11) Die Willfährigkeit des Hundes gegenüber dem Herrn

Er wusste nicht, was ihn mehr ärgerte: dass er sich lächerlich hatte machen lassen oder dass dieser unglaublich von sich selbst überzeugte Mensch nicht einmal erwägt hatte, die Indizien anzuschauen, sondern sie stattdessen einfach in eine Kiste mit der Aufschrift „dummes Zeug“ steckte, zusammen mit all den anderen Dingen, von denen „jeder weiß“, dass sie nicht sein können. Die Mehrzahl der Leute ging blind durch die Welt, weil sie glaubten, was sie sahen erkläre sich von selbst. Dabei wurde das, was sie sahen, ihnen gezeigt und erklärt – von Medien, die ganz anderen Absichten dienten, als die Wahrheit zu berichten. Als wäre es so abwegig, dass jene, die reich und mächtig waren, das gerne weiterhin bleiben würden. „Hätte ich Milliarden mit Lug, Betrug und Mord gemacht, würde ich ebenfalls alles Notwendige veranlassen, dass die Leute meine harmlosen Erklärungen hören, nicht das Gezeter der Betroffenen oder die Berichte der Aufklärer“, murrte Zach in seinen Drei-Tage-Bart.

Weil die meisten Menschen die Wirklichkeit nicht von der medienproduzierten Theaterkulisse unterscheiden konnten, war es Tony Blair gelungen, Großbritannien in einen Krieg gegen den Irak zu hetzen. Junge Soldaten hatten ihr Leben weggeworfen, als sie nach Massenvernichtungswaffen suchen halfen, die frei erfunden waren… um nur ein belegbares Beispiel der jüngeren Zeit zu nennen, bei dem etablierte Medien in ihrer Gesamtheit willfährig eine falsche Realität zeichneten. Keine Ausnahme, sondern der Regelfall. Es gab größere Verbrechen – sogar von atemberaubenden Dimensionen –, die sich genau hier und jetzt vor aller Augen abspielten, aber man durfte die nackten Tatsachen weder nüchtern noch im Scherz erwähnen, wenn man Einkommen, Wohnung, Freundschaften, Freiheit und Gesundheit behalten wollte. Als Privatermittler wusste er nur zu gut, wie das lief. Das schlimmste Unrecht geschah mit Wissen und Duldung, oft sogar unter Beteiligung der Behörden, gedeckt von ‚Journalisten‘, die wussten, wann sie wegschauen und wen sie vorführen mussten. Darum wunderte es ihn keineswegs, dass mindestens eine der beiden Personengruppen – die Bestätiger beziehungsweise die Leugner der Echtheit des Evans-Koffers – sich hatte benutzen lassen, einen bestimmten Eindruck zu vermitteln. Eigeninitiative wurde bestraft, Willfährigkeit des Hundes gegenüber dem Herrn machte sich bezahlt. Und der Herr wünschte die einhellige Zurschaustellung fachlicher oder administrativer Autorität. Wenn alle sagten: „Hören Sie auf die Experten; es gibt hier nichts weiter zu sehen!“, trauten sich nur die Wenigsten, einen zweiten Blick zu riskieren. Gruppendruck war ein effektives Mittel, frei grasende Schäfchen wieder in die Herde zurückzuholen.

Zachary Ziegler verdankte seinen Erfolg als Detektiv der Tatsache, dass er solchem Druck nicht nachgab, wenn es um die Wahrheit ging. Niemand war gefeit vor Täuschung, aber man musste sich die Freiheit bewahren, seine Fehler bewusst wahrzunehmen und einzugestehen. Wer aus Bequemlichkeit, Furcht vor dem Herausragen aus der Menge oder des Wohlgefühls wegen im Theatersessel kleben blieb – sei es ein Stuhl im Parkett, sei es ein Logenplatz – würde nie erfahren, wer diese Leute auf der Bühne wirklich waren oder was sie hinter den Kulissen trieben. Er lebte in einer aufwändig konstruierten Scheinwelt. Nach einiger Zeit vergaß er, dass sie künstlich war; sie wurde zu der Welt schlechthin, egal wie absurd sie sein mochte. Darum waren solche Leute wie Kommissar Wickens Zach zuwider. Sie spielten sich als Türsteher auf, die anderen vorgaben, in welchen Räumen sie sich geistig bewegen durften, was sie bei Strafe sozialer Ächtung zu tun oder zu lassen, zu denken oder zu ignorieren hatten.

Für jemand wie Zach warfen die von Leuten wie Wickens postulierten Tabus Fragen auf. Der Detektiv hatte befürchtet, mehr preisgegeben als erfahren zu haben, bis der Kommissar ihn quasi mit der Nase auf etwas gestoßen hatte: Das Motiv für die beiden gewaltsamen Tode im Zusammenhang mit den Evans-Erinnerungen – und für das Verschwinden des Manuskripts – könnte die drohende Entlarvung eines Hochstaplers in den Reihen der erfolgreichsten Band der Welt gewesen sein. Wenn Zweitligisten wie die Monkees oder Milli Vanilli bereits mit kommerzieller Vernichtung bestraft wurden, weil sie lediglich vorgetäuscht hatten, Musiker zu sein, würde derselbe Vorwurf im Fall der Beatles zu einem Erdbeben führen. Es würde die lieb gewonnenen Erinnerungen von ungezählten Millionen Musikhörern überschatten, die Glaubwürdigkeit von international bedeutenden Persönlichkeiten untergraben und das Image eines Landes und einer Industrie ruinieren. Nicht zuletzt ging es um Milliarden Britischer Pfund. Was waren dagegen eine lumpige Million für das vergilbte Manuskript oder die Leben zweier kleiner Lichter, die ihren Unterhalt aus den Abfällen dieser Beatles-Maschinerie bestritten hatten?

Zach wollte sehen, ob ihn die Spur, von der Wickens ihn hatte abbringen wollen, vielleicht weiterführte.


Als er zurückgekehrt war, fand er das Erdgeschoss leer vor. Ein appetitanregender Geruch nach Gemüse und Gewürzen hing am Fuß der Treppe in der Luft. Zach stieg hinauf. In der Küche stöberte er Veronica auf, die gerade einen Kessel voll Eintopf vom Gasherd nahm.

„Oh, wie schön. Du kommst genau zur rechten Zeit. Das Essen ist fertig.“

„Himmel, Veronica, wie viele Besucher erwartest du denn?“

„Dich. Heute irgendwann. Scharf gewürzten Eintopf kann man problemlos ein paar Tage aufbewahren und er ist bei Bedarf in wenigen Minuten wieder heiß.“

„Ich habe jedenfalls ungeheuren Hunger und ich liebe Eintopf! Der erste Teller geht auf ex.“

„Untersteh dich! Wir setzen uns jetzt schön gemütlich hin und du erzählst mir, wie‘s bei der Polizei gelaufen ist. Danach würde ich gern deine Meinung zu ein paar weiteren Widersprüchen hören, die mir im Zusammenhang mit dem Evans-Archiv aufgefallen sind.“

Zach trug den Kessel zum Esstisch, Veronica legte zwei Gedecke auf. Sie schlürften in aller Ruhe die ersten drei Portionen, bevor der Detektiv begann, von seiner Begegnung mit Kommissar Wickens zu berichten.

„Viel Neues ist das wirklich nicht“, bemerkte Veronica, als ihr Vater sich wieder dem Essen zuwandte. „Seltsam finde ich, dass er einerseits solches Interesse an Henry zeigte, dann aber direkt abwiegelte, als es um das Manuskript ging“.

„Ja, das war echt auffällig. Ich möchte es fast als die dritte Instanz bezeichnen, in der das Buch als Informationsquelle sozusagen aus dem Weg geräumt wurde, wenn auch nur verbal.“

„Ich würde nicht so weit gehen, ihm Absicht zu unterstellen. Dafür haben wir keine Beweise. Er könnte auf deine Andeutung vielleicht sogar völlig frei von Hintergedanken so herablassend reagiert haben. Wenn das einen weiteren Bildpunkt zu unserem Muster beiträgt, dann einen ziemlich schwachen.“

„Zugegeben. Ich werde das berücksichtigen.“ Er löffelte schweigend seinen Eintopf. Dann sagte er: „Die Beatles waren meine ganze Jugend hindurch dauernd mit irgendwas in den Schlagzeilen: George auf Tour, Ringo macht Fotos, ein neues McCartney-Album, John wird erschossen… ich erinnere mich an diese Dinge eher nebelhaft. Und dann die ewigen Gerüchte über das geheime Leben der Stars – die Medien schienen einen Wettbewerb um die groteskesten Nachrichten zu führen. Ich könnte schwören, nie von der Doppelgängertheorie gehört zu haben, aber das ist ziemlich unwahrscheinlich. Viel eher habe ich sie einfach als Zeitungsente abgetan und direkt ins Gedächtnisloch verbannt. Elvis lebt, Paul ist tot und die Erde ist eine Scheibe, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Ja klar. Da ging es dir genau wie diesem Kommissar, wie hieß er gleich?“

„Wickens. Ich kann ihn ja verstehen. Ohne strenge Geisteshygiene verkäme unser jeweiliges Bild von der Wirklichkeit zu einer schlimmeren Karikatur, als es eh schon ist. Man sollte jedoch für neue Informationen offen sein, um fehlerhafte Ansichten korrigieren zu können; zumindest würde ich das von einem Ermittler erwarten. Täuschungen auseinanderzunehmen ist unser Geschäft.“

Veronica zuckte mit den Schultern. „Wir alle haben blinde Flecken.“

„Mit einem ermordeten Stiefbruder und einer gestohlenen Million am Bein will ich mir diesen blinden Fleck nicht leisten. Netterweise hat Wickens das Manuskript in einen neuen Kontext gerückt, der erklären könnte, worin das Tatmotiv bestand. Angenommen, die dreckige Wäsche der Beatles beinhaltet einen Doppelgänger, einen Hochstapler, der weder singen noch komponieren noch spielen konnte; angenommen, dieser Evans hat eine Skandalstory geschrieben, um noch einmal ordentlich Reibach zu machen, nachdem klar war, dass die Band sich unwiederbringlich aufgelöst hatte – der Schaden hätte so hoch sein können, dass nicht einmal ein Konzern, geschweige denn ein einzelner Mensch ihn auszugleichen in der Lage gewesen wäre. Will sagen: Der Rechtsweg hätte in diesem Fall weniger Erfolg versprochen, als … ein beherztes Einschreiten der betroffenen Parteien.“

„Darauf könntest du deinen Hintern verwetten. Bevor ich dir das gestatte, müssen wir jedoch die Annahme in eine Gewissheit verwandeln.“

„Schwierig. Wir müssten das Manuskript lesen, um zu verstehen, ob beziehungsweise warum es aus dem Verkehr gezogen wurde.“

„Nicht notwendigerweise“, widersprach Veronica. „Es genügt, dass die Hintermänner der Tat – wenn es eine Tat gegeben hat – wussten oder glaubten, Mal Evans tanze aus der Reihe. Das impliziert, dass sie Grund zur Sorge hatten – Dreck am Stecken.“

„Weiß nicht… üble Nachrede kann den selben Effekt haben wie echte Skandale aufzudecken. Sofern wir nichts Konkreteres herausfinden, stecken wir erst einmal fest.“

Wieder senkte sich für einige Minuten Schweigen über den Tisch.

„Gibt es denn nirgends irgendwelche Kopien, ausschnittweise Vorabveröffentlichungen oder jemand, der das Original gelesen hat? Was hat Mal Evans selbst darüber gesagt? Du erwähntest gestern, er habe sein Buch über Rundfunk beworben.“

„Ich habe keine Zitate aus den Memoiren gefunden. 2005 sind in der Sunday Times ein paar harmlose Einträge aus seinem Tagebuch erschienen, die seine Witwe Lily freigegeben hatte. Die Familie schien chronisch an knappem Geld zu leiden. Evans verdiente wenig und war selten zuhause. Lily ließ durchscheinen, dass sie dies bis heute belastet und dass sie findet, die Band habe Mal schlecht behandelt. Er selbst, das zeigen die Zitate deutlich, hatte weniger Probleme damit. Er verstand sich bis zum Schluss als enger Freund der vier Musiker und blieb ein Fan der Gruppe. Dass er mit seinem Insiderwissen einmal richtig Kasse machen wollte, passt nicht recht ins Bild, das ich von ihm gewonnen habe. Du solltest dir die Interviews von Ende 1975 anhören. Er hat keinen Versuch unternommen, Skandale anzupreisen oder Sensationsgier zu wecken. Über die Beatles redete er ausschließlich in respektvollem Ton – und sie über ihn: Sie nannten ihn den ‚sanften Riesen‘.“

„Zwischen den Reden und den Taten liegen oft Welten“, warf Zach ein.

„Bei manchen Leuten mehr, bei anderen weniger. Ich würde diesen Mann zu letzteren zählen. Er hat sein ganzes Leben als Enthusiast gehandelt. Aber wie gesagt, mach dir selbst ein Bild.“

„Noch heute. Deine Schilderung klingt danach, als führe diese Fährte in eine Sackgasse oder auf einen Holzweg. Dem harmlosen Image stehen jedoch der gewaltsame Tod des Mannes und die vielen Ungereimtheiten um seine Hinterlassenschaften gegenüber. Legen wir gleich los? Bei der Gelegenheit kannst du mich endlich in die Mysterien von Pauls Studierzimmer einweihen.“

12) Koffer auf Abwegen

Sie räumten den Tisch ab und trugen das Geschirr in die Küche zurück. Veronica bestand darauf, dass ihr Vater abspülte, während sie einen Teil des Eintopfs in Portionen abpackte, die sie später einfrieren wollte. Zwanzig Minuten später betraten sie den mit Büchern tapezierten Raum, in dessen Mitte der Sci-Fi-Arbeitsplatz stand. Zach zeigte sich beeindruckt. Bevor er sich von den Bänden in den Regalen in andere Welten entführen ließ – sie kannte seine Schwäche für Gedrucktes nur zu gut – rückte Veronica einen zweiten Stuhl neben ihren Cockpitsessel und deutete an, er solle Platz nehmen.

„Ok, womit steigen wir ein?“, fragte Zach.

„Ich würde vorschlagen, ich spiele ein paar Stellen aus dem KSCN-Interview vom 29.11.‘75. Er redet mit Laura Gross über sein Leben, seine Karriere und natürlich die Beatles. Gross ist eine junge Journalistin und eine Freundin der Familie. Achte auf den Tonfall. Was er über seine Memoiren sagt, ist natürlich auch höchst interessant… Bist du bereit?“

„Kann‘s kaum erwarten!“

Veronica klickte das Lesezeichen an, unter dem der Audiomitschnitt des Interviews gespeichert war. Sie ließ es ein paar Minuten laufen, um ihrem Vater einen Eindruck vom Austausch der beiden Gesprächspartner zu vermitteln. Dann sprang sie zur Mitte der Aufnahme. Mal Evans betonte, dass er es geliebt habe, als Tourmanager der Beatles arbeiten zu dürfen. Er habe zwar drei Schwestern, aber keine leiblichen Brüder. Er bezeichnete den Sänger Harry Nilsson als seinen Blutsbruder, aber auch die vier Beatles. Dann drückte er seine Hoffnung aus, dass sie sein Buch, das bald herauskommen sollte, mögen würden. Sie hörten Laura Gross sagen: „Ich weiß, dass du niemals etwas schrecklich Negatives über sie schreiben würdest.“ Mal Evans antwortete: „Nun, das könnte ich. Ich sprach mit Ringo über das Buch. Ich sagte: ‚Ich würde dich nicht in ein schlechtes Licht rücken wollen.‘ Und er sagte: ‚Schau, wenn du nicht die Wahrheit erzählst, fang gar nicht erst damit an. Gerade du solltest es so erzählen, wie es war.‘ Und da gibt es ein paar Dinge, deretwegen sie bestimmt wütend auf mich sein werden.“ Er habe jedoch viel Spaß und eine gute Beziehung zu diesen Leuten gehabt. Daher könne er jetzt nicht etwas anderes behaupten. An was er sich erinnere, sei eine gute Zeit gehabt zu haben.

Veronica sprang zum Ende und ließ die letzten paar Minuten abspielen. Zach sagte: „Hmm, Das hört sich wirklich nicht so an, als habe er eine reißerische Publikation geplant, aber er war sich bewusst, dass es witzlos gewesen wäre, nur die angenehmen Momente zu beschreiben.“

„Ist dir aufgefallen, in welch zuversichtlicher Stimmung er sich befand?“

„Ja, der Mann hatte scheinbar mehr Pläne als Sorgen.“

„Dann schau dir mal an, was größere Veröffentlichungen über ihn schreiben.“ Veronica rief eine Textdatei auf, aus der sie vorzulesen begann: „Beatlechat bestätigt unseren Eindruck. Evans habe seine letzten beiden Lebensjahre hauptsächlich in den Staaten verbracht, wo er mit John, Ringo, Harry Nilsson, Keith Moon und anderen Musikern Partys feierte. Im September 1975 präsentierte er sich auf einem Beatles-Fantreffen in New York. Dann jedoch schwenkt der Bericht um und zeichnet ein ganz anderes Bild. Badfinger, eine erfolgreiche Band, die er entdeckt und produziert hatte, lösten sich im April auf – also lange vor dem Fantreffen –, weil der Sänger sich umgebracht hat. Evans arbeitete jedoch schon bald am Nachfolgeprojekt des Gitarristen. Angeblich – hier widerspricht sich der Bericht selbst, schwand auch der Kontakt zu den Ex-Beatles. Es ist aus anderen Quellen jedoch bekannt, dass dieser nie abgebrochen ist; er traf zum Beispiel McCartney in L.A., als der dort auftrat.“

Veronica scrollte weiter. „Hooks and Harmony sagt: ‚Die Abwärtsspirale setzte sich fort. Mal Evans trennte sich von seiner Frau Lily und zog nach Los Angeles, um Arbeit in der Musikindustrie zu suchen. Seine Frau reichte im Dezember 1975 die Scheidung ein.‘“ Sie schaute auf. „Die meisten Berichte über die Zeit zwischen der Auflösung der Beatles und Evans‘ Tod betonen die Misserfolge und spielen die glücklichen Momente des Mannes herunter, wenn sie sie überhaupt erwähnen. Oftmals bekomme ich den Eindruck, sie schreiben alle von einander ab. Und das fing unmittelbar nach dem tragischen Ereignis an. Angeblich sei er arbeitslos gewesen und habe Beziehungsprobleme mit seiner Freundin Fran gehabt. Laura Gross, die wie gesagt direkten Einblick in sein Privatleben hatte, bezeichnet diese Meldungen als ‚himmelschreiende Lügen‘.“

„Zeichnen sich hier die beiden Lager ab, auf die wir bei dem australischen Kofferfund gestoßen sind?“, überlegte Zach.

