Qualität spielte keine Rolle; das Schicksal der Musiker spielte keine Rolle; das Wohl des Kunden spielte keine Rolle; gesellschaftliche Folgen spielten keine Rolle. Es lief für mich nicht anders als für Leute in anderen Berufen. Sobald man begreift, dass die klaffende Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit weder zufällig entstand noch auf die Unfähigkeit einzelner Akteure zurückzuführen ist, muss man seine Wahl treffen. Es ist die wichtigste Entscheidung, vor der ein Mensch je stehen wird.“

Zach nickte und fügte hinzu: „Ob man in ihrem Schmierenstück mitwirkt oder das Theater verlässt.“

Rocky Raccoon wiegte den Kopf. „Sehr plakativ gesprochen: ja. Es gibt natürlich Graustufen, aber ich möchte betonen, dass man auf beiden Seiten des Orchestergrabens aktive und passive Rollen spielen kann. Es hat mir nicht gereicht, der Theatertruppe lediglich den Rücken zu kehren. Ich kann unmöglich auf dem Reichtum ausruhen, den ich im Dienst der Maschine angehäuft habe. Da ich nun aus eigener Anschauung weiß, was ich über sie weiß, bleibt mir nur die Wahl, ihr aktiv Widerstand zu leisten.“

„Leute wie Kite belächeln Ihre Bemühungen, denn er weiß genau, mehr als neunzig Prozent aller Menschen verstehen nicht, wovon Sie überhaupt reden. Und der größte Teil aller anderen wird Ihnen sagen, dass Sie sich bloß die Finger verbrennen.“

Rocky schnaubte. „Erstens geht es für mich in erster Linie um Ethik, um Wahrhaftigkeit, nicht um Erfolg. Es ist eine Frage des Prinzips. Zweitens versuche ich keineswegs, ‚die Welt zu retten‘, sondern nur meinen Beitrag zu einer gerechten Sache zu leisten, so wie ich zuvor, als Label-Manager, meinen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Maschine geleistet habe. Keins von beidem verlangt mehr von mir, als ein Mensch fähig ist, zu tun.“

„Verstehen Sie mich nicht falsch,“ erwiderte Zach, „ich bin da ganz bei Ihnen. Es interessiert mich einfach, wie Sie die Dinge sehen. Woher beziehen Sie die Kraft, einer weltumspannenden zehntausend Jahre alten Machtpyramide die Stirn zu bieten?“

„Lassen Sie es mich noch einmal mit Martin Luthers Worten sagen: ‚Hier stehe ich; ich kann nicht anders.‘ Dass Unterhaltung Lebenszeit auffrisst – schön. Dass Unterhaltung aus der Konserve unsere Fähigkeit zu eigener Kreativität zerstört – geschenkt. Aber dass massenproduzierte Unterhaltung aus der Konserve die Menschen zunehmend von der Wirklichkeit entfremdet – den natürlichen Grundlagen unserer Existenz, dem gesunden Menschenverstand und sogar von objektiven Tatsachen –, macht mich rasend. Diese Entfremdung war zwar stets Teil unserer Kultur; nun jedoch wird sie gezielt vorangetrieben. Sie und ich gehören derselben Generation an. Schauen Sie nur, wie sehr das Niveau menschlicher Fähigkeiten in den letzten fünfzig Jahren gefallen ist, und es war zuvor schon nicht mehr besonders berauschend: Handwerk, Kunst, technisches Verständnis, Logik, Sprache, Diskussionskultur, Miteinander, Leidensfähigkeit, geistige Gesundheit – um nur ein paar der am meisten betroffenen Bereiche zu nennen – haben im Verlauf unserer Lebenszeit dermaßen abgebaut, dass von Kultur kaum noch die Rede sein kann. Elemente von Vorsatz sollten so langsam auch für jene sichtbar geworden sein, die nicht wie ich direkte Anweisung bekommen haben, meine Bedenken zurückzustellen, erprobte Praktiken über Bord zu werfen und stattdessen tumbe Frontalangriffe gegen das Unterbewusstsein der Leute zu fahren. Doch mit dem Niveau sinkt auch die Fähigkeit, den Verfall überhaupt wahrzunehmen. Ein genialer Plan, gnadenlos ausgeführt.“

„Zu welchem Zweck, glauben Sie?“, fragte Zach.

„Um mit Gewalt ein neues Zeitalter herbeizuführen, das New Age, einen großen Neustart. Aleister Crowley sprach vom Zeitalter des Horus; seine Nachfolger reden vom Zeitalter des Wassermanns, das politisch von einer Neuen Welt-Ordung eingeläutet werden soll; im Prinzip der Weltstaat. Viele fürchten den Freiheitsverlust, den er mit sich bringen wird, aber im Vergleich zu den längerfristigen Zielen der Kontrolleure ist das Kleinkram. Ihre Vordenker imaginieren den Supermann, den Übermenschen, homo deus, eine transhumane neue Herrenrasse, die sich in einem alchemischen Prozess aus dem Staub und der Asche der alten Menschheit erheben soll. Sie kennt kein Schicksal, keinen Zufall, keine höheren Kräfte – ganz zu schweigen von Gott –, sondern nur totale Kontrolle über sämtliche materiellen, sozialen und geistigen Bedingungen des Daseins. Man experimentiert mit elektronisch-biologischen Schnittstellen herum und manipuliert Gene, um auf der einen Seite eine unsterbliche hyperintelligente Superrasse zu züchten und auf der anderen Seite eine Spezies degenerierter Sklaven, die zu keinen eigenen Gedanken mehr fähig ist. Es mag weniger wortreiche Definitionen von Satanismus geben, aber soweit es mich angeht, erfüllt die Ideologie der Herrschenden jede beliebige von ihnen.“

„Ihnen ist natürlich klar, dass Ihre Ansichten, milde ausgedrückt, keinen Popularitätspreis gewinnen werden. Schon Ihr Vokabular wird viele abschrecken.“

„Wie gesagt geht es mir ums Prinzip, um meinen eigenen Erwachensprozess – darum, die Dinge zu sehen, wie sie sind, und dann der erkannten Wahrheit entsprechend zu handeln. Es ist nicht meine Aufgabe, anderen Leuten die Scheuklappen abzunehmen; das liegt in deren Verantwortung. Ich kann nur anmerken, dass jene, die bezüglich des Zustandes der Welt keinen Zorn empfinden, entweder nicht hinsehen oder sich weigern, die Konsequenzen des Gesehenen bis ganz an ihre Ende zu durchdenken. Als Spezies bezahlen wir die Bagatellisierung des Bösen schon heute. Es schmerzt auf vielfache Weise, im einundzwanzigsten Jahrhundert zu leben. Die Qualen aber, die bei fortgesetzter kollektiver Ignoranz noch auf uns zukommen, vermag sich heute niemand vorzustellen.“

„Was meinen Sie damit, dass es schmerzt?“

„Wie viele Dinge tun wir lediglich aus Angst vor negativen Folgen? Oder anders gefragt: Wie viel von dem, was zu Ihrem Alltag gehört – Steuern zahlen, zum Arbeitsplatz pendeln, Vorschriften befolgen, Formulare ausfüllen, an Protestmärschen teilnehmen und so weiter – , würden Sie selbst dann noch betreiben, wenn Sie weder Strafe noch Verlust von Privilegien befürchten müssten? Diese Furcht ist der wichtigste Hinweis, dass wir unser Gleichgewicht als Personen und als Gesellschaften verloren haben. Es geht nur noch um Schmerzvermeidung für das kleine, verletzliche Ich. Wo einst Raum für Größeres und Höheres war, klafft ein riesiges Loch. Mit unseren Ängsten alleingelassen verfallen wir in zwanghaftes Verhalten. Das reicht von kleinen Ticks wie einem Waschzwang über Konsumismus bis hin zu Drogensucht, Psychosen, Depressionen und Suizid. All das sind Schmerzvermeidungsstrategien der menschlichen Psyche.“

It‘s got to be Rock‘n‘Roll / to fill the hole in your soul“, sang Zach eine ABBA-Zeile. „Ich habe übrigens vorige Woche von einer Untersuchung gehört, die zu dem Ergebnis kam, dass fast ein Drittel aller Bürger therapiebedürftig sei. Das klang zunächst wie eine ziemlich große Hausnummer. Aber Sie haben recht, vermutlich müssen wir Zahlen jenseits der neunzig Prozent ansetzen, wenn es um kulturell verursachte psychische Störungen geht.“

Rocky Raccoon hob seine Hand in einer Geste, die Zustimmung bekundete.

„Ich danke für Ihre Offenheit. Ich finde sie… nun, erfrischend trifft es nicht ganz, aber Sie verstehen hoffentlich, was ich meine. Lassen Sie mich auf den Grund zu sprechen zu kommen, dessentwegen ich Sie eigentlich eingeladen habe: die Ereignisse auf dem letzten Treffen der Familie. Darf ich Ihnen hierzu einige Fragen stellen?“

„Tun Sie sich keinen Zwang an.“ Rocky lächelte.

