29) Die Nacht im Schloss

„Konnten Sie hören, was die beiden besprachen?“, erkundigte sich Zach.

„Nein, aber es war offensichtlich, dass Kirk ihre Rolle spielte. Sie feuerte den einen Schuss ab, den sie im Lauf hatte, ohne Garantie, dass der Plan zum Ziel führen würde. Falls Paul nicht mit dem Manuskript auftauchte, würde es keine weitere Gelegenheit geben. Ein zweites Mal würde ihre Masche nicht funktionieren.“

„Und er ist nie aufgetaucht, richtig? Stattdessen wurde er in der selben Nacht ermordet und das Manuskript verschwand.“

Maria Borghese nickte wortlos.

„Was geschah dann?“, fragte Zach.

„Eine halbe Stunde vor Mitternacht flüsterte Kite dem Mädchen etwas ins Ohr. Er verließ den Raum. Zehn Minuten später folgte sie ihm. Ich gab Mr Mustard das vereinbarte Zeichen, dass die heiße Phase des Plans nun anlief und folgte ihr. Ich signalisierte Kirk, dass ich in der Nähe war. Wir stiegen zwei Treppen nach oben, dann wandte sie sich dem rechten Schlossflügel zu und folgte dem Gang bis zu einer Tür in der Wand, an der der er endet. Dort gibt es viele Nischen, Säulen, Vasen und Skulpturen. Ich versteckte mich hinter einer Säule nahe der Tür. Sie zeigte mir den erhobenen Daumen, bevor sie eintrat. Ich musste über eine Stunde lang warten, bevor ich sie wiedersah.“

„Hat Ihnen Kirk erzählt, was sich abspielte? Oder haben Sie gehört, was in der Zeit geschah?“

„Letzteres, zu meinem Bedauern.“ Maria verdrehte die Augen. „Er hat sie ziemlich hart rangenommen. Sie gaben sich außerdem keine Mühe, leise zu sein. Ich wäre am liebsten wieder davongeschlichen, aber ich hatte ihr mein Wort gegeben. Ich fürchtete auch, ihr könnte etwas zustoßen. Es kam schon vor, dass Kite die Kontrolle verlor.“

„Inwiefern verlor er manchmal die Kontrolle?“

„Er… schlägt manchmal zu fest zu.“ Sie schaute zu Boden.

„Hat er auch in jener Nacht fest zugeschlagen?“

„Ich glaube nicht, aber er hat sie, wie gesagt, ziemlich roh behandelt. Als sie die Tür öffnete, sah sie übel zerzaust aus. Ich sah auch blaue Flecken auf Schenkeln und Schultern, aber keine im Gesicht.“

Zach schüttelte missbilligend den Kopf. „Kirk war also unbekleidet, als sie wieder herauskam. Das wird wann gewesen sein? Ein Uhr? Später?“

„Ja, sie war splitterfasernackt, schien sich dessen aber nicht bewusst zu sein. Das war kurz vor halb zwei. Sie reichte mir einen durchsichtigen Plastikumschlag. Er enthielt das Foto aus der Pathologie. Sie sagte, ich solle mich beeilen. Ich fragte sie, was mit Kite sei. Er schlafe, sagte sie. Sie habe ihm die K.O.-Tropfen verabreicht, aber er habe sie einen Schluck aus dem Glas trinken lassen und sie fühle sich unglaublich müde. Dann ging sie wieder hinein.“

„Weiter. Was taten Sie?“

„Ich versteckte den Umschlag in einer der Ziervasen. Dann ging ich zu den anderen in den Salon hinunter. Desmond, Molly und Henry hatten bereits das Haus verlassen, da sie die Hoffnung aufgegeben hatten, Paul werde noch eintreffen. Robert, Rocky und Mustard kehrten mit mir auf den Gang vor dem Schlafzimmer zurück. Ich zeigte ihnen, was Kirk ergattert hatte. ‚Das ist verdammt wenig‘, klagte Mustard. Rocky schien derselben Meinung zu sein. Robert schnauzte, sie hätten keine Ahnung und seien wohl zu betrunken, um zu erkennen, was ihnen da in die Hände gefallen sei.“

„Und dann hat Dr Robert das Bild mitgehen lassen?“, hakte Zach ein.

„Davon weiß ich nichts. Ich habe keine Ahnung wer es mitnahm, und es war auch nicht vorgesehen. Ich erfuhr erst heute von Ihnen, Signore, dass es überhaupt fehlt.“

„Kite hat keine Nachforschungen angestellt? Hat er nicht gefragt, ob Sie etwas wissen, oder Ihnen gar gedroht?“

„Nein.“

„Wenn Sie das Foto nicht stehlen wollten, was wollten Sie mit dem ganzen Spuk dann erreichen?“

„Die Männer machten Mikrofilm-Aufnahmen von Vorder- und Rückseite, anschließend gingen sie zurück nach unten. Ich steckte das Foto wieder in seinen Plastikumschlag und dann in die Vase. Ich klopfte an die Tür. Niemand antwortete. Also ging ich hinein.“

„Was fanden Sie?“

„Kite lag bäuchlings auf der Matratze, wahrscheinlich besinnungslos. Ich sah hinter dem Bett zwei Beine hervorragen, eilte hin und sah, dass Kirk zusammengebrochen war, bevor sie wieder hineinkriechen konnte. Ich warf ein Laken über sie, holte das Foto, legte es auf ihren Nachttisch. Ich wollte sichergehen, dass das erledigt war, damit Kite keinen Verdacht schöpfte. Dann holte ich Mustard, der mir half, das Mädchen aufs Bett zu heben. Anschließend gingen wir hinunter. Robert bestand darauf, dass wir den Erfolg feierten. Also tranken wir eine weiteren Sekt. Dann verabschiedete ich mich. Ich brauchte mehr als eine Stunde, bis ich wieder zuhause ankam, weil ich so langsam fuhr.“

„Wann sind Sie angekommen?“

„Genau um halb vier Uhr. Ich weiß es deshalb, weil ich beim Einparken vor meiner Wohnung aus Versehen die Hupe betätigt habe. Als ich ausstieg, rief eine Nachbarin aus einem Fenster, es sei halb vier; ob ich noch nie etwas von Nachtruhe gehört hätte?“

„Es gab also Zeugen für Ihre Rückkehr. Wann haben die Männer und das Mädchen das Schloss verlassen?“

„Ich weiß es nicht. Wir haben das Thema seither gemieden. Ich versuchte am Sonntag mehrfach, Kirk telefonisch zu erreichen. Sie ging nicht ran. Es gelang mir erst am Montag Abend. Sie klang heiser und antwortete nur lakonisch.“

„Was hat sie gesagt?“

„Es gehe ihr okay. Sie habe viel geschlafen. Sie werde vielleicht ein paar Tage nach Bath an den Strand fahren, um sich zu erholen.“

„Das war alles?“

Maria verzog den Mund. Sie kehrte ihre Handflächen nach oben und ließ sie dann wieder in ihren Schoß fallen.

„Erschien Ihnen Kirks Verhalten auffällig?“

„Ja und nein. Unter den Umständen fand ich es nachvollziehbar, dass eine Sechzehnjährige mitgenommen oder geschockt klingt. Sie war zwar keine Jungfrau mehr, vermute ich, aber ich bezweifle, dass sie schon Erfahrung mit brutalem Sex hatte.“

„Sechzehn, um Himmels Willen!“ Zach legte eine Hand an seine Stirn. Er schloss die Augen und nahm einige tiefe Atemzüge. „Wo finde ich das Mädchen?“

„Wie ich schon sagte hat sie möglicherweise das Haus verlassen. Ich konnte sie seither nicht mehr erreichen und sie hat sich nicht mehr bei mir gemeldet.“ Sie zog eine Geldbörse aus ihrer Handtasche, entnahm ihr eine Visitenkarte und reichte sie dem Detektiv. „Hier, ihre Kontaktdaten.“

Der leerte seine Tasse in einem Zug. Dass ihr Inhalt kalt geworden war, entging seinem Wachbewusstsein. Eintrainierte Reflexe verformten seine Gesichtszüge missbilligend. Er beäugte den bunt bedruckten kleinen Papierstreifen. „Hätten Sie zufällig auch ein Foto von ihr?“

Maria zeigte auf die Karte. „Die Webadresse verweist auf ihr Facebook-Profil.“


Herrlicher Sonnenschein, der durch die großen Maßwerkfenster hereinfiel, wärmte ihr angenehm den Rücken. Sie lag auf dem Bauch, zu voller Länge ausgestreckt. Das Tageslicht blendete sie, als sie die Augen öffnete. Es mochte zehn Uhr oder später sein. Etwas Schweres, von dem sie vermutete, es müsse ein quer über dem Bett liegender Kite sein, drückte auf ihr Gesäß. Sie versuchte, die Arme an sich zu ziehen, um ihren Oberkörper für einen Blick nach hinten aufzurichten – vergeblich. Ihre Hände waren am Gestell des Bettes festgebunden. Als sie daran zerrte, sagte er leise: „Guten Morgen, Prinzessin. Hast du gut geschlafen?“

Er saß rittlings auf ihrem Po, registrierte sie nun, und die Erinnerung an die gewaltsame Behandlung während der Nacht entlockte ihr ein Stöhnen. „Massierst du mir die Schultern?“, bat sie ihn, hoffend, heute umsichtiger behandelt zu werden.

Kite blieb reglos sitzen. Einen Moment später fragte er: „Wo ist es?“

Kirk verstand nicht, was er meinte. „Wo ist was?“, fragte sie zurück.

„Wo ist das Foto?“ Seine Stimme, immer noch leise, klang nun scharf.

„Auf dem Nachttisch, glaube ich“, sagte sie verschlafen.

Ein brutaler Fausthieb in die rechten Rippen trieb ihr die Luft aus de Lunge. Sie schrie laut auf. „Falsche Antwort“, erwiderte er. „Nochmal: Wo ist das Foto?“

Kirk warf den Kopf hin und her. Ihr Blick suchte das Wenige zu erfassen, das ihre Bauchlage sie sehen ließ. „Ich weiß nicht,“ hustete sie, „es müsste doch hier sein.“

Ein weiterer Faustschlag traf sie, diesmal auf der linken Seite. Sie schrie, dann wimmerte sie. „Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. Bitte nicht schlagen, bitte…“ Die nächste Faust landete auf ihrer Wirbelsäule. Sie warf den Kopf zurück, den Mund weit geöffnet, als sie nach Luft schnappte.

Seine linke Hand fuhr ihr ins Haar, zog grob daran, während seine rechte vor ihrem Gesicht auftauchte. Sie hielt einen kurzen zweischneidigen Dolch, dessen Klinge irgendwelche symbolischen Gravuren aufwies. Dann setzte er den Dolch an ihren Hals. „Was hast du getan?“, brüllte er in ohrenbetäubender Lautstärke.

Sie sagte es ihm.

28) Die junge Herzogin und ihr Märchenprinz

Durch die Erkenntnisse aus seinen Recherchen zu Fab-Store-Paul und Beatle-Paul hatte die Ernüchterung über den Zustand des Menschengeschlechts eine neue Dimension bekommen. Zach wusste nun mit Bestimmtheit, dass es das Böse gab. Disney-Comics wollten uns weismachen, das Böse sei ein hässlicher Gnom, der sich mit fiesem Grinsen die Hände rieb, wenn er jemand in die Pfanne hauen konnte. Das Böse war banaler. Es war alltäglicher. Es gedieh in unser aller Gleichgültigkeit gegenüber dem Nächsten, unserem ‚gesunden Egoismus‘, unserem Materialismus, unserem Kuschen vor Autorität. Es gab da jedoch eine Ebene des Bösen, die sich diese Neigungen zunutze machte, ja regelrecht kultivierte, eine Ebene, die davon profitierte und mit kalter Berechnung auf die Schwäche unserer Herzen und unseren Mangel an Rückgrat setzte. Diese Ebene war bevölkert von Psychopathen, Menschen, die über andere Menschen Macht suchten – und sie hatten sie gefunden. Niemand behinderte ihr Streben, vor allem nicht jene, die den Schmerzen aus dem Weg gingen oder, falls das misslungen war, sie mit Alkohol, Musik, Fernsehen, Hobbys, Arbeit, Sex, Shopping oder anderen Drogen betäubten. Den Psychopathen fehlte jede Empathie. Ihnen war das Leid der Anderen egal. Sie benutzten sie als Mittel zum Zweck. Korruption und Misswirtschaft waren noch ihre geringsten Vergehen.

„Es stimmt. Ich war ganz schön dumm“, bekannte Zach schließlich. „Ich war so dumm, die Ammenmärchen der Mainstream-Kultur zu glauben: dass die Polizei dein Freund und Helfer ist; dass wir in der Schule fürs Leben lernen; dass gewählte Regierungen unsere Interessen vertreten; dass der Markt es schon regeln wird; dass Nachrichten über wichtige Ereignisse berichten; dass Romane, Musik, Filme und Computerspiele nur Unterhaltung sind. Ich sollte langsam aufhören, mich zu wundern, warum die Probleme in unserer Gesellschaft nie gelöst werden, sondern stets größere Ausmaße annehmen.“

Maria Borghese nickte wissend. „Menschen wie Sie und ich müssen die Spannung zwischen dem Erzählten und dem Erkannten aushalten – einfach weil uns der Unterschied zwischen den beiden bewusst ist.“

„Damit zu leben finde ich manchmal ganz schön schwierig.“

„Wach zu sein macht das Leben nun mal nicht schöner, nur interessanter.“ Sie lachte trocken. „Ich weiß, Sie sind einer, der der Wahrheit zu ihrem Recht verhelfen will. Das wollen auch einige von uns. Aktiv etwas dafür zu tun steigert das Wohlgefühl ganz erheblich.“

„Glauben Sie, Sie tun genug?“

Maria schaute ihn zum ersten Mal mit zusammengezogenen Augenbrauen an. „Bin ich Gott der Allmächtige? Was eine einzelne Frau oder auch eine Gruppe von Menschen unternehmen kann, wird allein nie genug sein, die Maschine ins Taumeln zu bringen. Was zählt ist unser Leben – wer wir sind und was wir tun. Und soweit es das Tun betrifft, so tue ich, was ich kann. Den Rest besorgt eine höhere Macht.“ Nach einer kurzen Pause: „Kite sammelt Beweise für den Tod des biologischen Paul McCartney. Wenn er zum Clan von Billy Shears gehört, wie er behauptet, dann beabsichtigt er, das Material endgültig aus dem Verkehr zu ziehen.“

„Die Aufklärung des gemeinen Volks scheint kein Programmpunkt auf Kites Agenda zu sein“, sagte Zach.

„Si. Mr Mustard, Dr Robert und Rocky Raccoon haben daher vor einer Weile beschlossen, dass sie zumindest Fotos, Filme oder Kopien von den Beweisen anfertigen werden. Letzten Monat konnten sie die kleine Kirk überzeugen, ihnen zu helfen. Mehrere Tage vor der Versammlung haben sie auch mich eingeweiht. Da das Eintreffen des Koffers mit seinem brisanten Inhalt erwartet wurde, wollten sie die Gelegenheit nutzen, das Manuskript durchzufotografieren, bevor es in Kites Safe verschwindet. Sie planten, Kite entweder unter Drogen zu setzen oder für längere Zeit abzulenken.“

„Sie hätten das Ding direkt bei Paul kopieren können“, unterbrach Paul ihren Redefluss.

„Nein, wir wollten Paul nicht hineinziehen. Er war als Lieferant einfach zu wichtig, als dass wir ihn kompromittieren durften. Wie sich herausstellte, kam am Tag X sowieso alles anders.“

„Erzählen Sie mir von dem Abend. Wer war anwesend?“

„Es war ein Samstag. Ich sammelte Kirk ein und fuhr mit ihr zum Schloss. Wir kamen gegen sieben Uhr dreißig an. Bis auf Henry und Robert, die eine halbe Stunde später eintrafen, sowie PC31 – Paul – waren alle schon da.“

„Alle heißt – wer?“

„Desmond und Molly Jones, Mustard, Rocky und natürlich Kite. Kirk erzählte mir während der Fahrt, dass alles für den Coup vorbereitet war. Die Gruppe hielt es für zu riskant, Kite durch Alkohol oder Medikamente schlafen zu schicken. Die Gefahr, dass sie entdeckt wurden oder der Gastgeber das Treffen vorzeitig beendete, erschien ihnen zu hoch. Plan B sah vor, dass Kirk ihn verführte. Viel gehörte nicht dazu. Es war für alle Beteiligten nur zu offensichtlich, dass er sie haben wollte. Sie sollte unter der Bedingung einwilligen, dass sie das Manuskript genauer ansehen durfte. Dann sollte sie ihm K.O.-Tropfen in den Drink schütten, das Manuskript zum Kopieren herausreichen und es anschließend wieder in Empfang nehmen. Am Ende sollte sie die Tropfen selbst einnehmen, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen.“

„Scheißplan“, kommentierte Zach.

„Ich habe genau dasselbe Wort verwendet, aber sie ließ sich nicht davon abbringen. Da wir nur noch wenige Fahrtminuten vom Schloss entfernt waren, blieb keine Zeit, ihr die Dummheit auszureden. Ich konnte lediglich ihrer Bitte nachgeben, die Kontaktperson vor der Schlafzimmertür zu spielen.“

„So weit, so schlecht. Doch dann liefen die Ereignisse aus dem Ruder.“ Zach formulierte es mehr als Feststellung denn als Frage.


Zu fortgeschrittener Stunde befanden sich Gastgeber und Gäste in einem eben so fortgeschrittenen Stadium der Betrunkenheit. Ungeduld machte sich breit. Immer wieder schlug der eine oder die andere Feiernde vor, Kite solle PC31 anrufen, aber der Schlossherr wiegelte ab. Der Ladenbesitzer werde seine Gründe haben. Wahrscheinlich sei spät noch ein wichtiger Kontakt mit einer Quelle zustande gekommen. Er habe gehört, PC31 sei einem ganz großen Objekt dicht auf der Spur. Also warteten sie und tranken, und Kite ließ den nächsten Gang auffahren. Die Sammler begannen ihre letzten Neuerwerbungen zu präsentieren. Sie rezitierten lange, verworrene Geschichten, wie es ihnen allen Widerständen zum Trotz gelungen war, ihre Beute aufzuspüren. Die Eingeweihten jenes Teils der Familie, die den Plan geschmiedet hatten, Kite der Exklusivität seiner Sammelobjekte zu entledigen, warfen einander zunehmend häufiger nervöse Blicke zu.