„Jetzt wo du‘s sagst… Die Partei, die Mal Evans in ein ungünstiges Licht rückte, bekam die weitaus größere Aufmerksamkeit, so wie dreißig Jahre später die Fraktion, die den australischen Koffer als ‚fake‘ abstempelte.“

„Hast du weitere Audios oder Videos oder war‘s das?“

Veronica holte einen anderen Tab ihres Browsers in den Vordergrund. „Das hier…“, sie zeigte auf den Bildschirm, „… ist eine Diskussion mehrerer Beatles-Koryphäen, darunter Ken Womack. der Mann, der an der ultimativen Mal-Evans-Biografie schreibt. Du erinnerst dich?“

„Den Namen habe ich mir gemerkt. Ich würde dem Mann wirklich zu gern einmal in die Karten schauen.“

„Rate mal wer noch. Die Aufnahme stammt vom August 2022, anlässlich eines Beatles-Kongresses in Chicago. Die Hintergrundgeräusche waren teils recht laut, aber man versteht gut genug, was die Leute sagen.“ Sie klickte auf den Abspielknopf und dann lauschten sie, bis eine Stunde später wieder Stille in Pauls Arbeitszimmer einkehrte.

Zach ächzte. „Faszinierend. Warum fühle ich mich dennoch um wertvolle Lebenszeit betrogen?“

„Vielleicht liegt es daran, dass er lediglich das offizielle Narrativ vom tragischen Hans im Glück bedient. Er lässt gerade so viel durchblicken, dass man an seinen Lippen hängen bleibt, aber eigentlich sagt er nur: ‚Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen‘.“

„Richtig. Dieselbe Masche wie bei Beatlechat: Er gibt zu, es gab ein paar Glanzlichter – Evans bezog auch nach dem Beatles-Split Gehalt von der Band, arbeitete für deren Soloprojekte, hatte Produktionsaufträge, traf McCartney in L.A., telefonierte ständig mit Lennon und Harrison, dinierte mit Ringo Starr zu Weihnachten, hatte seine fast fertigen Memoiren in der Tasche und über den 12. Januar hinaus Zeit, an ihnen zu feilen. Der Verlag zahlte Vorschuss und das Projekt war von allen vier Beatles abgesegnet. Kein Wunder klang er bei seinem Interview mit Laura Gross so glücklich“, zählte Zach auf, was er aus dem Podcast aufgeschnappt hatte. Sarkastisch: „Grund genug, sich mit Alkohol und Valium zu bedröhnen, seine Freunde vollzuheulen und ohne Anlass mit einer Knarre herumzufuchteln, bis man erschossen wird.“

„Ich sehe zwei mögliche Erklärungen für dieses widersprüchliche Verhalten: Mal Evans ‚hat sein Leben schön säuberlich in Schubladen gepackt, denen er getrennt begegnete,‘ wie Womack es einschätzt. Oder die Story, dass er psychisch zerrüttet, mit Drogen vollgepumpt und einer Waffe in der Hand sein Ende quasi provozierte, stimmt nicht.“

„Was wäre, wenn er ohne sein Wissen mit Drogen vollgepumpt wurde?“, spekulierte Zach.

Veronica grübelte. „Da wir dank Pauls Erbe wissen, dass das Manuskript sein Gewicht in Gold wert ist, können wir ein Interesse unterstellen, seine Veröffentlichung zu verhindern. Wir sind jedoch noch immer nicht in der Lage, die Darstellungen von Evans‘ Ende zu bestätigen oder zu widerlegen.“

„Was hatte die Polizei im Haus zu suchen? Wer hat die denn bestellt?“

„Seine Freundin Fran Hughes soll über seine Niedergeschlagenheit so besorgt gewesen sein, dass sie seinen Ghostwriter John Hoernie angerufen haben soll. Der berichtete, er habe Evans ‚mit Drogen vollgepumpt und benommen‘ vorgefunden. Evans habe Hoernie gebeten, sicherzustellen, dass die Memoiren auch wirklich veröffentlicht werden. Es sei dann zu einer verbalen Auseinandersetzung gekommen, bei der Evans eine Schusswaffe zur Hand nahm. Der Ghostwriter soll vergeblich versucht haben, sie ihm zu entwinden. Die Freundin rief daraufhin die Polizei an. Evans habe sich auch der Aufforderung der Polizisten verweigert, seine Waffe niederzulegen, also erschossen sie ihn.“

„Okay… der Mann hat die Kontrolle über seine Gefühle verloren – dumm gelaufen. Seine Freundin ruft die Polizei und begeht damit den Fehler ihres Lebens – steckst du nicht drin; dumm gelaufen. Die Beamten verschlampen Beweismaterial – kann passieren; dumm gelaufen. Der Nachlass verschwindet auf dem Postweg nach England – dumm gelaufen. Der Ghostwriter erfüllt den letzten Willen des Verstorbenen nicht – weil er entweder keine Kopie des Manuskripts aufbewahrt hat oder es rechtliche Hürden gab – auch dumm gelaufen. Der Verlag mottet Evans‘ Tagebuch ein und vergisst es für zehn Jahre im Keller – welch ein Zufall, dumm gelaufen. Als es zusammen mit anderen Papieren wieder auftaucht, wird nicht seine Frau informiert sondern Yoko Ono – Verfahrensfehler; dumm gelaufen. Erst 35 Jahre nach der Wiederentdeckung gibt Lily Evans zu, die Erinnerungen ihres Mannes zu besitzen. Zumindest in diesem einen Fall würde ich auf Vorsatz plädieren“, resümierte Zach. „Für sich genommen kann jeder dieser Vorgänge auf simples menschliches Versagen zurückzuführen sein, aber in der Gesamtschau halte ich so viele Irrtümer für höchst unwahrscheinlich. Falls Mal Evans vorsätzlich ausgeschaltet wurde, steht Fran Hughes zuoberst auf meiner Liste der möglichen Helfer, dann der Ghostwriter. Wer hat den Haushalt aufgelöst, ebenfalls die Freundin?“

„Nein, sein Freund, der Sänger Harry Nilsson. Er war derjenige, der die Urne und den Nachlass nach England geschickt hat.“

„Ich mag seine Musik,“ sagte Zach.

„Eine interessante Notiz am Rande: Mama Cass von The Mamas & The Papas ist 1974 tot in Nilssons Londoner Wohnung aufgefunden worden. 1978 fand man Keith Moon von The Who in exakt demselben Zimmer, in demselben Bett sogar. Beide waren zweiunddreißig Jahre alt. Die Leichenschau wurde vom selben Doktor durchgeführt. Zufälle gibt‘s…“

„Dann muss Nilsson mit auf die Liste.“

„Wenn‘s hilft. Ich sehe keine aktuellen Verbindungen dieser Leute nach Liverpool.“

„Die brauchen sie auch nicht. Uns interessiert der Auftraggeber, wenn es ihn gibt, denn das wäre wohl der, der auch hinter Pauls Tod steckt. Es müsste jemand sein der die finanziellen Mittel und personellen Verbindungen besitzt, Pauls Transaktionen zu verfolgen, und der Entsprechendes vor fast fünfzig Jahren schon leisten konnte.“

„Und der ein Interesse daran hatte und immer noch hat“, ergänzte Veronica.

„Versteht sich von selbst. Aber es grenzt den Personenkreis stark ein: zwei noch lebende Beatles, eine Beatles-Witwe, und eventuell enge Freunde der Band wie beispielsweise Donovan oder die Stones; obwohl ich es für eher unwahrscheinlich halte, dass die wussten, was in dem Manuskript stand. Die ex-Beatles hingegen hatten laut Womack die Veröffentlichung genehmigt – sicher nicht ohne die Katze im Sack gesehen zu haben.“

„Weshalb sollte man jemand eine Genehmigung erteilen und ihn dann umbringen; speziell einen engen Vertrauten und treuen Diener, mit dem man bestimmt hätte verhandeln können? Man hätte auch einfach ein Verbot aussprechen können, entweder persönlich oder auf gerichtlichem Weg; gegen die Bandkollegen ging das doch auch.“

„Weil der Mann mit seinem immensen Insiderwissen womöglich eine wandelnde Zeitbombe war. Und um den Verdacht von sich abzulenken.“

„Fein. Wir befinden uns noch immer tief im Land der Spekulation über Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten, aber das Bild gewinnt zumindest an Schärfe.“

„Findest du? Wir tappen durch einen Wald voll widersprüchlicher Informationen. Was haben wir denn als Grundlage für weitere Ermittlungen in der Hand außer diffusen Verdachtsmomenten?“, beschwerte sich ihr Vater.

„Mehr als die Polizei mit ihren unbrauchbaren Videos und geistigen Scheuklappen. Wir haben zumindest eine Ermittlungshypothese.“

„Ich habe einen Kopf, der gleich explodiert. Und ich weiß nicht, ob mir die Richtung gefällt, in die das geht. Hast du dir überlegt, was geschehen soll, falls wir einem Beatle etwas nachweisen können?“

„Die Antwort auf diese Frage hat Zeit, bis es so weit ist, aber willst du denn nicht wissen…“ Veronica stockte, setzte neu an: „Willst du denn nicht die Wahrheit kennen?“

Zach holte tief Luft. Mit zitternder Stimme antwortete er: „Ich fürchte den Abgrund, der sich vor uns auftut.“

13) Socken, Mal!

Als Veronica am Sonntag Morgen in den Laden ging, um das Sgt. Pepper-Album unter die Lupe zu nehmen, sah sie vor der Außentür eine Frau stehen. Zuerst wollte sie sie ignorieren, denn sie hatten das Geschäft noch nicht wieder eröffnet. Ihr kam jedoch das Gesicht bekannt vor. Sie trat näher und erkannte die Bedienung aus dem italienischen Restaurant, das sie vor drei Tagen besucht hatten. Die Kellnerin winkte und gab ihr durch Handzeichen zu verstehen, dass sie gern hereinkommen würde. Veronica schloss auf und öffnete.

Die Frau lächelte breit. „Grazie. Wie schön, Sie wiederzusehen, Signorina. Nur ausgerechnet hier… kaufen Sie den Fab Store?“

„Guten Morgen, Frau… äh…“

„Borghese. Maria Borghese.“ Sie trug ein einfaches schwarzes knielanges Kleid, einen kleinen schwarzen Hut und führte eine Handtasche mit.

„Kommen Sie doch herein, Frau Borghese. Mein Name ist übrigens Veronica Ziegler. Ich bin die Nichte von Herrn Campbell.“

„Oh, dann sind Sie die Erbin?“

„Nein, mein Vater. Sie haben ihn ja schon kennengelernt.“

„Si, si. Freundliche Menschen vergesse ich nicht so schnell. Ist er ebenfalls hier?“

„Ja, aber er schläft noch. Kann ich etwas für Sie tun, Frau Borghese?“

„Womöglich. Ich komme mit mehreren Anliegen zu Ihnen. Zunächst einmal möchte ich Ihnen mein Beileid für den Verlust Ihres Verwandten ausdrücken. Signore Campbell war ein feiner Mann, stets korrekt und der Wahrheit verpflichtet. Auch ich trauere um ihn.“

„Danke für Ihr Mitgefühl. Die Umstände seines Todes sind schockierend. Wir fühlen uns sehr beunruhigt.“

„Das kann ich nachvollziehen. So geht es uns allen.“

„Kannten Sie ihn persönlich, Frau Borghese?“

„Jeder hier im Viertel und jeder in Liverpool, der auf unsere Fab Four stolz ist, kannte ihn. Doch ja, ich kannte ihn näher. Wir haben auf mehreren Ebenen zusammengearbeitet. Unter anderem deshalb kam ich hierher.“

„Oh? Ich dachte, Sie verdienen Ihr Einkommen im Restaurant.“

Die Frau schüttelte den Kopf. „Signorina, niemand verdient sein Einkommen in einem Restaurant, oft nicht einmal die Betreiber. Ich habe für Herrn Campbell täglich den Laden gewischt und wöchentlich die Wohnung geputzt.“

„Das hört sich alles andere als nach einem lukrativen Job an.“

„Ein bisschen und ein weiteres bisschen ergeben einen ganzen Bissen. Signore Campbell hat ordentlich bezahlt, und er gab mir manchmal anspruchsvollere Aufträge, von denen wir gut leben konnten.“

„Ihre Kinder und Sie? Von welcher Art Aufträge sprechen Sie?“

„Meine Kinder stehen längst auf eigenen Beinen. Signore Campbell und ich haben zusammen die Archiv- und Internetrecherchen durchgeführt, die die Beschaffung von Memorabilia ermöglichten.“

„Und Sie besuchen uns heute, weil Sie hoffen, Ihre Arbeit wieder aufnehmen zu können, nehme ich an.“

„Das wird selbst unter günstigsten Bedingungen nicht leicht sein. Niemand kann Signore Campbells Gespür für dieses Geschäft und seine persönlichen Beziehungen ersetzen. Aber ich kenne meinen Anteil am Erfolg des Fab Store,“ sagte sie stolz. „Daher hege ich die Hoffnung, dass ein Nachfolger, der nicht ganz auf den Kopf gefallen ist, sich vielleicht einzuarbeiten versteht.“

„Wir haben ähnliche Überlegungen angestellt. Mein Vater und ich führen eine Detektei, die uns zwar nicht reich macht, aber ein ausreichendes Einkommen generiert. Wenn wir den Laden weiterführen sollen, brauchen wir Expertise: Details aus dem Leben der Beatles, oder Kenntnisse der Sammlerszene und des Auktionswesens, um nur einige wenige Punkte zu nennen, in denen es bei uns hapert. Ein gewisser Mr Bishop, den Sie eigentlich auch kennen müssten, hat uns dennoch Mut zugesprochen. Wir sind realistischerweise skeptisch.“

„Ach, Henry the Horse kennen Sie bereits? Ich schätze ihn als einen äußerst ehrenwerten Mann ein. Er hat stets alle Absprachen eingehalten, pünktlich bezahlt und: Ich habe ihn nie bei einer Lüge ertappt. Manche Leute nehmen es mit der Wahrheit nicht so genau, wie Sie bei Ihrer Tätigkeit bestimmt erfahren mussten.“ Maria Borghese zwinkerte.

Veronica bewegte ihre Hände auf eine Weise, die signalisierte, dass es Teil ihres Alltags war. „Die Spreu vom Weizen zu trennen gehört zu unserem Geschäft; anscheinend gehörte es auch zu dem von Onkel Paul.“

Die Frau nickte eifrig. „So ist es. Wir kannten unsere Pappenheimer unter den Kunden, wir mussten aber auch falsche von richtigen Fährten trennen. Es gibt dort draußen viele Leute, die sich wichtig machen wollen, indem sie unhaltbare Behauptungen aufstellen. Da gibt es zum Beispiel jemand auf Hawaii, der den angeblichen Mini von John Lennon für 250.000 Dollar anbietet – mit Papieren. Angeblich sei der Wagen weitgehend im Originalzustand. Selbst wer nur ein bisschen Ahnung von der Materie hat, sieht schnell, dass da etwas nicht stimmt. Wenn man die Seite im Internet Archive zurückverfolgt, fällt auf, dass anfangs keine Papiere erwähnt wurden.“

„Aha, sie waren also am Erwerb von LGF 969D beteiligt.“

„696. Die Nummer des Originals lautet LGF 696D“, korrigierte Mrs Borghese.

„…. wie in Sammlerkreisen bekannt ist!“, ergänzte Veronica, wobei sie den Tonfall des Notars Miller zum Besten gab.