36) Revolver

„Angesichts Ihrer Erkenntnisse über den größeren Zusammenhang beschlossen Sie, dass Sie an den Kulissen der Unterhaltungsindustrie rütteln mussten. Wenn ich es recht verstehe, arbeiten Sie an einer Art Dokumentationsprojekt…“

„Nun, das ist die eine Hälfte der Unternehmung: interessierten Zeitgenossen Zugang zu authentischen Objekten zu verschaffen und eine halbwegs korrekte Geschichtsschreibung zu ermöglichen. Die andere Hälfte besteht in der juristischen Aufarbeitung. Ich sehe im Moment zwar keine Chance, ein unabhängiges Gericht zu finden, das gegen die Kontrolleure antreten würde, aber die Zeit wird kommen, und dann wollen wir vorbereitet sein.“

„Was hatten Sie sich diesbezüglich vom Familientreffen erhofft?“

„Wir dachten, wir könnten eine Gelegenheit herbeiführen, Mal Evans‘ Memoiren zu kopieren. Wir vermuten, dass seine Beschreibungen Hinweise auf weiterführende Spuren enthalten, etwa zur Frage, wie die Songs geschrieben und aufgenommen wurden oder wie Billy Shears Paul McCartney ersetzte.“

„Wer kam auf die Idee, ein minderjähriges Mädchen als Venus-Fliegenfalle zu benutzen?“

„Das Mädchen selbst. Unser Plan sah vor, Kite mit Alkohol oder Drogen auszuschalten. Kirk war der Ansicht, wir unterschätzten seine Intelligenz. Sie sollte recht behalten.“

„Wider Erwarten blieb PC31 jedoch an diesem Abend dem Treffen fern, und mit ihm das Manuskript. Weshalb machten Sie trotzdem weiter?“

„Kirk ließ sich durch nichts bremsen. Vielleicht ging es ihr mehr um den Sex als um das Beweisstück; vielleicht genoss sie den Kitzel der Gefahr; vielleicht wollte sie sich oder uns etwas beweisen. Ich weiß es nicht. Vom Augenblick ihres Eintreffens flirtete sie heftig drauf los. Ich habe ihr mehrmals signalisiert, dass sie es sein lassen soll, aber sie ignorierte mich einfach.“

„Also stieg sie schließlich mit Kite ins Bett. Was geschah dann?“

„Semolina schlich ihr hinterher. Irgendwann kehrte Sem in den Salon zurück, um uns zu holen. Sie hatte von Kirk ein Foto erhalten. Mustard, Robert und ich haben Aufnahmen gemacht. Dann gingen wir wieder hinunter, während Semolina das Foto zurückzugeben versuchte. Aber sie fand Kirk bewusstlos am Boden des Schlafzimmers liegend vor. Also hat sie mich geholt, um ihr zu helfen, sie aufs Bett zu legen.“

„Wie sah es im Schlafzimmer aus? Ist Ihnen etwas aufgefallen?“

„Völliges Durcheinander; Kleidungsstücke über den Boden verstreut. Kite lag im Tiefschlaf auf dem völlig zerwühlten Bett, Kirk daneben auf dem Boden. Sie sah übel zugerichtet aus – voller blaue Flecke, die Haare zerzaust. Wir hievten sie hoch, dann gingen wir.“

„Haben Sie das Foto irgendwo gesehen?“

„Es lag auf einem der Nachttischchen.“

„Und da lag es noch, nachdem Sie das Zimmer verlassen hatten?“

„Selbstverständlich! Wofür halten Sie mich?“

„Entschuldigen Sie, ich muss die Frage stellen. Das Bild fehlte am folgenden Tag.“

„Wie bitte?“

„Kite sagt, es sei ihm entwendet worden. Er hält es für einen Scherz, der zu weit getrieben wurde, und bat mich, Erkundigungen einzuholen. Hat er Sie nicht zu kontaktieren versucht?“

„Nein. Ich hatte auch keinen Kontakt zu den anderen.“

„Als Semolina und Sie in den Salon zurückgekehrt waren, sprachen Sie den anderen gegenüber davon, was Sie im Schlafzimmer gesehen haben?“

Rocky Raccoon überlegte. Zögernd sagte er: „Ja. Da Sie so fragen, erinnere ich mich, die Szene beschrieben zu haben.“

„Wer hat das Schloss als Letzter verlassen?“

„Ich. Gelegenheit ins Schlafzimmer zurückzugehen hätten aber alle gehabt. Der Ruf der Natur, Sie verstehen?“

„Was halten Sie für wahrscheinlicher: dass Kite lügt oder dass einer von Ihnen sich das Foto heimlich geschnappt und mitgenommen hat?“

„Ich glaube eher, dass Kite lügt, möchte jedoch grundsätzlich nichts ausschließen.“

„Wer von Ihnen, glauben Sie, käme am ehesten dafür infrage?“

„Robert oder Mustard.“

„Weshalb nicht Semolina?“

Rocky verzog den Mund. „Wenn Sie sie seit längerem kennen würden, hätten Sie sich die Frage geschenkt.“

„Was ist mit Kirk? Sie scheint gerade untergetaucht zu sein. Halten Sie es für möglich, dass sie mit dem Foto abgehauen ist?“

Der Ex-Manager zuckte die Schultern. „Sie müsste vor Kite aufgewacht und dann zu Fuß bis zur Hauptstraße zurückgegangen sein. Sie ist zierlich gebaut, daher vermute ich, die K.O.-Tropfen haben sie härter getroffen. Kite war bestimmt vor ihr wach.“

„Er dürfte über das Fehlen des Fotos wenig amüsiert gewesen sein.“

„Und sie über seine Reaktion.“


„Ich dachte, du und ich seien schon ziemlich weit in den Dschungel vorgedrungen“, bemerkte Zach, während seine Tochter, die von der Minibar aus dem Gespräch gelauscht hatte, die Backen blähte.

„Vielleicht ein bisschen zu weit, um den Überblick zu bewahren“, erwiderte sie.

„Ja. Mr Raccoon hat aus den einzelnen Bäumen einen Wald geformt.“

„Raccoon hat geholfen, aus den vielen Bäumen einen Wald zu formen. Ohne die Einsichten, die Henry und Maria mit uns geteilt haben, wäre ich sehr viel skeptischer, was den Wahrheitsgehalt des eben Gehörten angeht.“

„Es geht mir ähnlich. Was hältst du von seiner Aussage zum Familientreffen?“

„Er bestätigt, was die anderen erzählt haben. Alle einschließlich Kite halten Maria für eine ehrliche, integre Frau. Sie ihrerseits vertraut Henry und sie würde auch nicht zugelassen haben, dass Rocky das Foto einfach einsteckte. Es bleiben tatsächlich nur der Bildersammler Dr Robert und der geheimnisvolle Mr Mustard als Verdächtige übrig – vorausgesetzt, Kite behauptet den Diebstahl nicht lediglich. Miller scheint mir vertrauenswürdig. Mustard… nun, seine Geschichte werden wir heute Nachmittag hören.“


Würden sie nicht. Aaron Senfkorn, Nachfahre deutsch-jüdischer Holocaust-Überlebender, in Sammlerkreisen unter dem Pseudonym Mr Mustard bekannt, rief kurz vor ein Uhr am Nachmittag an, um das Treffen mit Zach abzusagen. Er machte einen kurzfristigen unaufschiebbaren Termin geltend, wirkte dabei jedoch über die Maßen verlegen. Zach ahnte, dass der Sammler ihm auszuweichen versuchte, denn der Vorschlag, das Gespräch am Montag nachzuholen, erntete ebenfalls Ausflüchte.

„Ich könnte auch bei Ihnen vorbeikommen, wenn Ihnen das lieber ist“, bot Zach an. „Mals Koffer enthielt eine nette Sammlung signierter Autogrammkarten, die ich Ihnen gern zeigen möchte.“

„Nein!“, plärrte es schnell aus der Hörmuschel. Dann, wesentlich sanfter, wie um dem Eindruck entgegenzuwirken, dass er etwas zu verbergen hatte, sagte Mustard: „Nein, äh, danke, das wird nicht nötig sein. Ich werde die, äh, erste Gelegenheit nutzen, Sie in der, hm, kommenden Woche aufzusuchen.“

Mustards Antwort war ein deutlich hörbares Klicken vorausgegangen, das im Grunde der Schalter eines beliebigen Geräts verursacht haben konnte. Die Haare, die sich in Zachs Nacken aufstellten, gaben konkretere Auskunft. Er konnte nicht sagen, weshalb, aber er wusste einfach, dass es sich um den Hahn eines Revolvers handelte. Der Detektiv schüttelte die Intuition als irrational ab. Er wurde langsam paranoid, schalt er sich. Zu Mustard sagte er: „Schön, kommen Sie bitte im Lauf der Woche in den Laden. Warten Sie nicht zu lang. Es gibt einige wichtige Entwicklungen zu besprechen. Und natürlich möchte ich Sie unbedingt kennenlernen.“

„Hm, ja, sicher. Leben Sie wohl.“

„Auf bald“, erwiderte Zach.


