1) Paul ist tot

Zach entledigte die Tasse mit der Aufschrift „Schwarzer Tod“ ihres dampfenden Inhalts wie gewohnt auf einen Zug. „Verdammt!“, brummte er. „Halb kalt.“ Dann widmete er sich wieder einem Stoß von Briefen, deren Adressfelder er jeweils kurz studierte, bevor er sie auf einen von zwei Stapeln ablegte.

Veronica, die ihn über den Rand ihrer Müslischüssel beobachtete, hob die rechte Augenbraue. „Tut mir furchtbar leid.“

Zach wollte gerade einen offiziell wirkenden Umschlag beiseite legen. Dann zögerte er. Seine Stirn legte sich in Falten, während er die Beschriftung erneut musterte. Er blickte auf. „Was tut dir leid?“

„Dein Kaffee.“ Sie strich sich mit dem Löffelstiel eine Strähne aus dem Gesicht und betrachtete ihn amüsiert.

„Das sollte es auch!“, grollte der Privatdetektiv. „Wie soll ein Mann arbeiten, wenn er kein ordentliches Frühstück bekommt?“

„Wenn du mir beibringst, wie man das Wasser über dem Siedepunkt flüssig hält… Willst du ihn nicht aufmachen?“, fragte sie. Als er sie irritiert ansah, deutete sie mit dem Löffel auf seine Hand und fügte hinzu: „Den Brief. Ich rieche einen neuen Fall.“

Er schaute sich suchend auf dem Tisch um, griff dann nach dem Buttermesser seiner Tochter, steckte es sich in den Mund und zog es langsam zwischen zusammengekniffenen Lippen wieder heraus. Er wendete den Umschlag noch einmal, um die Rückseite in Augenschein zu nehmen, dann führte er die Klinge in den oberen Falz ein und durchtrennte ihn zügig, ohne auf Veronicas missbilligendes Schnalzen einzugehen. Er fischte das Schriftstück heraus, ein einzelnes Blatt, das nach dem Entfalten einen professionellen Briefkopf zeigte. Während Zachs Augen flink über einige wenige gedruckte Zeilen huschten, wich alle Farbe aus seinem Gesicht. Er ließ das Blatt sinken. „Paul…“, sagte er nur.

„Paul? Welcher Paul?“

Onkel Paul, mein Stiefbruder.“

„Du hast einen Stiefbruder? Wie kommt es, dass ich nichts von ihm weiß?“ Sie nahm ihrem Vater den Briefbogen ab und las halblaut: „… leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Angehöriger, Paulus Campbell, gebürtig… bla bla… am vergangenen Sonntag verstorben… bla… bla… beauftragt, Sie zur Testamentseröffnung einzuladen. Bitte finden Sie sich am… blafasel… Dr. Jules R. Miller, Notar.“

„Der Sohn deiner Oma Lana aus erster Ehe. Wir…“ Er schwieg einen Moment, den Blick gesenkt. „Wir haben uns seit fast zwanzig Jahren nicht mehr gesehen.“

„Ach, Dad!“ Sie legte ihre Hand auf die seine. „Es tut mir furchtbar leid,“ sagte sie wieder, diesmal jedoch ohne den schnippischen Unterton, „aber ich erinnere mich überhaupt nicht an ihn.“

„Du warst zu jung; erst zwei oder drei.“

„Warum hast du nie über ihn gesprochen? Weshalb habt ihr einander nicht besucht?“

Zach entzog seiner Tochter die Hand, erhob sich und ging schweren Schrittes auf die Tür seines Büros zu. „Ich… brauche einen Moment.“

Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Das Ächzen eines Stuhls, dann herrschte Stille im anderen Raum. Veronica erhob sich nun ebenfalls, begann die Reste des vorzeitig beendeten Frühstücks auf ein Tablett zu laden und trug dieses in die Küche.