Maria Borghese lachte trocken auf. „Den Herrn haben Sie offensichtlich auch schon kennengelernt. Nun, Signore Campbell und ich konnten die Spur des Autos nachverfolgen. Er ist inzwischen umlackiert worden – noch von John selbst –, aber er hat seine Nummerntafeln all die Jahrzehnte behalten. Der Wagen in Hawaii dagegen trug ein bisher unbekanntes Schild.“

Veronica war von der Detailkenntnis und dem wachen Geist der Frau beeindruckt. Sie fand, hier gab es wenig zu überlegen. Diese Mrs Borghese hatte das Schicksal zu ihnen gesendet. Natürlich konnte die Frage einer Festanstellung nur ihr Vater abschließend beantworten, aber sie hatte ein gutes Gefühl bei dieser Frau. Sie sagte: „Ob wir Sie einstellen werden, muss natürlich der Boss entscheiden.“ Sie grinste schief. „Und es hängt zuallererst davon ab, ob wir den Laden behalten. Aber wir haben uns schon über eine Putzhilfe unterhalten. Ich denke, Sie können morgen um dieselbe Zeit wieder herkommen, um ‚auf Probe‘ zu putzen; natürlich voll bezahlt. Alles Weitere bereden wir später. Was halten Sie davon?“

„Signorina, ich freue mich sehr. Grüßen Sie Ihren verehrten Herrn Vater von mir. Ich hoffe, dass er meine Dienste annimmt – zumindest, bis die Entscheidung über den Laden gefallen ist. Ich nehme doch richtig an, dass Sie da ein Wörtchen mitzureden haben?“

Sie war verdammt schnell von Begriff und sie hatte ein Gespür für Menschliches, dachte Veronica bewundernd. Außerdem fühlte sie sich, wie schon bei ihrer ersten Begegnung im Restaurant, vom sympathischem Wesen der Frau vereinnahmt. Das konnte natürlich Maskerade sein. Notorische Betrüger oder Psychopathen beispielsweise besaßen häufig die Gabe, ihre Opfer zu manipulieren, indem sie sie aushorchten, um ihnen anschließend genau das zu erzählen, was sie hören wollten. Veronicas Bullshit-Detektor hatte nicht ausgeschlagen. Das konnte ein gutes Zeichen sein – oder eine gefährliche Lücke in ihrer Wachsamkeit. Sie entschied sich, dem schönen Schein für heute zu trauen, während sie eine geistige Notiz an sich selbst verfasste, es nicht zu weit damit zu treiben. Ihr Vater hatte ebenfalls einen guten Riecher für schwierige Menschen, wie er sie euphemistisch nannte. Er würde den Versuch, sie über den Tisch zu ziehen, schnell unterbinden – falls es einen solchen gab. Falls Maria Borghese die war, die sie zu sein schien, dann… „Ja, sicher,“ sagte sie. Sie hatte ein Wörtchen mitzureden. Ganz entschieden.


Sie hatte gerade den Fuß auf die erste Treppenstufe gesetzt, da fiel ihr wieder ein, weshalb sie eigentlich in den Verkaufsraum gegangen war. Vor zwei Tagen bereits hatte sie das Sgt. Pepper-Cover in Augenschein nehmen wollen, doch ständig vereinnahmte etwas ihren Geist, bevor sie ihre Absicht realisieren konnte. Am Freitag war es Henry gewesen, am Samstag die Kofferrecherche und heute Mrs Borghese. Im Lichte neuer Fakten flexibel zu bleiben empfand sie einerseits als Stärke, andererseits verleitete es dazu, sich von den Ereignissen in eine atemlose Jagd treiben zu lassen. Was sie seit ihrer Ankunft durch Gespräche und Recherchen erfahren hatten, war sehr erhellend gewesen, in der Tat sogar atemberaubend, wie eine intellektuelle Schnitzeljagd, die von einem Hinweis zum nächsten führte, während der Rest der Realität nahezu völlig ausgeblendet blieb.

Veronica musste schmunzeln, denn es erinnerte sie an einen Cartoon, den sie gesehen hatte: Ein Pokémon-Go-Spieler folgte gesenkten Hauptes den Hinweisen auf dem Display seines Handys – direkt über den Rand einer Klippe. Es waren tatsächlich Unfälle geschehen; jemand hatte daraufhin eine App entwickelt, die das Kamerabild halb transparent überlagerte, damit ihr User wenigstens nicht durch eine ordinäre Bananenschale oder eine Bordsteinkante zu Fall gebracht wurde. Die Verengung des optischen und geistigen Horizonts durch die Spiele-App minderte die Aufmerksamkeit der Anwender jedoch auch in anderer Hinsicht: Buchstäblich unter ihrer Nase wurden ihnen Bewegungsdaten, Konsumvorlieben, Wahrnehmungsgewohnheiten und andere persönliche Daten abgesaugt, um ihr Handy dann mit subtilen Konsumbotschaften zu füttern. So steuerte man die Spieler gezielt hier in einen Imbiss, da in einen Klamottenladen und dort in ein Musikgeschäft, wo sie, oft gegen ihre sonstigen Gewohnheiten, freundlicherweise ein paar Euro, Pfund, Dollar oder Yen hinterließen. Google-Werbung macht sich auf mehr Weisen bezahlt als nur durch Klicks auf einer Suchergebnisseite. Und die Kamera-App hatte die User zum Weiterspielen verleitet, wo eine schmerzhafte Prellung angebracht gewesen wäre, um sie wieder zu sich selbst zu bringen…

Doch was beschwerte sich diese junge Nachwuchsdetektivin? Sie folgte in Gedanken ja ebenfalls schon wieder Brotkrumen und stand im Begriff, ihr Vorhaben aus den Augen zu verlieren. Der menschliche Geist bestand aus einem Sack voller Flöhe, dachte Veronica. Wie hatte ihr Vater es einmal beschrieben? Es bedurfte einiger Übungen und Tricks, um sie beisammen zu halten, damit sie Kunststücke aufführten, statt einen durch lästiges Jucken abzulenken.

So. Und nun würde sie…

„Guten Morgen, Veronica! Du kennst die Strafe für sonntägliches Frühaufstehen!“, donnerte ihr Vater von oben.

„Ja, Dad. Der erste, der aufsteht, macht Frühstück.“

„Hurtig, in die Küche! Stell sicher, dass der Kaffee ordentlich dampft.“

„Sei nett zu mir. Ich werde dich einmal pflegen.“

„Ich habe nicht vor, mein Verfallsdatum zu überschreiten. Außerdem bin ich derjenige, der die Brötchen kaufen gehen wird. Soll ich dir nun etwas Besonderes mitbringen oder nicht?“

„Brezeln, falls du in diesem nordenglischen Kral welche findest. Ansonsten nehme ich, was du erlegst. Du bist der Jäger in der Familie.“

„Ganz recht. Und jetzt runter von der Treppe, damit ich rauskomme.“

„So gehen Sie mir nicht aus dem Haus, Herr Ziegler.“

Zach schaute an seinem zerknitterten Pyjama hinunter. „Was… ach herrje! Da fehlen nur noch die Lockenwickler!“

Veronica prustete. Als sie sich an ihm vorbei drückte, empfahl sie, den Gebrauch von Kamm und Rasiermesser zu erwägen. In Anspielung auf eine Passage aus Malcolm Evans‘ Tagebuch rief sie: „Socken, Mal.“ Ein Pantoffel flog haarscharf an ihr vorbei. Sie eilte kichernd in die Küche, knallte die Tür zu und drehte den Schlüssel um. Ein dumpfes Rumsen verkündete den Einschlag des zweiten Pantoffels. Dann ging der Haushalt seinen sonntagmorgendlichen Pflichten nach.

14) Sterne, Raumschiffe, Aliens

„Keine Brezeln“, verkündete Zach die schlechten Neuigkeiten, nachdem er von der Jagd zurückgekehrt war. „Was schwäbische Spezialitäten angeht, liegt Liverpool eben doch in Afrika.“

Der Tisch war für zwei gedeckt, der Kaffee brodelte auf seiner Warmhalteplatte und die Sonne schien zum Fenster herein und tauchte den Raum in ein warmes Licht. Die Szene machte Lust auf einen gemütlichen Tag. Tochter und Vater setzten sich einander gegenüber.

„Apropos Afrika,“ begann Veronica das Gespräch, während sie Zach schwarze Brühe in die vorgewärmte Tasse goss. „Rate mal, wer heute früh vor dem Laden stand?“

Der Detektiv nippte kurz, dann goss er sich die Hälfte seines Humpens hinter die Binde. Veronica hatte in Pauls Küchenschränken eine bunte Sammlung von Motivtassen in allen Größen gefunden, die meisten mit Beatles- oder sonstigem Musikbezug. Die größte unter ihnen, die sie Zachs Gedeck beigefügt hatte, trug auf einer Seite ein Foto des mittelalten Paul McCartney; er schaute direkt in die Kamera, hatte die Augenbrauen angehoben, den Mund halb geöffnet, die Lippen gespreizt; ein Schriftzug verkündete, was das Bild fast von allein zu sagen schien: „Bäääh!“ Sie hegte den Verdacht, dass sich dahinter mehr als nur Klamauk verbarg, fand das Motiv jedoch auch ohne Insiderwissen urkomisch.

„Ist das wieder eins von deinen Ratespielchen, mit denen du mich morgens so gern quälst?“

Veronica ließ einen Moment verstreichen, während sie ihn herausfordernd anschaute. „Ja,“ sagte sie gedehnt.

Zach seufzte. „Afrika-Bezug also. Jemand, den ich kenne, natürlich.“

„Ja.“

„Aus London?“

„Nein.“ Sie schlachtete die Bäckereitüte, in der sich sechs Brötchen befanden. Eines von ihnen zog sie heraus und legte es demonstrativ bei sich auf den Teller. „Du hast noch fünf Fehlversuche, dann wärme ich dir Eintopf auf.“

Zach feixte. „Aus Liverpool dann?“

„Ja.“

„War Henry the Horse wieder hier?“

„Nein. Der sagte doch, dass er immer Montags in der Stadt frühstückt – morgen erst.“ Sie zog ein zweites Brötchen aus der Tüte und legte es wiederum auf ihren Teller. „Das war ein dummer Fehler, Herr Ziegler.“

„Miller?“

Veronica griff wortlos ein weiteres Brötchen aus der Tüte, um es den anderen beizugesellen.

Aus Zachs Kehle ertönte ein Grollen, das geeignet war, einem Pitbull Minderwertigkeitskomplexe einzuflößen. „Ich kenne niemand aus Afrika. Keiner von unseren Bekannten ist dort gewesen. Ist das wieder so ein Ding mit Beatles-Bezug?“

Veronica überlegte. „Ja, aber davon kannst du nichts wissen. Daher: nein!“ Sie schnappte sich eine vierte Schrippe aus der braunen Papiertüte.

„Leg das zurück! Du verstößt gegen die Regeln!“

„Verklag mich doch. Möchtest du einen Hinweis kaufen?“

„Ja; und wehe, du führst mich aufs Glatteis…“

„Würde ich nie wagen.“ Sie kassierte das vorletzte Brötchen aus der Tüte, grinste. „Sie spricht Schwäbisch, aber kein Hochdeutsch.“

Zach klatschte sich mit der Hand auf die Stirn. Ein Stöhnen entrang sich seiner Brust. „Ach, klar. Die Reingeschmeckte – die Kraut mit den italienischen Wurzeln. Die war heute Morgen hier? Hast du mit ihr gesprochen?“

Als Veronica nach der Bäckertüte griff, um ihm das verbliebene Brötchen zu reichen, schnappte er blitzschnell selbst danach und riss sie an sich. Sie zuckte die Achseln. „Ja, die war‘s. Siehst du – kein Beatles-Bezug, soweit es dich betrifft. Ich habe völlig fair und korrekt gespielt.“

„Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen. Was sucht eine katholische Frau zu solch unchristlicher Zeit in einem Rockmusikladen? Was erzählte sie?“

Veronica berichtete unter wortgetreuer Wiedergabe von ihrer Begegnung mit Maria Borghese.

Zach bestrich sein einsames Brötchen mit Butter und Marmelade und kaute genüsslich auf den großen Bissen, die er sich davon einverleibte, während er seiner Tochter zuhörte. „So heißt sie also. Maria,“ kommentierte er, als sie geendet hatte. „Ein hübscher Name; der passt zu ihr.“

„Das ist alles, was dir zu ihr einfällt? Ein hübscher Name? Muss Liebe schön sein“, stichelte sie gutmütig.

„Also, man wird doch noch…“ Er schnaufte, schaute sehnsüchtig auf den gegenüberliegenden Teller und fragte: „Leihst du mir eins von denen?“

Veronica lächelte warmherzig. „Nimm so viele, wie du magst. Mehr als eins oder zwei schaffe ich eh nicht.“ Dann fuhr sie fort: „Ich fand, sie war gut gekleidet, sah selbstbewusst aus und sie hat einen geistig wachen Eindruck auf mich gemacht. Ich glaube außerdem, sie verfügt über einige Menschenkenntnis und Mitgefühl. Sie zeigt Sinn für Humor, muss wohl detektivisches Gespür besitzen, wenn sie Pauls Suchaktionen zu Erfolg verholfen hat, und scheint entscheidende Einzelheiten in großem Umfang wahrnehmen und erinnern zu können.“

„Fast zu gut, um wahr zu sein“, pflichtete Zach ihr zufrieden kauend bei. „Bist du womöglich diejenige hier, die sich ein bisschen verknallt hat?“ Er zwinkerte, als sie empört schnaubte. „Schon okay, ich werde morgen mit ihr reden. Wenn sie auch nur halb so kompetent ist, wie es aussieht, kann sie bei uns bleiben. Wir brauchen dringend Hilfe, sobald wir den Laden wiedereröffnen.“

„Wow, das kommt überraschend. Du hast dich entschieden, ihn zu behalten?“

„Vorerst. Mit Marias Hilfe werden wir den Abverkauf von Teilen des Bestands durchführen. Falls das klappt, könnten wir einen Kundenauftrag annehmen, um zu sehen, ob wir in der Lage sind, den Fab Store gewinnbringend weiterzuführen. Über ein mögliches Engagement jenseits davon will ich im Augenblick gar nicht nachdenken. Die großen Herausforderungen beginnen dort gerade erst. Eine Chance auf Erfolg hat der Laden einerseits eh nur mit deiner Unterstützung, andererseits müssen wir die Detektei in unsere Planungen einbeziehen. Für dich als Mitinhaberin könnte sie das Rückgrat deiner beruflichen Zukunft darstellen. Wir sollten uns in den kommenden Wochen und Monaten also ausgesprochen vorsichtig auf eine endgültige Entscheidung zubewegen.“

„Oder mit allen vier Händen die einmalige Gelegenheit beherzt beim Schopf packen. Dank Onkel Pauls Barvermögen verfügen wir über ausreichend Substanz, gegebenenfalls jederzeit irgendwo etwas Neues anzufangen. Bessere Ausgangsbedingungen werden wir niemals wieder bekommen. Auf, lass uns das Ding reißen!“


Sie hatten mit Kaffeetassen auf ihren Wagemut angestoßen, sich gegenseitig beglückwünscht und anschließend beratschlagt, was aus diesem Sonntag werden sollte. Sie einigten sich auf ‚keine Arbeit‘, ‚Film anschauen‘, ‚Mittagsschlaf‘ und zum Ausklang des Tages ‚Buchbestand in Augenschein nehmen.‘ Veronica holte ihren Laptop aus jenem Zimmer, das gerade eben per Beschluss des Familienrats ihr persönlicher Raum geworden war. Sie trug das Gerät die Treppe hinunter ins Hinterzimmer des Ladens und baute es auf dem Tischchen vor dem Sofa auf. Sie rückte den Sessel so zurecht, dass sie sowohl den Bildschirm als auch die Straße vor ihrem Laden, die sie durch die geöffnete Zimmertür sah, bequem beobachten konnte. Sie wollte ein besseres Bild von den Zyklen der Betriebsamkeit im Cavern-Viertel gewinnen. Es interessierte sie, welche Art Leute zu welchen Zeiten die Rainford Gardens bevölkerten. Am vierten Tag ihres Aufenthalts im Fab Store wusste sie außerdem noch immer nicht, welche Läden es neben und gegenüber dem ihren gab und wer sie führte. Sie würde vielleicht morgen Vormittag, nachdem sie mit Maria gesprochen hatten, eine Runde durch die Nachbarschaft drehen, um sich vorzustellen.

Das Gebläse des Mobilrechners arbeitete hörbar angestrengt, um die CPU mit genügend Kühlung zu versorgen, damit diese das übergewichtige Betriebssystem hochfahren konnte. Das arme Ding wuchtete Modul um Modul in den Speicher, während Veronica gelangweilt die Köpfe zählte, die auf der Straße am Laden vorbeigingen. Zach kam die Treppe heruntergestiegen. Er pflanzte sich der Länge nach aufs Sofa. „Okay, was schauen wir an?“, fragte er.

„Magst du das Genre oder den Titel aussuchen?“, fragte sie zurück.

„Den Titel. Sag an, nach was ist dir zumute?“

„Gib mir was Lustiges.“

Zachs Augen schienen die Decke nach passenden Filmtiteln abzusuchen. Nach einigen Momenten konnte Veronica seinem Gesichtsausdruck entnehmen, dass er fündig geworden war. Er stieß ein bellendes Lachen aus.