Das Krematorium Springwood war ein moderner Zweckbau mit klaren Konturen aus Glas, Stahl und Beton. Der Leichenwagen mit dem ihm folgenden Konvoi der Gäste hielt unter einem Vordach, das etwas mehr Platz bot als sein Gegenstück in Wallace Castle. Miller hatte sechs Träger bestellt, die den offenen Kiefernholzsarg aus dem Fahrzeug zogen und auf ihren Schultern in das Gebäude hineintrugen. Am anderen Ende der kleinen Halle, die sie betraten – dem Aussegnungsraum – befand sich eine Bühne, die rechts und links von roten Vorhängen flankiert wurde. Der linke Vorhang war geöffnet. Dahinter erstreckte sich ein drei auf drei Schritte messender Raum, der bis auf Brusthöhe mit einem Marmorpodest gefüllt war. Auf der Bühne stand mittig ein Rednerpult, davor ein langer niedriger Tisch, auf dem die Träger den Sarg abstellten.

Während aus den Lautsprechern leise die letzten Takte des Beatles-Stücks Long, Long, Long ausklangen, schaute Zach in die Runde. Von den anwesenden Personen kannte er nur etwa die Hälfte: seine Tochter, Miller, Maria, Mr und Mrs Wickens, Bishop und Rocky Raccoon. Fünf weitere Gesichter hatte er noch nie gesehen. Doch, einen Augenblick: Der älteren Dame mit den schulterlangen blonden Locken war er bereits einmal auf der Straße begegnet. Sie gehörte zum Laden gegenüber des Fab Stores, wenn er sich nicht irrte. Müsste er einen Tipp abgeben, waren auch die anderen Trauergäste Nachbarn aus dem Cavern-Viertel.

Der Notar betrat nun die Bühne. Er stellte sich hinter dem Rednerpult auf und blickte geduldig in den Raum. Es verging noch etwa eine Minute, bis auch der Letzte sich gesetzt und alle Gespräche eingestellt hatte. Dann begrüßte Jules Robert Miller die Anwesenden und gab mit gestelzten Worten, denen es jedoch nicht an mitfühlender Wärme fehlte, eine kurze Zusammenfassung von Pauls Leben. Bis auf das Wenige, das er in den vergangenen zwei Wochen über seinen Halbbruder in Erfahrung hatte bringen können, handelte es sich um die Biografie eines für Zach völlig fremden Menschen. Er schaute zum Sarg hinüber, dessen Rand um nur wenige Zentimeter vom Leichnam überragt wurde. Auch die Perspektive war ungünstig. Sein Blick fiel auf die Unterseite von Kinn, Nase und Augenlidern. Ob im Kiefernholzsarg tatsächlich sein Stiefbruder Paul lag – zumal um zwanzig Jahre gealtert, von einem brutalen Mord gezeichnet und vom Tod bereits verfremdet – hätte er nicht zu sagen vermocht. Zachs Gedanken schweiften zurück zu dem Paul, den er um die Jahrtausendwende gekannt hatte, und dann noch weiter zurück zu dem Kinderfreund, den er vor fast fünfzig Jahren dank der zweiten Ehe seines Vaters kennengelernt hatte. Das Ende von Millers Rede ging im Rauschen seiner Erinnerungen unter. Aus den Winkeln seiner nun von Tränen verschleierten Augen bemerkte der Detektiv eine Bewegung. Der Notar trat an den Sarg, legte dem Toten für einige Momente still die linke Hand auf die Schulter und platzierte dann eine Nelke auf dessen Brust. Dann nickte er Henry zu und setzte sich auf einen der Sitzplätze in der vorderen Reihe. Thomas Henry Bishop stand auf. Er ging zum Pult und erzählte einige fröhliche Anekdoten, die die vielen Talente des Ladenbesitzers Paulus Campbell würdigten. Anschließend nahm er eine der Nelken, die in einem Korb nahe der Bühne bereit lagen und gesellte sie der Blume bei, die der Notar auf Pauls Brust hinterlassen hatte. Die anderen Gäste taten es ihm einer nach dem anderen gleich.

Zach saß wie gelähmt auf seinem Platz. Jemand legte ihm eine Hand auf die Schulter. Zögernd drehte er den Kopf, folgte mit Blicken dem Arm nach oben, bis er ein Gesicht ausmachen konnte. Er kannte diese Züge. Er überlegte. Es war…, es war… wer? Henry schaute freundlich auf ihn herab. „Magst du ein paar Worte sprechen?“, fragte er. Der Klang seiner Stimme erschütterte Zach. Nein, wollte er nicht. Doch ohne wahrzunehmen, wie er auf die Bühne gelangt war, hielt er sich nun mit beiden Händen am Pult fest, sein Verstand gleichzeitig leer und zum Platzen gefüllt mit unzähligen Gedanken. Er öffnete den Mund. Die Augen der Trauergemeinde in den Stuhlreihen vor ihm war erwartungsvoll auf ihn gerichtet. Er sprach, ohne zu begreifen, was er da sagte. Zwei Sätze, drei vielleicht; Worte des Dankes an die Ersatzfamilie, die fremde Menschen seinem Stiefbruder in der zweiten Hälfte seines Lebens gewesen waren, würde ihm Veronica später berichten. Dann stieg er herab auf den roten Teppich, mit dem die Halle ausgelegt war, nahm im Vorbeigehen eine Nelke aus dem Korb, trat an den Sarg und starrte dem Toten lange Zeit ins Gesicht. Schließlich legte er seufzend die Blume auf die Brust seines Stiefbruders. Er wandte sich ab. Im Vorbeigehen bemerkte er die nackten Füße, die aus dem schwarzen Anzug des Verstorbenen ragten, ganz wie es Sitte auf den Inseln war. „Abbey Road“, schoss ihm ein skurriler Gedanke durch den Kopf, und: „Paul ist tot.“

‚Golden Slumbers‘ begann von der Musikanlage zu spielen. Bevor Zach in hysterisches Gelächter ausbrechen konnte, näherten sich die Sargträger mit dem Deckel. Er trat beiseite, um ihnen Platz zu machen. Nun erhoben sich auch die anderen Gäste. Als das Holzbehältnis verschlossen war, kamen sie herbei und gruppierten sich um ihn. ‚Golden Slumbers‘ wurde gefolgt von ‚Good Night‘. Die Träger bewegten den Sarg zu der Öffnung links von der Bühne, stellten ihn auf dem Granitpodest ab und traten zurück. Als die Musik verklang, schloss sich der rote Vorhang. Einige der Nachbarn bekreuzigten sich, bis auf Maria jedoch niemand aus der ‚Familie‘. Dann drehten sich die ersten um und verließen die Halle.

Zach, noch immer den Blick auf den Vorhang gerichtet, spürte, wie eine warme Hand sanft die seine ergriff. Es war Maria, die ihn traurig ansah. Er wandte sich ihr zu. Im nächsten Moment lagen sie sich in den Armen, schluchzend, zitternd, weinend.

37) Schlachtplan

In einer Bar unweit des Krematoriums nahmen die Trauergäste einen Umtrunk ein. Mr und Mrs Wickens hatten sich jedoch bereits in der Aussegnungshalle verabschiedet, Donalds dienstlicher Pflichten wegen, die ihn auch an diesem Sonntag nicht zur Ruhe kommen ließen. Das Verbrechen nehme keinen Urlaub, hatte der Kommissar halb im Scherz gesagt, und seine Frau Mary hatte dabei eine säuerliche Miene gezogen.

Veronica unterhielt sich mit der blonden Frau, die, genau wie Zach vermutet hatte, im Laden gegenüber arbeitete. Ein Auge hielt die junge Detektivin auf ihren Vater gerichtet, der mit Maria Borghese ein paar Meter weiter auf einem Barhocker am Tresen saß. Sie sprachen leise miteinander, steckten dabei immer wieder die Köpfe zusammen oder streichelten einander den Rücken. Veronica freute sich für ihrem Vater, der anscheinend endlich Klarheit gefunden hatte, wie er emotional mit dem Verlust seines Stiefbruders umgehen sollte. Maria, die zwar nie auf dem Stiefel gelebt aber von ihrer Familie eben doch einiges vom heißblütigen Nationalcharakter der Italiener vererbt bekommen hatte, musste der Katalysator gewesen sein. Sie wünschte sich, die ‚Putzhilfe‘, die für sie so viel mehr als nur eine einfache Angestellte geworden war, möge ihnen noch lange erhalten bleiben. Veronica war sie sehr ans Herz gewachsen, und wenn sie die Zeichen recht deutete, ging das auch ihrem Vater so. Sie lächelte.


„Hältst du es für wahrscheinlich, dass sie tatsächlich nach Bath gefahren ist, wie sie am Telefon behauptete?“, fragte Zach Maria. Er schaute zu seiner Tochter hinüber, die mit dieser blonden Frau ein paar Meter entfernt an einem der Tische saß. Sie sah ihn lächelnd an, dann konzentrierte sie sich wieder auf ihre Gesprächspartnerin. Veronica hatte das Durcheinander der letzten beiden Wochen besser verkraftet als er, schien es, und er war heilfroh deswegen. Sie konnten alles miteinander bereden, was emotionale Belastungen für sie beide viel leichter erträglich machte, aber er bemühte sich zur Zeit, ihr die düsteren Gedanken zu ersparen, die ihn häufig quälten. Dankbarerweise war nun Maria in das Leben der Zieglers getreten. Sie konnte nicht nur gut zuhören sondern mochte auch eine echte Stütze für sie werden, wie sich heute gezeigt hatte.