Duchess of Kirkcaldy, die einen schulterfreien engen Einteiler aus rotem Leder trug, der knapp unter dem Gesäß endete, und darunter nichts als rote Stöckelschuhe, nutzte jede Gelegenheit, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Während sie den neuesten Klatsch über Stars und Sternchen der Musikszene und deren Sexpraktiken verbreitete, warf sie Mr Kite immer wieder herausfordernde Blicke zu. Der lächelte nur, sagte gar nicht viel, stellte aber von Zeit zu Zeit eine Bemerkung in den Raum, die sie wissen ließ, dass er ihr interessiert zugehört hatte. Nachdem sie das Abendessen beendet und den Speisesalon verlassen hatten, um es sich in einem gemütlich eingerichteten Raum im rückwärtigen Bereich des Schlosses auf Liegestühlen und Diwanen bequem zu machen, ging Kirk zum offenen Angriff über. Während die anderen Sammler lautstark über Yoko Ono und ihre Rolle bei der Trennung der Beatles diskutierten, setzte sie sich eng neben Mr Kite auf eine der mit dicken Kissen gepolsterten Fensterbänke.

„Du hast mir noch gar nicht zum Geburtstag gratuliert“, beschwerte sie sich beim Schlossherrn. Sie strich lasziv eine lange schwarze Locke aus ihrem Gesicht.

„Oh?“ Kites Lautäußerung klang, als habe er gerade eine interessante aber nebensächliche Information erhalten. „Wie lang bin ich überfällig?“

„Dir bleiben noch etwa zwei Stunden, das Schlimmste zu verhindern, und du weißt das ganz genau, du Schuft! Ich sollte eigentlich mit meinen Freundinnen im White Star sitzen und richtig groß feiern. Ich meine – wie oft im Leben wird man volljährig?“

„Ist das wahr? Du feierst heute deinen achtzehnten Geburtstag?“

„Von feiern kann bisher keine Rede sein. Ich sitze in einem alten Kasten, von alten Leuten umgeben – Anwesende selbstverständlich ausgenommen –, wir reden, worüber wir immer reden: die verdammten ollen Beatles, und der Mann, der mich in diese Situation genötigt hat, unternimmt nicht das Geringste, um meine Bedürfnisse zu stillen.“ Sie warf die feuerrot gefärbten Lippen zu einem Schmollmund auf.

„Also, zunächst einmal hat dich niemand gezwungen. Du bist aus freien Stücken hierher gekommen und hast dich sogar noch hübsch in Schale geworfen.“ Er musterte sie demonstrativ vom Kopf bis zu den Füßen und wieder zurück, wobei er die prominenteren Zwischenstationen längerer Blicke würdigte. „Vielleicht habe ich meine Qualitäten als Märchenprinz bisher zu wenig zur Geltung gebracht, doch ich kann dir versichern, ich bin wirklich einer, denn ich wohne schließlich in einem Märchenschloss.“ Er wies auf die Gemäuer um sie herum. „Ich verwehre mich energisch gegen die Bezeichnung ‚alter Kasten‘!“

Kirk, die mehr als einen Kopf kleiner als der Hüne war, lächelte zu ihm auf. Dann lehnte sie sich gegen seine Schulter. Kite legte einen Arm um sie. „Kein alter Kasten,“ sagte sie gnädiger gestimmt, „aber haben die Jungfrauen im Märchen nicht drei Wünsche frei?“

„Drei? Willst du mich ruinieren?“, fragte Kite in gespielter Entrüstung.

„Nun, dann eben zwei.“

„Einen. Das muss genügen.“

„Einen nur?“, fuhr Kirk entrüstet auf. „Einen, als wäre ich zum Tode verurteilt?“ Sie seufzte, legte eine Hand aufs Herz, die andere auf sein Knie, überlegte einen Moment und sagte dann: „Wenn ich morgen sterben müsste…“ Sie hielt inne.

„Ja?“

„Wenn ich morgen sterben müsste, wäre mein letzter Wunsch, Gewissheit darüber zu bekommen, ob auch ER gestorben ist. Du weißt schon: er, Paul. Bitte, lass mich das Manuskript lesen oder irgendeinen anderen Beweis sehen, was mit ihm geschehen ist.“ Duchess of Kirkcaldy schaute Kite halb flehend, halb kokettierend in die Augen.

Die Erektion, deren Entstehen sie in seinem Schritt beobachtet hatte, verlor an Offensive. Dafür bemerkte sie eine größere Härte in seiner Stimme, als er antwortete: „Kein bescheidener Wunsch; ich hoffe, du weißt, was du da verlangst.“

„Gehab dich nicht so furchtbar schottisch“ gurrte sie. „Würdest du einem Mädchen drei bescheidene Wünsche gewähren, müsste sie keinen außergewöhnlichen äußern. Ach bitte, tu mir den Gefallen.“

„Wenn du für die Erfüllung deines Wunsches sterben würdest, wozu wärst du dann noch bereit?“

„Zu allem, was du verlangst“, hauchte Kirk.

„Du wirst bekommen, wonach du verlangst“, beendete Kite das Gespräch, erhob sich und schlenderte mit seinem Sektglas zu der Gruppe schnatternder Sammler hinüber, die im Halbkreis um eine Gemälde John Lennons standen und noch immer heftig diskutierten. Während das Mädchen auf der Fensterbank sitzend zurückblieb – zitternd, ohne zu wissen, ob vor Furcht oder vor Lust – stieß der Schlossherr mit den von Alkohol benebelten Gästen auf Paul Campbell an. Die meisten vermissten ihn schmerzlich, vor allem jene, die im Geiste schon ihre Finger auf das Evans-Manuskript legten. Außer Semolina Pilchard hatte niemand die Szene auf der Fensterbank bemerkt.

27) Kaspertheater

Spät am Abend hatte sich Zach doch noch aufgerafft, seine Aufgabenliste nach Prioritäten zu ordnen und den einzelnen Punkten ein Zeitbudget zuzuordnen. Da Semolina morgen in aller Frühe zum Putzen im Laden eintreffen würde, stand ihre Befragung ganz oben auf der Liste. Das fand er günstig, denn er vertraute ihr; er glaubte, sie würde wahrheitsgemäß auf seine Erkundigungen antworten. Überdies besaß sie eine scharfe Beobachtungsgabe. Daher hoffte er, dass ihre Aussagen den Einstieg in den Fall erleichterten. Eine bessere Interviewpartnerin konnte er kaum finden.

Was sie zu sagen hatte, würde möglicherweise, wenn nicht sogar wahrscheinlich, die Reihenfolge seiner Liste verändern. Dennoch musste er die Ermittlungen geordnet angehen. Er brauchte eine Aufstellung von Eröffnungsfragen, und bei der Gelegenheit würde er auch gleich für jeden Zeugen beziehungsweise Verdächtigen eine Karteikarte anlegen; auf ihr sollten die bekannten Informationen zur Person stehen und offene Fragen vermerkt werden. Das war ein mechanischer, wenig anspruchsvoller Vorgang, aber er half dabei, Ordnung im Datenwust zu halten, der erfahrungsgemäß schnell entstehen würde, und damit Zeit beim Wiederauffinden gesammelter Informationen zu sparen.

Er begann, die Karteikarten mit Hilfe des Warenbuchs, den Notizen aus dem Gespräch mit Henry und den Erinnerungen an Mr Kites Aussagen zu erstellen.


Viertel vor acht Uhr am nächsten Morgen ging Zach in den Laden hinunter, um Maria abzufangen, bevor sie ihre Arbeit begann. Sie besaß ihren eigenen Schlüssel, so dass sie jederzeit kommen und gehen konnte, ohne auf die Anwesenheit Paul Campbells angewiesen zu sein. Die Zieglers sahen keinen Grund, weshalb sie das Arrangement ändern sollten. Wenn Paul ihr vertraut hatte, konnten auch sie es. Wie an den beiden vorangegangenen Tagen traf die Italienerin zehn Minuten früher ein. Sie hatte ein freundliches Lächeln im Gesicht und grüßte Zach eher herzlich als höflich.

„Signora,“ sagte der Detektiv in gespielt italienischem Akzent, die zweite Silbe des Wortes betonend und mit jener überschwänglich südländischen Sprachmelodik, die er bei Maria aufgeschnappt hatte. „Wasse kaan ich Gutes für Sie tuun?“

Die Putzhilfe gab ihm einen Klaps auf den Unterarm und beäugte ihn spitzbübisch. „Ach, Sie! Malträtieren Sie die Sprache meiner Eltern nicht. Sonst rede ich Sie in Zukunft nur noch auf Schwäbisch an, Signore Ziegler.“

Zach tat erschreckt. Ein reumütiger Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. „Bloß nicht. Ich würde Ihr italienisch gefärbtes Englisch vermissen.“

„Na dann – Haben Sie heute einen besonderen Wunsch, was ich tun soll, oder spule ich mein normales Programm ab?“

„Ich hatte nicht den Eindruck, dass Sie Ihre Arbeit wie ein Roboter verrichten, Maria. Aber ich hege tatsächlich einen Wunsch. Kommen Sie nach hinten. Setzen wir uns. Es geht um ein ernstes Thema.“

Als sie im Hinterzimmer Platz genommen hatten, Zach im Sessel, Maria Borghese auf dem Sofa, sagte der Detektiv: „Veronica und ich haben gestern William Wallace Campbell besucht…“

„Ich weiß“, erwiderte die Italienerin.

„Sie wissen es? Woher?“

„Henry hat mir davon erzählt. Was in der Familie vor sich geht, bleibt zwar in der Familie, aber dort pflanzt es sich mit Überschallgeschwindigkeit fort.“

„Schön. Zuerst würde ich gern wissen, ob es zwischen meinem Stiefbruder und diesem… Campbell-Clan irgendwelche verwandtschaftlichen Beziehungen gibt.“

Veronica kam aus der Wohnung herunter, grüßte Maria herzlich und warf die Kaffeemaschine an. Dann setzte sie sich still auf die Treppe, um das Gespräch aus dem Hintergrund zu verfolgen.

„Meines Wissens nicht“, fuhr die Italienerin fort. „Campbell ist hier ein so häufiger Familienname wie Müller, Meyer oder Schmidt in Deutschland.“

„Beruhigend. Er führte sich auf, als sei der Fab Store nach ihm benannt.“

„Si, das kann er gut.“

„Ich habe nach dem, was er sonst noch alles gesagt hat, tausend weitere Fragen. Die muss ich leider zurückstellen, denn Mr Kite hat mir einen dringenden Auftrag erteilt. Ich hoffe, Sie können mir dabei helfen.“

„Sicher, Signore. Welches Objekt sollen wir denn jetzt für ihn auftreiben?“

„Ein… Foto. Es handelt sich jedoch nicht um einen Auftrag für den Laden, sondern für mich in meiner Eigenschaft als Privatdetektiv.“

„Ach so? Wie kann ich helfen?“

„Kite sagte mir, dass am Abend des 30. April ein Familientreffen in seinem Schloss stattgefunden habe. Alle außer meinem Stiefbruder seien zugegen gewesen. An jenem Abend sei ein Foto aus seiner Sammlung abhanden gekommen. Können Sie mir etwas über den Gegenstand erzählen? Und wie verlief das Treffen?“

Die Italienerin hatte während seiner Worte überrascht die Augen aufgerissen, sich dann aber schnell wieder gefasst. Sie antwortete: „Normalerweise kommen wir alle halbe Jahre zusammen, um unsere neuesten Fundstücke herumzuzeigen. Üblicherweise koordinieren wir da auch weitere Beutezüge, um gezielt Lücken im Bestand zu füllen. Dieses Treffen galt jedoch dem Koffer, den Paul und ich nach monatelanger komplizierter Suche und endlosen Verhandlungen endlich nach Liverpool bringen konnten. Alle waren schon ganz gespannt. Das Objekt besitzt einen gewissen Kultstatus, nachdem es so lang verschollen war, sowie wegen seines Inhalts.“

„Was meinen Sie mit Lücken im Bestand?“, fragte Zach.

„Die Gegenstände sind zwar Privateigentum, aber wir sehen unsere Sammelaktivität als gemeinsame Bemühung, eine Art virtuelles Museum oder Dokumentationsprojekt aufzubauen.“

„Es gibt doch schon ein Beatles-Museum. Reicht das nicht? Was spricht dagegen, diesem zuzuarbieten?“

Maria Borghese verzog das Gesicht. „Signore Ziegler, nach allem, was Sie erfahren haben, glauben Sie da wirklich, das Beatles-Museum von Liverpool habe irgendein Interesse an unseren Memorabilien? Die spielen doch Kaspertheater für Familien mit Kindern. Den Hippies präsentieren sie die heile Welt der Sechziger, als der Dorfpolizist noch keine Ahnung hatte, wie Dope riecht oder wie ein Trip aussieht.“

„Und was spielen Sie? Schattenboxen?“, ereiferte sich Zach, doch es tat ihm sofort leid. „Entschuldigen Sie, Signora. Ich möchte nicht unhöflich sein. Auf mich macht dieses – wie nannten Sie es? – virtuelle Museum den Eindruck eines elitären Egotrips reicher Säcke wie dieses Mr Kite. Es entzieht sich meinem Verständnis, was eine integre Frau wie Sie darin zu suchen hat.“

„Schon gut. Ein paar von uns sind wie Kite, andere träumen tatsächlich von einem Dokumentationszentrum, in dem eines Tages die dunklen Seiten der Musikindustrie aufgearbeitet werden. Sowohl Ihr Stiefbruder als auch Henry und ich sind uns derselben bewusst. Die Zeit, wenn wir unser Wissen auf formelle Weise weitergeben können, liegt womöglich in ferner Zukunft. Im Moment müssen wir leider mit den selben Beschränkungen leben, die auch 9/11-Truther, ‚Covid-Leugner‘, ‚NWO-Spinner‘ und andere sogenannte ‚Verschwörungstheoretiker‘ betreffen. Am sichersten sind die Forschungen und die Sammlungen daher in privaten Händen aufgehoben.“

„Wie Sie es erklären, wird mir Ihr Anliegen verständlicher“, lenkte Zach ein. „Es könnte sogar sein, dass Sie recht haben. Auch einige der anderen Wissenschaften sind auf diese Weise entstanden. Ein paar Scharlatane sammeln Mumien, ein paar Idealisten sieben den Sand nach alten Knochen, ein paar Diebe plündern Gräber, ein paar Romantiker lesen antike Texte, ein paar Imperialisten schmücken sich mit historischen Federn fremder Völker. Es wird mehr zerstört als bewahrt, aber am Ende haben wir Archäologie, Anthropologie, Ethnologie, Historiografie und Soziologie als ordentliche Fächer, und die großen katalogisierten und dokumentierten Sammlungen im British Museum und anderswo.“ Er schwieg einen Moment. Dann sagte er: „Was war denn nun auf dem Foto zu sehen, das Kite angeblich gestohlen wurde?“

„Hat er es Ihnen nicht gesagt?“

„Sagen Sie mir, was es darstellt“, wich er der Beantwortung ihrer Gegenfrage aus.

Die Maschine spotzte und spuckte die letzten Tropfen kochenden Wassers über dem Kaffeepulver aus. Veronica schenkte drei Tassen ein, servierte ihrem Vater und Maria jeweils eine davon und setzte sich mit der dritten zurück auf die Treppe.

„Es handelt sich um eine Aufnahme aus der Pathologie. Man sieht die nackten Schultern und den Kopf eines toten Mannes – zumindest sieht man, was vom Kopf noch übrig ist. Er ist weiß, hat dunkle Haare, keinen Bart. Er macht den Eindruck, als sei er jung gestorben, aber sein Alter war ohne Gesicht natürlich schwer zu schätzen…“ Langsam fügte sie hinzu: „Der Schädel war durch den Schlag mit einem stumpfen Gegenstand bis zum Gaumen hinunter gespalten.“

„Uh, grausig. Konnten Sie an irgend etwas erkennen, wer der Tote war?“

„Nein. Der Leichnam war zwar weitgehend von Blut und Hirnmasse gereinigt worden, aber ich entdeckte keinerlei Anhaltspunkte für eine Identifizierung. Es gibt zwei Datenpunkte, die eine gewisse Hypothese stützen…“

„Sie glauben, dass man ihn auf dem Bild sieht?“

„Kite konzentriert seine Sammelaktivität auf Paul-ist-tot-Material; Punkt eins. Punkt zwei: Sie können dasselbe Bild für einen Sekundenbruchteil in einem der Videoclips zum Song 1882 sehen – McCartneys Song 1882.“

„Billy hat das Autopsiefoto eines Mannes mit gespaltenem Schädel in einem Promo-Video gezeigt?“

„Si. Bis es aus dem Verkehr gezogen wurde. Sie müssen die 2:31 lange Version ansehen. Bei 1:59 blitzt es kurz auf. Bevor man begreift, was es darstellt, flackern drei weitere Bilder über den Bildschirm. Das ganze Machwerk steckt voll seltsamer, scheinbar unzusammenhängender Bilder und Symbole. Da unterscheidet es sich in nichts von den Streifen zahlreicher namhafter Kollegen, die den MTV-Kids ins Unterbewusstsein gepumpt werden.“

„Ich will gar nicht daran denken, was das in deren Köpfen anrichtet. Woher kennen Sie das Foto? Hat Kite es auf dem Treffen herumgezeigt?“

„Die meisten von uns kannten es aus dem Musikvideo. Da wir den Tod des biologischen Paul McCartney für gegeben erachten, klopfen wir jede neue Veröffentlichung im Umfeld der Beatles nach Hinweisen ab. Kite hat sich den Originalabzug des Fotos schon Jahre früher beschafft, sagt er. Er prahlt gern damit, hat uns aber nie einen Blick darauf gewährt.“

„Haben nicht Sie und mein Stiefbruder es besorgt?“

„Nein, er hat Desmond darauf angesetzt.“

„Desmond Jones? Donald Wickens, der Polizist?“

„Genau der. Er besitzt Drähte bis ganz nach oben. Er weiß wahrscheinlich sogar, wo Paul McCartney den Unfall hatte.“

Zach schnaubte. „Er wollte mich überzeugen, dass ich ganz schön dumm sei, Ammenmärchen wie die Doppelgängertheorie zu glauben.“

„Natürlich. Es ist sein Job.“

Der Detektiv überlegte einen Moment, ob er schockiert sein oder sich in Marias gelassenes ‚Natürlich‘ ergeben sollte. Er entschied sich für die zweite Option. Er hatte während seiner Laufbahn als privater Ermittler zu viel erlebt, um Illusionen über das Gute im Menschen zu hegen. Er glaubte an dieses Gute, o ja. Jeder neue Erdenbürger wurde damit geboren; und dann wurde er Tag für Tag unbarmherzig in Formen geprügelt, auf denen Wörter wie ‚Arbeitskraft‘, ‚Konsument‘, ‚Steuerzahler‘, ‚Bürger‘ oder ‚Kanonenfutter‘ standen. Er wurde so lang niedergeknüppelt, bis jeder Knochen seines Rückgrats gebrochen und er zu benommen oder weichgekocht war, um für etwas geradezustehen, das nicht der Schmerzvermeidung diente. Nur wenige Menschen waren heutzutage zu mehr fähig.