Der orange lackierte Opel GT flitzte über die M1 nach Norden, auf Liverpool zu. Den Wagen hatte Veronica, die wie ihr Vater eine Schwäche für Technik der vor-elektronischen Zeit hegte, zufällig bei Ermittlungen in einem Fall entdeckt. Es war ihnen gerade gelungen, den von ihnen gesuchten Heiratsschwindler in einem Hamburger Stundenhotel aufzustöbern, wo sie das von ihrer Mandantin gewünschte Kompromat sammeln konnten. Nachdem der Mann fluchtartig das Zimmer verlassen hatte, war Veronica ans Fenster getreten. Sie hatte aus dem dritten Stock in den Hinterhof jenes Etablissements geblickt und die schnittige Karosse dort stehen sehen. Damals war sie von altersmattem Weiß gewesen; eine Beule hatte die Beifahrertür verunstaltet und die Felgen waren stark verrostet gewesen. Und doch bot das Fahrzeug mit seinen eleganten Formen und den versenkbaren Frontleuchten einen Anblick, der sie sofort gefesselt hatte.


Das Fabrikat war ihr fremd – vielleicht der Prototyp einer nie gebauten Corvette-Serie? Sie würde es herausfinden. Das Gezeter der jungen Frau („Sammy,“ gab sie mit misstrauischem Blick an) war verstummt. Stattdessen hörte sie nun ihren Vater beruhigend auf sie einreden. Veronica drehte sich um. In Zachs ausgestreckter Hand war für einen kurzen Moment ein Geldschein zu sehen, bevor sich Sammys Finger blitzschnell um ihn schlossen und an sich rissen. Zach lächelte; sie würde keinen Krawall verursachen.

„Sorry für die Störung,“ sagte Veronica freundlich. „wir sind gleich wieder draußen.“ Sie hatte nun erstmals Gelegenheit, das Mädchen eingehender zu betrachten; slawische Gesichtszüge, schulterlanges blondes Haar, das einen blauen Fleck an der linken Schläfe halb verdeckte; ein breiter Mund, ein graziler Hals; unter dem Leinen, das sie bedeckte, zeichnete sich ein sehr feminin geformter Körper ab, und doch: keine junge Frau. Ihr achtzehnter Geburtstag lag definitiv mehr als ein paar Wochen in der Zukunft. Nicht gut. Veronica runzelte die Stirn.

Sammy nickte unsicher. „Klar…hm, schon gut.“ Ihr Akzent bestätigte die vermutete Herkunft.

„Sag mal, du weißt doch bestimmt, wem der Sportwagen da unten gehört?“

„Der weiße?“

„Ja.“

„Hannes. Dem Boss. Warum willst du das wissen?“

„Wo finde ich diesen Hannes?“

Auf dem Gang polterten schwere Schritte, dann wurde die Tür aufgerissen. „Was ist hier los?“, knurrte der Klotz, der in der Öffnung erschienen war. Anzug, offenes Hemd, keine Krawatte, der Schädel besser rasiert als Kinn und Wangen. „Was fällt euch ein, die Kunden zu vergraulen? Raus mit euch, aber zackig!“

„Wir… suchen Hannes,“ flötete Veronica und legte die Hände an die Hüften.

„Glückes Geschick, ti-ri-li! Er steht direkt vor euch und der Laden“ – er deutete auf seine Hose – „ist gerade offen.“ Das entsprach sogar der Wahrheit. Der Klotz musterte Veronica von oben bis unten, dann sagte er: „Heißes Gerät, aber ein bisschen zu alt.“

Sie warf einen schnellen Seitenblick auf Sammy, schaute Hannes wieder frech ins Gesicht und ließ ihre Brauen tanzen. „Ja, das ist mir auch schon aufgefallen,“ entgegnete sie. „Es war bestimmt nicht leicht, eine Lizenz dafür zu bekommen.“ Sie legte den Kopf schief.

Der Klotz kam einen Schritt näher. „Willst du mir drohen, Kleine?“

„Nicht so schnell!“, rief Zach, der die rechte Hand halb aus der Jackentasche zog. Der Griff einer Walther wurde sichtbar.