Auf seine Frage antwortete Maria: „Ganz ehrlich, ich glaube es eher nicht. Aber wer weiß, vielleicht wohnt jemand aus ihrer Familie dort. Über die wissen wir rein gar nichts.“

„Wo könnte sie sonst hingegangen sein?“

„Das frage ich mich auch schon die ganze Zeit. Es sind fast vier Wochen vergangen, seit ich sie zuletzt am Telefon sprach. Gestern Nacht kam mir eine Idee.“

„Die da lautet?“

„Die ‚Familie‘ hat einen alten Bauernhof nahe der schottischen Grenze gepachtet. Wir feiern dort einmal im Jahr ein großes Fest zusammen, aber wir nutzen das Haus auch für unsere individuellen Zwecke.“

„Wie ist das geregelt? Haben alle von euch einen Schlüssel?“, hakte Zach nach.

„Man muss das mit Desmond verhandeln. Er verwahrt den Schlüssel und achtet darauf, dass keine Überschneidungen entstehen.“

„Mit anderen Worten: Falls Kirk sich dort aufhält, müsste Desmond es wissen.“

Maria nickte.

„Okay, das hilft mir weiter. Ich werde morgen Vormittag mit ihm über das Familientreffen reden. Bei der Gelegenheit kann ich mich gleich nach Kirk erkundigen. Falls sie nicht auf den Bauernhof gegangen ist, besitzt er vielleicht andere Mittel, sie aufzuspüren.“

Die Italienerin schüttelte den Kopf. „Wenn sie in Schwierigkeiten steckt, dann wegen Mr Kite. Desmond ist ihm treu ergeben. Von dem erfährst du rein gar nichts.“

„Ich muss es versuchen, und sei es nur, um ihn wissen zu lassen, dass jemand ein Auge auf ihre Aktivitäten hat. Die Zeiten, da sie in Liverpool schalten und walten konnten, wie sie wollten, sind ab jetzt vorbei.“

„Spiel nicht ‚Don Camillo und Peppone‘ mit denen, Zach. Diese Typen sind gefährlich.“

„Ich bestehe ebenfalls nicht aus Schokolade.“

„Schade eigentlich“, sagte Maria und nahm seine Hand in die ihre.


Verworrene Träume und wiederholtes Erwachen hatten dafür gesorgt, dass sie beide In der Nacht nur wenig erholsamen Schlaf erhielten. Um sechs Uhr früh rollte Zach schließlich aus dem Bett, ging in die Küche und setzte eine Kanne Kaffee auf. Veronica, die seine Schritte auf dem Gang gehört hatte, gesellte sich ihm wenige Minuten später bei. Im trüben Schein einer heruntergedimmten Lampe hockten sie am Tisch und wärmten sich die Finger an den Tassen – Zach an einer bereits leeren, Veronica an einer noch vollen.

„Bei dem Gedanken an das gefärbte Wasser im Präsidium revoltiert mein Magen“, knurrte der Detektiv.

„So schlimm?“, fragte seine Tochter mitleidig.

„Du hast keine Ahnung, wie schlimm!“ Zach seufzte. „Mir mangelt es an jeglichem Drang, diesen Termin wahrzunehmen. Und das, obwohl es sich um einen der wichtigsten in der ganzen Serie handeln dürfte.“

„Weil Desmond das Foto ursprünglich beschafft hat?“

„Das ist nur einer von mehreren Gründen. Er hat vermutlich zahlreiches andere für Kite ‚organisiert‘. Er hält ihm den Rücken frei, wie wir von Miller gehört haben. Er verwahrt den Schlüssel für das Ferienhaus der Familie, in dem sich Kirk womöglich aufhält. Vor allem aber möchte ich abklären, ob er irgendwie in den Mord an Onkel Paul verwickelt war.“

„Wird er uns wohl kaum einfach so auf die Nase binden.“

„Seine Frau hielt den Zwischenstop in der Stadt zur fraglichen Zeit für harmlos genug. Falls er es anders sieht, wird er eine davon abweichende Geschichte erzählen beziehungsweise sich in Widersprüche verstricken.“

„Ah, jetzt verstehe ich, was du vorhast“, erwiderte Veronica. „Pass auf, ich mache dir einen Vorschlag: Wir arbeiten heute getrennt. Ich übernehme das Wickens-Interview und du knöpfst dir Henry the Horse vor. So können wir dem Kommissar mehr Zeit widmen, während wir sichergehen, dass Henry jemand im Laden antrifft. Ich weiß, dass du dich eh die ganze Woche schon auf das Gespräch mit ihm freust. Außerdem hat er Kirk angeblich damals in die Familie eingeführt. Wenn jemand etwas über ihren Hintergrund oder Verbleib weiß, dann er. Wir dürfen ihn heute auf keinen Fall verpassen.“

Zach grübelte eine halbe Minute. Er stierte auf die leere Tasse nieder, die er zwischen seinen Händen drehte, erst nach links, dann nach rechts, nach links, rechts, links rechts. Als er wieder aufblickte, sagte er: „So vernünftig dein Vorschlag klingt – mich beschleicht ein ungutes Gefühl, dich mit dem Mann allein zu lassen.“

„Traust du mir den Job nicht zu?“

„Ich vertraue niemandem mehr als dir, aber es könnte sein, dass Wickens ein falsches Spiel spielt. Wenn er mit Pauls Tod zu tun hatte…“

„Ach komm schon, was soll mir groß passieren? Ausgerechnet in einer Polizeiwache?“

„Was soll in der Höhle des Löwen schon groß passieren – von allen Orten jener, den Leute wie Wickens vollständig unter Kontrolle haben? Mit all den Typen um dich herum, die ihre moralische Kompetenz aufgegeben haben, um wie Roboter unpersönliche Regeln zu befolgen und wie Sklaven die Befehle ihrer Vorgesetzten unhinterfragt auszuführen?“

Veronica schluckte. „Aus der Warte habe ich das noch nie betrachtet. Ich war der Ansicht, dass ein Polizeigebäude eine Umgebung mit stärker kontrollierten Bedingungen ist als die meisten anderen, abgesehen vielleicht von Militärgeländen und Regierungsvierteln.“

„Ja selbstverständlich sind sie unvergleichlich viel stärker kontrolliert, aber doch nicht, um dich, sondern um sich selbst zu schützen. Wenn jemand mit denen in Konflikt kommt, dann ist er sofort mit dem Gesetz in Konflikt. Wenn deine Aussage gegen ihre steht, glaubt man eher dir oder dem treuen Staatsdiener?“

Seine Tochter schnitt eine Grimasse.

„Wenn einer von denen dich aus dem Verkehr ziehen will, findet er immer einen Grund, dich einzusperren. Und wenn er dich erschießt, so nur, weil du Widerstand geleistet hast – genau wie Mal Evans.“

„Willst du, dass ich zuhause bleibe?“

Zach zögerte. „Nein“, sagte er dann bestimmt. „Gefahren sind Teil unseres Daseins. Den Schwanz einzuziehen und sich in einer Festung zu verschanzen kann nicht die Antwort darauf sein.“

„Also…?“

„Geh hin und versuche, möglichen Schwierigkeiten mit offenen Sinnen zu begegnen. Was unberechenbare Momente betrifft: Vor denen bist du eh nicht gefeit. Man fährt besser, wenn man sie willkommen heißt.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Ich glaube, das ist der wichtigste Unterschied zwischen uns und jenen, die – egal auf welcher Etage – ihren Platz in der Machtpyramide einnehmen: Sie sind Kontroll-Freaks. Sie hassen alles Natürliche, Lebendige, aus dem Moment Geborene, sich frei Entfaltende.“

38) Findet Kirk!

Punkt acht Uhr fuhr der orange lackierte Opel GT auf den Parkplatz der Polizeiwache. Diese befand sich zwar nur wenige Minuten zu Fuß vom Fab Store entfernt, doch Veronica wollte anschließend ein paar Dinge für den Haushalt einkaufen. Sie ließ sich dem Leiter der Mordkommission vorführen. Es entging ihr nicht, dass der junge Kollege, der sie zu Donald Wickens‘ Amtsstube begleitete, heimlich ihre Figur bewunderte. „Da wären wir wieder“, dachte sie. „Was ein schickes schwarzes Kleid doch ausmacht. Wäre ich in Pulli und Jeans erschienen, hätte er mich nach meinem Ausweis gefragt. Nun aber beeilt er sich, mir jeden Wunsch zu erfüllen.“ Sie hoffte, dass sie auf den Kommissar ähnlich attraktiv wirkte. Ihrer Erfahrung nach löste körperbetonte Kleidung die Zungen der meisten Männer schnell und zuverlässig. Aber Wickens war natürlich ein alter Hase in seinem Geschäft. Möglicherweise konnte er entsprechende Impulse routiniert zügeln. Seine forsche Stimme forderte sie auf, einzutreten, nachdem der junge Polizist angeklopft hatte. Wickens saß hinter dem Schreibtisch. auf dessen Oberfläche sich mehrere Stapel mit Aktenordnern türmten. Als Veronica den Arbeitsplatz fast erreicht hatte, stand er auf und reichte ihr über den Tisch hinweg die Hand. Dann wies er auf den Stuhl davor. „Setzen Sie sich“, forderte er sie auf.