26) Ein heißer Tag auf der Abbey Road

Zach setzte sich in den Sessel im Hinterzimmer. Er legte die Füße auf das Tischchen, stellte das Laptop auf die Oberschenkel, öffnete es und schaltete es ein. Während Veronica die bösen Geister zu vertreiben versuchte, indem sie sie ins Licht zerrte, wählte der Detektiv eine andere Methode: Er folgte dem Ruf der Pflicht. Seine Liste der zu erledigenden Dinge war ins Riesenhafte gewachsen, seit er in Liverpool angekommen war. Der Zeitdruck fühlte sich brutal an. Nicht zuletzt verdankte er das Mr Kites Auftrag. Zunächst war es ihm wie eine gute Idee erschienen, dem Familienoberhaupt einen Gefallen zu tun. Er zeigte seine Hilfsbereitschaft, hatte endlich einen guten Grund, persönlich Kontakt mit den anderen Mitgliedern aufzunehmen, und verdiente nebenbei eine Stange Geld. Nun jedoch musste er acht Personen in ebenso vielen Tagen befragen, und er konnte sich schon ausrechnen, dass es dabei kaum bleiben würde. Am besten begab er sich sofort an die Arbeit. Zuvor wollte er einen Punkt von seiner Liste streichen, den er meinte, schnell erledigen zu können: den Halter des weißen Käfers zu ermitteln, der vor dem Eingang des Wallace-Schlosses gestanden hatte. Er wählte die britische Halterdatenbank an. Er tippte LMW 281F ein, dann schickte er die Anfrage ab. Keine Registrierung vorhanden. „Nanu?“, dachte er, „Habe ich mich vertippt?“ Er ging im Geist nochmals die Szenen durch, als er das Gebäude betreten beziehungsweise verlassen hatte. Er hatte keine Notizen gemacht, erinnerte sich jedoch deutlich an Veronica, wie sie Buchstaben und Zahlen vorlas. Sollte er sie fragen? Er entschied sich dagegen; er saß gerade so bequem.

Einer Intuition folgend gab er das Kennzeichen in eine Web-Suchmaschine ein. Zach hatte mit wenig mehr als unsinnigen Ergebnissen gerechnet. Um so überraschter war er über die Zahl der Treffer, die sofort einen Beatles-Bezug herstellten. Den mitgelieferten Bildern nach zu urteilen hatte er voll ins Schwarze getroffen: Das erste zeigte das Heck eines VW Käfers, der am Straßenrand parkte, fast genau so wie in seiner Erinnerung an die Szene vor dem Schloss. Ein weiteres Bild zeigte den selben Käfer im Kontext: auf dem Cover eines Albums, das er seit seiner Jugend kannte – Abbey Road. Er schmunzelte. „Natürlich!“, dachte er. Wie konnte es anders sein? Der Käfer wurde im Englischen bug oder beetle genannt. Weder im Herkunftsland Deutschland noch im Königreich war das die offizielle Typenbezeichnung, aber die Anwesenheit eines solchen Gefährts auf einem Beatles-Foto erhob das Objekt fast von selbst in den Status eines gesuchten Sammlerobjekts.

Nun musste er nur noch herausbekommen, wer den Wagen zuletzt erworben hatte, um an den Namen von Kites geheimnisvollem Besucher zu erfahren. Zunächst fand er einen Zeitungsbericht aus dem Jahr 1986. Ein gewisser Peter Gent hatte den Käfer auf dem Hof eines Gebrauchtwagenhändlers gesehen und für 450 Pfund gekauft. 1999 ersteigerte das Automuseum Wolfsburg ihn für 34.160 Deutsche Mark und stellte ihn im ZeitHaus auf. Der Zeitwert lag bei lediglich 1.500 Mark, doch für einen Wagen, der John Lennon gehört haben soll, wie man in Wolfsburg glaubte, war die Volkswagen AG bereit, bis zu 50.000 Mark hinzublättern. Später gab das Museum bekannt, dass der Käfer nicht Lennon sondern einem Anwohner der Abbey Road gehört habe. Das VW-1500-Modell sei 1967 gebaut und 1968 erstmals zugelassen worden. In den 70ern habe ein Beatles-Fan es erworben, behauptete das deutschsprachige Käferblog. Wie es aus dessen Besitz in die Hände eines nichtsahnenden Billig-Gebrauchtwagenhändlers geriet, wollte Zach nicht einleuchten. Es war ihm auch gleichgültig, denn ihn interessierte der gegenwärtige Eigentümer. Jenseits von Wolfsburg verzeichnete das Web keine weiteren Besitzerwechsel. Das Nummernschild soll mehrfach gestohlen worden sein; dann verschwand das Auto aus dem Schauraum des Automuseums. Es sei ‚zur Zeit in einer Nebenhalle geparkt und für Besucher nicht zu sehen‘, diktierte man der FAZ 2009 in die Feder. Besucher der Autostadt berichteten noch 2022, dass es nicht ausgestellt sei.

Der Detektiv fand das ungewöhnlich. Da erwarb man ein Objekt der Popkultur für das Zweiundzwanzigfache des Zeitwerts und stellte es dann mehr als ein Jahrzehnt lang ins Lager? Wie kam die Kiste vor Kites Tür? Handelte es sich um eine Replik oder den Wagen aus Wolfsburg – geklaut oder gekauft? Oder war das Museum einem Betrug aufgesessen und hatte ihn deshalb aus dem Schauraum entfernt? Zach sah ein, dass die Frage der Provenienz, also wer den Wagen wann besessen hatte, keineswegs so unbedeutend war, wie er in seiner Ungeduld geglaubt hatte. Für eine entsprechende Recherche von Fahrzeugpapieren und Kaufverträgen, soweit diese überhaupt zugänglich waren, hatte er keine Zeit. Kites Besucher mochte unwichtig sein. Er stellte lediglich fest, dass er schon wieder mit einer löchrigen Story zu tun hatte, für die es alternative Erzählungen gab. Und das konnte gut und gern daran liegen, dass Abbey Road, genau wie Sgt. Peppers, mit Hinweisen auf Pauls Tod gespickt worden war – beginnend mit dem Nummernschild. Dass LMW für ‚Linda McCartney weint‘ stehen sollte, wie manche behaupteten, fand Zach unlogisch. Paul McCartney war zum Zeitpunkt des Wechsels – so er denn stattgefunden hat – mit Jane Asher verlobt. Lindas Eintritt in die Beatles-Historie erfolgte erst ein halbes Jahr später. 281F, das wegen der Schrifttype des Schilds wie 28 IF aussah, nannte angeblich das Alter Pauls, IF – wenn – er nicht verstorben wäre. Der Schönheitsfehler hieran, musste Zach feststellen, als er das Erscheinungsdatum des Abbey Road-Albums prüfte, bestand in der Tatsache, dass McCartney im September 1969 erst 27 gewesen wäre. Falls der Wagen absichtlich in den Bildausschnitt gerückt wurde, musste eine andere Erklärung für das Schild her. Überzeugender schien Zach die Überquerung des Zebrastreifens als symbolische Passage über den Fluss Styx ins Totenreich; das Trauergeleit bestand aus dem Priester, John, dem Bestatter, Ringo, dem Toten, Paul, und dem Totengräber, George.

Nur Paul rauchte einen Sargnagel, nur Paul setzte den rechten Fuß vor, nur Paul ging barfuß. All das mochte auf den ersten Blick wie vernachlässigbare, wahrscheinlich zufällige Details erscheinen, aber es zog sich wie ein roter Faden durch die Bandgeschichte, dass Paul McCartney seit 1965 auf Bildern fast immer eine Sonderstellung einnahm und dass er von Todessymbolik umgeben war. Die Häufigkeit und Regelmäßigkeit, in der dies geschah, verbot Zufälle. Man musste außerdem berücksichtigen, dass Bildaufnahmen die öffentliche Meinung über die Abgebildeten prägen sollten, und dass Albencover Aushängeschilder waren, überlegte Zach. Trotzdem hatte der Detektiv, wie die meisten Menschen, die Szene auf Abbey Road bisher als einen aus dem Leben gegriffenen Schnappschuss gehalten. Das Bild war natürlich alles andere als das. Die Beatles mussten die Straße mehrfach überqueren, bis die Optik passte. Es war ein heißer Tag im August. Drei der vier Musiker trugen Anzüge und Halbschuhe, waren also für einen festlichen oder formellen Anlass korrekt aber zu warm bekleidet – nur George, der Totengräber in seinen Jeansklamotten, nicht. Und was tat Paul überhaupt derart seltsam bekleidet – barfuß im Anzug – auf einem Fototermin? Bewusst betrachtet, mit einem gesunden Sinn fürs Praktische, erschien Zach dieses Bild mit jeder Minute bizarrer.

Komplett verrückt und unglaubwürdig wurde ihm die Sache, als er in seinen weiteren Recherchen dem Hinweis auf eine Fernsehaufzeichnung folgte, in der Sir Paul die Fotoszene erläuterte. McCartney behauptete, er sei am Tag, als das Bild aufgenommen wurde, in Sandalen, genauer gesagt, in Flip-Flops erschienen. Es sei so heiß gewesen, dass er sie ausgezogen habe. „Etwas Dämlicheres kann man unter solchen Bedingungen kaum tun“, polterte Zach. Ohne Schuhwerk brannten McCartney sicherlich die Sohlen vom erhitzten Asphalt, und das mehr als ein Mal, denn die Beatles hatten die Szene mehrfach durchspielen müssen. Dass er die Flip-Flops – oder welches Schuhwerk auch immer – am Straßenrand zurückgelassen hatte, war somit definitiv kein spontaner Akt gewesen. Warum log der Musiker in dieser nebensächlichen Angelegenheit? Die Antwort erhielt der Detektiv zwischen den Zeilen der TV-Show. Auf sein Gesicht legte sich zuerst ein ungläubiger Ausdruck. Als er den Austausch zur Gänze angesehen hatte murmelte er anerkennend:. „Du gerissener Schlawiner!“

Inzwischen war keine Rede mehr davon, seine Aufgabenliste abzuarbeiten. Er rief den Anfang des Gesprächs erneut auf und schaute es noch einmal an, um sich jedes Wort auf der Zunge zergehen zu lassen. Verdammt, war der Mann clever. Dann schaute er es nochmals an, diesmal, um Mimik und Gestik der beiden Personen in den Fokus zu nehmen. Er begann hysterisch zu lachen.


Er lachte noch immer, als seine Tochter die Treppe herabgestiegen kam. Er hing im Sessel, den Kopf zurückgeworfen, die rechte Hand auf der Brust, und wieherte, als habe er den besten Witz seines Lebens gehört.

„Was ist denn so lustig, Dad?“, fragte Veronica.

Zach rieb sich die Augen, schnappte nach Luft und versuchte, einen verständlichen Satz zu formulieren. „Haha, setzt dich. Das musst du unbedingt gesehen haben!“

„Was denn?“

Er zeigte aufs Sofa. „Setz dich.“

Veronica gehorchte. Zach ließ sich auf den Platz neben sie plumpsen und stellte den Laptop auf das Tischchen vor ihnen. Dann setzte er das Video auf den Anfang des Gesprächs zurück. „Bereit?“

„Spiel‘s endlich ab. Ich kann Aufmunterung gerade gut gebrauchen.“

Zach klickte auf den Play-Knopf. Dann lehnte er sich entspannt zurück. Veronica saß vorgebeugt daneben, die Unterarme auf die Knie gestützt.

David Letterman und ein deutlich gealterter Paul McCartney erschienen auf dem Bildschirm. Der Talkshow-Moderator sprach seinen Gast auf die End-Sechziger an, die Zeit, als Gerüchte über den Tod des Musikers aufgekommen seien, und wollte wissen, wie er sich dabei gefühlt habe.

Sir Paul sagte: „Wir sollten über den Zebrastreifen gehen. Ich bin an jenem Tag mit Sandalen aufgekreuzt; Flip-Flops. Und es war so heiß, dass ich sie ausgezogen habe und barfuß rübergegangen bin. Das hat dann zu dem Gerücht geführt, dass er tot war, weil er keine Schuhe anhatte. Ich habe den Zusammenhang nicht begriffen.“

„Scheint mir ein langsamer und schwerer Tod zu sein. Barfuß gehen kann töten“, kicherte Letterman.

„Verbrannte Füße…“ ergänzte Paul.

„Ha! Er gibt es selbst zu!“, triumphierte Zach.

„Pssst!“, zischte Veronica.

Letterman erkundigte sich bei McCartney, wie er damit umgegangen sei, denn Immerhin sei die Sache weltweit zum Gespräch geworden.

Er habe einfach darüber gelacht, antwortete Sir Paul. Es sei dennoch ein wenig seltsam gewesen, weil ihn die Leute forschend angesehen hätten, als ob sie sich fragten: „Ist er es wirklich oder nur ein sehr gutes Double?’”

“Das war die Idee dabei, der zweite Teil,“ spann Letterman den Faden weiter, „dass es da einen Kerl gab, der wie Sie aussah und Ihren Platz einnahm.”

Da zeigte Sir Paul energisch auf sich selbst und sagte: “Nun, das hier ist er.”

Die Antwort löste Gelächter beim Talkmaster und im Publikum aus. McCartney schaute sich nervös um.

“Oder er ist es nicht“, fügte Letterman nach einer Kunstpause grinsend hinzu, woraufhin Sir Paul den Finger an die Lippen legte.

Zach stoppte den Austausch, der weniger als zwei Minuten gedauert hatte, durch einen Tastendruck.

„Woah!“ stieß Veronica aus. Der Mund blieb ihr offen stehen. „Das hat er nicht wirklich gesagt, oder? Von wann stammt die Aufzeichnung?“

„Doch, hat er, und Millionen Menschen waren 2009 am Bildschirm dabei.“

„Aalglatt. Jedes Mal, wenn er den Verstorbenen erwähnt, wechselt er in die dritte Person und spricht von ‚ihm‘. Wenn man nichts Böses vermutet, klingt es, als dementiere er das Gerücht. Wenn man ihn dagegen beim Wort nimmt, bestätigt er es geradezu.“

„Hast du bemerkt, dass Letterman eingeweiht zu sein schien? Er spricht von der ‚Idee‘ von Pauls Tod und ihrem zweiten Teil, dem Doppelgänger, als sei der fliegende Wechsel in der Bandbesetzung die ganze Zeit der Plan gewesen.“

„Ja. Die beiden verstanden sich großartig. Mit dem Bekenntnis, dass er selbst der Doppelgänger sei, hat Billy dann vollends den Vogel abgeschossen. Alle fanden den Witz großartig, aber für einen Moment war ihm mulmig, dass er zu weit gegangen sein könnte.“

„Und so beendete er das Thema, als Letterman noch einen draufsetzen wollte“, schloss Zach.

Veronica nickte. „Das Handzeichen stammt aus der Freimaurerei. Natürlich benutzt es heute praktisch jeder, aber ich habe ein Gefühl, als redeten da zwei, die zum selben Club gehörten.“

„Zwei Meister, wenn du mich fragst“, sagte Zach.

„Komm, lass es uns noch einmal anschauen.“

„Mit Vergnügen!“

Er musste die Aufzeichnung weitere drei Mal zurücksetzen.

25) Jenseits von 1984

Der eiförmige weiße Kleinwagen verstopfte noch immer die Durchfahrt unter dem Vordach des Haupteingangs zum Schloss. Während Veronica wenig geschickt die Tür des GT aufzuschließen versuchte, musterte Zach das Nummernschild des Käfers erneut, da er in verschiedenen Datenbanken nach ihm zu suchen gedachte. Schließlich wurde die Beifahrertür von innen entriegelt. Während er einstieg, brauste der Motor auf. Der Sportwagen setzte zurück, bis er die Stelle erreichte, wo die beiden Äste der Zufahrt sich wieder vereinten. Dann schoss er auf Geheiß von Veronicas Stiefel aus dem Hof des Schlosses hinaus, durch den Park und den kleinen Wald bis zur Mauer. Das Tor stand offen. Ohne zu zögern lenkte die Fahrerin den orangefarbenen Blitz auf die Landstraße Richtung Liverpool.