„Ja, ich glaube, der Film wird mir gefallen“, sagte sie spöttisch. „Wie heißt er denn?“

„‚Dark Star‘ eins von John Carpenters Frühwerken.“

„Sterne, Raumschiffe, Aliens. Gähn!“

„Das Raumschiff sieht aus wie ein Bügeleisen, das Alien wie ein Hüpfgemüse und eine philosophierende Bombe befindet sich ebenfalls an Bord..“

„Na gut, mein Interesse ist geweckt. Leg ein.“

Eine halbe Stunde vergnügter Lautäußerungen später hatte Veronica vergessen, weshalb die Tür zum benachbarten Verkaufsraum offen stand. Der B-Streifen zog all ihre Aufmerksamkeit auf den Schirm. Ihr Vater und sie schossen kichernd Kommentare hin und her. Dann holte sie ein Klopfen an der Ladentür aus dem Raum zwischen den Sternen in das Hinterzimmer ihres Geschäfts in Liverpool zurück. Zunächst ging das Geräusch in der Soundkulisse des Films unter, doch seine kräftigere Wiederholung veranlasste Veronica schließlich, nach draußen zu schauen. Ein Mann in der traditionellen Kleidung englischer leitender Büroangestellter – komplett mit Aktentasche, schwarzem Anzug, Juppe, weißem Hemd und Melone auf dem Kopf – hatte sich vor ihrem Eingang aufgebaut. Er setzte gerade erneut an, die Tür mit seinen Fingerknöcheln zu bearbeiten. Veronica stoppte den Film, sehr zum Ärger ihres Vaters, der sich köstlich über Sgt. Pinbacks Kapriolen amüsiert hatte, das ausgebüxte Alien wieder einzufangen. Er zog die Augenbrauen zusammen. Eine steile Falte bildete sich über seiner Nasenwurzel. „Was ist?“

„Besuch. Sieht offiziell aus.“

„An einem Sonntag?“, quäkte er. „Der soll sich verzischen!“

Er stand dennoch auf, schlüpfte in seine Pantoffel und schlurfte durchs Halbdunkel des unbeleuchteten Verkaufsraums zur Fronttür. Dabei stieß er mit den Zehen des rechten Fußes gegen ein Tischbein. Er fluchte leise und hüpfte auf dem anderen Bein der Tür entgegen. Der Besucher hatte ihn nun bemerkt und das Klopfen eingestellt. Geduldig blickte er Zach entgegen, der sich um eine würdigere Fortbewegungsweise bemühte. Der Detektiv griff nach dem Schlüssel, den er bei der Rückkehr vom Bäcker auf dem Tresen liegen gelassen hatte. Zügig schloss er auf, öffnete die Tür und herrschte den Mann an: „Ja? Sie wünschen?“

„Mr Zachary Ziegler?“

„Will wer wissen?“

15) Eine wichtige Botschaft

„Ich suche Sie im Auftrag von Mr Kite auf. Er ist Stammkunde in Campbell‘s Fab Store und…“

„Ich weiß, wer Mr Kite ist, –“ schnauzte Zach, wenngleich weniger druckvoll, als er beabsichtigt hatte. Sein Ärger über die Störung begann sich bereits aufzulösen. Als Vollblutddetektiv plagte ihn permanent die Neugier. So auch jetzt. Welch kauziger Auftritt dieses Typen, der keinen eigenen Namen nannte, sondern sich als Besitz eines wesentlich bedeutsameren Befehlsgebers zu verstehen schien – formell gekleidet, aber eben lediglich der Hund eines Herrchens, unter dem er sich zweifelsohne eine Ehrfurcht gebietende Präsenz vorzustellen hatte. Seit Paul ihm gezeigt hatte, wie man die unbesiegbare Aura der scheinbar Allmächtigen brach, beeindruckten ihn Äußerlichkeiten wie Kleidung, Posen oder Wortgewalt jedoch überhaupt nicht mehr. Er würde diesem Wauwau die Hausregeln erklären und ihm dann freundlicherweise erlauben, den Wunsch seines Herrn vorzutragen. „– aber am siebten Tage ruhte selbst Gott, der Herr,” fuhr er fort, “und ich habe nicht vor, daran etwas zu ändern. Sonntags bleibt dieses Geschäft geschlossen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag.“

Er tat so, als wolle er der Melone die Tür vor der Nase zuschlagen. Diese öffnete und schloss ihren Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen, hob schnell die Hand und würgte ein krächzendes „Aber…!“ hervor.

„Ist noch was?“, fragte Zach.

Melone fasste sich mit der Rechten ins Revers, tastete eine gefühlte Ewigkeit darin herum und produzierte schließlich eine Visitenkarte, die er dem Detektiv wortlos entgegenstreckte. Zach musterte den Mann von oben bis unten, bevor er sie annahm. Lässig drehte er sie zwischen den Fingern, dann schaute er nach unten. Er las:

‚M. Kite, Nutznießer. The Wallace Castle Liverpool, Scotland Road,‘ und eine Telefonnummer.

„Mr Kite, ja. So weit waren wir schon.“

Erneut hatte er Melone auf dem falschen Fuß erwischt. Die Augen weiteten sich, der Mund formte ein O, durch das Luft hörbar nach innen strömte. Einen Moment schien es, als wolle er zu weinen anfangen, doch dann begann der Mann, seine Fassung wiederzugewinnen. Er räusperte sich und sagte: „Mr… hrm… Kite wünscht mit Ihnen zu sprechen und schlägt ein Treffen auf seinem Schloss vor. Er lässt fragen, ob es Ihnen gleich morgen recht wäre.“

Zach ging im Geist ihre Vorhaben für den kommenden Tag durch. „Nein,“ erwiderte er. Sie würden ausgiebig mit Maria Borghese sprechen. Eventuell würde auch Henry hereinschauen; wer konnte sagen, wie viel Zeit sie danach brauchten, alles zu verarbeiten, oder welche Erledigungen umgehend zu tätigen sein würden. „Morgen bleibt keine Zeit für zusätzliche Termine,“ fuhr er fort. „Was, meinen Sie, wird Mr Kite von dem Vorschlag halten, das Treffen um einen oder zwei Tage zu verschieben?“

Der Mann zog ein Taschentuch heraus, nahm seine Melone ab und tupfte sich die Stirn. Dieses Gespräch schien seinem Handlungsspielraum das letzte abzuverlangen. Zach hegte fast so etwas wie Mitgefühl für ihn, doch so leid es ihm tat – man musste seine Pflöcke früh genug einschlagen, sonst wurde man gnadenlos überfahren. Er hatte nicht vor, den Laufburschen für die örtliche Schickeria zu spielen, und er würde es sie von der ersten Sekunde an wissen lassen.

Melone hatte sich endlich zu einer Antwort durchgerungen. Er sagte: „Ich… äh, betrachten Sie Dienstag als bestätigt. Bitte finden Sie sich pünktlich um 11 Uhr mittags in Wallace Castle ein. Auch Ihre Begleiterin ist willkommen.“ Er tupfte erneut Schweiß von der Stirn.

Zach nickte ihm zu. „Einverstanden. Richten Sie Mr Kite meinen Dank für seine Einladung aus. Ich freue mich, mit ihm plaudern zu können.“ Er griff in die Gesäßtasche seiner Hose, holte eine Zehn-Pfund-Note heraus und steckte sie der Melone in die Brusttasche. Er lächelte dem Mann freundlich zu, dann drehte er sich um, ging in den Laden zurück und schloss die Tür. Ohne sich noch einmal umzusehen strebte er der hell erleuchteten Tür des Hinterzimmers zu, diesmal sorgfältig darauf achtend, nicht mit Hindernissen zusammenzustoßen. Auf dem Weg nach hinten entgleisten ihm sämtliche Gesichtszüge; er zwang sich zu einem ruhigen aber zügigen Schritt. Doch sobald er die Tür hinter sich zugeworfen hatte, platzte es aus ihm heraus. Er begann lauthals zu lachen. Veronica, die die seltsame Unterhaltung verfolgt hatte, stimmte sofort mit ein. Sie prusteten und keuchten und krümmten sich mehrere Minuten lang. Jedes Mal, wenn einer der beiden sich etwas beruhigen wollte, überwältigte sie eine erneute Lachsalve. Tränen rannen ihnen an den Wangen herab. Sie klopften sich gegenseitig auf den Rücken, stampften mit den Füßen und ließen sich etliches später endlich halb entkräftet auf ihre Sitze fallen.

„Hätte ich ihn fragen müssen, ob wir etwas aus der Pommesbude zu essen mitbringen sollen?“, setzte Zach erneut an. Die Frage löste eine weitere Runde vergnügten Gackerns aus.

„Schluss jetzt, ich kann nicht mehr!“, japste Veronica.

„Schmeiß den Film wieder an,“ krakeelte ihr Vater, „ich sehne mich nach echten Menschen.“

„Und ich nach authentischen Außerirdischen“, ergänzte sie.


Der Film lenkte sie für ein Stündchen von der Begegnung ab, und von all dem, was mit dem Mord an dem armen Onkel Paul zusammenhing. Weder Zach noch Veronica war wohl zumute, wenn sie daran dachten, welche Umstände sie nach Liverpool in dieses Haus geführt hatten. Ihre flippigen Unterhaltungen, durch die sie ein Stück ihrer Londoner Normalität in diese unbekannte Stadt importierten, und das hysterische Gelächter von gerade eben, das ihrem irrationalen Spiel mit schwer einzuschätzenden Gefahrenquellen geschuldet war, lagen wie ein dünner Firnis über dem tief sitzenden Gefühl von Bedrohung, das sie beschlichen hatte. Erst vor fünf Tagen waren sie hier eingetroffen, aber Thomas Henry Bishops Warnung, dass der Abgrund, in den sie gerade blickten, zu ihnen zurückschauen könnte, verfolgte sie bis in die unruhigen Träume des langen Mittagsschlafs, den sie sich heute gönnten. Als sie gegen drei Uhr nachmittags erwachten – mit Schmerzen im Hintern, gebrochenem Kreuz und zerknittertem Gesicht – hatte sich ihre Stimmung ins Gegenteil dessen verwandelt, was sie am Morgen gewesen war. Veronica setzte eine neue Kanne Kaffee auf, dann machten die beiden es sich in einer Art Katzenjammer am Küchentisch bequem.

„Was mich seit Tagen irritiert,“ begann Zach, „ist diese seltsame Leere an der Stelle, an der Paul einen Platz in meinem Herz haben müsste. Er war mein bester Freund, als wir zur Schule gingen, und eine große Stütze zu der Zeit, als du zur Welt gekommen bist. Er verdiente ein Dankeschön und eine Entschuldigung, doch er ließ sie mich nie aussprechen. Zwanzig Jahre lang hielt er sich vor mir versteckt, und dann plötzlich dieser gewaltsame Tod, der endgültig alle Brücken zwischen uns einreißt. Diese Erkenntnis der unwiderruflichen Trennung war es, die mich im ersten Moment schockierte. Ich sollte traurig sein oder auf eine egozentrische Weise verärgert, weil er mir jede Gelegenheit genommen hat, unser geknicktes Verhältnis wieder zu kitten. Aber: nichts. Da ist nichts. Ich fühle – nichts! Er ist als ein unbekannt Gewordener gestorben, als Kondensationskern einer Gemeinschaft schattenhafter Fremder, als Kenner einer untergegangenen Kultur, der es zu Reichtum gebracht hat, indem er deren Artefakte aus dem Dunkel der Zeit ins Licht der Gegenwart zerrte. Weder zu dem Mann noch zu dem, was er uns hinterlassen hat, kann ich eine Beziehung herstellen… verstehst du, was ich sagen will?“

Veronica, über ihren Humpen gebeugt, den sie mit beiden Händen festhielt, hob den Blick, um ihrem Vater direkt in die Augen zu schauen. „Ich kann nur vermuten, was du fühlst – oder eher, was du nicht fühlst“, antwortete sie langsam. „Vielleicht ist es schwieriger für dich als für mich, weil du ihn einmal gekannt hast. Für mich besitzt er kaum mehr Substanz als der König aus einem Märchen oder irgendein Fremder, über den die Zeitungen berichten. Ich fühle keine Trauer, weil Onkel Paul nie einen Raum hier drin“ – sie klopfte sich auf die Brust – „eingenommen hat.“ Veronica überlegte kurz. „Total abgefahren! Ich meine, von einem Moment auf den anderen tritt jemand in mein Leben, der die Macht hat, es völlig auf den Kopf zu stellen, und ich weiß nicht einmal, wie er aussieht… aussah. Ich lerne ihn kennen, indem ich seine Überreste vom Boden kratze, seine Wohnung benutze, mit seinen Geschäftspartnern den Faden wieder aufnehme und mich für die Dinge zu interessieren beginne, die für ihn eine Bedeutung hatten. All das scheint mir mehr abenteuerlich als traurig.“

„Bäääh!“ – das Meckern eines Schafs.

Veronica sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. „Womit habe ich diesen Kommentar verdient, Herr Ziegler? Gerade noch wähne ich mich in einem ernsthaften Gespräch, und plötzlich reden Sie in Zungen.“

„Dank deiner Erläuterungen kam mir gerade der Gedanke, dass Paul hier“ – er drehte seine Tasse so, dass seine Tochter das Foto McCartneys sehen konnte und tippte mit dem Zeigefinger darauf – „nicht etwa seine Meinung zur Qualität des Tasseninhalts abgibt, sondern eine wichtige Botschaft für uns hat.“

Veronica schüttelte irritiert den Kopf. „Die da lautet?“

„Steht doch da.“

„Bäääh!? Das ist mir zu hoch.“

Zach stieß ein bellendes Lachen aus. „Wenn wir den wahren Paul erkennen wollen, müssen wir ihn völlig neu sehen lernen“, sagte er. „Nicht so, wie andere ihn für uns zeichnen – den netten Mann, der stets etwas Schönes für die Leute aus dem Hut zauberte –, aber auch nicht so, wie er sich selbst verstand: als Schäfer einer Herde, die zu dumm ist, seine wahre Funktion zu erkennen.“

„Okaay…“, sagte Veronica gedehnt. „Und wie stellen wir das an?“

„Indem wir ihn beobachten, ihn regelrecht ausspionieren – so, wie wir es bei einem Auftrag normalerweise tun. Wir lesen seine Emails, scannen seine Festplatte, prüfen seine Kontobewegungen, schauen in seine Manteltaschen,“ – Veronica schluckte; – „durchsuchen seine Möbel, leuchten in die staubigen Ecken seiner Wohnung, suchen nach verborgenen Hohlräumen, vollziehen seine Tagesaktivitäten nach. Was wir finden, vergleichen wir mit dem, was er über sich selbst erzählt hat und was andere über ihn sagen.“

„Arbeit für eine, die Vater und Mutter erschlagen hat… Na gut. Da passt ja unser Vorhaben, die Hausbibliotheken zu inspizieren, perfekt ins Programm. Suchen wir nach etwas Bestimmtem oder wollen wir uns zunächst ein allgemeines Bild von der Sammlung machen?“

„Lass uns schauen, womit er sich beschäftigt hat, welche Fächer und Themen ihn interessierten. Vielleicht fällt uns dabei schon etwas auf, dem man weiter nachgehen kann: viel benutzte Bücher mit Markierungen, Widmungen oder Randnotizen; Briefe und Fotos, die als Lesezeichen eingelegt wurden – derlei.“

16) Das Bild im Spiegel

Sie gingen zuerst in das von Veronica in Besitz genommene Gästezimmer, da ihnen der kleinere Buchbestand trotz der fortgeschrittenen Uhrzeit bewältigbar schien.

„Hast du schon in die Fächer des Sekretärs geschaut?“, fragte der Detektiv.

„Nicht in alle. Soll ich ihn mir vornehmen?“

„Unbedingt.“ Er trat an eines der maßgeschneiderten Regale und legte den Kopf schief, um die Titel auf den Buchrücken zu lesen. Allein in diesem Zimmer mochten an die zweitausend Bände stehen. Im Raumschiffleitstand, wie er Pauls Studierzimmer bei sich nannte, mochten drei bis vier Mal mehr untergebracht sein. Veronica hatte recht. Die Aufgabe, Pauls Leben in allen Einzelheiten zu untersuchen, wäre eine angemessene Strafe für jenen Verbrecher, der ihn ermordet hatte. Diese Sache besaß das Potenzial, sie auf Jahre hinaus mit nichtigen Details zu beschäftigen. Im Moment interessierten sie sich jedoch nur für die groben Züge, und sie waren auf der Suche nach Auffälligkeiten. Er wollte den Mann kennenlernen, dem er seinen unverdienten Wohlstand verdankte, nicht nur dessen Nutznießer sein. Da war es wieder, dieses Wort. Es trug den Beigeschmack des Parasitären. Wer hatte es sich auf die Fahnen geschrieben? Zach schob den Gedanken an den Rand seines Bewusstseins und konzentrierte sich wieder auf die Bücherwand vor ihm. Er mochte den literarischen Geschmack, der sich hier manifestierte. Paul hatte seinen Gästen eine große Bandbreite von Klassikern zur Verfügung gestellt, dazwischen einige wenig bekannte Perlen wie John Christophers ‚Leere Welt‘ oder Daniel Quinns ‚Ismael.‘

Veronica sprach ihn an. Sie hatte die Inspektion des Sekretärs zügig beendet und meldete nun, dass sie außer mit Rosenwasser parfümiertem Briefpaper und einigen Haarbändern nichts gefunden hatte, das der Erwähnung wert wäre. Sie vermute, dass sich weibliche Gäste hier aufgehalten hatten. Zach brummte. Veronica ging zum Bett, setzte sich auf die Kante, schaute sich um.