„Hübsch haben Sie‘s hier“, sagte Veronica ironisch. Sie bemerkte an seinen irritierten Gesichtszügen, dass sie ihn mit ihrer Bemerkung auf dem falschen Fuß erwischt hatte. Das Büro war ein ebenso zweckmäßig wie hässlich eingerichteter Raum, an dem rein gar nichts hübsch oder schön aussah; eine durchschnittliche Amtsstube, wenn man so wollte.

„Wirklich?“, erwiderte er. „Nominieren Sie uns gern im Wettbewerb für die malerischsten Polizeiwachen Großbritanniens. Wo bleibt übrigens der Herr Papa? Sind Sie allein hergekommen?“

„Er hat leider geschäftlich zu tun und bedauert darüber hinaus sehr, dass ihr Kaffeeautomat… sie verstehen schon.“

Wieder dieser irritierte Blick. „Nein, ich verstehe nicht. Was ist das Problem mit dem Kaffee?“

„Das… fragen Sie ihn am besten selbst. Ich hoffe aber, dass wir uns trotzdem gut unterhalten.“ Sie zog ihr Kleid straff, dann setzte sie sich. „Mr Wickens, wir haben um dieses Gespräch ersucht, weil William Campbell – Mr Kite – uns beauftragt hat, den Verbleib eines Gegenstandes aus seinem Besitz zu ermitteln.“

Der Kommissar hob die Augenbrauen. „So?“

„Dieser wurde in der Nacht der letzten Familienfeier entwendet,“ fuhr sie fort, „dieselbe Nacht, in der Paulus Campbell ermordet wurde.“

„So so!“, sagte der Kommissar wieder.

Diesen Mann zu befragen würde mühselig werden, fürchtete Veronica. Er schien entschlossen, sich jedes Wort aus der Nase ziehen zu lassen. „Können Sie mir erzählen, wie der Abend des 30. April aus Ihrer Perspektive verlaufen ist?“, begann sie ihre Erkundigung.

„Nun, viel zu erzählen gibt es da nicht“, erwiderte er erwartungsgemäß. „Wir hatten uns in Kites Schloss versammelt, um den Erwerb von Mal Evans‘ Koffer zu feiern. Laut der Gerüchte, die seit Jahrzehnten umgingen, sollte er zahlreiche begehrte Gegenstände enthalten, die zusammen wahrscheinlich mehrere Millionen Pfund auf dem freien Markt wert sind. Paulus Campbell, der das Geschäft für uns abgeschlossen hat, hätte ihn mitbringen sollen, doch er ist nicht erschienen. Also betranken wir uns einfach und unterhielten uns über dies und das.“

„Hat denn niemand versucht, ihn telefonisch zu erreichen?“

„Aber ja. Sowohl Kite als auch ich haben ihn mehrmals angerufen, doch er hob nicht ab.“

„Was, glauben Sie, hielt ihn davon ab, auf der Feier zu erscheinen?“

„Keine Ahnung. Ein Missverständnis vielleicht?“

„Fiel Ihnen am Verhalten der Gäste etwas auf, das vom Gewohnten abwich? Gab es Anspielungen auf Dinge, die über den Kopf eines Uneingeweihten gingen? Gab es Begehrlichkeiten? Streit?“

„Nicht dass ich wüsste.“

„Ist Ihnen bekannt, welchen Gegenstandes wegen unsere Detektei ermittelt?“

„Kite erwähnte ein Foto.“

„Er bat sie nicht, bei der Wiederbeschaffung zu helfen?“

„Nein. Er erzählte es nur so nebenbei.“

„Wenn Sie einen Tip abgeben müssten, auf wen fiele Ihr Verdacht?“

„Ich habe wirklich nicht genug Informationen über die Sache, als dass ich mir eine Meinung bilden könnte.“

„Sie und Ihre Frau haben das Treffen als erste verlassen. Um welche Uhrzeit waren Sie zuhause?“

„Puh, keine Ahnung. Am frühen Morgen des 1. Mai irgendwann.“

„Sind Sie vom Schloss direkt zu Ihrer Wohnung gefahren?“

Wickens zeigte erneut Zeichen der Irritation. Er runzelte die Stirn. „Was soll die Frage? Inwiefern hat das mit dem Diebstahl zu tun? Verdächtigen Sie mich etwa?“

„Bitte geben Sie mir einfach eine Antwort.“

„Wir waren beide ziemlich müde. Meine Frau schlief bereits während der Rückfahrt ein. Keine weiteren Partys also.“

„Es hätte ja sein können, dass Sie sich gleich wieder in Ihre Arbeit stürzen wollten.“ Veronica ließ es wie eine scherzhafte Bemerkung klingen.

„Meine Kollegen sind durchaus in der Lage, für ein paar Stunden meiner Abwesenheit die Stellung zu halten. Sie genießen mein vollstes Vertrauen.“

„In gleicher Weise genießen Sie meines. Als neue Bürgerin Liverpools fühle ich mich beruhigt.“

Wickens musterte sie mit durchdringendem Blick, als wolle er abschätzen, ob sie es ernst oder ironisch meinte, doch Veronica hatte ein Pokerface aufgesetzt. Er wurde nicht schlau aus ihr. Sie beschloss, ihn aus der Reserve zu locken. Sie behauptete: „Wir haben Grund zu der Annahme, dass Duchess of Kirkcaldy die Gunst der Stunde genutzt hat. Mehrere der Gäste berichteten uns, dass sie in auffälliger Weise mit dem Hausherrn anzubändeln versuchte. Teilen Sie diese Einschätzung?“

Wickens lachte trocken. „Anzubändeln – nett ausgedrückt. Sie hat ihn vom Moment ihres Eintreffens angebettelt, flachgelegt zu werden, wenn Sie mich fragen. Geht mich aber nichts an.“

„Unsere Informationen besagen, dass sie dieses Ziel nicht nur erreicht hat, sondern im Zuge dessen auch Zugang zu dem Foto erhielt. Seit dem 1. Mai fehlt von ihr außerdem jede Spur. Wir vermuten nun, dass sie sich mit der Beute abgesetzt hat.“

Der Kommissar stutzte. Hatte er den Köder gefressen? Veronica legte nach. „Wir vermuten des weiteren, dass sie sich noch irgendwo in der Nähe aufhält, vielleicht bei Verwandten oder Freunden im Umland von Liverpool. Ist Ihnen darüber etwas bekannt? Haben Sie Kirk im vergangenen Monat eventuell sogar gesehen?“

Wickens setzte eine Miene konzentrierten Nachdenkens auf. Dann sagte er: „Ich habe sie tatsächlich gesehen. Sie kam zu mir und bat um den Schlüssel zum Landhaus der Familie. Wir haben einen alten Bauernhof in den Bergen nördlich von hier restauriert, müssen Sie wissen. Wir nutzen ihn als Ort für besondere Gelegenheiten. Kirk sagte, sie brauche eine Auszeit.“

„Meinen Sie, sie hält sich noch immer dort auf?“

„Sie hat den Schlüssel jedenfalls noch nicht zurückgegeben.“

„Wie finden wir das Landhaus?“

„Es steht ziemlich abgelegen; so abgelegen, dass selbst die meisten Routenplaner Ihnen keinen Weg weisen können. Wahrscheinlich finden Sie es ohne Hilfe überhaupt nicht.“ Wickens schaute Veronica forschend ins Gesicht. Als sie Anstalten machte, die logische nächste Frage zu stellen, kam er ihr zuvor. Er sagte: „Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen den Weg.“

„Das würden Sie tun? Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar. Wann hätten Sie denn Zeit?“

Der Kommissar zuckte mit den Schultern. „Gleich, wenn Sie wollen.“ Er zeigte auf die Aktenstapel auf seinem Schreibtisch. „Ich suche gerade eh einen Vorwand, dem hier zu entkommen.“


Veronica und der Kommissar eilten längst im GT nach Norden, als Henry the Horse den Fab Store betrat. Zach empfing ihn wie einen alten Freud. Sie umarmten sich und klopften einander auf den Rücken. „Schön, dass du dir Zeit für mich nimmst“, sagte der Detektiv.

„Keine Ursache,“ erwiderte der ältere Mann, „du weißt doch, dass ich Rentner bin und Montag vormittags sowieso zum Frühstücken in die Altstadt komme. Ehrlich gesagt vermisse ich die langen Gespräche hier im Laden.“

„Na, dann lass uns doch die Tradition wieder aufnehmen.“ Zach wies mit der Rechten auf die Tür im Hintergrund des Ladenlokals. „Komm, ich mach uns einen Kaffee.“

Eine Viertelstunde später, als der Duft des heißen Aufgussgetränks dem Raum eine gewisse Atmosphäre der Gemütlichkeit verliehen hatte, schwenkte Zach auf das Thema über, das ihm für heute am Herzen lag. „Henry, ich glaube, die ‚Familie‘ steckt in großen Schwierigkeiten.“ Der Detektiv ließ den Satz in der Luft hängen. Er betrachtete das Gesicht seines Gegenübers auf der Suche nach Zeichen der Zustimmung oder Ablehnung.