Der Klotz blieb stehen. „Was wollt ihr hier?“

„Das heiße Gerät da unten im Hof, gehört das Ihnen?“, fragte Veronica.

„Vielleicht. Vielleicht auch nicht.“

„Nun gut, wir können auch auf dem Revier nachfragen; wollten mit den Jungs ohnehin ein paar Tipps auszutauschen…“

„Was wäre, wenn der Schlampenschlepper mir gehört?“

„Dann kommen wir vielleicht ins Geschäft,“ erwiderte Veronica.


Ihr Vater hatte den Wagen bar bezahlt, seine Restauration und die Überführung auf die Inseln veranlasst und Veronica samt einem Fahrsicherheitstraining zum neunzehnten Geburtstag geschenkt. „Das ist eigentlich kein Auto für eine junge Frau,“ hatte er gesagt, „aber du hast deinen guten Geschmack eindeutig von deinem alten Herrn geerbt, und der ist sehr, sehr stolz auf dich.“

Die erste Stunde über, während sie sich aus dem dichten Londoner Stadtverkehr hinaus quälten, hatten sie geschwiegen. Das Gedränge begann sich so langsam zu lichten. Veronica ließ den GT seine Muskeln spielen. Geschickt nutzte sie Lücken, um sich nach vorn zu arbeiten, und als schließlich offene Strecke vor ihnen lag, gab sie ordentlich Gas.

„Was ist damals eigentlich zwischen euch vorgefallen?“, erkundigte sie sich endlich. Die Frage hatte ihr die ganze Woche über unter den Nägeln gebrannt, aber Zach war nie recht in der Stimmung gewesen, über Paul zu reden. Nun, da sie sich auf dem Weg zum Notariat Miller befanden und es weder etwas anderes zu tun noch zu bereden gab, konnte sie ihre Neugier nicht länger zügeln. Sie sah, dass ihr Vater geneigt schien, die Frage zu überhören, aber sie ließ nicht locker: „Ich meine, ihr habt euch bestimmt nicht einfach auseinandergelebt.“

Er brummte, überlegte kurz und sagte: „Nein, haben wir nicht. Das ist eine lange Geschichte.“

„Noch immer fast zweihundert Meilen Fahrt vor uns.“

Er seufzte. „Na gut.“ Einige Sekunden verstrichen. „Ich war fünf Jahre alt, als meine Stiefmutter bei uns einzog. Paul war sechs. In dem Alter erscheint einem ein Jahr wie eine riesige Hürde, aber wir freundeten uns sofort an. Er zeigte mir viele coole Tricks beim Fußball. Er war um etliches größer als die meisten seines Alters und stellte sich den anderen Jungs in den Weg, wenn sie mich in die Zange nehmen wollten. Das taten sie oft; sie hielten mich für einen Spinner. Ich interessierte mich mehr für Bücher als für Sport, Zigaretten oder in späteren Jahren Mädchen. Einmal hatten sie mich allein erwischt. Sie drängten mich in eine Ecke und wollten gerade beginnen, mich zu ‚bearbeiten‘, da kam Paul wie eine Naturgewalt über sie. Sie waren zu viert, aber er hat sie so vermöbelt, dass einer von ihnen einen Zahn verlor. Er war eigentlich ein friedfertiger Mensch; doch wenn er etwas sah, das er für ungerecht hielt, konnte er energisch werden.“

Zach hielt kurz inne. Er lächelte. „Als du geboren wurdest, bot er sich sofort als Pate an. Paul hat nie geheiratet, wenn du verstehst, was ich meine, aber er mochte Kinder, und er hat ihnen immer irgendwelche Kniffe beigebracht, die sie noch nicht kannten. Er war derjenige, der dich das Gehen lehrte, während deine Mutter und ich…“ Er schnaubte. „…während deine Mutter und ich mit unseren Karrieren beschäftigt waren. So wie deine Großeltern viel zu selten Zeit für mich und Paul gehabt hatten.“