Zach nahm die Begutachtung der Büchersammlung wieder dort auf, wo er unterbrochen worden war. ‚Die drei Sonnen‘ von Cixin Liu; Simmels ‚Bis zur bitteren Neige‘, B. Travens ‚Das Totenschiff‘. Er zog den Band heraus. Eine Postkarte steckte als Lesezeichen darin; das Motiv zeigte den Hafen von Lissabon, die Nachricht auf der Rückseite war schwer zu entziffern. Er legte die Karte wieder ins Buch und stellte dieses an seinen Platz im Regal. Weitere Buchrücken, und noch weitere. Er zog einen dicken Schinken heraus. Ein Spalt im oberen Schnitt ließ erkennen, dass etwas in ihm steckte. ‚Die Brüder Karamasow‘ las er auf dem Einband. Er schlug das Buch auf. Ein Foto, das ihm bekannt vorkam. Zuerst begriff er nicht. Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schock: Das waren er und sein Stiefbruder, vor genau zweiundzwanzig Jahren. Sie standen vor der Kirche, Paul hielt Veronica, sein Patenkind, auf dem Arm, kurz nach der Taufe.

Zach drehte sich zu der jungen Frau um, die sie heute war. „Schau, das ist Paul…“

Sie lag auf dem Bett, die Augen geschlossen, die Füße noch immer auf dem Boden stehend. Ihr Atem ging ruhig. Ihr Vater betrachtete sie; ein sanfter Ausdruck legte sich auf seine Züge. Er holte tief Luft, schlug einen Zipfel der Tagesdecke über sie und stellte das Bild so auf den Sekretär, dass sie es beim Aufwachen sehen musste. Dann las er die Stelle, an der er es gefunden hatte. Sie schien ihm nichtssagend. Also schlug er das Buch zu, stellte es wieder ins Regal und verließ das Zimmer. Leise schloss er die Tür hinter sich.


Veronica erwachte irgendwann in der Nacht. Ihre Augen öffneten sich zuckend. Es war stockfinster. Sie fühlte sich, als schmerze jeder einzelne Wirbel. Vorsichtig stützte sie sich zunächst auf ihre Ellbogen, dann richtete sie sich vorsichtig in sitzende Position auf. Wo war sie? Schwaches Licht drang durch zwei Fenster. Ein kleiner Raum. Nachdem sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, schälten sich die groben Umrisse der Einrichtung schattenhaft heraus. Regale. Bücher. Ein Schränkchen… ein Sekretär! Ach ja, das Gästezimmer… nein, ihr Zimmer im neuen Zuhause, korrigierte sie sich. Die Erinnerung an den frühen Abend kehrte zurück. Sie war eingeschlafen, einfach so. Zu viel Information, zu viel Gefühlsachterbahn. „Bäääh!“, blökte ein Schaf in einem Winkel ihres Geistes. Veronica musste unwillkürlich lachen. „Danke fürs Wecken“, sagte sie. Sie rieb sich die Augen, dann tastete sie sich zur Tür und dem Lichtschalter daneben. Als das Licht aufflammte, kniff sie die Lider fest zusammen. Mann, war das grell. Durch enge Schlitze schaute sie zum Sekretär hinüber, auf dem ein Taschenwecker stand. Fast zwölf Uhr! Den Sonntag hatte sie also mit Bravour in süßem Nichtstun vergeudet. „Gut gemacht, Veronica!“, schalt sie sich. „Weit hast du‘s gebracht mit deinen Recherchen.“

Sie fühlte sich gleichzeitig wach und antriebslos und setzte sich daher auf den Boden, den Rücken ans Bett gelehnt. Was jetzt? Duschen? Dann wäre an Schlaf wohl nicht mehr zu denken; es würde ein langer, langer Tag werden, dieser Montag. Ihre Augen schweiften über die unteren Fächer des gegenüberliegenden Regals, ohne zu begreifen, was sie sah. „Bha-ga-vad-gi-ta“, buchstabierte sie träge den Titel eines dicken Buches. „Christian Rosenkreutz“ las sie auf dem nächsten Buchrücken. Darauf folgten „Das Ägyptische Totenbuch“, einige Bände aus der Hand Aleister Crowleys, drei Bände der „Geheimlehre“ von Helena Blavatsky, „Die Lehren des Hermes Trismegistus“, „Kybalion“, „Kabbala für Fortgeschrittene“ und dieser seltsame Band mit den ihr unbekannten Symbolen auf dem Rücken. Sie zog ihn heraus und öffnete ihn wahllos: das Faksimile einer alten Handschrift, Bilder von ihr unbekannten Pflanzen und Tieren, eingerahmt von schwer leserlichem Kauderwelsch, den sie nicht entziffern konnte. Schön aber schräg, dachte sie und stellte ihn zurück. Eine „Einführung in die Numerologie“ stand rechts daneben. Bedeutungsschwer, stellte sie fest, ungeeignet für diesen Moment. Sie würde Maria fragen, ob sie wusste, was es damit auf sich hatte. Die Müdigkeit drohte sie wieder zu übermannen. Um nicht erneut in zerknitterten Klamotten aufwachen zu müssen, zog sie sich aus, ließ alles einfach zu Boden gleiten, schlüpfte unter die Decke und war im Nu eingeschlafen.


Sechs Uhr früh. Erneut war sie die erste, die den beginnenden Tag begrüßte. Das wurde langsam zur Marotte. Draußen herrschte nebliges Grau, das jede Regung, das warme Bett zu verlassen, absurd erscheinen ließ. „Bleib doch noch ein wenig liegen,“ suggerierte es, „schließ die Augen und genieß das zwielichtige Reich des Halbschlafs.“ Doch Maria Borghese würde heute erneut vorsprechen. Veronica wollte besser darauf vorbereitet sein als tags zuvor, als das plötzliche Wiedersehen mit der sympathischen Bedienung aus dem italienischen Restaurant sie völlig überrumpelt hatte. Die Offenbarung, dass sich mit Maria eine Gelegenheit eröffnete, Onkel Pauls Werk fortzuführen, statt bei Null beginnen zu müssen oder den Laden einfach zu schließen, hatte sie ebenso unverhofft getroffen. Sie überlegte, wie sie Marias Talente auf die Probe stellen konnte. Ein, zwei vage Ideen begannen Form anzunehmen, während die junge Detektivin die Bettdecke beiseite schlug, die Füße auf den weichen Teppichboden stellte und sich auf den Weg zur Dusche machte.

Erfrischt und wesentlich erfolgreicher als bei ihrem nächtlichen Versuch, ihr Wachbewusstsein wieder herzustellen, schnappte sie zehn Minuten später einen Taschenspiegel von einer Ablage im Badezimmer. Sie eilte die Treppen hinunter, wo wie einen Blick auf das runde Bild unter McCartneys jugendlichem Gesicht warf. Spontan nahm sie es von der Wand, dann öffnete sie die Tür zum Verkaufsraum, schaltete das Licht ein und suchte nach der Stelle, an der Henry das Album aus den LP-Sortierkästen gezogen hatte. Sie blätterte durch fast zwei Dutzend Beatles-Scheiben, bevor sie fand, was sie seit Tagen unterschwellig beschäftigt hatte: Das Cover zeigte zahlreiche bekannte Gesichter – von Cassius Clay über Lorenz von Arabien und die Monroe bis zu Karl Marx – vor einem blauen Hintergrund. Dessen farbliche Intensität wurde nur durch die vier Gestalten im Vordergrund des bunten Haufens in seiner Dominanz angegriffen. Die Blasinstrumente, die sie in Händen hielten und ihre pseudomilitärischen Karnevalsuniformen wiesen sie als Marschkapelle aus. Ihre schnurrbärtigen Gesichter schauten selbstbewusst in die Kamera – ganz im Gegensatz zu den vier kindlichen dunkel gekleideten Pilzköpfen neben ihnen, die einen frisch aufgeworfenen Erdhügel am unteren Bildrand anstarrten. Auf ihm formten rote Blumen das Wort „Beatles“. Darüber, genau im Zentrum des Covers, zu Füßen der Marschkapelle, nahm das auffälligste Element der ganzen Szenerie den Blick der Betrachterin gefangen. Die große Basstrommel trug die Aufschrift „SGT.PEPPERS LONELY HEARTS CLUB BAND“.

„Da laus mich doch der Affe!“, dachte Veronica, die das Cover natürlich schon unzählige Male in ihrem Leben gesehen hatte, zuletzt mehrfach bei ihrem Gang durch Liverpools Cavern-Viertel – nur eben nie mit den Augen einer Detektivin, die ein Geheimnis aufzuklären versuchte. Es war so offensichtlich. Trotzdem war ihr früher nie der Gedanke gekommen, dass es sich um eine Begräbnisszene handeln könnte. Die kräftigen Farben und die vielen zuversichtlichen, teils lachenden Gesichter der versammelten Prominenz hatten sie glauben lassen, es handle sich um einen fröhlichen Anlass, an dem alle für ein Foto posierten. Doch der Spielmannszug hieß nicht „The Beatles“; diese lagen unter einer Blumenrabatte begraben. An ihre Stelle war Sergeant Peppers Klub der einsamen Herzen getreten, ein neuer Stern am britischen Rockmusikhimmel.

Veronica ging zum Tresen, legte die Schallplatte darauf und das runde Bild direkt daneben. Sie zückte den Taschenspiegel und hielt ihn waagerecht genau mittig über den Schriftzug „LONELY HEARTS”, so dass er den oberen Teil der Basstrommel spiegelte. Sie hatte halb gehofft, dass Onkel Pauls mysteriöse Wanddekoration lediglich ein schrulliges Stück bildender Kunst darstellte, bei dem der Urheber die Wirklichkeit ein wenig zurechtgezupft hatte, um sich interessant zu machen. Doch was ihr Spiegel zeigte, war mit dem Bild im schwarzen runden Rahmen völlig identisch. Statt „LONELY HEARTS“ las sie nun:

I ONEI X HE DIE

„Oh shit!“, zischte sie leise. Sie hatte keinen blassen Schimmer, was die linke Hälfte des kryptischen Schriftzugs zu bedeuten hatte. Es musste sich um eine Art Code handeln. Dafür schien die Aussage der rechten um so klarer. Die kleine Raute entpuppte sich als Pfeil. Was man auf dem Bild ihres Onkels nicht sehen konnte: Sie zeigte auf den Mann in der leuchtend blauen Uniform. Sie zeigte auf McCartney – Paul McCartney.

Halt, unterbrach Veronica sich selbst. Der Zusammenhang war auch im Hinterzimmer hergestellt. Es war das Porträt des jugendlichen Paul McCartney, das oberhalb des kleinen runden Rahmens hing. In ihrem Kopf brach ein Sturm zahlreicher Stimmen los, die alle gleichzeitig um Aufmerksamkeit buhlten: Was sollte das? Wollte die Band mitteilen, dass der Musiker gestorben war? Verschlüsselte der kryptische Teil des Codes den Hergang, das Datum oder den Grund? Wer spielte nun an Pauls Stelle?, ratterten manche ihren langen Fragenkatalog herunter, während andere, ohne eine schlüssige Antwort zu geben, jeden Zweifel an der Kontinuität der Bandgeschichte als Quatsch deklassierten; das Spiegelbild musste durch reinen Zufall entstanden sein, behaupteten sie. Es sei ein technisches Artefakt, in das Unsinn hineininterpretiert wurde.

„Aber weshalb hat Onkel Paul dieses Artefakt an die Wand gehängt?“, quengelten weitere Stimmen. „Doch bestimmt nicht, weil er es für Unsinn hielt. Und falls jener andere, jener bekanntere Paul verstorben ist, spielte das eine Rolle beim Mord an dem Ladenbesitzer desselben Vornamens?“

Veronica hatte den Eindruck, einer Pressekonferenz oder einer heftigen Parlamentsdebatte beizuwohnen, die durch eine provokante Äußerung des Redners in einen Hexenkessel erhitzter Gemüter verwandelt worden war – nur dass sich die „Debatte“, wenn man das erregte Geschrei so bezeichnen wollte, in ihrem Geist abspielte. Sie rieb sich die Schläfen, atmete tief durch. Das kakophone Geschnatter und Geratter wurde leiser und verstummte nach einer Minute regelmäßiger Atemzüge schließlich ganz. Sie würde dem nachgehen – aber nicht jetzt. Jetzt würde sie das Frühstück für ihren Vater und sich selbst auftischen, danach einen Imbiss für drei zubereiten.

17) Damenbesuch

Zach schneite um sieben in die Küche, in der es angenehm nach einer warmen Morgenmahlzeit roch. Entgegen seiner üblichen Stimmung um diese Uhrzeit grüßte er Veronica fröhlich. „Na, schon wieder die Erste? Hast du nicht gut geschlafen?“, fragte er.

„Vielleicht ein bisschen zu lang,“ entgegnete sie, „aber sonst ganz okay. Wie steht‘s mit dir? Warum bist du so aufgekratzt? Du hast doch den Clown noch gar nicht gefrühstückt, den ich dir servieren wollte.“

„Ich? Aufgekratzt? Dummes Zeug. Ich kann es bloß kaum erwarten, mich in diese aufgabenreiche Woche zu stürzen.“

„Die zufällig mit gut aussehendem Damenbesuch beginnt.“

„Nonsens!“, polterte er.

„Süß, wie er sich windet.“ Sie zwinkerte. Zach zog eine Grimasse und stieß einen Laut aus, der wie „Hrmpf“ klang. Dann ließen sie das Thema ruhen und setzten sich. Veronica erläuterte die Fragen, die sie ihrer Meinung nach Maria Borghese stellen sollten. Es war ihr daran gelegen, einige Zusammenhänge zu klären, die zu beunruhigenden Folgerungen führen konnten. Wenn Maria ihre Arbeit für den Fab Store wahrheitsgemäß geschildert hatte, musste sie irgendwann auf dieselben irritierenden Tatsachen gestoßen sein. Sie sollte zumindest wissen, welchen Fäden zu folgen die Zieglers der Lösung des Geheimnisses um das verschwundene Manuskript und den Tod Paul Campbells näher bringen konnte. Zach erklärte sich einverstanden.

Gegen acht Uhr stiegen sie die Treppen hinab. Das Licht im Hinterzimmer brannte noch und die Tür zum Verkaufsraum, der ebenfalls hell erleuchtet war, stand offen. Ihr frühmorgendliches Selbst hatte beim Rückzug aus dem Gedankensturm wenig Sinn fürs Detail walten lassen, gestand Veronica sich ein. Sogar die Schallplatte, der Taschenspiegel und das kleine rund gerahmte Bild lagen noch dort, wo sie sie zuletzt betrachtet hatte. Der Seitenblick und das spöttische „Tsk tsk!“ ihres Vaters ärgerten sie. Sie war stolz auf ihren kühlen Kopf, den sie normalerweise selbst in emotional anstrengenden Phasen ihrer detektivischen Arbeit zu bewahren verstand. Den Schock, den sie angesichts des Peppers-Codes und seiner Implikationen empfunden hatte, betrachtete sie als Blöße. Sie würde alles daran setzen, die Scharte auszuwetzen.

Maria stand bereits vor der Tür. Sie unterhielt sich mit einer anderen Frau. Als die Türglocke klingelte, unterbrachen die Frauen ihr Gespräch und schauten herüber.

„Bongiorno, Signore Ziegler!“, grüßte Maria Borghese mit typisch italienischer Melodik.

„Guten Morgen“, sagte auch die andere Frau, eine vielleicht Vierzigjährige, deren Stimme und Gebaren an ein kleines Vögelchen erinnerte.

„Guten Morgen, die Damen!“, grüßte Zach gut gelaunt zurück. „Endlich haben wir ordentliches britisches Wetter“, fuhr er nach einem kurzen Fingerzeig auf die trübe Suppe über ihren Köpfen fort. „Der ewige Sonnenschein ging mir schon langsam auf die Nerven.“

Die Frauen lachten heiter und nickten.

„Lassen Sie sich nicht stören. Ich möchte nur mitteilen, dass wir nun bereit sind. Sie dürfen jederzeit hereinkommen, Mrs Borghese.“

„Grazie. Es gibt nichts Wichtiges. Wir sind uns nur zufällig begegnet und haben ein paar Worte gewechselt. Ich bin sofort bei Ihnen.“

Die Frauen verabschiedeten sich mit Wangenküsschen, dann nahm die Italienerin die drei Stufen zum Laden im Eilschritt. Drinnen angekommen grüßte sie die beiden Zieglers erneut. Sie gab zunächst Zach, dann Veronica die Hand. „Signore Ziegler, wie schön, Sie wiederzusehen.“

„Die Freude ist ganz meinerseits, Mrs Borghese. Die Käse-Spaghetti schmeckten ausgezeichnet. Doch wer hätte gedacht, dass Sie zu so viel mehr fähig sind?“

„Obwohl ich dem Koch ein paar Rezepte geschenkt habe, trage ich keine Verantwortung für die Qualität der Speisen im Restaurant. Wenn ich darf, werde ich hier eines Abends original schwäbisches Essen für Sie beide kochen.“

„Wir werden Sie beim Wort nehmen,“ kündigte Zach an, „doch lassen Sie uns zunächst über Geschäftliches reden. Falls Sie als Putzhilfe bei uns anfangen möchten, können sie sofort zu denselben Bedingungen beginnen wie bei Mr Campbell – oder möchten Sie nachverhandeln?“

„Sehr freundlich Signore Ziegler. Ich bin mit dem alten Vertrag zufrieden. Signore Campbell hat die Bezahlung ein Mal im Jahr an die Inflation angepasst. Ich werde täglich den Boden des Ladens wischen, bei Bedarf das Schaufenster putzen und die Einrichtung abstauben. Montags reinige ich das Hinterzimmer und die Wohnung.“

„Ganz wunderbar, Mrs Borghese. Haben Sie zufällig eine Kopie des Vertrags dabei? Ich werde ihn auf meinen Namen neu aufsetzen.“

Die Italienerin öffnete ihre Handtasche, zog einen doppelt zusammengefalteten Briefbogen heraus und reichte ihn dem Detektiv. Zach bemerkte die präzisen, eleganten Bewegungen ihrer Hände. Er nahm das Papier entgegen und gab es ohne hineinzuschauen an seine Tochter weiter. „Kümmerst du dich bitte drum?“

„Klar.“ Veronica zwinkerte der neuen alten Angestellten zu. Maria Borghese erwiderte die Geste mit einem warmen Lächeln.