Henrys Mundwinkel zuckten, doch er antwortete nicht sofort. Er nahm seine Tasse vom Tisch, führte sie langsam an die Lippen und nippte vorsichtig daran. Erst nachdem er sie zurückgestellt und es sich wieder im Sessel bequem gemacht hatte, erwiderte er: „Und nicht erst seit heute.“

„Zu dem Eindruck bin auch ich gekommen, nachdem ich mit vielen von euch gesprochen habe. Wenn ich es recht verstehe, gibt es unter den Sammlern zwei grundlegend verschiedene Auffassungen darüber, wo eure Aktivitäten hinführen sollen, resultierend aus unvereinbaren Ansichten über die menschliche Natur. Würdest du mir zustimmen?“

„Brillant auf den Punkt gebracht, mein lieber Zachary. Auf der einen Seite steht ein elitärer Haufen, der sich für Übermenschen hält, während er den Rest der Menschheit als unnützes, dummes Volk betrachtet, dem man sagen muss, was es tun und lassen soll. Auf der anderen Seite – zu der ich selbst mich zähle – befinden sich jene unter uns, die die Kontroll- und Manipulationsbemühungen Ersterer als das erkennen, was sie eigentlich sind: selbsterfüllende paranoide Wahnvorstellungen. Ich glaube… nein, ich weiß, dass Menschen im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte, wie die Floskel so schön besagt, zu unendlich viel mehr Gutem fähig sind als wir gerade sehen, wenn man sie nur lässt. Die moderne Welt ist nicht das Ergebnis einer angeblich fehlerhaft geschaffenen Spezies, sondern legt Zeugnis vom Scheitern des Kontrollwahns eines engen Kreises von Nutznießern ab.“

„Ich hätte es nicht treffender formulieren können,“ stimmte Zach dem Älteren zu, „doch meine Bemerkung zielte weniger auf das latente Konfliktpotenzial in der Familie ab sondern vielmehr auf eine akute Notlage. Eure Gruppe hat Kites Regime auf eine Weise herausgefordert, die der Mann als Kriegserklärung auffasst. Die Detektei wurde von ihm beauftragt, ein von euch entwendetes Foto wieder zurückzuführen.“

Henrys Augenbrauen zuckten in die Höhe.

„Darüber kam es auch zwischen uns und Kite zum Bruch. Also mach dir keine Sorgen. Ich werde bestimmt niemand an ihn ausliefern. Ich möchte dich aber darauf aufmerksam machen, dass eure gewohnten Routinen auf unabsehbare Zeit der Vergangenheit angehören. Möglicherweise steht die Familie als solche vor der Auflösung.“

„Danke für deine Offenheit. Ich werde dir natürlich als Kunde treu bleiben.“

„Freut mich zu hören, Henry. Im Moment plagen mich eine ganze Reihe anderer Sorgen. Ich möchte dieses Foto auftreiben; ich versuche, den Mörder meines Stiefbruders zu finden; ich brauche Munition, die mir Kite vom Leib hält, und, am drängendsten: Ich muss mit Kirk sprechen. Leider ist sie seit dem Familientreffen spurlos verschwunden.“

„Das fiel mir ebenfalls auf“, erwiderte Henry. „Ich habe mehrfach versucht, sie anzurufen, doch sie geht nie an die Leitung. So langsam mache ich mir Sorgen.“

„Ohne Umschweife: Weißt du, wer das Foto mitgenommen hat?“

„Nein. Ich hätte jedem abgeraten, es einzustecken. Viel zu gefährlich. Und ich hoffe für Kirk, dass sie nicht Diejenige-welche war, denn sonst wird sie es mit Kites unbeherrschtem Zorn zu tun bekommen.“

„Ehrlich gesagt befürchten wir genau das, unabhängig davon, ob sie es war oder nicht. Sie bot sich als Blitzableiter geradezu an, nachdem sie Kites Wachsamkeit geschwächt hat.“

39) Lolita

Wieder herrschte für einige Augenblicke Stille im Hinterzimmer. Henry schaute zu Boden, als er leise sagte: „Ich sollte wahrscheinlich nicht über das sprechen, was ich dir nun zu sagen habe. Im Vertrauen auf unsere Freundschaft – und weil ich dich für einen ehrlichen Mann und einen professionell handelnden Ermittler halte – möchte ich meine Zuversicht zum Ausdruck bringen, dass Kirk weiß, was sie tut. Ihr wird schon nichts geschehen sein.“

„Wie kommst du zu der Einschätzung? Wie lang kennst du sie überhaupt?“

„Sie betrat vor etwa einem Jahr den Fab Store, just in dem Moment, als Paul und ich uns über Billy Shears unterhielten. Während wir in unserem Jargon fachsimpelten, stöberte sie durch die Auslagen. Sie schien uns keine Beachtung zu schenken. Nach einer Weile trat sie jedoch mit zwei Alben an den Tresen, ‚Rubber Soul‘ und ‚Sgt. Peppers‘, zeigte jeweils auf McCartneys Gesicht und sagte: ‚Sie meinen, das ist nicht derselbe Mann?‘ Ihre vorurteilsfrei geäußerte Wissbegier veranlasste uns dazu, ihr die Paul-ist-tot-Theorie zu erläutern. Sie stellte die richtigen Fragen, und so redeten wir mehrere Stunden lang mit einander, bis sie sagte: ‚Ist ja scharf! Wissen Sie was? Sie haben mich überzeugt. Man müsste diese ganzen Belege und Hinweise irgendwo sammeln..:‘ – und so kam sie in Kontakt mit der Familie.“

Zach hörte aufmerksam zu. Als Henry in Gedanken zu versinken schien, sagte er: „Erzähl weiter.“

Weitere Sekunden verstrichen, in denen lediglich gedämpfte Geräusche von der Straße hereindrangen. Dann begann Henry erneut zu sprechen. „Sie behauptete damals, fünfzehn Jahre alt zu sein, und sie wirkte überzeugend. Babyspeck, hippe Kleidung, naive Vorstellungen, schnoddrige Sprechweise – es passte alles ins Bild. Sie stellte Fragen über Fragen und wir alle fühlten uns berufen, diese ausführlicher zu beantworten, als sie verlangte. Sie kaufte zunächst wahllos zusammen, was ihr interessant erschien; mehr oder weniger das Standardprogramm für Einsteiger: seltene LP-Pressungen, signierte Gegenstände, Bühnenkleidung. Kite nahm sie also persönlich unter seine Fittiche, um ihr zu helfen, einen Fokus für ihre Sammlung zu finden. Von da an steckten die beiden ständig die Köpfe zusammen. Dass es Unstimmigkeiten zwischen uns gab, musste sie relativ schnell gespürt haben, denn sie lenkte das Gespräch immer wieder in diese Richtung. Sie begeisterte sich insbesondere für den Gedanken, objektive Beweise für McCartneys Tod und Billys Einstieg bei den Beatles zu finden, um der Musikindustrie die Maske herunterzureißen.“

„Wie tatkräftig sie bereit war, sich dafür einzusetzen, durftet ihr ja selbst beobachten“, warf Zach ein.

„Unzweifelhaft. Die Frage, die wir uns hätten stellen sollen, lautete: Warum? War es wirklich nur jugendlicher Idealismus oder steckte mehr dahinter?“

„Es wurde die Vermutung geäußert, es sei ihr um erotische Abenteuer gegangen.“

„Ha!“, lachte Henry auf. „Ich hege hierüber keinerlei Zweifel mehr. Es handelte sich aus meinem Verständnis um eine der Vorbedingungen, mit denen sie in diese Mission gegangen – oder sollte ich sagen: geschickt worden? – ist.“

Zach zog die Augenbrauen hoch. „Geschickt worden?“

„Bist du je nach Japan gereist, Zachary?“

„Nein. Weshalb fragst du?“

„Vielleicht hast du aber von der seit den 1980ern blühenden Jugendkultur gehört, die sich visual kei nennt?“

„Meinst du die Leute mit den bunten Haaren?“

„Ja, unter anderem. Popularisiert hat das eine Heavy-Metal-Gruppe namens X, deren Mitglieder sich in Anlehnung ans traditionelle Kabuki-Theater sehr feminin präsentierten: Schminke, Lippenstift, lange gefärbte Haare, teilweise sogar Röcke – das ganze Programm. Einer von ihnen, Yoshiki, veröffentlichte einen Fotoband mit dem Titel ‚Nude‘, der weibliche Erotik simulierte. Visual kei ist mehr als ein kurzlebiger Trend, es ist eine seit Jahrzehnten praktizierte Lebensweise, bei dem nicht nur die Grenzen zwischen Rock, Pop und Manga verschwimmen, sondern auch jene zwischen den Geschlechtern und Altersgruppen. Im Stadtzentrum von Tokyo gibt es eine Brücke, auf der sich die Musik- und Comicfans gern aufhalten – aufgetakelt als diese Idole in ihren schrillen Outfits. Aber du brauchst gar nicht ans andere Ende der Welt fliegen, um es mit eigenen Augen zu sehen. Geh einfach auf eine ihrer Conventions. Kleine Mädchen ebenso wie junge Frauen und auch Männer kleiden sich als ‚Loli‘, wie sie das nennen.“ Henry schaute Zach nun direkt in die Augen. „Du ahnst vielleicht bereits, worauf ich hinaus will.“

Zach brummte. „Lolitas?“, riet er.