Erneut pausierte er. Dann: „Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht mehr an den Skandal um Jimmy Savile.“

„Nah, ich war gerade zwölf, als die Doku über ihn rauskam. Ich hab sie mir aber zum Teil angesehen. Dieses alte Schwein!“

„Ja, Savile war ein Schwein. Er war aber beileibe nicht der einzige Kinderficker im Land. Da war eine ganze Gang von weiteren bekannten BBC-Radiomoderatoren und Musikern unterwegs, die ihren Promi-Status benutzten, um an Nachschub zu gelangen. Die Polizei hatte konkrete Verdachtsmomente gegen fast 200 solcher Personen. Keiner kann mir erzählen, dass die Leute in den Chefetagen nichts davon wussten, dass Benefizgalas für Kinder in Not, Jugendtalentshows und ähnliche Programme für pädophile Zwecke missbraucht wurden. Wir wussten davon, verdammt noch mal, und wir sind hellhörig geworden, als wir erfuhren, dass Onkel Paul dich regelmäßig an seinen Arbeitsplatz mitgenommen hatte – zur BBC. Du hast damals eine schwierige Phase durchlaufen. Eine Kinderpsychologin, die wir konsultierten, deutete an, es könne jemand im engeren Umfeld geben, der dich missbraucht. Wir haben Paul zur Rede gestellt. Er räumte ein, im Team von Savile zu arbeiten und mit Leuten wie diesem Gary Glitter zu tun gehabt zu haben. Er nannte sie ‚ein bisschen exzentrisch‘, stritt aber vehement ab, von irgendwelchen Unregelmäßigkeiten gewusst zu haben. Deine Mum war extrem aufgebracht. Sie glaubte ihm kein Wort, schmiss ihn aus dem Haus und untersagte ihm, jemals wieder in deine Nähe zu kommen. Ich kannte ihn besser. Trotzdem war ich mir unsicher, daher habe ich es geschehen lassen.“

Veronica blickte ihn schockiert an. „Heißt das…?“

„Nein. Dir ist kein Haar gekrümmt worden. Wir zogen eine Traumatherapeutin zu Rate, mit deren Hilfe wir relativ schnell herausfanden, dass wir selbst dein größtes Problem gewesen sind. Du hast dich wegen unserer ständigen Abwesenheit schwer vernachlässigt gefühlt. Als mir klar geworden ist, welch großes Unrecht ich begangen hatte, wollte ich den Kontakt mit Paul wieder herstellen. Aber er war unauffindbar. Er hatte bei der BBC gekündigt und war umgezogen. Von einer gemeinsamen Freundin habe ich Jahre später erfahren, dass er direkt nach unserer Auseinandersetzung Nachforschungen über den Pädophiliesumpf im Musikbusiness angestellt hat. Seine Erkenntnisse müssen wohl einen wesentlichen Beitrag zu einigen der Enthüllungen geleistet haben, die nach Saviles Ableben veröffentlicht worden sind.“ Er schaute zum Beifahrerfenster hinaus. „Paul war unschuldig.“

2) Jules R. Miller, Notar

Sie erreichten das von ihnen gebuchte Hotel am Stadtrand von Liverpool kurz vor acht Uhr abends. Müde von der langen Fahrt begaben sie sich ohne Umschweife ins Bett. Der Schlaf wollte sie jedoch nicht sofort einholen. In den Ohren tönte noch das Brausen des GT-Motors, in ihren Gedanken spukten die Geister der Vergangenheit.