„Frau Borghese,“ fuhr Zach fort, „Veronica erzählte mir, dass Sie erwähnt hätten, Sie seien mit den Stammkunden des Fab Store vertraut und an den Recherchen zur Beschaffung von Memorabilien beteiligt gewesen. Haben wir Sie da richtig verstanden?“

„Si, Signore Ziegler. Ich habe für Signore Campbell die Abrechnungen geschrieben und seine Unterlagen in Ordnung gehalten. Außerdem bin ich seinen Kundinnen und Kunden allen persönlich begegnet. Manchmal nehmen sie meine Recherchedienste in Anspruch. Ich werde zu Sammlertreffen eingeladen. Daher kenne ich die Gewohnheiten, die Interessen und die Zuverlässigkeit der Leute sehr genau.“

„Wie lief das ab, wenn Sie Mr Campbell halfen, ein Objekt aufzutreiben? Wie darf ich mir das praktisch vorstellen?“

„Ein Kunde oder Signore Campbell kamen mit einer Idee zu mir und fragten mich um Rat. Meistens konnte ich ihnen etwas zu den Erfolgsaussichten oder auch zu einem möglichen Suchweg sagen. Wenn sie Schwierigkeiten hatten, das Objekt zu lokalisieren, setzte ich mich mit Signore Campbell an den Computer im Studierzimmer. Wir ergänzten uns sehr gut dabei, weitere Informationen darüber aufzutreiben. Manchmal musste ich eine Bibliothek oder ein Archiv aufsuchen. Sobald wir dicht genug herangekommen waren, hat Signore Campbell Kontakt zum Eigentümer aufgenommen oder seine Beziehungen spielen lassen, um ihn zu erreichen. Nicht jeder ist offen für solche Anfragen, müssen Sie wissen.“

„Was sprang für Sie dabei heraus?“, wollte Zach wissen.

„Ich bekam fünf Prozent vom Gewinn, und er verschaffte mir Zugang zu jeder Informationsquelle, die ich haben wollte.“

„Das scheint mir wenig, wenn man Ihren Anteil am Erfolg berücksichtigt.“

„Er hat mir mehr angeboten, aber ich wollte das nicht.“

„Sie wollten das nicht???“, mischte sich Veronica ein, der das Erstaunen ins Gesicht geschrieben stand. „Sie haben zwei kleine Jobs, die kaum das Nötigste abwerfen, und sie schlagen die Gelegenheit aus, Ihre Sorgen loszuwerden?“

„Welche Sorgen? Ich rauche nicht, ich trinke nicht, ich habe keine teuren Hobbys. Für die wenigen Verpflichtungen, denen ich nicht ausweichen kann, reicht das Geld allemal. Mehr davon verdirbt nur den Charakter. Ich habe mein Leben so eingerichtet, dass sowohl der Körper als auch der Geist und die Seele zufrieden sein können. Wer glücklich sein möchte, sollte wissen, wann genug genug ist.“

„Verzeihen Sie meine ungläubige Frage. Man trifft Menschen wie Sie nur sehr selten. Wie ich Ihnen gestern erzählt habe, lebten mein Vater und ich bisher ähnlich bescheiden. Wir werden uns bestens verstehen, glaube ich.“

„Das glaube ich auch, Signorina. Man merkt den Menschen an, wie sie zum Materiellen stehen. Deshalb waren Sie mir sofort sympathisch, als Sie ins Restaurant gekommen sind.“

„Das beruht auf Gegenseitigkeit, wie Sie sicher wissen“, warf Zach ein, und Veronica nickte bestätigend.

„Würden Sie sagen, Sie kennen sich mit der Musikszene, speziell den Beatles, besonders gut aus? Oder beruht Ihr Erfolg eher auf Ihrer Recherchemethodik?“

„Beides trifft zu. Das Thema interessiert mich mehr als jedes andere. Die meisten Tatsachen über die Gruppe liegen noch immer in einem fast undurchdringlichen Nebel aus Halbwahrheiten, Schweigen und Mythen verborgen, aber das macht es besonders reizvoll für mich, darin herumzustochern. Ich habe wahrscheinlich jedes Buch, jede Webseite und jeden Artikel gelesen, die es auf Englisch, Italienisch oder Deutsch gibt – und ich vergesse nichts, das ich einmal gelesen habe. Deswegen kann ich übrigens auch Kundenfragen beantworten – zum Beispiel solche wie die da.“ Sie zeigte auf die von Veronica zurückgelassenen Gegenstände neben der Registrierkasse.

Das Gesicht der jungen Frau rötete sich. Einerseits ärgerte sie sich erneut über ihren Mangel an Vorsicht, andererseits empfand sie die Schärfe von Marias Verstand als furchterregend. Da sie sich jedoch ohnehin vorgenommen hatte, den Peppers-Code zum Prüfstein für die Fähigkeiten der Italienerin zu machen, nutzte sie nun die Steilvorlage, um mehr über seine Bedeutung zu erfahren. „Ich habe zwei Fragen,“ sagte sie. „Was besagt der Schriftzug im Spiegel, und weshalb hatte Onkel Paul ihn an der Wand hängen?“

Maria Borghese schwieg eine gefühlte Ewigkeit, während der sie Veronicas Gesicht studierte. Der Detektivin lag es fern, diesem Blick auszuweichen. Nach einer Woche, in der ihre Nachforschungen eine Ungereimtheit um die andere zutage gefördert hatte, wollte sie Antworten haben. Die Spannung im Raum wurde beinahe greifbar. Als die Italienerin schließlich zu sprechen begann, ertönte ihre Stimme ernst und ungewöhnlich tief: „Wir sind gerade dabei, die Türen zum ersten Kreis der Hölle zu öffnen. Ich schlage daher vor, wir gehen nach hinten und setzen uns.“

18) Die Tür zum ersten Kreis der Hölle

Die Worte der Italienerin hatten Veronica in jenen verwirrten Zustand zurückgeworfen, in der sie sich bei der Entdeckung des Peppers-Codes am frühen Morgen befunden hatte. Die Kakophonie der Stimmen in ihrem Kopf betäubte sie und hinderte sie daran, einen klaren Gedanken zu fassen. Wie in Trance packte sie die Schallplatte, den kleinen runden Rahmen und den Taschenspiegel zusammen und folgte ihrem Vater und Maria nach hinten in den Raum, in dem ihr Onkel ermordet worden war. Sie schloss die Tür. Ein runder Fleck auf der Tapete daneben markierte die Stelle, an der der runde Rahmen gehangen hatte. Einen Moment lang war ihr Geist völlig leer. Dann schaute sie auf ihre Hände hinab. Sie sah das kleine Bild… Und jetzt?… Sie hängte es an seinen Platz zurück. Ihre Augen lasen den Schriftzug: „I ONEI X HE ◊ DIE“, lasen ihn erneut: „I ONEI X HE ◊ DIE“, erneut: „I ONEI X HE ◊ DIE“, erneut. „I ONEI X HE ◊ DIE.“

Sie drehte sich um. Maria Borghese setzte sich gerade in den Sessel. Ihr Vater ließ sich auf das Sofa nieder. Seine freudige Stimmung war innerhalb von Sekunden völlig verflogen. Sein Gesicht wirkte aschfahl. Veronica glaubte zu wissen, was in ihm vorging. Sie standen wieder an jenem finsteren Abgrund, von dem Henry gesprochen hatte, und ihm graute davor, was sie darin entdecken mochten.

„Signorina, Signore Ziegler,“ begann die Italienerin zu sprechen, „ich bin ein Mensch, der sich bemüht, die Dinge realistisch zu betrachten. Ich enthalte mich übertriebener Darstellungen. Davon hängt der Erfolg meiner Arbeit ab. Verstehen Sie daher, was ich nun zu sagen habe, nicht als aufgeblasene Wichtigtuerei. Dies sind Tatsachen von höchster Brisanz. Wenn Sie sie in ihrer vollen Bedeutung erfasst haben, werden Sie die Welt nie wieder so sehen können, wie weit über neunzig Prozent der Leute da draußen.“

Betretene Stille.

„Ich hätte mir gewünscht, unseren ersten Tag der Zusammenarbeit leichtherziger zu verbringen. Welch ein Unglück, mit der Tür derart ins Haus fallen zu müssen. Vielleicht ist es aber so am besten, denn Sie werden von nun an ohnehin fast täglich damit befasst sein.“ Maria Borghese legte wieder eine Pause ein. Schließlich beugte sie sich vor. Von einem zur anderen schauend fragte sie: „Haben Sie je das Gerücht gehört, dass Paul McCartney tot sein soll?“

Veronica stöhnte leise. „Ich habe es geahnt!“

Zachs Kopf hüpfte mehrfach auf und ab. „Erst vorgestern hat mich der Chef der Mordkommission mit der Nase darauf gestoßen. Ich bin mir fast sicher, es schon vor Jahrzehnten gehört aber nicht ernst genommen zu haben.“

„Hat er das?“, fragte Maria erstaunt.

„Ja. Er tat den Gedanken als Revolvergeschichte ab.“

„Der gute Desmond gehört zu jenen, die es besser wissen müssten. Ich behaupte darüber hinaus, dass er es tatsächlich besser weiß.“

„Moment mal, Sie wollen sagen, dass hinter den Gerüchten mehr steckt als Sensationsgier?“ Veronica.

Statt einer Antwort schloss die Italienerin langsam die Augen und öffnete sie dann ebenso langsam wieder.

„Aber… wie geht das? Wir haben mit dieser Idee gespielt, weil ihre Enthüllung natürlich den besten Grund abgegeben hätte, Mal Evans und andere Plappermäuler aus dem Verkehr zu ziehen. Wenn ich überlege, wie das praktisch vonstatten gehen soll, einen globalen Superstar durch ein Double zu ersetzen, versagt jedoch meine Vorstellungskraft. Milliarden Menschen richteten täglich ihre Augen auf diese Person. Irgendwer hätte Alarm geschlagen.“

„Milliarden Menschen richteten ihre Augen auf mediale Bilder, unter denen ‚Paul McCartney‘ geschrieben stand. Sie sahen, was man ihnen zu sehen aufgetragen hatte. Obgleich man verschiedene Bilder von Beatle Paul nebeneinander legen kann, die belegen, dass im Lauf der Jahre mehrere Doubles eingesetzt wurden, sehen die Leute bis heute, was sie zu sehen erwarten. Die Verwendung von Doppelgängern ist in Politik und Unterhaltung seit langem gängige Praxis. Stalin und Saddam dürften die bekanntesten Beispiele hierfür darstellen. Auch gefälschte Film- und Fotoaufnahmen sind weder eine Selten- noch eine Besonderheit. Denken Sie an all die Prominenten, die in echt ganz anders aussehen als auf den Hochglanzseiten der Modemagazine. In Zeiten von Photoshop und Deep Fakes geraten authentische Bilddokumente langsam in die Minderheit. Der leiblichen Person kommen dagegen nur sehr, sehr wenige Leute nahe genug, um Unterschiede wahrnehmen zu können.“

„Okay, aber weshalb spielen eben jene wenigen alle mit? Weshalb sagt niemand: ‚Das ist nicht unser Vater‘? ‚Das ist nicht mein alter Freund‘?“

„Die Antwort hierauf mag für verschiedene Zeugen verschieden lauten. Evans‘ Schicksal ist vielleicht die extremste Variante. Man muss bedenken, dass einflussreiche Menschen es häufig vorziehen, unter ihresgleichen zu bleiben, in einer Art geschlossenem Club, in dem jeder weiß, wann er dichtzuhalten hat. Kontrolle über die Presse kann verhindern, dass unliebsame Nachrichten die Runde machen. Familienmitglieder werden das Andenken ihres Verwandten nicht durch Skandale beschmutzen wollen. Geschäftspartner haben Verluste zu befürchten, wenn bekannt wird, dass die Gans, die goldene Eier für sie legte, gestorben ist. Die Regierung könnte Unruhen und Selbstmordwellen befürchten. Gründe mitzuspielen gibt es also genug. Viel faszinierender finde ich, dass sowohl die Band als auch ihr nahe stehende Personen unzählige dezente Hinweise gegeben haben – wie das Cover des Sgt. Peppers Albums –, die entweder nie vom Mainstream aufgegriffen worden sind oder einfach als Unsinn abgestempelt wurden.“

Zach richtete sich auf. „Das ist ein Punkt, der mir widersprüchlich vorkommt. Es erscheint mir unlogisch, dass man einerseits im Geheimen einen fliegenden Wechsel hinlegt, möglicherweise inklusive der Beseitigung unliebsamer Zeugen, und gleichzeitig, buchstäblich mit Pauken und Trompeten, die Neuigkeiten bekannt macht.“

„Auch hierfür mag es verschiedene Gründe geben“, erläuterte Maria Borghese. „Man mag gehofft haben, dass man die Öffentlichkeit langsam auf die schlechten Nachrichten vorbereiten kann. Oder es könnte sich um ein Katz- und Mausspiel handeln, bei dem unter Beweis gestellt werden sollte, was unter der Nase der Öffentlichkeit alles möglich ist. Die Band wird zur Verschwiegenheit verpflichtet worden sein, nutzte jedoch jede Möglichkeit, die Wahrheit unter dem Deckmantel der Fiktion hinauszuposaunen. Und vielleicht spielte auch die Eitelkeit des Ersatzmannes eine Rolle, der der Nachwelt zur Kenntnis geben wollte, wer in Wirklichkeit hinter der genialen Musik der Spätphase der Beatles steckte.“

„All diese vielen ‚Vielleichts‘,“ beschwerte sich Veronica. „Weiß man denn nichts Konkretes? Wann und wie soll McCartney gestorben sein? Wer ist der Mann, der ihn ersetzt haben soll?“

„Nun, was man konkret weiß, können Sie in allen gängigen Biografien nachlesen. Die Beatles legten am 29. August 1966 das letzte Konzert ihrer Geschichte im Candlestick Park in San Francisco hin und kehrten am folgenden Tag nach London zurück. Sie ließen verlauten, dass sie nicht mehr live auftreten wollten. Die vier Musiker widmeten sich sofort unterschiedlichen Projekten. Bis zur Veröffentlichung des Sgt.-Peppers-Albums im Mai 1967 gaben sie nur sehr wenige Interviews und traten so selten im Fernsehen auf, dass ein Gerücht die Runde machte, die Beatles hätten sich aufgelöst. Das Fanmagazin The Beatles Book Monthly reagierte im Februar 1967 auf ein weiteres Gerücht: Dass Paul McCartney am 7. Januar bei einem Unfall auf der vereisten Autobahn M1 ums Leben gekommen sein soll, sei völlig unwahr, schrieben sie. Der Beatles-Pressesprecher habe bekannt gegeben, dass er den Musiker am Telefon gesprochen habe. Paul habe mitgeteilt, dass sein schwarzer Mini-Cooper heil in der Garage stehe.“

„Und das war gelogen“, warf Zach halb fragend, halb feststellend ein.

„Aber nein, die Meldung, dass die Gerüchte falsch waren, entsprach der Wahrheit. Sie ist ein Paradebeispiel der Irreführung durch falsche Fährten, eine Nebelkerze, wie sie im Buche steht. Es geschah nicht am 7. Januar 1967, sondern am 11. September 1966, weniger als zwei Wochen nach der Rückkehr aus den USA. Paul McCartney besaß keinen schwarzen sondern einen lindgrünen Austin Mini, des weiteren einen silberblauen Aston Martin DB5 und einen dunkelgrünen Aston Martin DB6 – den Unfallwagen. Er verunglückte nicht auf der M1, sondern auf der Dewsbury Road, einer kurvigen Landstraße. Das Gerücht über Pauls Tod am 7.1.67 auf der M1 in einem schwarzen Mini Cooper ist tatsächlich völlig aus der Luft gegriffen.“

Der Detektiv schnaubte. „Brillant formuliert, man muss es eingestehen. Was macht Sie nun so sicher, dass Ihre Version der Geschichte die richtige ist?“

„Wir haben den Mann, der den Toten ersetzte.“

„Jetzt wird‘s spannend“, sagte Zach. „Wie heißt er denn?“

Die Italienerin grinste. „Er nennt sich Sir Paul McCartney.“

Zach stieß ein bellendes Lachen aus. Veronica kicherte. „Kein Scheiß!“, witzelte sie.