„Lolitas, ja; minderjährige Nymphomaninnen.“

„Und Kirk entstammt dieser Szene?“

„Nein. Die Lolis sind nur ein Teil der visual kei– und Manga-Szene, wenn auch ein bedeutender. Ich glaube nicht, dass Kirk überhaupt von ihnen gehört hat, aber sie ist definitiv eine überzeugende Lolita-Darstellerin. Kirk war nicht fünfzehn Jahre alt, als ich sie kennenlernte, sondern zwanzig.“

„Was?“, rief Zach erstaunt. „Das hieße ja, sie wäre heute einundzwanzig. Bist du sicher? Sie sieht auf ihren Facebook-Fotos kaum älter als sechzehn oder siebzehn aus.“

Henry nickte grimmig. „Eines Tages, als ich gerade wieder mit Paul redete – wir standen am Verkaufstresen –, stellte sie sich neben mich, um ein Buch zu bezahlen, das sie kaufen wollte. Sie öffnete ihren Geldbeutel und ihr Ausweis fiel zu Boden. Ich hob ihn für sie auf. Mein Blick erfasste das Datum, und da wäre mir die Karte fast selbst entglitten.“

„Hast du sie je darauf angesprochen?“

„Auf ihr wahres Alter? Ja. Ich sagte ihr auf den Kopf zu, dass sie nicht das wäre, als was sie sich ausgab.“

„Und ihre Antwort?“

„Sie schien mich falsch verstanden zu haben. ‚Ich darf dir leider nicht erzählen, wer ich bin‘, sagte sie. ‚Warum nicht? Wer verbietet es?‘, fragte ich. Sie schüttelte nur den Kopf und antwortete: ‚Auch das darf ich dir nicht sagen.‘“

Zach überlegte. „Meinst du, jemand hat sie nach Liverpool geschickt, um sie auf die Familie anzusetzen?“

„Ja, der Schluss drängt sich auf. Und wer könnte das sein? Es muss entweder eine ziemlich hoch angesiedelte staatliche Stelle sein, etwa die oberen Etagen von Scotland Yard oder MI-5, oder sie arbeitet für obere Freimaurergrade, vielleicht sogar die Illuminaten. Jedenfalls glaube ich, dass sie weiß, was sie tut. Sie ist kein unerfahrener Teenager mehr.“

„Das eröffnet die Option, dass sie erreicht hat, was sie wollte, und dass sie zur Zentrale zurückgekehrt ist, um Bericht zu erstatten“, sinnierte Zach.

„So sieht es auch für mich…“

In diesem Moment polterten Schritte auf der Treppe. Mit eiligen Schritten stürme Maria zu ihnen herab und rief: „Mr Mustard ist tot. Sie haben es gerade im Lokalradio gebracht.“

Henry und Zach sprangen erschrocken von ihren Sitzen auf. „Was sagst du da?“

Die Italienerin stellte das Kofferradio, das sie mitgebracht hatte, auf den Bartresen und drehte den Lautstärkeregler höher. „… Nachbarn hörten vergangene Nacht mehrere Schüsse aus dem angrenzenden Haus. Sie sahen einen unbeleuchteten weißen Lieferwagen davonfahren. Laut Augenzeugen, die durch die offen stehende Vordertür ins Haus eindrangen, lag der Besitzer, Aaron Senfkorn, mit mit einer Schusswunde im Kopf tot am Boden. Die Polizei wurde umgehend zum Tatort gerufen. Sie sperrte das Grundstück ab. Offiziell hat die Mordkommission noch keine Stellung abgegeben, aber sie kündigte eine Verlautbarung für den Vormittag an. Wir rechnen jede Minute mit ihrem Statement und werden Sie auf dem Laufenden halten, sobald wir weitere Einzelheiten haben.“

Henry sank wieder in den Sessel zurück. Zach war kreidebleich geworden. Maria bemerkte es. Mit besorgtem Blick setzte sie sich auf das Sofa und zog ihn auf den Platz neben sich herunter. Sie legte einen Arm um ihn. Der Detektiv benötigte einige Minuten, bis er wieder sprechen konnte. Dann erzählte er ihnen von seinem Telefonat mit Mr Mustard. „Du musst dich getäuscht haben, Zach“, sagte Maria.

„Das war bestimmt nur ein seltsamer Zufall“, meinte auch Henry.

Zach glaubte keine Sekunde daran, aber was half es? Wenn ihm eine Vorschau auf das Geschehen gewährt worden war, so hatte er die Gelegenheit verpasst, Mustard vor seinem Schicksal zu bewahren. Für den Sammler kam jede Hilfe zu spät. Unfähig zu einer sinnvollen Reaktion warteten die drei auf die angekündigte Radiomeldung. Doch weder um elf noch um zwölf und auch nicht um ein Uhr gab es Neuigkeiten zum Fall Senfkorn.

40) Gefesselt

Hecken und niedrige Natursteinmauern behinderten die Sicht. Der Weg führte mehrere Kilometer lang einspurig über holprige Traktorpfade. Im tief liegenden GT war von der Landschaft wenig zu sehen. Er rollte wegen seiner zu geringen Bodenfreiheit außerdem lediglich in Fahrradgeschwindigkeit seinem Ziel entgegen. Wer hier draußen lebte, sollte besser in keine Situation geraten, die schnelle Hilfe von außen erforderte, dachte Veronica. Bis Krankenwagen, Polizei oder Feuerwehr einträfen, hätte sich das Problem von selbst erledigt, wenn auch nicht notwendigerweise zum Guten. Doch schließlich deutete Desmond auf eine Öffnung in dem Wall, dem sie seit einigen Minuten schon gefolgt waren. Sie bog ab, und da war es: das Ferienhaus der ‚Familie‘.

Seine Form lies auf ein historisches Bauernhaus schließen, dessen Erbauer wohlhabend gewesen sein mussten, denn es besaß sowohl einen großzügigen Grundriss als auch ein zweites Stockwerk. Es war gut in Schuss gehalten worden; der Dachstuhl hing nicht durch, die Schindeln glänzten im Sonnenlicht, die Wände standen gerade und waren sauber verputzt. Doch das Gebäude sah verlassen aus. Die Holzläden an den Fenstern des Erdgeschosses waren sämtlich geschlossen. Keine Wäsche hing zum Trocknen auf der Leine, kein Fahrzeug stand im Hof.

Das Gefühl von weiträumiger Einsamkeit war mit Händen zu greifen. Wenn man ein bisschen Abstand zur Zivilisation brauchte, konnte dieser Ort Balsam für die geschundene Seele bieten. Doch sie suchten ja nicht das Alleinsein, sondern eine junge Menschin, die seit einem Monat aus Liverpool verschwunden war. Wenn sie sich hier draußen befand, verheimlichte sie ihre Anwesenheit sogar vor jenen, die sich zufällig in diese gottverlassene Gegend verirrten. Und wer an einem ohnehin versteckt liegenden Ort seine Spuren verwischte, hatte Grund zur Furcht. Veronica spürte Kribbeln im Bauch, das Kitzeln einer Intuition, die wenig Gutes verhieß. Es gelang ihr auf den wenigen Metern, die der GT brauchte, um auszurollen und stehen zu bleiben, jedoch nicht, eine Ursache dafür zu ergründen. Sie stellte den Motor ab.

Sie öffneten die Fahrzeugtüren nicht sofort aus, sondern blieben einen Augenblick sitzen. und lauschten den Geräuschen, die durch die heruntergekurbelten Seitenfenster hereindrangen. Abgesehen vom Knacken des Motors, der abzukühlen begann, hörten sie lediglich einige Singvögel und das Säuseln eines leichten Windes. Ihre Augen suchten die Hausfront und die nähere Umgebung ab, doch an dem Eindruck von Verlassenheit änderte sich nichts. Veronica sah Desmond fragend an. Er schaute zurück, dann deutete er durch eine Kopfbewegung an, sie sollten zur Haustür gehen. Also stiegen sie aus. Veronica zog das halblange schwarze Kleid glatt, das vom Sitzen zerknittert war.

Langsam näherten sie sich der Eingangstür, die die Längsseite mittig in zwei gleich große Hälften teilte. Dem wuchtigen Rahmen und der groben Machart der Tür nach zu urteilen musste sie dem Ansturm eines Rammbocks standhalten können. Der Polizist griff in eine der Taschen seiner ärmellosen Strickjacke. Ein Sicherheitsschlüssel kam zum Vorschein. Er steckte ihn ins Schloss und drehte zwei Mal. Ein leises Klickern verkündete, dass der Mechanismus den Weg freigeben würde. Das Türblatt gab dem Druck der Schultern des Mannes sofort nach. Es schwang ohne Geräusch nach innen und zeigte sich im Profil genau so kräftig, wie Veronica vermutet hatte. Desmond trat ein; die Detektivin folgte ihm dichtauf. Er schloss die Tür sofort wieder. Sie rastete mit sattem Ton ein.

Sie befanden sich in einem Gang, der, wie es für sie aussah, durch das ganze Haus bis zur rückwärtigen Außenmauer verlief, wo eine weitere massive Tür wieder nach draußen führte. Rechts und links gingen je zwei Türen ab. Zwischen ihnen sah Veronica auf der linken Seite eine Treppe nach oben und direkt gegenüber eine eben solche nach unten führen. Eine dünne Staubschicht bedeckte den Boden. Nichts wies darauf hin, dass das Haus derzeit eine Bewohnerin hatte. Sie wollte sich eben zu Desmond umdrehen, um ihn zu fragen, weshalb keine der Türen eine Klinke besaß, da traf sie ein harter Schlag an der linken Schläfe. Sie rollte die Augen nach oben und fiel bewusstlos zu Boden.