Am nächsten Morgen weckte strahlender Sonnenschein sie. Veronica hüpfte als Erste in das winzige Badezimmer, nahm eine schnelle Dusche, schrubbte die Zähne und zog ein bequemes dunkles Kleid an. Als sie ins Zimmer zurückkehrte, lag Zach mit hinter dem Kopf verschränkten Händen im Bett. Er sah besser aus als Tags zuvor. „Das Badezimmer gehört dir,“ rief sie ihm zu. „Beeil dich. Ich gehe gleich runter und sichere uns ein Frühstück. Ich sterbe vor Hunger!“

„Bloß nicht!“, brummte er, als sie bereits zur Tür hinaus war. „Ein Toter reicht mir vollauf.“

Der Frühstücksraum war tatsächlich recht voll, als Zach endlich eintraf: geduscht, rasiert, gekämmt und in einen frischen dunklen Anzug gekleidet. Veronica hatte ihnen einen Platz am Tresen gesichert, damit der Kaffee unterwegs möglichst wenig Temperatur verlor. Die Gastwirtin, eine Frau in den Fünfzigern, strahlte ihn an. „Guten Morgen, Mr Ziegler. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.“

„Bestens,“ antwortete er. „Wie auf Wolken.“

Sie lächelte. „Was hätten Sie gern? Kaffee? Tee? Kakao? Saft?“

„Kaffee, bitte. Schwarz.“

„Kommt sofort.“ Sie drehte sich zu einer altmodischen Kaffeemaschine um, die gerade die letzten Tropfen heißen Wassers röchelnd in einen Filter spuckte, der tiefschwarzen Sud in eine unter ihm stehende Glaskanne entließ. Die Wirtin entnahm die Kanne, wandte sich wieder Zach zu und befüllte eine vor ihm stehende – nach seinen Maßstäben recht kleine – weiße Tasse. Der Detektiv zögerte keine Sekunde, führte sie zum Mund und leerte sie schnell mit in den Nacken gelegtem Kopf. Dann knallte er sie wie ein Schnapsglas auf den Tresen. „Rah,“ prustete er zufrieden. „Noch einen!“

Die Wirtin stand mit offenem Mund vor ihnen. Veronica brauchte nicht hinzuschauen. Sie wusste auch so, dass einige der Gäste die Szene zufällig beobachtet hatten, nun ihre Nachbarn anstießen und mit dem Finger auf Zach zeigten. Im Raum wurde es stiller. Sie kannte das schon. In aller Gemütsruhe löffelte sie ihren Joghurt, während ihr Vater der Wirtin die Tasse entgegenschob. „Nun?“, sagte er.

Verdattert füllte sie sie erneut. Wieder stürzte Zach den dampfenden Inhalt auf einen Schlag hinunter, wieder hämmerte er die Tasse aufs Holz. Kollektives Keuchen füllte die Luft. Niemand sprach ein Wort. Nach einigen Sekunden drehte ihr Vater sich dem Raum voller Menschen zu, die ihn mit aufgerissenen Augen und Mündern anstarrten, grinste schief und sagte: „Gestatten? Ludwig Lederrachen, Feuerschlucker und Schwertspucker.“

Das brach den Bann. Alle begannen gleichzeitig zu schnattern, manche lachten, einige johlten. Zach zwinkerte ihnen zu, dann wandte er sich wieder an die Wirtin. „Was gibt‘s zu essen?“


„Du kannst es wirklich nicht lassen,“ beschwerte sich Veronica, während ihr Vater herzhaft in eine Scheibe Bauernbrot biss. „Kaum sind wir angekommen, machst du uns zum Stadtgespräch.“

„Ach tu nicht so empfindlich, du genießt die Aufmerksamkeit doch auch.“

„Ich bin mir nicht sicher, dass sich Prominenz mit unserer Tätigkeit als Privatdetektive verträgt.“

„Die größten Geheimnisse und die persönlichsten Dinge versteckt man am sichersten auf einem Präsentierteller,“ entgegnete Zach. „Savile hat seine Opfer live im Fernsehen zugeführt bekommen, unter den Augen der ganzen Nation. Wer hätte vermuten wollen…“

„Ja klar. Da steht meiner Zweitkarriere als Model also nichts mehr im Weg.“ Veronica schüttelte affektiert ihr schulterlanges blondes Haar, setzte ihr süßestes Lächeln auf und klimperte mit den Augendeckeln.