Eine Weile sagte niemand etwas. Veronica verunsicherte die Häufigkeit, mit der sie in der letzten Zeit schockiert worden war. Zach sorgte sich wegen der dunklen Szenerie, die sich aus den neuen Informationen herauszuschälen begann. Nahm er die Million an, die Kite angeboten hatte, betrat er eindeutig kriminelle Gefilde. Der Staat kannte keine Gnade mit jenen Untertanen, die ihm Steuern vorenthielten. Für Leute vom Schlage des Wallace-Schlossherrn war der Staat keine Bedrohung; der Mann gehörte zu jener schmalen Schicht, die den Apparat ihrem Willen gefügig machten. Zach aber wurde erpressbar. Lehnte er das Geld dagegen ab, blieb er ein Außenseiter und war in Liverpool erledigt. Dann konnte er den Fab Store genau so gut schließen. Die beiden Bedingungen, die Kite für ihre Aufnahme in die Familie gestellt hatte, waren praktisch ein und dieselbe. Geschickt eingefädelt. So also wurde man Mitglied einer elitären Loge – und blieb ein Leben lang an sie gekettet. Politik, Justiz, Polizei, Handel, Industrie, Adel, Geheimdienste; schon hier in dieser aufgeblasenen Mittelstadt im englischen Abseits wurde ein holografisches Abbild der mafiösen Durchdringung sämtlicher Leitungspositionen sichtbar, an der klandestine Gruppen unermüdlich weiterwebten.

Tiefenstaat, Freimaurertum, Mafia, Regierungen, Finanzkraken und die industriellen Komplexe, von denen in sozialkritischen Zirkeln allenthalben die Rede war, stellten lediglich unterschiedlich benannte Ausschnitte ein und desselben Netzwerkes dar, das sich unter völligem Ausschluss der weit über neunzigprozentigen Mehrheit an den Gütern der Erde sowie der Arbeitskraft von Mensch, Tier und Maschine bereicherte. Wenn er die Million annahm, baute er an ihrer ‚Neuen Welt-Ordnung‘ mit, dem Projekt zur vollständigen Versklavung der Menschheit. Die meisten Menschen hielten die NWO für eine paranoide Verschwörungstheorie. Dabei machten diejenigen, die sie anstrebten, aus ihren steinernen Herzen keine Mördergrube. Wollte man sie vor Gericht ziehen, würde es an Beweisen nicht im Mindesten mangeln. Aber natürlich lagen auch die höheren Richter im selben Bett wie die niemals Anklagbaren. Letztere waren eine winzige Minderheit, der höchstens einer unter zehntausend Menschen angehörten.

Leider war es ihnen im Lauf der Jahrhunderte gelungen, die Wahrnehmung ihrer Schafherde mit größer werdendem Erfolg nach Belieben zu formen, so dass die Mehrheit die Interessen ihrer Eigentümer, der Hirten und der Schäferhunde völlig selbstverständlich für die eigenen hielt. Schlimmer noch: Sie war sich der Existenz der Eigentümer überhaupt nicht bewusst. Die, die aus glückseliger Unwissenheit erwachten, sahen sich vor eine harte Entscheidung gestellt: entweder auf die ‚Segnungen‘ der Einbettung in den Mastbetrieb zu verzichten und damit aus dem sozialen Kontext, der Herde, weitgehend herauszufallen, oder vorsätzlich Verrat an der eigenen Spezies zu begehen, indem man zugunsten seines Vorankommens andere Schafe vom Ausscheren abhielt. Wer beruflichen oder sozialen Erfolg haben wollte, beugte sich dem Druck. Die ganze Welt war eine verdammte Schaf-Farm, eingeteilt in nationale Pferche unterschiedlicher Größe.

Gehörte Kite zur Kaste der Eigentümer? Eher unwahrscheinlich‚ vermutete Zach. ‚Nutznießer‘ hatte auf der Visitenkarte des Schlossherrn gestanden. Seine Familie musste relativ weit oben bei den Schäfern rangieren. Als Nachkomme von William Braveheart Wallace in der dreißigsten Generation hatte er alten schottischen Adel beansprucht. Er hatte von seinem ‚Großvater und den verbliebenen drei Beatles‘ gesprochen, behauptete also, der Enkel Sir Pauls, genauer gesagt von Billy Shears alias William Shepherd zu sein. Shepherd, der Schäfer. Namen waren nicht immer Schall und Rauch.

„Dad?“

Zach schrak aus seinen Gedanken auf. Durch die Windschutzscheibe sah er die ersten Häuser am Stadtrand von Liverpool. Die Landschaft war vor seinen offenen Augen an ihm vorbeigezogen, ohne dass er sie wahrgenommen hatte. „Ja, was gibt‘s, Kiddo?“, fragte er zurück.

„Wer ist dieser Maxwell Knight?“

„Wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, war er der Leiter des MI-5, Inlandsgeheimdienst ihrer Majestät, der Königin von England. Man sagt, er sei das Vorbild für die M-Personalie in den James-Bond-Filmen gewesen. Wie es scheint, haben ihn auch die Beatles in einem Song verewigt.“

„Glaubst du, dass der alte Knacker auf dem Foto Paul McCartney diesen Hammer über den Schädel ziehen konnte?“

„Das halte ich für den am wenigsten wahrscheinlichen Hergang – es sei denn, er hatte Helfer, die Paul festhielten. Der mochte vom Unfall noch benommen gewesen sein, aber er war ein junger, kräftiger Mann von Mitte Zwanzig.“ Zach grübelte ein paar Augenblicke, bevor er weitersprach. „Ich werde mir immer unsicherer, was von all den… Fakten… überhaupt mit der Wirklichkeit Verbindung hat. In gewissem Sinne befinden wir uns vierzig Jahre jenseits von 1984. Das Wahrheitsministerium veränderte die Geschichtsschreibung zwar fortlaufend, aber es gab in Orwells Roman zu jedem Zeitpunkt nur eine gültige Version davon. Das war das Fundament der Herrschaft der Partei. In unserer Welt dagegen gibt es so viele nebeneinander stehende Wahrnehmungen und übereinander liegende Schichten der Realität, dass niemand sagen kann, was tatsächlich geschah.“

„Ja. Nach allem, was wir wissen, sagt keine Quelle ‚die Wahrheit, die ganze Wahrheit, und nichts als die Wahrheit‘. Gibt es sie überhaupt?“

„Sicher, und mit dem passenden geistigen Werkzeug lässt sie sich oft auch finden. Das beinhaltet, dass du neben den Medien auch deiner eigenen Wahrnehmung misstrauen musst, weil sie von dem Ozean an Unwissen, Filtern, Linsen, Falschinformationen, dysfunktionalen Denkmustern und mangelnder Weisheit geprägt wird, in dem wir alle schwimmen. Wenn du es allerdings in unbedarfter Weise, ohne das Werkzeug versuchst, wirst du paranoid. Dann rennst du dir in einem Irrgarten das Hirn blutig, dessen Wände aus Propaganda, Einbildung und Verschwörungstheorien gebaut sind. So kann man nicht leben.“

Veronica gluckste, als habe sie einen besonders fiesen Witz gehört. „Das erinnert mich an ein Zitat von Robert Anton Wilson aus der Einleitung zu seinem Buch Das Lexikon der Verschwörungstheorien. Er beschreibt so ungefähr, was du gerade erläutert hast, und kommt zu dem Schluss, dass Hunde wahrscheinlich die einzigen Leute sind, die dem Menschen überhaupt noch trauen, aber ihm sei aufgefallen, dass selbst die Hunde neuerdings Zweifel hegten.“

Ihr Vater warf den Kopf zurück und lachte lauthals. Veronica fiel mit ein. Es war wieder so weit: Sie sahen die Absurdität der Welt beide zugleich in völliger Klarheit. Der Kaiser war splitterfasernackt, eine Witzfigur mit Hühnerbrust, O-Beinen und einem winzig kleinen Schniedel. Sie steuerte den GT an den Straßenrand, damit sie sich in aller Hysterie ausschütten konnten. Humor befreite die belagerte Seele.


In den Rainford Gardens angekommen stieg Veronica zielstrebig die Treppen hinauf. Ein Gedanke ging ihr im Kopf herum, den sie am Tisch in Onkel Pauls Studierzimmer zu verifizieren suchte. Die Geschwindigkeit, in der der Rechner betriebsbereit war, überraschte sie noch immer, aber sie ließ sich nicht ablenken. Sie rief Quellen zu Freimaurerei und Numerologie auf, um einen Überblick zu bekommen. Die Darstellungen verwirrten sie mehr, als dass sie Orientierung gaben. Manche beschrieben die Freimaurer als einen Club schrulliger Männer, die Geld für wohltätige Zwecke sammelten und alten Damen über die Straße halfen. Andere stellten sie als sinistre Geheimniskrämer dar, die Regierungen und sonstige mächtige Organisationen unterwanderten. Wieder andere sahen in ihnen Diener Satans, die kleine Kinder in schwarzen Messen opferten. Sie waren in Orden beziehungsweise Logen organisiert, aber sie fand daneben zahlreiche Gruppen und Körperschaften, denen nachgesagt wurde, sie seien freimaurerische Frontorganisationen.

Sie suchte nach einer Verbindung zu den Beatles, wurde mit Treffern überschüttet, fand jedoch wenig, das konkrete Hinweise auf eine Mitgliedschaft gab. Freimaurersymbolik zog sich jedoch in auffälliger Häufigkeit unverhohlen von den frühesten Tagen bis zur Gegenwart durch. Albencover und Fotos waren regelrecht gespickt damit. Immer wieder tauchten außerdem Verbindungen zu Ordensgründer Aleister Crowley auf. Als sie entdeckte, dass er gleich zwei Mal auf dem Titelbild des Sgt.-Peppers-Albums vertreten war, stieß sie halb amüsiert, halb beunruhigt Luft durch die Nase aus. Dieses Ding schien wirklich der Dreh- und Angelpunkt in der ganzen Beatles-Geschichte zu sein.

Dann probierte sie, den Einstieg über die Numerologie zu erhalten, doch auch hier kam sie nicht weiter. Es gab verschiedene Systeme in verschiedenen Kulturen, die sich teilweise überlappten. Eng damit verbunden waren Kabbalistik, Astrologie, Tarot, Okkultismus und natürlich das Freimaurertum. Die Sache schien ihr alles andere als trivial. Ohne konkrete Anhaltspunkte würde sie Monate brauchen, sich tief genug einzuarbeiten.

Sie überlegte. Es forderte Überwindung, die Nachforschungen aufzunehmen, die sie nun in Angriff nahm. Veronica vermutete hier den direktesten Zugang zu der Frage, die sie beschäftigte: War der Wechsel geplant gewesen, und wenn ja, weshalb? Erst gestern hatte Maria sie mehrfach erwähnt, dass es im Grunde – besonders bei den Freimaurern – keine Zufälle gab. Sie hatte ausdrücklich darauf hingewiesen, ein Todesfall am 11.9. mache eine rituelle Opferung höchst wahrscheinlich; auch Billy Shears habe das in den Raum gestellt. Trotzdem war sie durch die Worte Mr Kites heute wie von einem Hammerschlag getroffen worden: „John und Paul hatten einen faustischen Handel abgeschlossen, und Paul hat den Preis dafür gezahlt.“

Die Detektivin holte tief Luft. Zunächst musste sie das Feld abstecken. Um was ging es konkret? Was verstand man unter einem ‚faustischen Handel‘? Die Suchmaschinentreffer lieferten mehrere alternative Bezeichnungen zu ihrem Suchbegriff, darunter ‚faustischer Pakt‘ und ‚Teufelspakt‘. Sie überflog natürlich den Wikipedia-Artikel. Auch die vierte Szene aus Goethes Drama Faust stand weit oben in der Liste. Veronica las ihn sorgfältiger. Faust, ein Mann von großer Neugier und noch größerem Ehrgeiz, geplagt jedoch von allerlei Ängsten, entsagt Gott, von dem er sich verlassen fühlt. Er verschreibt seine Seele dem Teufel, der in Gestalt des Dämons Mephistopheles in sein Haus eingedrungen ist und ihm verspricht:

Ich will mich hier zu deinem Dienst verbinden, / Auf deinen Wink nicht rasten und nicht ruhn; / Wenn wir uns drüben wiederfinden, / So sollst du mir das gleiche tun.

Veronica glaubte nicht an den Teufel. Sie vermutete in ihm einen Buhmann, den man benutzte, um Kindern Wohlverhalten beizubringen oder Narren die Furcht zu lehren. Trotzdem lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken, als sie die Zeilen las. Goethes detailversessene Beobachtungsgabe der menschlichen Psyche verdankte das Werk seine bleibende Faszinationskraft über zwei Jahrhunderte hinweg. Hatte er den Teufel für wirklich gehalten? Oder war Mephisto lediglich eine allegorische Figur, ein Symbol für… was?

Ihr fiel auf, dass Mephisto Fausts Seele forderte, nicht sein Leben. Das mochte eine vielleicht entscheidende Differenz zum Fall McCartney darstellen. Mephisto konnte warten, denn egal, wie viele Jahre Faust am Leben blieb, gegen die Ewigkeit des Jenseits blieben sie verschwindend gering. Die Mörder Pauls schienen es dagegen eilig gehabt zu haben. Das Opfer durfte nur 24 Jahre alt werden. Veronica fütterte die Suchmaschine nun mit Beatles & Faust, dann mit Beatles & Teufelspakt. Sie stieß auf einen Artikel, der sie regelrecht elektrisierte. Mit einer Deutlichkeit, die kaum zu wünschen übrig ließ, legte er John Lennon die Worte in den Mund: „Ich habe meine Seele an den Teufel verkauft“. Als Quelle gab er ‚Joseph Niezgoda‘ an.

Es dauerte nur Sekunden, bevor sie auf eine ausführlichere Referenz stieß: The Lennon Prophecy, ein Buch, das „eine Neuprüfung der Todeshinweise bei den Beatles“ vornahm. Das musste eigentlich im Bestand des Ladens oder einer der beiden Hausbibliotheken vorhanden sein. Sie schaute sich im Raum um. Wo war die Musikabteilung? Ah, dort drüben. Sie ging ans Regal, überflog die Titel auf den Buchrücken und hatte den zweihundertseitigen Band schnell gefunden. Sie hoffte, dass er ein Register besaß – Uff! Glück gehabt. Die Zahl der Verweise auf Teufel, Satan und Faust war hoch, doch sie hatte erneut Glück. Bereits einer der ersten Indexeinträge, die sie nachschlug, führte sie zum Zitat. Laut Niezgoda hatte John Lennon es Mitte der 1960er auf dem Höhepunkt der Beatlemania seinem Freund Tony Sheridan gegenüber geäußert. Der Autor gab sogar eine Quelle an: Ray Colemans Definitive Lennon-Biografie, Seite 348. Die reinste Schnitzeljagd! Stünde die Bibliothek ihres Onkels nicht in Griffweite, könnte eine saubere Recherche Tage oder Wochen dauern. Sie stellte den Niezgoda zurück an seinen Platz und überflog die Buchrücken erneut.

Da! Sie zog den Coleman heraus, schlug die angegebene Seite auf, und… konnte das Zitat nicht finden. Sie las die gesamte Seite mehrfach, überflog auch den Text davor und danach – nichts! Und nun? Hatte Niezgoda fantasiert? Sie prüfte das Impressum des Buchs. Nach einer Weile bemerkte sie endlich, dass sie die Ausgabe eines anderen Verlages in Händen hielt. Nun warf sie einen Blick ins Register; der Verweis dort führte sie zu einer gänzlich anderen Seitennummer, aber hier war es: Um den unglaublichen Erfolg seiner Band zu erklären, sagte John zu Tony: „Ich habe meine Seele an den Teufel verkauft.“ Er solle den Satz angeblich nur nebenbei geäußert haben, aber Tony habe sofort verstanden, was John meinte. Woher das Zitat stammte, gab Coleman nicht an. Aus Aussagen an anderer Stelle wurde klar, dass der Autor den Beatles häufig persönlich begegnet war, und so konnte Veronica nur vermuten, dass Coleman als Ohrenzeuge berichtete. Der sechszeilige Absatz, der die Begebenheit beschrieb, stand darüber hinaus in keiner Kontinuität mit den umliegenden Teilen des Kapitels, in dem es um ‚Geld‘ ging. Ob John Lennon den Teufel aus Jux, im übertragenen Sinn oder im Ernst erwähnte, ließ sich so nicht feststellen. Nur im Zusammenhang mit den anderen Indizien trug der isolierte Datenpunkt zum Entstehen eines Bildes bei. Dass zahlreiche weitere Musiker und Schauspieler von Bob Dylan über Jimmy Page, James Hetfield und Katie Perry bis Eminem teils in identischen Worten die Quelle ihres Erfolges benannten, wie Veronica herausfand, verlieh John Lennons Zitat jedoch ein höheres Gewicht.

In Gedanken versunken saß sie im Pilotensmöbel an Pauls Arbeitstisch und überlegte, wie sie weiter vorgehen sollte. Da vernahm sie eine Stimme aus dem unteren Stockwerk, deren fröhlicher Klang ihr Gefühl von Bedrückung zu verspotten schien. Daher verstand sie zunächst nicht, was sie hörte. Als sie sich auf das Geräusch konzentrierte, drang schließlich zu ihr durch, dass jemand lachte; völlig hysterisch lachte.

24) Maxwells Silberhammer

„Mr Ziegler,“ fuhr Kite fort, „vielleicht können Sie mir in Ihrer Eigenschaft als Detektiv behilflich sein.“

Zach schaute erstaunt auf.

„Natürlich habe ich Erkundigungen über Sie eingezogen. Wer kauft schon gern die Katze im Sack?“

„Leute, die Manuskripte in Koffern erwerben?“, flachste Veronica.