Gegen halb zwei verließen Henry und Maria den Laden. Beide umarmten Zach noch einmal und sprachen ihm Mut zu. Der Detektiv brütete weitere zwanzig Minuten über der Geschichte von Mustards Tod, bevor ihm einfiel, dass Veronica aufs Polizeirevier gefahren war. Sie sollte eigentlich längst zurückgekehrt sein. Da er es nicht länger allein aushielt, schnappte er eine Jacke und ging zu Fuß zur Wache. So würde er nebenbei vielleicht Gelegenheit erhalten, ein paar Worte mit Wickens zu wechseln, der ihm, wenn er darüber sprechen durfte, bestimmt mehr über Mustards Tod erzählen konnte als das Lokalradio. Doch an der Rezeption teilte ihm ein junger Polizist mit, dass der Kommissar und Veronica bereits am frühen Morgen das Haus mit unbekanntem Ziel verlassen hatten. Über den Stand der Ermittlungen zum Selbstmord des reichen Sammlers dürfe er nichts sagen. Es werde aber nach Rückkehr des Kommissars eine offizielle Verlautbarung geben.

„Sagten Sie ‚Selbstmord‘?“ fragte Zach verdutzt.

„Tut mir leid, ich darf Ihnen wirklich keine weiteren Auskünfte erteilen.“

Zach schaute den jungen Uniformierten zweifelnd an, dann machte er kehrt, um nach Hause zurück zu gehen. Ein Gefühl der Beklemmung nistete sich in seinem Geist ein. Wo befanden sich Wickens und Veronica? Redeten sie noch immer miteinander? Er glaubte eher, dass sie schon getrennter Wege gingen. Wickens mochte sich zwecks Ermittlungen am Tatort befinden; Veronica wollte ein paar Besorgungen erledigen. Sie bummelt womöglich gerade durch die Innenstadt und konnte jederzeit wieder im Laden eintreffen. Er beschleunigte seine Schritte. Doch als er den Fab Store in den Rainford Gardens betrat, fand er das Gebäude verlassen vor. Zach beschloss, noch ein wenig zu warten. Er setzte zwei Tassen Kaffee auf, die er, als die Brühe durchgezogen war, umgehend hinunterstürzte. Er ging zum Telefon neben der Registrierkasse, nahm den Hörer ab und rief Molly Jones, Wickens‘ Frau, an ihrem Arbeitsplatz bei Notar Miller an.

„Mrs Wickens, guten Tag. Hier spricht Zachary Ziegler.“

Good day, Mr Ziegler“, flötete die Sekretärin. „Was können wir für Sie tun?“

„Mrs Wickens, entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich suche nach Ihrem Mann. Auf der Wache teile man mir mit, er habe das Gebäude in der Frühe verlassen. Wissen Sie zufällig, wohin er gegangen ist?“

„Nein, da kann ich Ihnen leider nicht helfen. Er sagt mir selten, was er tagsüber unternimmt. Das bringt sein Beruf so mit sich, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sie hatten doch einen Termin mit ihm. Ist er nicht erschienen?“

„Eine andere Verpflichtung kam mir dazwischen. Veronica ging an meiner statt zum Gespräch. Seither sind die beiden verschwunden.“

„Ach, die werden schon wieder auftauchen. Machen Sie sich keine Sorgen“, erwiderte die Sekretärin gut gelaunt.

„Wahrscheinlich haben Sie recht“, erwiderte Zach. „Haben Sie übrigens heute die Lokalnachrichten gehört?“

„Dazu hatte ich keine Zeit. Es war viel Betrieb bei uns. Wie hoch hat der FC Liverpool gewonnen?“

„Keine Ahnung. Ich meinte die Meldung über Mr Mustard.“

„Mustard? Hält er wieder peinliche Reden über Corbyns angeblichen Antisemitismus?“

„Kaum. Er wurde gestern Nacht erschossen.“

„Erschossen?“, quiekste es aus dem Schellack-Hörer.

Zach nickte. Dann fiel ihm ein, dass sie es nicht sehen konnte. Er sagte: „Ja. Es kam kurz nach zehn Uhr im Radio. Wissen Sie, ob er sich Feinde gemacht hat?“

„Zeigen Sie mir einen Juden, der keine Feinde hat. Aber gleich erschießen? Wer macht den so etwas?“

„Wir werden es früh genug erfahren, hoffe ich. Schalten Sie das Radio ein. Die Polizei will bald eine Stellungnahme abgeben.“

„Mache ich. Mr Ziegler, ich muss nun leider das Gespräch beenden. Soeben sind Kunden eingetreten. Richten Sie Veronica Grüße von mir aus, wenn sie zurückkehrt. Auf Wiedersehen!“

„Auf Wiedersehen, Mrs Wickens.“ Er legte auf.

Zach knirschte mit den Zähnen. „Verdammt!“, knurrte er. Seine beiden aussichtsreichsten Versuche, etwas über Veronicas Verbleib und den Mustard-Fall herauszufinden, waren ohne Ergebnis geblieben. Was nun?


Ein stechender Schmerz in ihrem Kopf war das erste, was sie bei der Wiederkehr ihres Bewusstseins begrüßte. Ihre Augenlider fühlten sich geschwollen an, daher entschied sie, dass sie diese erst einmal geschlossen halten würde. Sie prüfte den Zustand ihres Körpers, indem sie ihre Aufmerksamkeit von der pochenden Schläfe abwandte und langsam der Wirbelsäule entlang nach unten schickte. Sie lag auf der Seite, unter ihr eine Strohmatte. Gesicht und Hals meldeten keine Probleme. Die rechte Schulter fühlte sich an, als habe sie einen Boxhieb erhalten, schien abgesehen davon jedoch okay zu sein. Als ihr geistiges Auge bei den Handgelenken ankam, bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Sie… war gefesselt! Ein Alarmsignal raste durch die Arme ins Gehirn. Die junge Frau erwachte schockartig aus ihrer Benommenheit. Sie riss die Lider auf und betrachtete ihre Hände, die durch einen kräftigen Lederstreifen in Gebetsstellung zusammengebunden waren. Ein dort angeknoteter Kälberstrick wand sich von ihr fort über den Boden, um in etwa einem Meter Entfernung wie eine Kobra in die Höhe zu steigen. Mehr konnte sie aus ihrer Position nicht erkennen.

Es herrschte schummriges Zwielicht in dem Raum, dessen holzvertäfelten Wände nur wenige Meter entfernt aufragten. Wie spät mochte es sein? Veronica versuchte die Lichtquelle auszumachen. Langsam drehte sie sich auf den Rücken. Sie stöhnte laut. Ihr Kopf drohte zu explodieren. Als der sternenbesetzte Himmel vor ihren Augen sich wieder auflöste, folgte ihr Blick dem Seil nach oben. Was war das? Sie sah, dass es um mehrere Rollen geschlungen war, die an einem Haken von der Balkendecke herabhingen. Jenseits davon fiel es wieder dem Boden entgegen. Die Auflösung des Bildrätsels lag gefühlt in Griffweite, aber verborgen durch einen Nebel aus Kopfschmerzen und Desorientiertheit.

Die Lichtquelle! Sie hatte doch herausfinden wollen, woher das Licht kam, in der Hoffnung, die Tageszeit abschätzen zu können. Unter Vermeidung jeglicher anderer Bewegungen lies sie langsam den Blick kreisen. Es gab zwei Fenster auf der einen Seite des Raums. Die Dämmerung war schon weit fortgeschritten, doch die Reste von Tageslicht am schwarzblauen Himmel und tauchten alles in geisterhaftes Grau. Dann hatte sie also den ganzen Tag bewusstlos dagelegen… „Desmond!“, war ihr nächster Gedanke. Er hatte sie in diese Einöde gelockt und dann niedergeschlagen. Warum? Wollte er sie umbringen, weil sie ihm auf die Spur gekommen war? Panik flammte auf und ließ sogleich wieder nach. Das hätte er längst erledigen können. Er wollte etwas von ihr, brauchte sie noch für etwas, das zu ergründen im Moment zu viel Geisteskraft von ihr erfordert hätte. Sie ließ den Gedanken fahren und wandte sich erneut dem Problem ihrer gefesselten Hände zu. Als sie diese vor ihr Gesicht hob, bemerkte sie dahinter eine Gestalt an der Stelle, wo das Seil von den mysteriösen Rollen bis zum Boden hing. Ihre Umrisse glichen jenen des Polizisten.

Bis jetzt hatte er reglos außerhalb des Gesichtskreises der jungen Frau gestanden und still beobachtet, wie sie langsam wieder zu Bewusstsein gelangte. Als deutlich wurde, dass sie ihn bemerkt hatte, erhob er seine Stimme.„Ah, Miss Schlaumeier ist aufgewacht. Ich habe mich schon gesorgt, dass der Schlag ein wenig zu hart gewesen sein könnte“, sagte er höhnisch.