Zach lachte auf. „Du lernst schnell. Der Catwalk muss allerdings warten, bis wir die Sache mit Paul hinter uns gebracht haben. Außerdem würde ich gern irgendwann einen Enkel oder zwei zu Gesicht bekommen. Ich bitte das in deine Lebensplanung einfließen zu lassen.“

Veronica hieb ihm mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. „Du hast sie wohl nicht mehr alle!“, rief sie in gespielter Entrüstung. „Hör auf zu quatschen und iss den Teller leer. In weniger als einer Stunde müssen wir in der Yewtree Road beim Notar sein.“

„Yes, Ma‘am.“


Wie sich herausstellte, hätte keine Eile bestanden. Dr. Jules R. Miller, der Notar, war länger als erwartet von einer anderen Angelegenheit in Beschlag genommen. Seine Sekretärin leitete Zach und Veronica in ein geschmackvoll dekoriertes Wartezimmer mit Blick auf den Calderstones Park. Sie hatten den Raum für sich. Außer ihnen befand sich niemand darin. An den Wänden hingen zwei Reihen gerahmter Bilder. Die obere bestand aus Aquarellen, die bekannten Fotos der Beatles nachempfunden waren: die Fab-Four mit Regenschirmen, das Cover des Albums Beatles For Sale, die Band beim Überqueren eines Zebrastreifens, oder auch John Lennon und Paul McCartney gemeinsam am Mikrofon. Die Gemälde trugen unten links jeweils den Schriftzug ‚Donna.‘ Die Künstlerin hatte die Charaktere der Musiker ziemlich gut getroffen. Die frischen, gefühlvoll auf einander abgestimmten Farben gaben dem Wartezimmer eine fröhliche Note – bis man sich näher mit der unteren Bildreihe beschäftigte. Es handelte sich um Schwarz-Weiß-Fotografien wesentlich kleineren Formats. Sie hingen direkt auf Augenhöhe. Um seine Nervosität zu dämpfen, schritt Zach der Wand entlang, von einer Aufnahme zur nächsten. Für Kunst hatte er wenig übrig. aber die Fotos faszinierten ihn. Er war mit der Musik dieser Gruppe aufgewachsen, da seine Mutter sie gern gehört hatte. Die Beatles hatten sich im Jahr vor seiner Geburt aufgelöst, waren aber nie ganz aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Die Zeitungen berichteten gelegentlich von neuen Enthüllungen oder druckten Berichte über verschollene Tonbänder; das Fernsehen zeigte bei jeder sich bietenden Gelegenheit Retrospektiven: gefüllte Stadien, schreiende Fans, winkende Pilzköpfe. Die Szenen auf den Fotos waren jedoch ganz anderer Art als die Gemälde oder die Zeitungsillustrationen. Eine düstere Aura ging von ihnen aus: Paul, der mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis bildete, die restlichen Finger abgespreizt; Stuart Sutcliffe in einem Sessel sitzend, die Merkel-Raute zeigend; Ringo, der sich ein Auge zuhielt; John, der hinter Pauls Kopf die ‚Pommesgabel‘ präsentierte; George Harrison, neben einem anonymen Grab stehend. So ging es weiter, Bild um Bild um Bild. Es handelte sich durchgehend um hochwertig aufgenommene ästhetische Motive, trotzdem war Zach sich sicher, keines von ihnen je gesehen zu haben.

Er wollte gerade Veronica darauf aufmerksam machen, als sich die Tür öffnete. Dr. Millers Sekretärin stand im Rahmen und bat sie, ihr zu folgen. Sie führte sie durch einen kurzen Gang in ein weiteres Zimmer, wo der Notar, ein schlanker älterer Herr, ihnen mit ausgestrecktem Arm entgegen schritt. Er hatte halblanges graues, leicht gewelltes Haar und trug eine Brille mit kleinen runden Gläsern auf der leicht gebogenen Nase. Mit ein bisschen Phantasie konnte man sich einem sechzigjährigen Lennon gegenüber wähnen. Miller schüttelte Zachs Hand und sagte in perfektem Oxford-Englisch: „Freut mich, Sie zu sehen, Mr Ziegler. Seien Sie meines tiefen Beileids über Ihren Verlust versichert. Ihr Stiefbruder war mehr als nur ein Mandant, er war auch mein Freund. Ich werde mein Möglichstes tun, Ihnen bei der Erledigung der Formalitäten zu helfen und meinen Beitrag zu einem angenehmen Aufenthalt in Liverpool zu leisten.“