„Erkundigungen, soso“, sagte Zach. „Nun, es kommt darauf an, wie der Fall beschaffen ist. Worum geht es und was erwarten Sie von mir?“

„Es geht um ein verschwundenes Dokument.“

„Ich bin nicht sicher, dass wir schon jetzt bereit sind, Memorabilien aufzu…“

„Es handelt sich um eine Fotografie, die mir im Verlauf eines unserer Familientreffen entwendet wurde; vermutlich ein Scherz, der die Grenzen des Zulässigen überschritt und sich daher kaum von allein in Wohlgefallen auflösen wird. Der Kreis der primär Verdächtigen besteht somit aus den Personen, die ich zuvor aufgezählt habe. Ziehen Sie Erkundigungen ein und beschaffen Sie entweder das Foto oder einen dienlichen Hinweis.“

Zach ging die Liste im Geist durch. „Einschließlich Ihnen bestand die Familie bis zum Tod meines Stiefbruders aus zehn Personen, korrekt?“

„Richtig. Ihn und mich können wir ausschließen, also bleiben acht.“

„Wen wir ausschließen können, müssen Sie mir überlassen, andernfalls lehne ich den Auftrag ab. Ich brauche außerdem weitere Informationen: Von welchem Ort, welchem Datum, welchem Zeitfenster, welchem Fotomotiv reden wir? Worin bestanden die Sicherheitsvorkehrungen für das Objekt und wie wurden diese überwunden?“

Der Hüne schwieg einen Moment. Er zog eine Grimasse, kratzte sich mit einem perfekt manikürten Finger an der Nase, dann antwortete er: „Sie werden keine Ermittlungen gegen mich durchführen. PC31 scheidet aus, weil die Tat in genau jener Nacht geschah, als er gestorben ist. Ich hatte anlässlich des Sucherfolgs kurzfristig ein Treffen hier im Schloss anberaumt. Er sollte den Koffer mitbringen, aber er traf nie ein. Wir zeigten uns gegenseitig einige andere Stücke, die wir in der letzten Zeit erworben haben, darunter auch das Foto – ein Motiv aus der Pathologie, das normalerweise in einem Safe aufbewahrt wird; mehr möchte ich darüber nicht sagen. Aus der geplanten Feier entwickelte sich ein weintrunkenes Fest, das bis in die frühen Morgenstunden dauerte. Kurz nach ein Uhr begaben Kirk und ich uns nach oben. Als ich gegen zehn Uhr wieder erwachte, waren bis auf Kirk alle Gäste und das Foto verschwunden.“

„Kirk?“

„Die Duchess of Kirkcaldy.“

„Ach ja. Wenn ich die Lage recht einschätze, werden Sie vermutlich auch zu den Vorgängen da ‚oben‘ keine näheren Angabe machen wollen.“

„Wie genau müssen Sie es wissen?“

„Vergessen Sie‘s. Ich komme vielleicht darauf zurück, falls die Ermittlungen steckenbleiben. Was ist Ihnen meine Arbeit wert?“

„Berechnen Sie Ihren üblichen Satz. Falls es mit Ihrer Hilfe gelingt, das Foto zurückzuholen, verdoppelt das Ihr Gehalt.“

Zach und Veronica verständigten sich wortlos. Dann reichte der Detektiv Kite die Hand und sagte: „Einverstanden. Ich halte Sie wöchentlich auf dem Laufenden.“

„Täglich. Geben Sie dem höchste Priorität. Ich erwarte, dass die Frage in einer Woche vom Tisch ist.“

„Wie Sie wünschen.“

Der Schlossherr zeigte einen zufriedenen Gesichtsausdruck. Er hob sein letztes noch gefülltes Saftglas. „Auf Ihr Wohl.“

Veronica und Zach prosteten zurück. „Auf Ihres.“

Kite erhob sich. „Lassen Sie uns zur Feier des Tages Ihren Wunsch erfüllen. Folgen Sie mir.“

Er führte sie zurück durch den Salon mit dem fünfeckigen Tisch und den schwarzen Sesseln bis zur Tür neben dem gegenüberliegenden Kamin. Sie traten hindurch. Der Grundriss des Saals entsprach dem des Speisesalons, allerdings wurde dieser hier als Bibliothek genutzt. „Fühlen Sie sich wie zuhause“, sagte Kite. Seine linke Hand wies im Halbkreis in den Raum. „Ich bin in zwei Minuten wieder bei Ihnen.“ Er verließ sie durch eine weitere Nebentür am anderen Ende. Zach und Veronica ignorierten den Drang, das während des Essens Gehörte zu diskutieren oder auch nur die Backen zu blähen. Sie mussten davon ausgehen, dass hier, genau wie nebenan, irgendwelche Instrumente auf sie gerichtet waren. Die beiden musterten Boden, Wände und Decken in gespielt gelangweilter Haltung, gaben vor, einmal dieses Gemälde, einmal jenes Buch genauer zu inspizieren.

Ohne besondere Eile schlenderte Zach zu einem Stück hinüber, das an einer Holzvertäfelung zwischen zwei Bücherschränken befestigt war. Er hatte die Form wiedererkannt, ohne sie gleich zuordnen zu können. Das Ding sah aus wie eine mittelalterliche Streitaxt oder eine Art Hellebarde. Am oberen Ende eines armlangen Stiels war ein kreuzförmiges Werkzeug montiert. Eine Seite, kegelförmig, nahm den sich leicht verjüngenden Stiel auf, der linke Flügel bestand aus einem spitzen, handlangen Dorn; oben lief das Objekt in einer dolchartigen Spitze zu. Statt einer Axt formte der rechte Flügel einen Hammer mit gespreizten Ecken. Die Flügel des Kreuzes waren an einem Würfel befestigt, der, wie der Rest der Waffe, wahrscheinlich aus Silber oder versilbertem Metall bestand. Der Stiel war aus einem edlen Rotholz gefertigt – keine Kriegswaffe, sondern für zeremonielle oder symbolische Zwecke gefertigt. Sie sah gefährlich genug aus. Doch wer mochte wissen, welche Schäden man mit einem ernst gemeinten Äquivalent anrichten konnte?

Zachs Blick glitt an dem Ausstellungsstück hinunter. Rechts unterhalb, etwa auf Höhe seiner Schultern, befand sich eine gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografie. Sie zeigte ein Motiv, das er schon einmal gesehen hatte – in einem anderen Wartezimmer, nur wenige Tage zuvor. Nach all den verstörenden Informationen, die er seither aufgenommen hatte, kam es ihm wie ein halbes Leben entfernt vor. Ein formell gekleideter älterer Herr hielt eine auf ein Samtkissen gebettete historische Waffe, vielleicht eine Streitaxt oder einen Kriegshammer. Ihm gegenüber stand John Lennon mit hängenden Schultern, sichtlich übernächtigt. Bei näherer Betrachtung konnte es sich um dasselbe Objekt handeln, das über dem Bild hing. Es war sogar wahrscheinlich, andernfalls ergab die Kombination aus Foto und Ausstellungsstück keinen Sinn. Seine Überlegungen bestätigte die dezente Texttafel, die links, gegenüber dem Foto, unterhalb der Waffe angebracht war. Auf ihr stand:

„Sir Maxwell Knight übergibt John Lennon den McCartney- biétl. 9. November 1966“

Zachs Kinnlade fiel nach unten.

„Faszinierend, nicht wahr?“, ertönte hinter seiner linken Schulter die Hyänenstimme des Schlossherrn.

Der Detektiv zuckte zusammen. Er drehte sich um und trat einen Schritt zur Seite. Sein rechter Zeigefinger deutete auf den Hammer. „Was, zur Hölle, ist das da?“

Kite setzte ein sardonisches Lächeln auf. „Wie die Inschrift angibt, handelt es sich um einen biétl. Das Wort entstammt dem Altenglischen und bezeichnet einen Hammer; in diesem Fall ein rituelles Objekt, das für Beatles-Sammler mit okkultem Wissen um die Band so etwas wie den heiligen Gral darstellt. Ist Ihnen das Datum aufgefallen?“

„Neunter November – 9/11. Wollen Sie andeuten, die Waffe stünde im Zusammenhang mit McCartneys Ableben? Ich dachte, er sei bei einem Autounfall am 11.9.1966 gestorben?“

„So geht die Rede. Sie geben die offizielle Version der Beatles-Geschichte für diejenigen wieder, die Gründe haben, der für die breite Masse publizierten offiziellen Geschichte keinen Glauben zu schenken. Die Kombination aus elf und neun hat numerologisch eine ganz besondere Bedeutung. Wenn Sie die Weltgeschichte daraufhin abklopfen, werden Sie in ihrem Zusammenhang zahlreiche der wichtigsten Ereignisse stattfinden sehen: Am 9.11.1918 die Revolution gegen den deutschen Kaiser, die den Krieg zugunsten der Alliierten beendete, selbigen Tags 1989 die Öffnung der Berliner Mauer, die für den Fall der kommunistischen Regime in Osteuropa von besonderer Bedeutung war; am 11.9.1973 begann mit dem Putsch General Pinochets gegen den chilenischen Präsidenten Salvador Allende die Übernahme der Welt durch den Neoliberalismus. Dies nur, um ein paar der bekannteren Beispiele zu nennen.“

„Wie kommt ein dem gegenüber unbedeutender Musiker ins Spiel?“, fragte Veronica, die sich den beiden zugesellt hatte.

„Der beliebteste Musiker innerhalb der erfolgreichsten Musikgruppe der Welt“, verbesserte Kite, „und damit ein wesentliches Element in der Transformation familienbasierter Nationen zu den Ansammlungen hyper-individualistischer Atome, wie wir sie heute kennen. Die zersetzende Wirkung der Rockmusik, allen voran die der Beatles und der Stones, auf herkömmliche Moralvorstellungen wird selbst von ihren ärgsten Kritikern gern unterschätzt. Diese Bands propagierten die Lockerung der Sexualmoral, untergruben den Glauben an Gott und staatliche Institutionen, popularisierten den Missbrauch von Hasch und LSD, bagatellisierten Satanismus, pulverisierten jede klare Vorstellung davon, was Ethik, Philosophie oder Kunst zu leisten hatten, und sie beeinflussten ein Milliardenpublikum. Paul McCartney verdiente es, Luzifer an jenem besonderen September-Datum übergeben zu werden.“

„Also gab es keinen Unfall“, schloss Zach. „Er wurde ganz einfach erschlagen.“

„Formulieren wir es so: Wenn es um historische Daten geht, überlässt man nichts dem Zufall. Maxwells Silberhammer sorgte dafür, dass Paul wie vorgesehen starb.“

Veronica drehte den Kopf der Waffe zu und verzog angeekelt das Gesicht. „Ich glaub‘, ich kotz‘ gleich!“, nuschelte sie fast unhörbar.

„Max Knight übergab das gute Stück, desinfiziert und von allen Spuren gereinigt, zwei Monate später an John… als Andenken beziehungsweise als Warnung. Aber wer weiß: Vielleicht ist auch dies nur eine wohlfeile Geschichte, eine Fassade vor einer Fassade vor einer Fassade… Kommen Sie, ich zeige Ihnen, was Sie sehen wollten.“

Kite legte den dicken Lederordner, den er in der Hand gehalten hatte, zwei Regalabteile entfernt auf ein Lesepult. Er schlug ihn an einer mit einer Seidenschleife markierten Stelle auf, ungefähr nach einem Drittel der Seiten. „Nicht anfassen! Lesen Sie gern langsam, sorgfältig, aber Sie werden keine weitere Seite zu Gesicht bekommen. Faksimiles dieser Textstelle kann man an mehreren Adressen im Internet finden, wenn man weiß, wonach man sucht. Es sollte Beweis genug sein, dass wir das Original vor uns haben.“

Zach trat näher. Die Seite war einseitig eng mit Schreibmaschinenschrift bedeckt. Er schätzte den Text auf etwa fünfhundert Wörter. Das Papier war fleckig und vergilbt. Am breiten oberen Rand trug es von Hand aufgetragen die Inschrift ‚146 –‘. Mehr als ein Drittel der Zeilen umrahmte eine Linie. Das von ihr gebildete Feld war doppelt durchgestrichen. Weitere Ergänzungen und Streichungen in Handschrift verliehen der Seite den Entwurfscharakter, den man von einem Buchmanuskript erwartete.

Der Detektiv begann zu lesen: Ein gewisser George Kelly und seine Frau seien wegen etwas, das Evans ihnen im Auftrag von Brian – Epstein? – sagte, unglücklich und verließen Cavendish. Am folgenden Tag sei Paul eingetroffen; alle seien zugegen gewesen – es folgte eine Liste von Vornamen – und seien erstaunt und aufgeregt gewesen… ‚Sie haben in Nairobi ganze Arbeit geleistet‘, las er, ‚Nun ging es also wirklich los. Es fühlte sich an, als ob wir ihn schon immer gekannt hätten.‘ Darauf folgte das durchgestrichene Feld von circa zwanzig Zeilen, in dem von weiteren Reaktionen der Anwesenden berichtet wurde. Unter anderem ging es um Strawberry Fields Forever, das John ihm, später wohl, rückwärts vorgespielt hatte. ‚Welch eine Art, eine Geschichte zu erzählen‘, begeisterte Evans sich.

Dem durchgestrichenen Feld folgten zuletzt sieben Zeilen. Hier erwähnte er eine Klinik in Kenia, zu der er Paul begleitet habe, und dass dieser nun einen falschen Oberlippenbart brauche. Dann brach der Text mitten im Satz ab, um auf der folgenden Seite seine Fortsetzung zu finden. Ohne nachzudenken hob Zach die Hand, um umzublättern. Sanft drückte der Hüne seinen Arm nieder.

„Das sollte Motivation genug sein, den Fab Store wieder zu eröffnen, Mr Ziegler. Nehmen Sie mein Angebot an; eine Million Pfund, bar, steuerfrei.“ Kite schaute ihm eindringlich ins Gesicht. „Kommen Sie, Sie haben heute enorm viel Neues erfahren. Lassen Sie uns in ein oder zwei Wochen wieder treffen, wenn Sie alles verarbeitet haben. Dann wissen wir außerdem mehr, was aus dem verschwundenen Foto geworden ist.“ Er legte Zach eine Hand in den Rücken und führte ihn sanft zur Haupttür in der Mitte der langen Seite des Saals. Der Detektiv, erschüttert, leistete keinen Widerstand.

23) Das Lachen der Hyäne

Kite hob beschwichtigend die Hände. „Immer mit der Ruhe. Einer der Gründe, weshalb ich Sie zu mir gerufen habe, bestand darin, Sie über den Status der Auftragsabwicklung zu informieren. Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung. Ich befinde mich im Besitz des Evans-Manuskripts und werde selbstverständlich meinen Teil der Abmachung mit PC31 – Ihrem Verwandten Paulus Campbell – erfüllen.“

Wieder preschten sowohl Veronica als auch Zach gleichzeitig mit Fragen vor. „Was soll denn das für ein Name sein, PC31?“, mokierte sich die junge Frau, während ihr Vater zu wissen verlangte, wann und in welcher Form der Schlossherr die Million Pfund Sterling, die im Warenbuch verzeichnet war, zu vergüten gedachte.

„Die leichte Frage zuerst: Es mag charmanter klingende Namen geben. Da Mr Campbells Initialen wie auch seine ermittlerische Tätigkeit zu denen des Police Constable Nr. 31 aus Maxwell‘s Silver Hammer passten, blieb das Kürzel als Spitzname an ihm hängen; zu seiner Ehre, wie ich finde. Die Million Pfund sollen Sie selbstverständlich erhalten – in bar. Ich bin fast der Überzeugung, dass das Buch ein Vielfaches davon wert ist. Aber Abmachung bleibt Abmachung. Dazu gehörte übrigens, dass das Werk nicht in den Papieren des Ladens auftaucht. Leider hat PC diese Abmachung gebrochen, zum Glück hat er dabei keinen Schaden angerichtet, denn die Natur des Werks hat er dankenswerterweise zu beschreiben unterlassen. Ohne den Einbrecher hätten wir uns jedoch eine Geschichte ausdenken müssen, die den Verbleib des Dokuments erklärt.“

„Sie erwarten von mir, dass ich eine Million Pfund Schwarzgeld annehme? Deklarieren kann ich sie ja wohl kaum, wenn Sie sich weigern, die Empfangsbestätigung für das Objekt zu zeichnen. Ganz nebenbei verwickeln Sie mich in die Behinderung amtlicher Ermittlungen, denn die Polizei denkt noch immer, es sei gestohlen worden.“

„Ich erwarte von Ihnen nur eines: dass Sie meine Erläuterungen gegenüber Dritten als nicht gesagt behandeln. Mal Evans‘ Erinnerungen besäßen enorme Sprengkraft, falls sie je ans Licht der Öffentlichkeit gelangten. Es wäre besser, sie blieben für immer von der Bildfläche verschwunden – oder zumindest so lange, bis alle Beteiligten in den Himmel gefahren sind.“

„Oder in die Hölle“, konnte Veronica sich nicht verkneifen.

Kite lachte herzhaft. „Ihr scharfes Mundwerk gefällt mir, Veronica. Passen Sie auf, dass Sie es sich nicht eines Tages verbrennen. Ich kann nur noch einmal eindringlich davor warnen, mit der Geschichte hausieren zu gehen“, sagte er. Nach einer Sekunde: „Die Familie ist natürlich ausgenommen. Desmond gehört, nebenbei gesagt, auch dazu.“

„Desmond?“, fragte Zach, der unwillkürlich an Maria Borghese denken musste. Gestern hatte sie den Chef der Mordkommission Desmond genannt. ‚D. Wickers‘ stand auf dessen Brustplakette, erinnerte sich Zach.

„Desmond Jones alias Donald Wickens, langjähriger Leiter des Polizeidistrikts und derzeit außerdem Leiter der Abteilung für Tötungsdelikte“, bestätigte der Hüne die Gedankengänge des Detektivs. „Guter Mann.“

„Wer ist sonst noch Mitglied im Club?“, erkundigte sich Zach.