Maria Borghese fiel in ihr Lachen mit ein. Dann fuhr sie fort: „Das Titelstück des Sgt.-Peppers-Albums nennt uns seinen Namen: Billy Shears. Zumindest ist das einer seiner Namen. Er ist nicht nur ‚der Mann mit den tausend Stimmen‘, wie wir vom Song The Fool On The Hill erfahren, ein großartiger Stimmimitator, sondern auch ein Mensch mit zahlreichen Namen, darunter William Wallace Campbell, William Shepherd, Billy Pepper, Apollo Wermouth, Vivian Stanshall und Phil Ackrill. Später kamen neben der Persona McCartney weitere hinzu, beispielsweise Percy ‚Thrills‘ Thrillington. Im Film Magical Mystery Tour verrät er uns, dass er 1937 geboren wurde und somit fünf Jahre älter ist als der echte Paul. Billy macht gelinde gesagt wenig Hehl daraus, dass er für einen toten Mann eingesprungen ist. Das fängt bei der Begräbnisszene auf dem Peppers-Album an, das unter seiner Regie entstanden ist – den Code mit dem Todesdatum haben Sie ja schon entdeckt, Signorina –, zieht sich ab diesem Zeitpunkt wie ein roter Faden durch hunderte von Textstellen in Songs, kommt ständig in zweideutigen Interviewäußerungen zum Vorschein und findet seinen Höhepunkt in einer fast siebenhundert-seitigen Autobiografie, die an Offenheit kaum zu überbieten ist.“

„Sie machen Witze!“, staunte Veronica. „Einer der bekanntesten Männer der Welt schreibt seine Memoiren, aber niemand nimmt das Geständnis zur Kenntnis, dass Sir Paul eigentlich Billy Shears – oder wie auch immer – heißt?“

„Signorina Veronica, er verkauft das Buch natürlich nicht unter seinem Beatles-Namen. Das würde ihm mit Sicherheit große rechtliche Schwierigkeiten eintragen, wie er im Text betont. Der Titel lautet The Memoirs of Billy Shears, wurde von einem gewissen Thomas E. Uharriet ‚kodiert‘, und behauptet im Impressum, ein fiktiver historischer Roman zu sein. Im Text dagegen bezieht er sich immer wieder auf ‚diesen sogenannten Roman‘, eine Literaturform, die er habe wählen müssen, um Tacheles reden zu können. Dank dieser Konstruktion kann er jederzeit glaubhaft behaupten, es sei alles nur fiktiv – eine reine Erfindung.“

„Nun, vielleicht ist es das. Woher wissen wir, dass die Memoirs keine Erfindung dieses sogenannten Kodierers sind?“, hakte Zach nach.

„Das Buch erschien seit 2009 in vier Auflagen. Es trägt das Bild McCartneys auf dem Umschlag, legt dem Musiker Worte in den Mund, unterstellt ihm Mitwisserschaft an einem Verbrechen und zitiert mehr als zulässig aus den Texten seiner Kompositionen. In vierzehn Jahren hat Sir Paul nie rechtliche Schritte dagegen eingeleitet. Der Verlag heißt Peppers Press. Mit ein bisschen Recherche erfährt man schnell, dass es sich um eines der vielen Tochterunternehmen von Macca Corp. handelt, dem Konzern, der Sir Pauls Aktivitäten den Rahmen gibt. Der Kodierer ist Geschäftsführer des Verlages. Das Buch erschien am selben Tag wie die Neuauflage der Beatles-Remasters und wird zusammen mit Sir Pauls offiziellem Buch The Lyrics promotet, das vor zwei Jahren veröffentlicht wurde.“

„Okay, starke Indikatoren für die Annahme, dass es sich bei Sir Paul und Billy Shears um dieselbe Person handelt“, gestand Veronica zu. „Was ist mit handfesten Beweisen?“

„McCartneys Gesichtsgeometrie hat sich von Mitte 1966 bis Anfang 1967 stark verändert. Manches kann auf Operationen und Implantate zurückgeführt werden, manches andere aber auch nicht. Sein Gesicht ist länger geworden, die Ohren ebenfalls; sie stehen nun weniger ab, sind am unteren Ende nicht mehr mit der Wange verbunden und unterscheiden sich in weiteren Details, die man nicht umoperieren kann. Seine Gesamtgröße ist um etliche Zoll länger geworden. Die Augen seiner Freundin Jane Asher befanden sich vorher über der Höhe seines Mundes, später auf Kinnhöhe. Im Vergleich zu Mal Evans war er ursprünglich einen halben Kopf kleiner als der Roadie, später fehlte wenig und er wäre ihm ebenbürtig gewesen. Als die Beatles noch zusammen auftraten, waren George, Paul und John ungefähr gleich groß. Spätere Fotos und Filme zeigen deutliche Größenunterschiede zwischen dem falschen Paul und den anderen. Das fängt schon bei Front und Rückseite des Peppers-Covers an. Überzeugen Sie sich selbst!“

19) Und täglich grüßt der Peppers-Code

Zach nahm das Sgt. Peppers-Album zur Hand, um es eingehend zu studieren, drehte es, um auch die andere Seite zu betrachten und nickte dann. Er reichte es an Veronica weiter. Auch diese konnte nicht umhin, den Beschreibungen Maria Borgheses zuzustimmen.

„Das ist aber noch längst nicht alles. Halten Sie sich fest: Eine DNA-Probe Sir Pauls, die wegen einer Vaterschaftsklage aus Deutschland genommen wurde, stimmte nicht mit einer Probe aus den frühen Sechzigern überein. Eine Handschriftenanalyse belegte, dass die Unterschriften aus den Sechzigern und den Achtzigern nicht von derselben Person stammen – die spätere hat ein Rechtshänder gezeichnet; Paul war jedoch Linkshänder. Eine Stimmanalyse kam zum gleichen Schluss: nicht derselbe Mann. Als Sir Paul 1980 in Japan wegen Drogendelikten festgenommen wurde, stellten die Beamten fest, dass seine Fingerabdrücke nicht denen entsprachen, die 1960 im Zusammenhang mit einer Anzeige wegen Brandstiftung in Hamburg genommen wurden.“

„Atemberaubend. Wieso befindet sich der Mann dann noch auf freiem Fuß?“

„Die Klage in Deutschland wurde als verjährt zurückgewiesen. In Japan hat die britische Regierung zu seinen Gunsten eingegriffen. Die unabhängigen Untersuchungen zu Stimme und Aussehen wurden von den sogenannten Qualitätsmedien nur punktuell aufgegriffen und schnell wieder fallengelassen. All jene, die trotz allem nicht locker lassen, erledigt in den Augen der Weltöffentlichkeit das Wörtchen ‚Verschwörungstheorie‘.“

„Mit dem sind wir spätestens seit 2020 bestens vertraut. Es ist infam, aber Sie haben recht“, stimmte Zach zu. „Es spielt keine Rolle mehr, was man belegen und beweisen kann. Sobald man der Mehrheit widerspricht – die unhinterfragt glaubt, was die Massenmedien ihnen erzählen – wird man als Spinner abgestempelt; als ob Wahrheit das Ergebnis von Volksabstimmungen wäre.“

Maria Borghese hatte den Detektiv aufmerksam angeblickt, während er sprach. Sie fragte: „Und Sie, Signore Ziegler? Auf welcher Seite stehen Sie? Schlägt Ihr Herz für die Mehrheit oder für die Minderheit? Stimmt die offizielle Story oder haben die Infokrieger mit ihrer alternativen Sicht auf die Dinge recht?“

„Ich habe keinen Einsatz in diesem Spiel. Mich interessiert die Wahrheit, egal wohin sie mich führt. Sie besitzt keine zwei Seiten, sie macht keine Kompromisse. Wir alle sehen die Wirklichkeit durch unsere persönliche Brille und kommunizieren das, was wir von ihr wahrnehmen, solange es unsere persönliche Agenda fördert. Es ist unvermeidlich, weil es menschlich ist. Daher kann die Verantwortung für meinen Geist – für Wahrnehmung, Verarbeitung, Erinnerung und Weitergabe sinnlicher Eindrücke – immer, ohne Ausnahme, nur bei mir selbst liegen. Mein Herz schlägt für die, die sich aufrichtig Mühe geben, nach dieser Einsicht zu leben. Der Rest kann mit seinen Glaubensbekenntnissen von mir aus zum Teufel gehen.“

„Genau das tut er, glauben Sie mir. Genau das tut er buchstäblich. Aber sparen wir uns das Gespräch für einen anderen Tag auf. Ich bin höchst erfreut, in Ihnen Geschwister im Geiste gefunden zu haben. Ich hege keine Zweifel, dass wir wunderbar zusammenarbeiten werden. Sie sind würdige Nachfolger Signore Campbells.“

„Danke Maria – ich darf Sie doch so nennen, oder?“, sagte Veronica. „Wir fühlen uns Ihnen ähnlich verbunden. Ich werde natürlich meine eigenen Nachforschungen anstellen müssen. Wenn es stimmt, was Sie uns eben mitgeteilt haben, ändert das alles. Die Antwort auf meine ursprünglichen Fragen steht jedoch noch offen.“

„Sicher – Veronica“, antwortete die Italienerin mit einem sanften Lächeln. „Sie möchten wissen, was der Code auf der Basstrommel besagt?“

„Ja. Und weshalb Onkel Paul ihn an die Wand gehängt hat.“

„Unter dem Porträt des jungen Paul McCartney, wohlgemerkt. ‚I ONEI X‘ steht für 11 IX, den elften September – ein wichtiges Datum in der freimaurerischen Numerologie. Zufälle kommen in den Kreisen nicht vor. Diese Leute planen für Jahrhunderte im Voraus. Ein Todesfall am 11.9. stellt eine rituelle Opferung dar. ‚HE ◊ DIE‘ erklärt sich selbst, ist jedoch leicht inkorrekt. Die Raute zeigt auf Billy Shears, den lebendigen McCartney-Darsteller, nicht auf den verstorbenen Paul McCartney – ganz im Gegensatz zu dem Arrangement Ihres Onkels.“ Sie deutete mit dem Daumen über die Schulter auf die Wand neben der Tür. „Signore Campbell arbeitete unter der Prämisse, dass der Peppers-Code die Wahrheit sagt. Das machte es einfacher, die ausgefallenen Wünsche seiner Kunden zu erfüllen, die fast alle der Überzeugung sind, dass Paul McCartney 1966 starb. Er hat mir nie gesagt, weshalb er das Bild aufgehängt hat, aber ich glaube, es sollte ihn täglich… zwicken.“

„Sie sagten doch, McCartney sei bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Wie passt ein Unfall zu einer geplanten Opferung?“, warf Zach ein.

„Als ich in Deutschland zur Schule ging, durchliefen wir ein Verkehrstraining für Fahrradfahrer. Ein paar Polizisten zeigten uns, wie man Unfälle vermeidet. Ich erinnere mich noch genau an den Titel einer Broschüre, die sie damals ausgeteilt haben: Unfall ist nie Zufall! Das gilt um so mehr, als der Fahrer des DB6 an sein schicksalhaftes Ende glaubte, und als seinem Schicksal möglicherweise nachgeholfen wurde, wie die Shears-Memoiren andeuten.“

Veronica schüttelte den Kopf. „Bei aller Liebe zur Wahrheit, ich glaube, wir haben heute Früh mehr erfahren, als wir in solch kurzer Zeit verarbeiten können. Ich habe tausend neue Fragen, aber mir platzt gleich die Schädeldecke weg. Lasst uns das Thema wechseln und eine Kleinigkeit essen.“

Der Detektiv und die Italienerin stimmten zu. Während die beiden über Einzelheiten der Zusammenarbeit diskutierten, holte Veronica Saft und Sandwiches aus der Küche. Als sie sich schließlich wieder gesetzt hatte, nahm sie sich lediglich eine kleine Käseecke, an der sie herumzuknabbern begann. Dem Gespräch folgte sie nur mit einem Ohr. Ihre Gedanken befanden sich hunderte Meilen entfernt, auf einer mondbeschienenen, von alten Bäumen gesäumten kurvigen Landstraße.


Kurz nach zehn Uhr desselben Montag Morgens schneite wie erwartet auch Thomas Henry Bishop alias Henry the Horse herein. Maria Borghese putzte gerade das Hinterzimmer. Der Boden des Ladens, den die Italienerin gewischt hatte, glänzte noch feucht. Henry nahm den Hut ab, grüßte die beiden Zieglers gut gelaunt und stellte fest: „Wie ich sehe, haben Sie eine Reinigungskraft gefunden.“

„Wir hatten Glück und konnten das Vertragsverhältnis mit Pauls Putzhilfe übernehmen“, erwiderte Zach.

„Oh, dann arbeitet Semolina also weiterhin hier? Ich freue mich sehr für sie. Sie werden sehen, die Frau ist ein Schatz!“

„Semolina? Wer ist Semolina?“, fragte Zach verwundert. „Nein, unsere Aushilfe heißt Maria Borghese.“

Henry lachte verlegen. „Entschuldigen Sie, dass ich Verwirrung stifte. Maria ist natürlich ein geschätztes Mitglied unserer Familie und führt als solches den Namen Semolina Pilchard. Sie haben sich noch gar nicht mit ihr über die Beatles unterhalten?“

„Sie haben keinen Ahnung… doch, vermutlich haben Sie mehr Ahnung als wir, schließlich haben Sie uns vor den dunklen Ecken der Bandhistorie gewarnt. Wir sind jedoch in der Kürze der Zeit noch nicht dazu gekommen, mit Maria über die Sammlerszene in Liverpool zu sprechen.“

„Tun Sie das, Zachary. Ich vertraue Semolinas Urteil uneingeschränkt. Da ich gerade hier bin, werde ich gerne auch selbst Auskunft erteilen.“

„Nun, wir hatten gestern Morgen das zweifelhafte Vergnügen, einer der Kreaturen von Mr Kite zu begegnen. Er lud uns für heute auf Kites Schloss ein.“

„Dann will ich Sie nicht länger aufhalten. Ich komme gerade von meinem montäglichen Frühstück zurück und möchte Ihnen lediglich mitteilen, dass der Betrag für die Bänder angewiesen ist.“

„Sehr freundlich von Ihnen, danke!“, erwiderte Zach. „Konnten die Aufnahmen denn Ihre Erwartungen erfüllen?“

„Über die Maßen. Die Gespräche zwischen den Musikern fand ich äußerst kurzweilig. Sie arbeiteten tatsächlich an zwei unbekannten Stücken. Die Entscheidung, sie nicht auf das Album zu packen, war gerechtfertigt, aber wer weiß, was aus ihnen geworden wäre, wenn die Jungs noch ein wenig länger daran gefeilt hätten.“

„Die Beatles waren genial. Mir fällt kein anderes Wort dafür ein.“

„Die Musik ist zweifelsohne großartig, aber das Schreiben ist den Jungs nicht leicht gefallen. Es gibt genügend Hinweise, dass vieles aus der Feder von Ghostwritern stammt und ein guter Teil der Aufnahmen von Sessionmusikern eingespielt worden ist.“

Zach stöhnte. „Henry, nimm‘s mir nicht übel, aber wir haben von Maria – Semolina – heute eine volle Breitseite abbekommen. Veronica und ich werden das erst einmal verifizieren und verarbeiten müssen, bevor wir uns auf weitere Hiobsbotschaften einlassen können.“

„Selbstverständlich. Gut Ding will Weile haben, Zachary. Falls Sie den Fab Store weiterführen, bleibt Ihnen viel Zeit, die weniger erfreulichen Anblicke hinter der schönen Kulisse zu erkunden. Wie haben Sie sich denn nun entschieden? Werden Sie den Laden wieder aufmachen?“

„Ja, wir werden mit Semolinas Hilfe und dank Pauls Grundstock an Waren und Ersparnissen in der Lage sein, den Versuch zu wagen. Immerhin sind wir schon drei Mitgliedern der Familie begegnet, und morgen lernen wir das vierte kennen.“

„Ach morgen erst? Ich dachte, Sie wurden für heute eingeladen. Wann werden Sie denn in Wallace Castle erwartet?“

„Ich habe den Termin auf morgen um elf Uhr verschoben.“

Henry zeigte ein beeindrucktes Gesicht. „Sie sind äußerst couragiert, Zachary. Das gefällt mir. Strapazieren Sie die Geduld des Maestro jedoch nicht zu sehr. Er besitzt nur einen begrenzten Sinn für Humor.“

„Maestro? Wohl eher Zirkusdirektor, dem Clown nach zu urteilen, den er vorgeschickt hat.“

„Wie ich bereits andeutete, verfügt Kite über familiäre Verbindungen und finanzielle Mittel, die es angeraten sein lassen, ihn nicht unnötig zu reizen. Behalten Sie im Auge, dass er mit seinen Aufträgen wohl den größten Teil von Pauls Umsatz generiert hat. Und er greift anderen Sammlern gelegentlich unter die Arme, was Ihnen letztlich ebenfalls zugute kommt.“

„Schon gut. Ich kann es lediglich nicht leiden, wenn man mich einschüchtern und herumkommandieren will.“

„Hat der Bote Ihnen mitgeteilt, worin der Grund oder Anlass der Einladung besteht?“

„Nein. Wir können jedoch sicher sein, dass er über das Manuskript reden will.“

„Er wird auch wissen wollen, wie es mit dem Fab Store weitergeht. An seiner Stelle würde ich vorzufühlen versuchen, mit wem ich es künftig zu tun habe.“

„Würden Sie. So so…“ Zach zwinkerte. Sein rechter Zeigefinger richtete sich auf den älteren Mann, der Daumen fuhr herab wie der gespannte Hahn eines Revolvers.

Bishops Augen weiteten sich. „Erwischt. Zugegebenermaßen bin ich Kite ausnahmsweise eine Nasenlänge voraus.“

„Und Sie stellen sich etwas geschickter an. Wissen Sie, Henry, ich habe kein Problem damit, schlauen Menschen die Früchte ihrer Bemühungen zu überlassen. Es geht mir jedoch entschieden gegen den Strich, wenn jemand eine Agent-Smith-Nummer abzieht.“

20) Der letzte Beatle

Nachdem die Italienerin das Hinterzimmer gereinigt hatte, stieg sie die Treppen hinauf, um die Wohnung zu putzen. In der Küche traf sie Veronica, die mit einer Tasse Tee am Tisch saß. Sie entschuldigte sich für die Störung und teilte ihr mit, dass sie ihre Arbeit in den anderen Zimmern fortsetzen würde. Veronica schüttelte jedoch den Kopf und lud sie ein, sich zu ihr zu setzen. „Möchten Sie auch einen Darjeeling?“, fragte sie. Sie machte Anstalten, sich zu erheben, um eine Tasse aus dem Schrank zu nehmen.