„Vielen Dank, Dr. Miller. Dies hier“ – Zach zeigte auf Veronica, die hinter ihm in den Raum getreten war – „ist Mr Campbells Patenkind, meine Tochter Veronica.“

„Ms Ziegler, es ist mir eine Ehre.“ Der Notar deutete einen Handkuss an. Erst nach einem längeren prüfenden Blick in ihre Augen gab er die Hand wieder frei. „Setzen Sie sich doch.“

Er deutete auf zwei Stühle vor seinem ausladenden Schreibtisch und begab sich gegenüber zu einem hohen Drehsessel mit grünem Lederbezug. Vater und Tochter setzten sich, dann auch der Notar.

„Werden wir auf die Anderen warten müssen oder möchten sie nicht an der Testamentseröffnung teilnehmen?“, erkundigte sich Zach.

Die Sekretärin kam erneut herein. Sie hielt ein Tablett, auf dem sich eine Teekanne, drei Tassen und etwas Gebäck befanden. Sie setzte das Tablett auf einem Beistelltischchen ab, verteilte die Gedecke und füllte Ceylon-Tee ein. Dann verließ sie das Zimmer. Veronica warf Zach, der sich anschickte, nach seiner Tasse zu greifen, einen mahnenden Blick zu. Der Notar lehnte sich zurück. „Mr Ziegler, Sie sind der einzige Anverwandte und auch der Alleinerbe des Verstorbenen. Ich werde daher nicht viel mehr zu tun haben, als Mr Campbells letzten Willen zu verlesen und Ihre Entscheidung über Annahme oder Ausschlagung des Erbes zu beglaubigen.“

„Oh,“ sagte Zach. Er nippte etwas Tee, dann stellte er die Tasse zurück und knabberte an einem Gebäckstück.

Miller entnahm einer dünnen dunkelgrauen Kladde, die er vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte, einige zusammengeheftete Seiten, die ein notarielles Siegel trugen, und begann mit der Verlesung:

Letzter Wille und Testament

Ich, Paulus Martin Campbell, geboren am 8.April 1970 in Liverpool, erkläre hiermit im Vollbesitz meiner geistigen Fähigkeiten, meinen letzten Willen. Ich handle weder unter Druck noch Zwang und bin mir des Charakters und Umfangs meines Eigentums bewusst.

Ich verfüge, dass mein Stiefbruder, Zachary Archibald Ziegler, geboren am 23. Februar 1971 in Stuttgart, derzeitiger Wohnort London, der alleinige Nutznießer meiner Hinterlassenschaften sein soll. Diese bestehen in einem Ladengeschäft samt Einrichtung und Waren in Liverpool, meiner Wohnung samt Inhalt, meinem Wagen und meinen Bankkonten samt Inhalt.

Das Dokument bestimmte des weiteren Dr. Miller zum Vollstrecker des Testaments, erklärte, dass weder Schulden noch Außenstände vorhanden wären, und nannte eine Reihe rechtlicher Vorbehalte. Pauls Unterschrift war gefolgt von den Signaturen zweier Zeugen und der des Notars.

Als Miller zu Ende gelesen hatte, legte er das Dokument beiseite, öffnete die Kladde erneut, zog ein Papier heraus und reichte es Zach. Es handelte sich um eine Aufstellung der Vermögenswerte und sonstigen Gegenstände aus Pauls Besitz. Bei dem im Testament erwähnten Laden handelte es sich um ein Musikantiquitätengeschäft auf der Rainford Gardens. Pauls Wohnung befand sich in den beiden darüber liegenden Stockwerken. Sein Wagen war ein Austin, Baujahr 65. Auf den Konten lagen 2,4 Millionen Britische Pfund. Alles in allem war das Erbe laut amtlicher Schätzung über sieben Millionen Pfund wert.