„Haben Sie Horse und Semolina schon kennengelernt?“ Zach nickte, Veronica legte den Kopf schief. Daher fuhr Kite fort: „Der Gentleman und die Putze mit dem Superhirn. Er sammelt audiophiles Material, sie ist ständig auf der Suche nach Büchern und Artikeln; auch gute Leute, aber leider moralisch nicht flexibel genug. Dann wäre da noch Dr Robert, Pauls Anwalt; ich denke, den müssten Sie ebenfalls kennen.“ Wieder nickte Zach. „Er sammelt seltenes Bildmaterial. Molly Jones; sie hat sich auf Gegenstände aus dem Besitz der Mädchen im Beatles-Umfeld spezialisiert. Rocky Raccoon sucht nach den Musikinstrumenten aller möglichen Gruppen, die man auf Videoaufnahmen sieht. Mr Mustard liebt Autogrammkarten, Tickets, handgeschriebene Textblätter und solcherlei; er hat die Suche nach dem Koffer mitfinanziert, denn es müsste jede Menge Material für ihn dabei gewesen sein. Informieren Sie ihn unbedingt über den Zugang. Fehlt noch jemand?“ Kite überlegte kurz. „Ah, natürlich! Die Duchess of Kirkcaldy. Sie fängt gerade erst zu sammeln an. Seltenes Vinyl, Kleidungsstücke. Sie hat noch kein klares Profil. Ich helfe ihr, wo ich kann.“

Während Kite sprach, trug die Dienerschaft bereits den Hauptgang auf, dessen kunstvolles Arrangement Zach im Geiste in sinntragende Bestandteile zu zerlegen versuchte. Er konnte gefüllte Teigtaschen identifizieren, ein Püree – vermutlich Kartoffeln, eventuell mit Möhren angereichert und mit Zwiebeln geschmälzt –, ein Soße – Sauce, verbesserte er sich –, die mit Preiselbeeren angemacht sein konnte, sowie diverse Salatblätter unterschiedlicher Herkunft. Gesegnet sei, was satt macht, dachte er bei sich und koordinierte widerwillig seine Mund- und Handbewegungen für die Nahrungsaufnahme im Hause kultivierter Gastgeber.

Nach Abschluss des Gangs entspannten sich alle in eine etwas bequemere Haltung und tranken von dem Rotwein, der ebenfalls aufgetischt worden war. Diesmal beendete Kite die Stille, indem er sich nach den Plänen der Zieglers erkundigte: „Sie werden den Laden doch weiterführen, nicht wahr?“, fragte er. „Es wäre eine Schande, ihn zu schließen. Aus meiner Sicht stellt er kulturell eine ebenso wichtige Einrichtung dar wie das Museum. Er trug schon einiges dazu bei, das Erbe der berühmtesten Söhne der Stadt zurückzuführen beziehungsweise vor Ort zu halten.“

Zach räusperte sich. „Wir erwägen diese Option ernsthaft, seit Mr Bishop und Signora Borghese uns ihrer tatkräftigen Mithilfe versichert haben. Der Nutzen unserer Aktivität für Liverpool entzieht sich dagegen meinem Verständnis. Was hat die Stadt davon, wenn wertvolle Kulturgüter in den Privatsammlungen einiger reicher Bürger verschwinden, wo außer den Eigentümern niemand sie genießen kann?“

„Mein lieber Mr Ziegler,“ entgegnete Kite jovial, „Sie betrachten die Angelegenheit durch die Linse des niederen Volkes. Auch die Oberschicht interessiert sich für Kultur; ich möchte sogar meinen: ungleich mehr, und ungleich mehr der Bedeutung der Objekte bewusst. Ihre Aktivität, wie sie es nennen, erzeugt Umsatz, der das örtliche Geschäft generell ankurbelt und über Steuerbeiträge die öffentlichen Einrichtungen finanziert. In einigen Jahrzehnten werden viele der Sammlungen an den Staat überführt werden, der sie zur Dokumentation der Landeshistorie benutzen wird. Kulturgüter durchlaufen die Schichten der Gesellschaft also in ähnlicher Weise wie die Segnungen der Trickle-Down-Economy.“

Veronica, die äußerlich ruhig wirkte, doch innerlich kochen musste, wie ihrem Vater keinesfalls entging, sagte kalt: „Wenn der Sicherheitsapparat eines Landes Akten für fünfzig, siebzig oder gar einhundertzwanzig Jahre wegsperrt, wie erst vor wenigen Jahren in Deutschland geschehen, dann ist die Verschlussdauer daran bemessen, wann die Dokumenteninhalte an Relevanz verlieren. Mit anderen Worten: Wenn niemand mehr einen nennenswerten Nutzen aus den erhobenen Fakten ziehen kann, wird den Historikern die Gist davon eingeschöpft; und beim Leser von Geschichtsbüchern kommt davon so gut wie gar nichts mehr an. Der Vergleich mit der Trickle-Down-Economy ist vielleicht gar nicht so schlecht. Ich würde sie nur anders nennen.“

„Ach ja? Sollte es tatsächlich eine bessere Bezeichnung dafür geben?“, neckte der Hüne.

„Oh ja! Ich würde sie Piss-On-You-Economy nennen. Oben kippt man den edlen Wein hinein, unten kommt nach angemessener Wartezeit ein Bruchteil davon wieder ans Tageslicht – gelb und stinkend, aber immerhin…“

Zach verschluckte sich fast an dem Wein, den er gerade genippt hatte. Ihr Gastgeber brach wieder in sein seltsam hohes Lachen aus. ‚Hyänenhaft‘ war das Wort, das Zach gesucht hatte. Hyänenhaft.

„Brillant!“, sagte Kite. „Lassen Sie mich Ihre Aussage in lediglich einer Nuance zurechtrücken. Während sie de facto korrekt beschreibt, was in der Regel geschieht, besteht die Absicht dahinter nicht darin, dem gemeinen Volk etwas vorzuenthalten, sondern Schaden von seiner Führung abzuwenden.“

Veronicas Vater bewunderte die rasiermesserscharfe Rhetorik, die seine Tochter heute zum Besten gab. Ob es sie Mut kostete, so in die Konfrontation zu gehen, wagte er zu verneinen. Sie war noch jung und idealistisch. Jemand wie dieser stinkend reiche Kite, der meinte, über dem Rest der Gesellschaft zu stehen, konnte auf junge Frauen nur entweder höchst erotisch oder aber ekelerregend wirken. Ließ sich der Hüne von ihrer Ablehnung beeindrucken? Zach zweifelte daran. Dennoch nahm er die Gelegenheit wahr, sich als der freundlichere Teil ihres Gespanns zu präsentieren. Womöglich konnte er so dem Mann weitere Informationen entlocken. „Wäre es uns vielleicht möglich, einen Blick auf Evans‘ Werk zu werfen? Nachdem wir die abenteuerliche Geschichte seines Verschwindens studiert haben, muss Ich zugeben, dass mich die Neugier treibt.“

„Tut mir leid,“ entgegnete Kite, „das geht nicht. Wie ich schon sagte, muss es verschwunden bleiben.“

„Für den Rest der Welt. Aber wir haben ja Kenntnis über den Verbleib des Objekts. Und sind wir denn kein Teil der Familie? Ich fände es ungeheuer motivierend für unsere Arbeit, das Buch einmal in Händen zu halten.“

Kite überlegte. „Mir kommt da eine Idee…“

Wieder betraten vier Diener den Raum, diesmal um die Nachspeise zu servieren. Zach gruselte es vor Mousse-au-chocolat, die er zunächst glaubte identifiziert zu haben, doch dann stellte sich die braune Masse als Schokoladenpudding deutscher Machart heraus. Die Diener übergossen sie mit im eigenen Saft erhitzten Erdbeeren und stellten jedem der Anwesenden drei kleine Gläser mit unterschiedlichen Fruchtsäften daneben.

Nachdem sie gegangen waren, sagte Kite: „Ob Sie Teil der Familie werden, entscheidet die Familie. Ich würde Ihr Verhältnis zu ihr als ‚befreundet und in Aufnahme befindlich‘ beschreiben. Da Sie, genau wie Ihr verstorbener Verwandter, keine Sammler sind, möchte ich meine Zustimmung von zwei Bedingungen abhängig machen: Erstens, Sie nehmen die vereinbarte Summe für das Manuskript wie besprochen entgegen; zweitens, Sie eröffnen den Fab Store wieder. Es versteht sich außerdem von selbst, dass Ihre Zugehörigkeit mit Verpflichtungen einhergeht. Lassen Sie sich über diese von Semolina oder Horse informieren.“

„Mir war nicht bekannt, dass es einen formellen Akt erfordert. Ich dachte, Sie verbindet eine gewisse… Liebe für die gemeinsame Sache.“

„Ohne Frage! Nur handelt es sich dabei nicht um romantische Gefühle, die einmal kommen und dann wieder gehen, sondern um agapé. Agapé bleibt ein ganzes Leben erhalten. Zu gewissen Gelegenheiten stellen wir unsere Verbundenheit immer wieder unter Beweis.“ Mit ironischem Grinsen in Veronicas Richtung fügte er hinzu: „Adel verpflichtet.“

Die junge Frau ignorierte die Stichelei. Ohne Anzeichen, dass sie sie überhaupt wahrgenommen hatte, löffelte sie den Pudding und warf ihrem Vater gelegentlich einen Blick zu.

22) Auf die Fabelhaften Sieben

Zach ließ seinen Blick ungeniert durch den ganzen Raum schweifen. „Sehr geschmackvoll!“, sagte er, während er eines der alten Gemälde anstarrte. Sein Kopf wippte, als bestätigte er das Gesagte, signalisierte Veronica jedoch, dass er die Kamera nun ebenfalls entdeckt hatte. Sie befand sich an einem der Zweigpunkte des Maßwerks, so dass sie im krassen Gegenlicht des Himmels über Wallace Castle kaum zu sehen war. In der Regel würde die Aufmerksamkeit von Besuchern ohnehin durch das wundervolle Panorama abgelenkt werden. Das geschulte Auge der Detektivin täuschte man so leicht jedoch nicht. Sie beherrschte die meisten Tricks, die auch er kannte. Innerlich grinste er. Wo eine Kamera hing, konnte ein Mikrofon nicht weit fort sein. Vielleicht gab es welche nahe den offenen Kaminen, aber der erfolgversprechendste Platz war offensichtlich der fünfeckige Tisch in der Mitte des Raumes.

Dieser Meinung schien auch Veronica zu sein. Sie schlenderte auf einen der Sessel zu und ließ sich hineinplumpsen. Ihre kurze kanariengelbe Jacke und der gleichfalls gelbe knielange Rock kontrastierten derart stark mit dem schwarzen Polster, dass es fast das Auge beleidigte. Zach mit seinem dunkelblauen Maßanzug passte sich besser in die Szene ein. Gemächlich ließ er sich zwei Sitze weiter nieder.

Die Tür ging auf. Der Butler trat ein. Er trug ein Tablett, darauf eine Kristallkaraffe voll Saft, zwei Gläser und zwei Schälchen, eines mit Snacks und eines mit Edelpralinen. Er stellte das Tablett an der ihnen gegenüber liegenden Ecke des Tisches ab, schenkte die Gläser jeweils halb voll und servierte sie ihnen zusammen mit den Snacks. Dann verließ er den Raum wieder.

Der Saft ähnelte farblich ihrem Auto, jedoch nicht kräftig genug, um tatsächlich von Orangen stammen zu können. Veronica roch daran. Ihre Brauen schossen nach oben. Sie nippte ein wenig und bleckte die Zähne, gab jedoch keinen Kommentar ab. Sie nahm ein paar Snacks und lehnte sich zurück. Zach, von Natur aus neugierig, musste sofort von dem Getränk kosten. „Wow!“, stieß er nach dem ersten Schluck leise hervor. „Steile Mischung! Ich schmecke Erdbeeren – und…“ Nun roch auch er daran.

„Maracuja“, ergänzte Veronica, als ihr Vater keinen weiteren Tip abgab. „Frisch gepresst. Um diese Jahreszeit. Trotzdem: eine tolle Kombination“, sagte sie so leise, dass man sie kaum hören konnte. Sie formte mit der Rechten eine Faust und hämmerte kraftvoll mit den Knöcheln auf die Tischplatte. Zach grinste breit. Wer immer am anderen Ende der Leitung hing, hatte sich vermutlich gerade die Kopfhörer von den Ohren gerissen.

Sie verfielen in Schweigen. Zach setzte sich bequemer. Er gab Veronica das Handzeichen für ‚Spiel‘ und hob eine Braue. Sie bejahte. Er zeigte an: „Fünf.“

Sie knabberte weiter an den Snacks – das einzige Geräusch erzeugend, das im Raum zu hören war –, blieb ansonsten jedoch bewegungslos sitzen. Nach vier Minuten und fünfzig Sekunden signalisierte sie: „Zeit ist um.“

Zach schaute auf die Uhr. Seine Finger antworteten: „Zehn Sekunden fehlen.“

Sie: „Gut genug. Jetzt du.“ Sie zeigte „Elf.“

Zach rührte sich nach exakt elf Minuten und einer Sekunde wieder. Veronica gab ihm die Differenz bekannt. Sie salutierte seiner Präzision. Er deutete an ihr vorbei auf einen der Feuerplätze. Sie drehte den Kopf und blickte hinüber. Auf dem Sims dort stand eine kitschige Porzellanfigur, die eine Uhr hielt. Erbost schaute sie zu Zach zurück. Dieser öffnete den Mund zu einem stillen Lachen. Die Lektion hatte gesessen. Dass sie die Kamera entdeckt hatte, war ein Meisterstück gewesen. Doch auch weniger sinistre Dinge konnten von Bedeutung werden. Es war besser, man gratulierte sich nie zu früh.

Nach etwas mehr als weiteren fünf Minuten öffnete sich die Tür. Eine sportlich gebaute Gestalt in den Mitt-Dreißigern, etwa 1,90 Meter groß, glattrasiert, mit schulterlangem rotblondem Haar, trat durch die Öffnung. Zügig kam er auf den Tisch zu und grüßte: „Mr Zachary Ziegler! Wie schön, Sie kennenlernen zu dürfen!“

Zach erhob sich aus dem Sessel und griff nach der ausgestreckten Hand des Hünen. Er wunderte sich über die ungewöhnlich hohe Stimme des Mannes, die nicht nur im Gegensatz zu dessen Gestalt sondern auch zu dessen Schraubstockgriff stand. „Die Freude ist ganz meinerseits, Mr… Kite!“, erwiderte er.

„Mr Kite passt ganz wunderbar, Mr Ziegler. Ich heiße eigentlich William Wallace Campbell – der dreißigste dieses Namens –, aber da wir über Geschäftliches sprechen werden, lassen Sie uns bei den Sammlernamen bleiben. Vermute ich richtig, dass Sie selbst noch keinen angenommen haben?“

„Sehr richtig. Wir sind erst vor wenigen Tagen in Liverpool angekommen, und wir sind eigentlich keine Sammler. Ich besitze jedoch so etwas wie einen Künstlernamen: Ludwig Lederrachen.“

„Davon habe ich gehört! Beeindruckend! Sie müssen mir Ihre Künste unbedingt vorführen.“

Veronica, die bislang in ihrem Sessel sitzen geblieben war, hatte dem Dialog mit steigender Belustigung zugehört. Sie stand jetzt auf und sagte: „Er tritt nur vor zahlendem Publikum auf.“

„Sagt wer?“, erkundigte sich der Hüne, ihr nun zugewandt.

„Seine Managerin.“ Sie streckte ihm den rechten Arm entgegen, als erwarte sie einen Handkuss. „Veronica…“

„…Mars!“, ergänzte er. „Welche Ehre, der berühmten Detektivin endlich persönlich gegenüber zu stehen.“

„…Ziegler!“, korrigierte Veronica, während William Wallace Campbell tatsächlich die Gelegenheit wahrnahm, einen Kuss auf ihre Knöchel zu hauchen.

„Ich erkenne eine eiserne Faust, wenn sie mir unter die Nase gehalten wird. Auch für Sie werden wir einen Sammlernamen brauchen, Ms Ziegler.“

„Sie sieht hoffentlich weniger hart aus, als sie sich anhört“, erwiderte sie mit einem Zwinkern. „Was die Namen betrifft – wir sind für Vorschläge selbstverständlich dankbar.“

Zach gab Veronica das Zeichen, sie solle ihr Gastgeschenk überreichen. Die junge Frau griff in die Innentasche ihrer Jacke und holte ein flaches, in Geschenkpapier verpacktes Bündel heraus. Sie gab es Mr Kite.

„Ah, ich liebe Geschenke, die von Herzen kommen!“, rief der Hüne mit der seltsam hohen Stimme. „Es ist sogar noch warm.“ Er nestelte am Knoten des goldenen Seidenbandes, das das Bündel umgab. Als er Band und Papier endlich geöffnet hatte, zog er einen Stapel handsignierter Beatles-Autogrammkarten verschiedener Motive heraus. „Vielen Dank, Mr und Ms Ziegler, für die freundliche Geste. Wussten Sie übrigens, dass sehr viele, womöglich die meisten Autogrammkarten von Mal Evans, dem Beatles-Roadie, signiert wurden? Die Jungs wären sonst vor lauter Schreiben nicht dazu gekommen, auch einmal aufzutreten.“

„Man lernt nie aus“, sagte Zach, der die Bemerkung taktlos und undankbar fand. „Sie stammen übrigens aus dem Koffer, den Sie und andere Sammler bei meinem Stiefbruder bestellt haben. Wie Sie wissen, halten manche das ganze Evans-Archiv für eine Ente.“

„Nicht so Ihr Verwandter, und auch wir nicht. Wir haben Grund zu der Annahme, dass wir die echten Effekten des armen Malcolm aufgespürt haben. Kommen Sie, gehen wir in den Speisesalon und besprechen die Sache im Sitzen. Ich habe uns ein Mittagessen herrichten lassen.“

Kite führte die Zieglers durch eine der Seitentüren neben den Feuerstellen in den nächstgelegenen Raum. Eine lange Tafel, umstanden von dutzenden Stühlen, beherrschte den Saal. An ihrem entfernten Ende war sie von einem Tischtuch bedeckt. Für den Platz am Kopf des Tisches und für die Plätze rechts und links davon standen Gedecke bereit. Drei Diener rückten die Stühle für die beiden Gäste und den Hausherrn zurecht. Ein vierter Diener schenkte Champagner ein. Wenige Minuten später zog sich das Personal zurück. Kite hob sein Glas: „Auf die fabelhaften Sieben!“

„Sieben.“ Veronica stellte die Frage im Tonfall einer Feststellung.