„Bleiben Sie sitzen, Veronica.“ Maria öffnete das Fach mit den Gläsern und Tassen und nahm einen der Humpen heraus. Der zeigte eine Karikatur von Ringo; darunter stand: ‚Der letzte Beatle.‘ „Meine“, sagte sie, und als die Detektivin sie erstaunt ansah, ergänzte sie: „Ihr Onkel und ich verstanden uns sehr gut…“ Sie schien die Worte im Geiste auf ihre Wirkung zu prüfen. „Ich war jeden Tag zum Putzen hier. Wir diskutierten manchmal stundenlang über mögliche Suchwege, um ein Objekt wiederzufinden – oft genug genau hier, an diesem Tisch.“

Ein mitfühlender Ausdruck legte sich auf Veronicas Gesicht. „Die eigene Tasse am Arbeitsplatz aufzubewahren stellt kein Verbrechen dar.“ Sie schenkte Tee in den Ringo-Humpen. „Sie vermissen ihn, hm?“

Maria Borghese schloss ihre Finger um das sich erhitzende Gefäß. Sie nickte, sagte jedoch nichts weiter. Die beiden Frauen nippten eine Weile still an ihren Tassen. Schließlich begann die Italienerin: „Ich war ungefähr in Ihrem Alter, Anfang zwanzig. Ich hatte eine Tochter, gerade ein Jahr, und einen Freund, den ich heiraten wollte. Er stammte von der Alb. Wir studierten in Tübingen, er Medizin, ich Bibliothekswesen. Seine Familie gab mir ständig das Gefühl, dass ich als Katholikin und Gastarbeiterkind nicht dazugehörte. Die Leute beschweren sich, dass die Katholische Kirche fürchterlich altmodisch sei, und da ist ja auch etwas dran; aber im Vergleich zur Engstirnigkeit vieler Protestanten in Deutschland verhalten sich italienische Katholiken geradezu liberal. Ich hielt es nur mit Mühe aus und wollte fort, aber ich blieb, um mein Studium abzuschließen, und natürlich meinem Freund zuliebe. Mit der Zeit wurde mir klar, dass er es vermied, über unsere gemeinsame Zukunft zu sprechen. Er wich ganz besonders der Erörterung unserer Hochzeit aus. Irgendwann stellte ich ihn zur Rede. Er gestand mir, dass seine Eltern gegen mich eingestellt waren und dass er einfach unsere formlose Freundschaft weiterführen wollte. Ich sagte, dass ich das unserer Tochter gegenüber nicht fair fand. Ich hatte eine Stelle bei einem Dokumentationsprojekt in Liverpool in Aussicht; also schlug ich vor, wir könnten nach England gehen, er könnte sein Studium dort abschließen, und dann könnten wir heiraten.“

Die Italienerin betrachtete eine Weile ihr schaukelndes Spiegelbild im Tee. Dann schaute sie auf. „Er weigerte sich. Also habe ich einfach meine Sachen gepackt und bin abgereist. Ich nahm die Stelle bei dem Projekt an; sie stellten ein Buch zur Geschichte populärer Musik in Liverpool zusammen. Ich war verantwortlich für die Bibliografie. Ich produzierte eine Liste von Zeitschriftenartikeln für sie, die, glaube ich, ihresgleichen suchte, doch leider zerstritten sich die Projektleiter, bevor das Werk veröffentlicht werden konnte. Eines Tages erhielt ich den Kündigungsbrief, aber der Beatles-Virus hatte mich längst befallen. Die Widersprüche in der offiziellen Story faszinierten mich über alle Maßen, also begann ich, mich tiefer in die Bandgeschichte einzulesen. Die meisten Buchautoren schwelgten in kritikloser Heldenverehrung. Das Internet befand sich gerade erst im Entstehen. Da war ebenfalls nur wenig zu finden – oftmals von mehr Enthusiasmus als von Sachkenntnis getragen. Also suchte ich nach Zeitzeugen.“

Maria nahm einen Schluck aus ihrer Tasse, hob den Blick zur Decke. Sie fort: „Auch da stieß ich überwiegend auf Menschen, die die Beatles auf ein Podest stellten oder gar zu Göttern der Rockmusik erhoben, aber es gab ein paar, deren Erinnerungen mir reflektierter schienen. Langsam formte sich ein Bild, das die Sechzigerjahre in einem weniger verklärten Licht zeichnete. Ich begann zu verstehen, dass Musik auf dieselbe Weise zum Showbiz gehört wie die Schauspielerei. Das gilt bis heute. Es kommt auf die vermittelte Attitüde an. Die weit überwiegende Zahl der Gruppen und Solomusiker erhielten ihre Verträge mit den Labels für ihr Aussehen und ihr Auftreten, nicht für ihre Qualitäten als Songschreiber oder Künstler. Die Firmen heuerten damals professionelle Songschreiber und Sessionmusiker an, um Platten aufzunehmen. Alle Profis aus der Zeit bestätigten, dass die wenigsten Major-Bands auf ihren eigenen Alben spielten. Hinter den meisten großen Namen der Sechziger und Siebziger standen Studioorchester wie die Wrecking Crew oder Mietmusiker wie der Trommler Bernard Purdie, der behauptet, auf über 20 Stücken der Beatles zu spielen. Ringo Starr sei an den ersten Alben der Band überhaupt nicht beteiligt gewesen.“

„Sie meinen, die Beatles waren vom ersten Tag an fake?“

„Ein hartes Wort. Innerhalb der Szene war das Musikdarstellertum keine Schande sondern der Normalfall. Die Masse der Konsumenten verlangte nach dem schönen Schein, nach Vielfalt der Stile und Ausdrucksformen. Sie identifizierten sich mit Elvis, Fats Domino, den Beatles oder Aretha Franklin, aber letztlich hörten sie immer wieder dieselben Musiker in stets neuer Verpackung. Die Hülle einer Schallplatte erfüllt genau die Funktion, die das Wort ‚Cover‘ benennt: Sie verdeckt den realen Produktionsprozess und bemäntelt ihn mit einem ‚Image‘, einer Scheinwirklichkeit.“

Veronica seufzte. „Das hat also funktioniert wie in der Politik. Wer blühende Landschaften verspricht, wird gewählt. Wer wahrheitsgemäß berichtet, wie‘s aussieht, landet im Abseits.“

„Der Sturz der Monkees war für die gesamte Szene eine Warnung, den Schein des begnadeten Talents unter allen Umständen zu wahren. Purdie erwähnte, dass er nicht nur für seine handwerklichen Dienste fürstlich entlohnt worden sei sondern auch für sein Schweigen.“

„Okay, aber was die Beatles von den anderen unterschied, war vor allem ihre Fähigkeit, tolle Songs zu schreiben, die selbst fünfzig bis sechzig Jahren später noch die Menschen begeistern. Bis heute sagen viele Bands, dass die Pilzköpfe sie am meisten beeinflusst hätten.“

„Als Ihr Onkel Paul Anfang der 2000er in Liverpool ankam und seinen Laden eröffnete, freundete ich mich sofort mit ihm an. Im Gegensatz zu diesen ganzen Andenkenläden und Rockschuppen im Cavern-Viertel, die die Idolverehrung ihrer touristischen Kundschaft bedienen, folgte er einem völlig anderen Konzept. Er wollte wissen, was damals wirklich geschah, denn das eröffnete ihm neue Fährten, die verloren geglaubte Unikate wieder zutage fördern halfen. Die Pädophilie-Affäre in der BBC hatte seinen Blick für die dunklen Ecken der Musikindustrie geschärft. An der Behauptung, jemand könne ein ganzes Album mit über einem Dutzend Stücken in ein paar Stunden rundfunkreif einspielen, hegte er schon immer seine Zweifel. Er wusste, wie viel Arbeit es kostete, professionell klingende Arrangements zu erzeugen. Den Nachweis, dass es sich bei der offiziellen Story von den angeblich genialen Beatles nur um eine Schneewittchengeschichte handelt, lieferten jedoch andere, und erst sehr viel später. Ein gewisser Mike Williams nahm die Chronologie der Aufnahmen für das Album Rubber Soul auseinander. Die Behauptung, die Beatles hätten sechzehn Songs in 30 Tagen geschrieben, eingeübt, eingespielt, gemischt und produziert, ist seiner Erfahrung als Musiker zufolge völlig unglaubwürdig. Technisch unmöglich wird die Geschichte, wenn man bedenkt, dass für die Veröffentlichung lediglich drei weitere Wochen zur Verfügung standen. Das war nur machbar, wenn außer dem Pressen und Verpacken der Vinylscheiben nichts mehr zu tun blieb. Das hieß, die Labels und das Cover mussten fertig gedruckt sein, und das setzte voraus, dass die Titel der Songs, ihre Spiellänge und Anordnung bekannt waren – Wochen oder Monate bevor die Beatles, angeblich mit leeren Händen, ins Studio gingen.“

„Häh?“ Veronica schüttelte den Kopf. „Wer spielt dann auf dem Album? Und wenn alles Fake ist, wieso überhaupt ins Studio gehen? Warum gibt man nicht von vorn herein eine glaubwürdigere Chronologie an?“

„Die Beatles nahmen 1965 das Album Help! auf, gingen auf Tour, und standen für einen Film vor der Kamera. Der Öffentlichkeit war bekannt, wo sie sich zu jeder beliebigen Zeit aufhielten. Fürs Songschreiben und Aufnehmen blieb ihnen nach ihrer Ochsentour keine Zeit, denn zu Weihnachten musste eine weitere Scheibe, Rubber Soul, in den Läden stehen, um das Produkt The Beatles kommerziell maximal auszuschlachten. Sie selbst sagten, sie seien ausgebrannt gewesen und hätten keine Songs in Reserve gehabt, die sie hätten einbringen können. Der Weihnachtstermin ließ sich nur halten, wenn die Stücke fertig geschrieben und die Instrumente weitgehend eingespielt waren, als die Beatles ins Studio gingen. Sehr wahrscheinlich haben sie dort kaum mehr getan, als die Gesänge beigesteuert. Ihnen blieben pro Stück gerade einmal ein oder zwei Tage Zeit, es perfekt hinzubekommen.“

„Was ist mit den Credits? Lennon-McCartney?“

„Lassen Sie mich aus einem Mersey Beat-Artikel zitieren, der kurz vor den Aufnahmen zu ihrem ersten Album im September 1962 erschien: ‚Die Beatles werden nach London fliegen, um in den EMI-Studios aufzunehmen. Sie werden Stücke einspielen, die sie von ihrem Aufnahmeleiter George Martin erhalten haben und die eigens für die Gruppe geschrieben worden sind.‘ Der selbe George Martin erzählte später in Interviews, dass er in der Band weder die künstlerischen noch die handwerklichen Fähigkeiten gegeben sah, die es seiner Ansicht nach für einen Erfolg gebraucht hätte.“

Veronica stand der Mund offen.

Maria Borghese lächelte. „Natürlich sind das alles keine gerichtsfesten Beweise, aber starke Indizien. Die hochtrabenden Behauptungen der offiziellen Story hingegen sind durch überhaupt nichts belegt. Niemand hat bezeugt, die Jungs Stücke schreiben zu sehen. Von den Aufnahmeterminen gibt es kein Filmmaterial. Die wenigen Fotos sehen gestellt aus. Von den einhundert Songs, die sie angeblich bis zu ihrer ersten Scheibe geschrieben haben sollen, finden offiziell nur eine Hand voll Verwendung; vom Rest sind nicht einmal die Titel bekannt. Fast die Hälfte des Materials, das sie live und auf Schallplatten zum besten geben, besteht aus Coverstücken, und das bleibt so bis zum letzten Konzert 1966. Es ändert sich erst, als mit Billy Shears ein ausgebildeter, erfahrener Studiomusiker McCartneys Platz einnimmt. Darum hatte Signore Campbell die Peppers-Skulptur und das Rubber Soul-Bild im Schaufenster angebracht. Sie symbolisieren die beiden großen Lügen um diese Band: dass sie Ausnahmetalente gewesen seien, die Hits auf Kommando ausspucken konnten, und dass sie von Anfang bis Ende die selben vier Freunde geblieben seien. Die Beatles waren das Produkt einer Industrie, die massenkompatible Illusionen verkaufte.“

„Es gab also ein virtuelles Fließband, das Hits nach Plan produzierte, und die Verkaufsfronten waren die Bands“, spann Veronica den Faden weiter.

„Nicht gab – gibt!“, erwiderte die Italienerin. Wenn sich junge Musiker heute wundern, weshalb sie trotz unbestreitbarer Fähigkeiten nicht weiterkommen, liegt es daran, dass es für die Labels in der Regel teurer wird, wenn sie wilde Talente fördern, als wenn sie den Nachwuchs selbst züchten. Die einen sind schwer zu kontrollieren, denn sie besitzen Kreativität und einen eigenen Willen, diese zu entwickeln; die anderen sind willenlose, abhängige Werkzeuge in den Händen einer Maschinerie, die sie in vorgefertigte Formen pressen und mit einem konstruierten Image versehen kann.“

Veronica zog ein säuerliches Gesicht. „Mir haben die Sechziger, die ich aus dem Fernsehen kenne, besser gefallen.“ Sie leerte ihre Tasse, schaute das Bild McCartneys darauf an und sagte angeekelt: „Bäääh!“

„Bä-ä-äh!“, korrigierte Maria sie im Tonfall eines blökenden Schafs.

Die beiden Frauen sahen sich gegenseitig an, dann begannen sie zu lachen.

„Wirklich? Bä-ä-äh? Was macht Sie so sicher?“

„Ich habe die Tasse für Paul anfertigen lassen. Sie war mein letztes Geburtstagsgeschenk an ihn…“ Maria seufzte. „Sie kennen die dargestellte Szene nicht?“

„Würde ich sonst fragen?“

„Sir Paul stellte sich bei einer Veranstaltung in Moskau den Fragen einiger Reporter. Jemand wollte wissen, ob er echt oder ein Double sei. Er antwortete, das könne er nicht sagen, es sei ein Geheimnis. Als er kurz darauf den Platz verließ, drehte er sich nochmals um und meckerte ziemlich überzeugend ins Mikrofon.“

„Bizarr! Und was sollte das?“

„Manche meinen, es sei eine herablassende Geste gegenüber den ‚sheeple‘, den Schafmenschen gewesen, die sich von den Massenmedien einseifen lassen, aber das ergibt keinen Sinn. Wenn man weiß, dass einer der Namen des Doubles William Shepherd, also Schäfer, lautet, bekommt man auf die Frage des Reporters eine klare Antwort.“

Veronica schaute noch immer zweifelnd drein. „Maria, wenn ich Ihnen zuhöre, komme ich mir dumm vor, diese Dinge nicht selbst schon längst entdeckt zu haben. Mein Vater und ich haben vor ein paar Tagen versucht, mehr über Mal Evans‘ Archiv herauszufinden, und sind dabei auf ähnlich skandalöse Zustände gestoßen. Einerseits sieht es nach einer regelrechten Desinformationskampagne aus, andererseits könnte der Anschein auf eine Reihe von Missverständnissen, Missinterpretationen und ungeschickten Äußerungen zurückzuführen sein. Die Sache ist wirklich riesig, wenn man die ganzen Implikationen bedenkt. Verstehen Sie, was ich meine?“

„Wie viele Aussagen wie die in Moskau brauchen Sie, bevor Sie zu der Ansicht gelangen, dass er sich nicht lediglich ungeschickt verhalten hat? Drei? Sechs? Zehn? Ich kann Ihnen wenigstens ein Dutzend davon zeigen. Sir Paul ist oft zur Doppelgängertheorie befragt worden. Jedes Mal antwortet er zweideutig, statt sich klar von der Behauptung zu distanzieren. Es gibt fast eben so viele belegte Äußerungen von engen Freunden und Kollegen, die ihn mit ‚Billy‘ oder ‚William‘ anreden oder von McCartney in der Vergangenheitsform sprechen. Er hier –“ sie zeigte auf die Ringo-Karikatur auf ihrer Tasse, „behauptet von sich, der letzte lebende Beatle zu sein. McCartneys Bruder Mike sagte einmal, er habe Paul zuletzt auf dessen Beerdigung gesehen. Ab wann werden aus vermeintlichen Missverständnissen Einsichten? Ich verstehe Ihre Befürchtungen nur zu gut, Signorina. Es geht nicht um die John White Band aus Chickenham, sondern um die größte und bis heute einflussreichste Musikgruppe der Geschichte. Es handelt sich ‚bloß‘ um Unterhaltung, doch wenn hier unter den Augen der interessierten Weltöffentlichkeit solche Stunts abgezogen werden konnten, was geschieht dann an weniger beachteten Stellen, die wirklich von Bedeutung sind? Die Antwort auf diese Frage erschüttert das gesamte Bild, das man sich von der Welt gemacht hat. Es hat mein Weltbild erschüttert. Es schmerzt; glauben Sie mir, ich weiß das. Aber sie müssen sich entscheiden, was Ihnen wichtiger ist: die hübsche Fassade Ihres Denkgebäudes oder die Integrität seiner Substanz.“