„John, Paul, George, Stu, Pete, Ringo und Bill.“

Zach und Veronica hoben ihre Gläser. Alle tranken einen Schluck.

„Müsste man dann nicht auch auf eine Handvoll weiterer Bandmitglieder trinken?“, merkte Zach an, während er sein Glas abstellte.

„Die Mitglieder von Vorläufern wie Quarrymen oder Silver Beetles sind nie unter der magischen Beatles-Marke aufgetreten.“

„Andy White aber schon.“

„Andy war kein festes Mitglied. George Martin hat ihn lediglich als Sessionmusiker angeheuert, um einen Job zu erledigen. Das triff auch auf eine ganze Reihe Leute wie Billy Preston und Eric Clapton zu. Lassen Sie uns nicht über Details streiten.“

„Details wie, Paul McCartney durch Billy Shears zu ersetzen? Meines Wissens war der nie Teil der offiziellen Story“, hakte Veronica nach.

„Der Wechsel wurde der Öffentlichkeit durch hunderte von Hinweisen bekannt gemacht, aber nur von den Wenigsten für bare Münze genommen“, erwiderte Kite feixend.

„Nachdem man ihnen mindestens eben so viele Dementis und geschätzt die fünfzigfache Menge an Falschbenennungen des Nachfolgers als ‚Paul‘ um die Ohren gehauen hat.“

„Was sollten die Jungs denn tun? Als William die Hysterie in den USA vom September 1969 initiiert hat – Sie wissen schon, diese Campuszeitung und kurz darauf die Radiosendung von Russ Gibb –, hat außer ein paar Freaks niemand die dort erläuterten Hinweise auf Pauls Tod aufgegriffen. Wo die Story im Mainstream gelandet ist, haben die Reporter die ‚Spinner‘ lächerlich gemacht, in deren Augen sie Sinn ergab.“

„Wie wäre es mit einer direkten, ehrlichen, unzweideutigen Aussage seitens der Band gewesen?“

„Seien Sie nicht naiv, Veronica. John und Paul hatten einen faustischen Handel abgeschlossen, und Paul hat den Preis dafür gezahlt. Abgesehen von den Verwerfungen, die ein Geständnis für die Band, womöglich für die ganze Musikszene erzeugt hätte, hätte die Masse der Menschen das Ganze lediglich für einen Marketing-Gag gehalten.“

Veronica starrte Kite angewidert ins Gesicht. Zach schien die Farbe des Champagners zu studieren. Stumm drehte er sein Glas zwischen Daumen und Zeigefinger.

Als niemand widersprach, fuhr der Hüne fort: „Die verbliebenen drei Beatles und mein Großvater haben jenen, die die Wahrheit hören wollen, genügend Hinweise gegeben, ohne sich damit selbst ans Messer zu liefern. Und der Rest der Menschheit behält die Freiheit, die familienfreundliche Fassung der Bandgeschichte in Ehren zu halten. Alle sind glücklich, insbesondere die Paul-Is-Dead-Leute, die weiterhin unter jedem Stein nach Beweisen schauen und andere von ihren Theorien zu überzeugen versuchen können.“

Die Detektive gaben erneut keine Widerrede. Im Grunde hatte Kite ja recht. Bevor das Schweigen zu lange über der kleinen Gruppe lastete, traten wieder die Diener ein, diesmal mit dem ersten Gang der Mahlzeit. Alles sprach dafür, dass diese eine hochtrabende französische Bezeichnung trug; für Zach war es einfach Suppe. Er bevorzugte Veronicas Eintopf, deren in der Eistruhe lagernde Überreste noch immer für eine Mahlzeit reichten, aber sie waren schließlich nicht wegen eines Kochwettbewerbs hierher gekommen. Sie versuchten, die Geschäftsbeziehungen seines Stiefbruders wieder aufzunehmen. Hinsichtlich ihres Ziels war es ein Fehler gewesen, mit Kite in diese gallige Diskussion über moralisch richtiges Verhalten einzusteigen. Dann wiederum hatte der einige Informationen preisgegeben, die wertvoll sein mochten – über Paul McCartney und Billy Shears, aber auch über sich selbst und seinen Charakter. Zach war aufgefallen, dass auch Veronica die mit weniger vorgeprägter Meinung die Fahrt angetreten hatte, nun eine Abneigung gegen den Schlossherrn entwickelte und die Ansicht ihres alten Herrn zu teilen begann. Sie diente ihm als Korrektiv, das anzeigte, ob er sich in Vorurteilen verrannt oder den Mann richtig eingeschätzt hatte: als grobschlächtigen Zyniker, dessen aufgesetzte Noblesse kaum verbergen konnte, dass sein einziger Maßstab er selbst und seine Wünsche waren. Man musste ihm zuerst die Grenzen zeigen, bevor man Verbindlichkeiten einging. Seine Gutsherrenseele mochte gefährlichen Anwandlungen folgen, wenn man sie enttäuschte.

„Mr Kite,“ begann der Detektiv das Gespräch erneut in Gang zu bringen, „meinem Verständnis der Aufzeichnungen meines Stiefbruders zufolge haben Sie die Suche nach dem sogenannten Mal-Evans-Archiv mit in Auftrag gegeben, weil Sie die Überzeugung hegten, das Manuskript seiner Memoiren darin vorzufinden.“

„Das ist richtig“, bestätigte der Hüne.

„Sowohl die Polizei als auch wir selbst haben eine Inventur der Warenbestände vorgenommen. Das Manuskript muss in dem Koffer gelegen haben, den Paul erworben hat – zumindest ein Manuskript unbekannten Titels und Umfangs. Ein solches war jedoch nach dem Mord nicht mehr aufzufinden. Die Polizei geht davon aus, dass der unbekannte Täter es mitgenommen hat, in der Hoffnung, es zu Geld machen zu können. Ich muss Ihnen daher mitteilen, dass wir Ihren Auftrag nicht zu Ende führen können.“

William Wallace Campbell lachte herzhaft. „Mein lieber Mr Ziegler, ich kann Ihnen versichern, dass es in dieser Beziehung kein Problem zwischen uns gibt. PC31 hat mich schon am Freitag, dem Tag des Eintreffens der Sendung, von der frohen Botschaft in Kenntnis gesetzt, dass unsere Wette von Erfolg gekrönt gewesen ist. Ich bin am Samstag in den Fab Store gegangen, um das Manuskript höchstpersönlich in Empfang zu nehmen.“

„Moment, Moment, Moment! Sie haben – waaas?“, unterbrach der Detektiv den Redefluss des Sammlers.

Gleichzeitig hatte auch Veronica ihre Stimme erhoben: „Wer ist PC31?“

21) Ankunft in Wallace Castle

Als sie Liverpool hinter sich gelassen hatten und einer kurvigen Straßen in nördlicher Richtung folgten, hatte Veronica wieder größere Freude hinter dem Steuer. Sie mochte den Stadtverkehr überhaupt nicht. Landstraßen und Autobahnen gaben dem GT mehr Gelegenheit, seine Fahreigenschaften zu präsentieren. Manche nannten ihn eine Heckschleuder, aber Veronica fand, es mangelte jenen Leuten an Feingefühl beim Spiel mit Lenkrad und Pedalen. Jedes Vehikel besaß seine eigene Physik und jede Straße ihre eigenen Herausforderungen. Dass die Eigenschaften einer Straße beim Fahren berücksichtigt werden mussten, verstand sich von selbst. Was also war das Problem mit den spezifischen Eigenschaften dieses Autos? Sie erspähte eine enge Biegung in einiger Entfernung, ging vom Gas und schaltete einen Gang hinunter. Während sie mit genau der richtigen Geschwindigkeit und nur der Ahnung quietschender Reifen durch die Kurve rollte, um danach sofort wieder zu beschleunigen, dachte sie, dass sie dieses Gefühl wirklichkeitsnahen Reisens, das ihr der GT gewährte, lieber mit einem Fahrrad tauschen würde als mit elektronisch betreutem Fahren.

Mit wenigen Ausnahmen hielten die Leute sie und ihren Vater für Sonderlinge, weil sie Dinge gern selbst taten, Gegenstände lieber selbst reparierten und Zusammenhänge so oft als möglich selbst ergründeten. Die beiden Detektive fühlten sich unwohl, wenn Bildschirme oder staatlich zertifizierte Experten sie von den Schrauben und Zahnrädern eines Getriebes fernhielten. Sich in Fremdsteuerung, egal wie geringfügig, zu begeben, machte Menschen faul – und weich in der Birne, fand Veronica. Elektronische Unterstützung, Krankenkassen, Lohnarbeit, Expertentum oder die öffentliche Meinung konnten eine ebenso unwiderstehliche Abhängigkeit bewirken wie Tabak, Alkohol oder Drogen. Letztlich erzeugte jedes solche Verhältnis eine Daseinsunfähigkeit, die den Benutzer direkt in die Ketten von geld- und machthungrigen Strukturen führte. Wie viele Menschen verstanden, dass der Weg zu einem angestrebten Ziel genauso Teil des Lebens war und mindestens so viel Freude bereitete, wie dort angekommen zu sein? Wie viele schafften es, das Klingeln des Telefons zu missachten? Wie viele hielten es wochenlang ohne Internet aus? Wer traute sich zu, seinem Bauchgefühl zu glauben statt der Diagnose eines Arztes? Wer leistete es sich, dem Chef, dem Nachbar, dem Lebenspartner, der Mehrheitsmeinung auch dann zu widersprechen, wenn das potenziell mit Opfern verbunden war? – Eben!

„Ich glaube, wir haben die Adresse gleich erreicht. Das Gebäude dort drüben auf dem Hügel dürfte Wallace Castle sein“, unterbrach ihr Vater den Gedankengang. „Mann, das ist keine Villa sondern ein Palast.“

Die Fassade der dreiflügeligen Anlage in neugotischem Stil bestand in der Hauptsache aus großen Maßwerkfenstern und war von Zinnen bekrönt. An allen Ecken des Gemäuers ragten filigrane Erker heraus, die sich turmartig über der Traufhöhe fortsetzten. Über den glänzenden Dachpfannen erhoben sich zahlreiche Schornsteine. Das Gebäude war von einem Park, der Park von einem Wäldchen, und das Wäldchen von einer hohen Mauer umgeben. Wallace Castle überblickte das Tal, durch das die alte Handelsstraße von Liverpool ins schottische Hochland verlief, und auf der sie sich ihm näherten. Sie brauchten mehr als fünf Minuten, um das kunstvoll geschmiedete Tor in der Mauer zu erreichen, durch das der Weg zum Schloss führte. Als der Wagen davor zum Stehen kam, stieg Zach aus, um auf ihre Ankunft aufmerksam zu machen, doch er konnte keine Klingel entdecken. Ein rotes Blinken schräg über ihm verriet die Position einer aktiven Überwachungskamera. Der Detektiv hatte sie kaum entdeckt, als sich auch schon die beiden Flügel des Tors nach rechts und links zurückzogen.

Zach stieg wieder ein. Er und Veronica blickten einander an. Sie zuckte die Achseln und steuerte den Sportwagen langsam durch die Öffnung auf eine Pflasterstraße, die sich in langen Kurven durch den Wald nach oben wand. Als sie die letzten Bäume passiert hatten, raubte die Kulisse ihnen für einen Moment den Atem. Niedere, präzise getrimmte Büsche formten im Verband mit Blumenrabatten einen Park voller Labyrinthe, Muster und Symbole. Mehr als einen flüchtigen Blick auf den französischen Garten gestattete die Ehrfurcht gebietende Prachtfassade von Wallace Castle, der sie sich jetzt näherten, jedoch nicht. Die Zufahrt führte nun genau auf die Mittelachse des Schlosses zu. Zwischen den beiden Gebäudeflügeln teilte sie sich in zwei Arme, die unter dem Dach einer Vorhalle wieder zusammenfanden. Veronica nahm den linken und brachte den GT direkt vor der Fassade der Halle zum Stehen. Den Platz jenseits der spitzbogenförmigen Durchfahrt, direkt vor dem Haupteingang, belegte bereits ein Auto, mit dem sie, weil es an diesem Ort völlig unstandesgemäß wirkte, nicht gerechnet hätten. Dem auf Hochglanz polierten makellosen weißen Lack des Volkswagens zufolge hätte man zwar ein Fahrzeug frisch vom Band vermuten können, aber natürlich wurden heutzutage keine Käfer mehr hergestellt.

Erneut schauten der Detektiv und seine Tochter sich gegenseitig an. „Er hat wohl weiteren Besuch“, vermutete Zach. Veronica zog den Zündschlüssel ab. Sie öffnete die Fahrertür und stieg aus. Auch Zach stieg aus. Sie gingen entlang der eleganten Motorhaube des GT auf den Eingang zu. Amüsiert betrachteten sie im Vorbeigehen das eiförmige Fahrzeug, dessentwegen sie draußen parken mussten und das hier so völlig deplatziert wirkte. Zum Glück regnete es nicht. Routinemäßig musterte Zach das gelbe Nummernschild – eine Marotte, die ihm mehr als ein Mal geholfen hatte, Fälle zu lösen. „LMW 281F“, sprach Veronica aus, was sein Geist gerade abzuspeichern im Begriff war.

Es freute ihn, wie gut sie ihr Handwerk beherrschte. Als er selbst dreiundzwanzig Jahre alt gewesen war, hatte er nicht nur einen Gutteil seiner Schulbildung vergessen; er war mehr an Tagträumen, Literatur und nächtlichen Diskussionen mit Kommilitonen interessiert gewesen als an seiner Ausbildung. Er hatte seine Jugend genossen, wie es ihm in den Sinn gekommen war: pflichtvergessen. Manchmal befürchtete, dass er Veronica durch die frühe Einbindung in die Detektei die Möglichkeit genommen hatte, sich wie andere Mädchen ihres Alters zu entwickeln. Aber so wenig er selbst sich als junger Mann für Sex & Drogen & Rock‘n‘Roll interessiert hatte, kümmerte sie sich um Boygroups, Frauenabende oder den Austausch von Kochrezepten. Es hatte ihr Spaß gemacht, Logikrätsel zu knacken, mit den Harley-Freaks an Motorrädern herumzuschrauben und ihrem Vater einige Routinetätigkeiten abzunehmen. Sie besaß Talent, das hatte er schnell bemerkt. Als sie ihre pubertäre Unsicherheit hinter sich gelassen hatte, entwickelte sie außerdem eine unkomplizierte Art des Umgangs, die es anderen leicht machte, ihr Vertrauen entgegenzubringen.

Seite an Seite näherten sie sich nun einer schweren, mit kunstvollen Schnitzereien ornamentierten Holztür. Zach betätigte den auf Brusthöhe daran befestigten Klopfer, einen dicken, von einem Adlerschnabel gehaltenen Bronzering, den er gegen eine metallene Schlagfläche hämmerte. Einige Sekunden später hörten sie, wie ein Riegel zurückgezogen wurde. Langsam schwang die Tür auf. In der Öffnung stand eine Person, die sie als Butler identifizierten. „Guten Tag. Sie wünschen?“

Zach antwortete: „Wir sind Veronica und Zachary Ziegler, Inhaber von Campbell‘s Fab Store. Mr Kite hat uns für elf Uhr eingeladen.“ Er zog die Visitenkarte heraus, die ‚Melone‘ ihm überreicht hatte, und hielt sie dem Butler unter die Nase.

Dieser nickte. Er bedeutete ihnen einzutreten. Während sie in eine große, von zahlreichen Säulen bevölkerte Eingangshalle schritten, verbeugte sich der Butler leicht. Dann schloss er die Tür wieder. „Bitte folgen Sie mir“, sagte er und führte sie über einen schachbrettartig gemusterten Boden zu einer prunkvollen Treppe, über die sie ins nächste Stockwerk stiegen. Er ließ sie direkt gegenüber in einen Salon ein, dessen Wände mit alten Veduten bedeckt waren. In der Mitte standen fünf bequem aussehende armlehnenbewehrte Sessel mit Seidenpolstern um einen pentagonförmigen Tisch. An den Schmalseiten rechts und links befanden sich Feuerplätze, daneben jeweils eine kleine Tür. Gegenüber dem Eingang gewährten große Maßwerkfenster den Blick auf das Dach der Vorhalle, den Garten und den Wald dahinter. Über dessen Wipfel hinweg konnten die Detektive im atmosphärischen Dunst undeutlich Liverpool am Horizont ausmachen. „Bitte nehmen Sie Platz“, offerierte der Butler. „Der Hausherr wird Sie zu sich rufen, sobald er eine dringende Angelegenheit erledigt hat. Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen?“

Zach und Veronica wechselten einen kurzen Blick und nickten einander zu. „Fruchtsaft bitte“, orderte Veronica. Zach zeigte durch eine Handgeste an, dass er sich dem Wunsch seiner Tochter anschloss. Der Mann verbeugte sich erneut und schritt dann steifen Schrittes hinaus. Zach hob eine Augenbraue und trat an eines der Fenster. Veronica gesellte sich zu ihm. „Wird er uns warten lassen?“, fragte sie, während sie die Symbole im Garten zu erkennen versuchte. Ihr Blickwinkel war ungünstig, das Fenster zu niedrig gelegen, das Gelände leicht abschüssig. Sie konnte ein Labyrinth in Form eines Keltenkreuzes ausmachen.

„Nachdem ich am Sonntag einen Mangel an Respekt gezeigt habe, müssen wir damit rechnen. Außerdem haben es hohe Herrschaften selten eilig, das Fußvolk zu sehen. Ich hoffe, es bringt deinen Terminkalender nicht gar zu sehr durcheinander“, witzelte Zach.

„Keineswegs. Die Aussicht ist besser als im Hinterzimmer der Rainford Gardens, und die Sessel sind gemütlicher als im Wartezimmer meines Zahnarztes. Hier halte ich es eine Weile aus.“ Sie signalisierte durch vierfaches Blinzeln, dass sie beobachtet wurden. Zach legte den Kopf schief, sah zu Boden, dann auf ihre Hände. Die Finger der jungen Frau durchliefen einige schnelle aber unauffällige Bewegungen: „Eine Kamera; über uns; am Fenster.“ Sie lehnte sich an eine der steinernen Maßwerkstützen des Fensters und blickte scheinbar unbefangen auf das Dach ihres orange lackierten Sportwagens hinab. Sie winkelte ihr rechtes Bein an, die Zehenspitze ihres Cowboystiefels auf den Boden gestellt: ein unhörbares „Hier.“

20) Der letzte Beatle

Nachdem die Italienerin das Hinterzimmer gereinigt hatte, stieg sie die Treppen hinauf, um die Wohnung zu putzen. In der Küche traf sie Veronica, die mit einer Tasse Tee am Tisch saß. Sie entschuldigte sich für die Störung und teilte ihr mit, dass sie ihre Arbeit in den anderen Zimmern fortsetzen würde. Veronica schüttelte jedoch den Kopf und lud sie ein, sich zu ihr zu setzen. „Möchten Sie auch einen Darjeeling?“, fragte sie. Sie machte Anstalten, sich zu erheben, um eine Tasse aus dem Schrank zu nehmen.

„Bleiben Sie sitzen, Veronica.“ Maria öffnete das Fach mit den Gläsern und Tassen und nahm einen der Humpen heraus. Der zeigte eine Karikatur von Ringo; darunter stand: ‚Der letzte Beatle.‘ „Meine“, sagte sie, und als die Detektivin sie erstaunt ansah, ergänzte sie: „Ihr Onkel und ich verstanden uns sehr gut…“ Sie schien die Worte im Geiste auf ihre Wirkung zu prüfen. „Ich war jeden Tag zum Putzen hier. Wir diskutierten manchmal stundenlang über mögliche Suchwege, um ein Objekt wiederzufinden – oft genug genau hier, an diesem Tisch.“

Ein mitfühlender Ausdruck legte sich auf Veronicas Gesicht. „Die eigene Tasse am Arbeitsplatz aufzubewahren stellt kein Verbrechen dar.“ Sie schenkte Tee in den Ringo-Humpen. „Sie vermissen ihn, hm?“

Maria Borghese schloss ihre Finger um das sich erhitzende Gefäß. Sie nickte, sagte jedoch nichts weiter. Die beiden Frauen nippten eine Weile still an ihren Tassen. Schließlich begann die Italienerin: „Ich war ungefähr in Ihrem Alter, Anfang zwanzig. Ich hatte eine Tochter, gerade ein Jahr, und einen Freund, den ich heiraten wollte. Er stammte von der Alb. Wir studierten in Tübingen, er Medizin, ich Bibliothekswesen. Seine Familie gab mir ständig das Gefühl, dass ich als Katholikin und Gastarbeiterkind nicht dazugehörte. Die Leute beschweren sich, dass die Katholische Kirche fürchterlich altmodisch sei, und da ist ja auch etwas dran; aber im Vergleich zur Engstirnigkeit vieler Protestanten in Deutschland verhalten sich italienische Katholiken geradezu liberal. Ich hielt es nur mit Mühe aus und wollte fort, aber ich blieb, um mein Studium abzuschließen, und natürlich meinem Freund zuliebe. Mit der Zeit wurde mir klar, dass er es vermied, über unsere gemeinsame Zukunft zu sprechen. Er wich ganz besonders der Erörterung unserer Hochzeit aus. Irgendwann stellte ich ihn zur Rede. Er gestand mir, dass seine Eltern gegen mich eingestellt waren und dass er einfach unsere formlose Freundschaft weiterführen wollte. Ich sagte, dass ich das unserer Tochter gegenüber nicht fair fand. Ich hatte eine Stelle bei einem Dokumentationsprojekt in Liverpool in Aussicht; also schlug ich vor, wir könnten nach England gehen, er könnte sein Studium dort abschließen, und dann könnten wir heiraten.“

Die Italienerin betrachtete eine Weile ihr schaukelndes Spiegelbild im Tee. Dann schaute sie auf. „Er weigerte sich. Also habe ich einfach meine Sachen gepackt und bin abgereist. Ich nahm die Stelle bei dem Projekt an; sie stellten ein Buch zur Geschichte populärer Musik in Liverpool zusammen. Ich war verantwortlich für die Bibliografie. Ich produzierte eine Liste von Zeitschriftenartikeln für sie, die, glaube ich, ihresgleichen suchte, doch leider zerstritten sich die Projektleiter, bevor das Werk veröffentlicht werden konnte. Eines Tages erhielt ich den Kündigungsbrief, aber der Beatles-Virus hatte mich längst befallen. Die Widersprüche in der offiziellen Story faszinierten mich über alle Maßen, also begann ich, mich tiefer in die Bandgeschichte einzulesen. Die meisten Buchautoren schwelgten in kritikloser Heldenverehrung. Das Internet befand sich gerade erst im Entstehen. Da war ebenfalls nur wenig zu finden – oftmals von mehr Enthusiasmus als von Sachkenntnis getragen. Also suchte ich nach Zeitzeugen.“

Maria nahm einen Schluck aus ihrer Tasse, hob den Blick zur Decke. Sie fort: „Auch da stieß ich überwiegend auf Menschen, die die Beatles auf ein Podest stellten oder gar zu Göttern der Rockmusik erhoben, aber es gab ein paar, deren Erinnerungen mir reflektierter schienen. Langsam formte sich ein Bild, das die Sechzigerjahre in einem weniger verklärten Licht zeichnete. Ich begann zu verstehen, dass Musik auf dieselbe Weise zum Showbiz gehört wie die Schauspielerei. Das gilt bis heute. Es kommt auf die vermittelte Attitüde an. Die weit überwiegende Zahl der Gruppen und Solomusiker erhielten ihre Verträge mit den Labels für ihr Aussehen und ihr Auftreten, nicht für ihre Qualitäten als Songschreiber oder Künstler. Die Firmen heuerten damals professionelle Songschreiber und Sessionmusiker an, um Platten aufzunehmen. Alle Profis aus der Zeit bestätigten, dass die wenigsten Major-Bands auf ihren eigenen Alben spielten. Hinter den meisten großen Namen der Sechziger und Siebziger standen Studioorchester wie die Wrecking Crew oder Mietmusiker wie der Trommler Bernard Purdie, der behauptet, auf über 20 Stücken der Beatles zu spielen. Ringo Starr sei an den ersten Alben der Band überhaupt nicht beteiligt gewesen.“

„Sie meinen, die Beatles waren vom ersten Tag an fake?“

„Ein hartes Wort. Innerhalb der Szene war das Musikdarstellertum keine Schande sondern der Normalfall. Die Masse der Konsumenten verlangte nach dem schönen Schein, nach Vielfalt der Stile und Ausdrucksformen. Sie identifizierten sich mit Elvis, Fats Domino, den Beatles oder Aretha Franklin, aber letztlich hörten sie immer wieder dieselben Musiker in stets neuer Verpackung. Die Hülle einer Schallplatte erfüllt genau die Funktion, die das Wort ‚Cover‘ benennt: Sie verdeckt den realen Produktionsprozess und bemäntelt ihn mit einem ‚Image‘, einer Scheinwirklichkeit.“

Veronica seufzte. „Das hat also funktioniert wie in der Politik. Wer blühende Landschaften verspricht, wird gewählt. Wer wahrheitsgemäß berichtet, wie‘s aussieht, landet im Abseits.“

„Der Sturz der Monkees war für die gesamte Szene eine Warnung, den Schein des begnadeten Talents unter allen Umständen zu wahren. Purdie erwähnte, dass er nicht nur für seine handwerklichen Dienste fürstlich entlohnt worden sei sondern auch für sein Schweigen.“

„Okay, aber was die Beatles von den anderen unterschied, war vor allem ihre Fähigkeit, tolle Songs zu schreiben, die selbst fünfzig bis sechzig Jahren später noch die Menschen begeistern. Bis heute sagen viele Bands, dass die Pilzköpfe sie am meisten beeinflusst hätten.“

„Als Ihr Onkel Paul Anfang der 2000er in Liverpool ankam und seinen Laden eröffnete, freundete ich mich sofort mit ihm an. Im Gegensatz zu diesen ganzen Andenkenläden und Rockschuppen im Cavern-Viertel, die die Idolverehrung ihrer touristischen Kundschaft bedienen, folgte er einem völlig anderen Konzept. Er wollte wissen, was damals wirklich geschah, denn das eröffnete ihm neue Fährten, die verloren geglaubte Unikate wieder zutage fördern halfen. Die Pädophilie-Affäre in der BBC hatte seinen Blick für die dunklen Ecken der Musikindustrie geschärft. An der Behauptung, jemand könne ein ganzes Album mit über einem Dutzend Stücken in ein paar Stunden rundfunkreif einspielen, hegte er schon immer seine Zweifel. Er wusste, wie viel Arbeit es kostete, professionell klingende Arrangements zu erzeugen. Den Nachweis, dass es sich bei der offiziellen Story von den angeblich genialen Beatles nur um eine Schneewittchengeschichte handelt, lieferten jedoch andere, und erst sehr viel später. Ein gewisser Mike Williams nahm die Chronologie der Aufnahmen für das Album Rubber Soul auseinander. Die Behauptung, die Beatles hätten sechzehn Songs in 30 Tagen geschrieben, eingeübt, eingespielt, gemischt und produziert, ist seiner Erfahrung als Musiker zufolge völlig unglaubwürdig. Technisch unmöglich wird die Geschichte, wenn man bedenkt, dass für die Veröffentlichung lediglich drei weitere Wochen zur Verfügung standen. Das war nur machbar, wenn außer dem Pressen und Verpacken der Vinylscheiben nichts mehr zu tun blieb. Das hieß, die Labels und das Cover mussten fertig gedruckt sein, und das setzte voraus, dass die Titel der Songs, ihre Spiellänge und Anordnung bekannt waren – Wochen oder Monate bevor die Beatles, angeblich mit leeren Händen, ins Studio gingen.“

„Häh?“ Veronica schüttelte den Kopf. „Wer spielt dann auf dem Album? Und wenn alles Fake ist, wieso überhaupt ins Studio gehen? Warum gibt man nicht von vorn herein eine glaubwürdigere Chronologie an?“

„Die Beatles nahmen 1965 das Album Help! auf, gingen auf Tour, und standen für einen Film vor der Kamera. Der Öffentlichkeit war bekannt, wo sie sich zu jeder beliebigen Zeit aufhielten. Fürs Songschreiben und Aufnehmen blieb ihnen nach ihrer Ochsentour keine Zeit, denn zu Weihnachten musste eine weitere Scheibe, Rubber Soul, in den Läden stehen, um das Produkt The Beatles kommerziell maximal auszuschlachten. Sie selbst sagten, sie seien ausgebrannt gewesen und hätten keine Songs in Reserve gehabt, die sie hätten einbringen können. Der Weihnachtstermin ließ sich nur halten, wenn die Stücke fertig geschrieben und die Instrumente weitgehend eingespielt waren, als die Beatles ins Studio gingen. Sehr wahrscheinlich haben sie dort kaum mehr getan, als die Gesänge beigesteuert. Ihnen blieben pro Stück gerade einmal ein oder zwei Tage Zeit, es perfekt hinzubekommen.“

„Was ist mit den Credits? Lennon-McCartney?“

„Lassen Sie mich aus einem Mersey Beat-Artikel zitieren, der kurz vor den Aufnahmen zu ihrem ersten Album im September 1962 erschien: ‚Die Beatles werden nach London fliegen, um in den EMI-Studios aufzunehmen. Sie werden Stücke einspielen, die sie von ihrem Aufnahmeleiter George Martin erhalten haben und die eigens für die Gruppe geschrieben worden sind.‘ Der selbe George Martin erzählte später in Interviews, dass er in der Band weder die künstlerischen noch die handwerklichen Fähigkeiten gegeben sah, die es seiner Ansicht nach für einen Erfolg gebraucht hätte.“

Veronica stand der Mund offen.

Maria Borghese lächelte. „Natürlich sind das alles keine gerichtsfesten Beweise, aber starke Indizien. Die hochtrabenden Behauptungen der offiziellen Story hingegen sind durch überhaupt nichts belegt. Niemand hat bezeugt, die Jungs Stücke schreiben zu sehen. Von den Aufnahmeterminen gibt es kein Filmmaterial. Die wenigen Fotos sehen gestellt aus. Von den einhundert Songs, die sie angeblich bis zu ihrer ersten Scheibe geschrieben haben sollen, finden offiziell nur eine Hand voll Verwendung; vom Rest sind nicht einmal die Titel bekannt. Fast die Hälfte des Materials, das sie live und auf Schallplatten zum besten geben, besteht aus Coverstücken, und das bleibt so bis zum letzten Konzert 1966. Es ändert sich erst, als mit Billy Shears ein ausgebildeter, erfahrener Studiomusiker McCartneys Platz einnimmt. Darum hatte Signore Campbell die Peppers-Skulptur und das Rubber Soul-Bild im Schaufenster angebracht. Sie symbolisieren die beiden großen Lügen um diese Band: dass sie Ausnahmetalente gewesen seien, die Hits auf Kommando ausspucken konnten, und dass sie von Anfang bis Ende die selben vier Freunde geblieben seien. Die Beatles waren das Produkt einer Industrie, die massenkompatible Illusionen verkaufte.“

„Es gab also ein virtuelles Fließband, das Hits nach Plan produzierte, und die Verkaufsfronten waren die Bands“, spann Veronica den Faden weiter.

„Nicht gab – gibt!“, erwiderte die Italienerin. Wenn sich junge Musiker heute wundern, weshalb sie trotz unbestreitbarer Fähigkeiten nicht weiterkommen, liegt es daran, dass es für die Labels in der Regel teurer wird, wenn sie wilde Talente fördern, als wenn sie den Nachwuchs selbst züchten. Die einen sind schwer zu kontrollieren, denn sie besitzen Kreativität und einen eigenen Willen, diese zu entwickeln; die anderen sind willenlose, abhängige Werkzeuge in den Händen einer Maschinerie, die sie in vorgefertigte Formen pressen und mit einem konstruierten Image versehen kann.“

Veronica zog ein säuerliches Gesicht. „Mir haben die Sechziger, die ich aus dem Fernsehen kenne, besser gefallen.“ Sie leerte ihre Tasse, schaute das Bild McCartneys darauf an und sagte angeekelt: „Bäääh!“

„Bä-ä-äh!“, korrigierte Maria sie im Tonfall eines blökenden Schafs.

Die beiden Frauen sahen sich gegenseitig an, dann begannen sie zu lachen.

„Wirklich? Bä-ä-äh? Was macht Sie so sicher?“

„Ich habe die Tasse für Paul anfertigen lassen. Sie war mein letztes Geburtstagsgeschenk an ihn…“ Maria seufzte. „Sie kennen die dargestellte Szene nicht?“

„Würde ich sonst fragen?“

„Sir Paul stellte sich bei einer Veranstaltung in Moskau den Fragen einiger Reporter. Jemand wollte wissen, ob er echt oder ein Double sei. Er antwortete, das könne er nicht sagen, es sei ein Geheimnis. Als er kurz darauf den Platz verließ, drehte er sich nochmals um und meckerte ziemlich überzeugend ins Mikrofon.“

„Bizarr! Und was sollte das?“

„Manche meinen, es sei eine herablassende Geste gegenüber den ‚sheeple‘, den Schafmenschen gewesen, die sich von den Massenmedien einseifen lassen, aber das ergibt keinen Sinn. Wenn man weiß, dass einer der Namen des Doubles William Shepherd, also Schäfer, lautet, bekommt man auf die Frage des Reporters eine klare Antwort.“

Veronica schaute noch immer zweifelnd drein. „Maria, wenn ich Ihnen zuhöre, komme ich mir dumm vor, diese Dinge nicht selbst schon längst entdeckt zu haben. Mein Vater und ich haben vor ein paar Tagen versucht, mehr über Mal Evans‘ Archiv herauszufinden, und sind dabei auf ähnlich skandalöse Zustände gestoßen. Einerseits sieht es nach einer regelrechten Desinformationskampagne aus, andererseits könnte der Anschein auf eine Reihe von Missverständnissen, Missinterpretationen und ungeschickten Äußerungen zurückzuführen sein. Die Sache ist wirklich riesig, wenn man die ganzen Implikationen bedenkt. Verstehen Sie, was ich meine?“

„Wie viele Aussagen wie die in Moskau brauchen Sie, bevor Sie zu der Ansicht gelangen, dass er sich nicht lediglich ungeschickt verhalten hat? Drei? Sechs? Zehn? Ich kann Ihnen wenigstens ein Dutzend davon zeigen. Sir Paul ist oft zur Doppelgängertheorie befragt worden. Jedes Mal antwortet er zweideutig, statt sich klar von der Behauptung zu distanzieren. Es gibt fast eben so viele belegte Äußerungen von engen Freunden und Kollegen, die ihn mit ‚Billy‘ oder ‚William‘ anreden oder von McCartney in der Vergangenheitsform sprechen. Er hier –“ sie zeigte auf die Ringo-Karikatur auf ihrer Tasse, „behauptet von sich, der letzte lebende Beatle zu sein. McCartneys Bruder Mike sagte einmal, er habe Paul zuletzt auf dessen Beerdigung gesehen. Ab wann werden aus vermeintlichen Missverständnissen Einsichten? Ich verstehe Ihre Befürchtungen nur zu gut, Signorina. Es geht nicht um die John White Band aus Chickenham, sondern um die größte und bis heute einflussreichste Musikgruppe der Geschichte. Es handelt sich ‚bloß‘ um Unterhaltung, doch wenn hier unter den Augen der interessierten Weltöffentlichkeit solche Stunts abgezogen werden konnten, was geschieht dann an weniger beachteten Stellen, die wirklich von Bedeutung sind? Die Antwort auf diese Frage erschüttert das gesamte Bild, das man sich von der Welt gemacht hat. Es hat mein Weltbild erschüttert. Es schmerzt; glauben Sie mir, ich weiß das. Aber sie müssen sich entscheiden, was Ihnen wichtiger ist: die hübsche Fassade Ihres Denkgebäudes oder die Integrität seiner Substanz.“