„Heiliger Strohsack!“, stieß Zach hervor.

„Jeeesus!“, hauchte Veronica, die mitgelesen hatte.

„Die Waren und Einrichtungsgegenstände des Ladens sind im Inventarverzeichnis aufgeführt,“ erklärte der Notar. „Möchten Sie einen Blick hineinwerfen?“

„Danke, nein. Rainford Gardens hört sich idyllisch an. Ist das eine gute Lage?“, wollte ihr Vater wissen.

„Die beste; Cavern-Viertel; eine kurze Seitenstraße der Whitechapel, die in die Mathew Street mündet. Es gibt da keinen einzigen Grashalm, dafür jede Menge Sehenswürdigkeiten, Pubs und Läden in der Nachbarschaft. Wie Sie vielleicht wissen, gehört die Mathew Street zum Pflichtprogramm eines jeden Besuchers unserer Stadt.“

„Das Beatles-Museum!“, warf Veronica begeistert ein.

Miller lächelte. „Und der Cavern-Club, wo alles begonnen hat.“ Er räusperte sich. „Ich muss Sie nun fragen, ob Sie das Erbe Ihres Stiefbruders annehmen möchten, Mr Ziegler.“

„Wer könnte da nein sagen? Ich nehme es selbstverständlich an.“

„Dann unterschreiben Sie bitte diese Erklärung – ja, dort auf der Linie.“ Als Zach seinen Krakel daraufgesetzt hatte, nahm der Notar das Blatt an sich, signierte es schwungvoll und drückte sein Siegel auf. Er räumte alle Papiere wieder in die Kladde. „Ich bin sicher, Sie haben viele Fragen,“ sagte er.

„Mein Bruder und ich haben uns seit zwanzig Jahren nicht gesehen. Ich habe keine Ahnung, was er seither getan oder wie er gelebt hat. Ich weiß nicht einmal, wie er gestorben ist.“

„Ich würde mich gern mit Ihnen über Paul Campbell unterhalten. Wir standen uns wie gesagt recht nahe. Leider erwarten mich nun andere Verpflichtungen. Bitte kommen Sie morgen gegen ein Uhr noch einmal hierher. Ich händige ihnen dann sämtliche Unterlagen aus. Anschließend fahren wir in die Rainford Gardens, zur Übergabe von Laden, Wohnung und Fahrzeug.“ Er betätigte einen Knopf auf seiner Sprechanlage: „Mrs Jones.“

Er erhob sich aus dem Sessel. Vor der Tür ertönten Schritte, dann trat die Sekretärin ein. „Ja bitte?“

Miller überreichte ihr die Kladde. „Bitte führen Sie die Gäste hinaus und machen Sie die Campbell-Unterlagen bis morgen Mittag fertig.“

„Jawohl, Sir.“ Sie nickte Vater und Tochter zu, dann setzte sie sich in Richtung Tür in Bewegung.

Zach schüttelte dem Notar die Hand. „Besten Dank, Dr. Miller. Bis morgen Nachmittag!“

Miller nickte kurz. „Junge Dame,“ sagte er an Veronica gewandt, „auf hoffentlich baldiges Wiedersehen.“

Erneut dieser durchdringende Blick. Veronica schaute uneingeschüchtert zurück, lächelte, drückte fest zu und versprach: „Morgen Nachmittag.“

3) Tiefgarage

„Zwick mich!“, sagte Veronica, als sie wieder im Wagen saßen, die Yewtree Road verließen und nach Süden zu ihrem Hotel steuerten. „Autsch!“, kreischte sie. Der GT vollführte einen kleinen Schlenker. Ein entgegenkommendes Auto blendete die Scheinwerfer auf. „Das ist ja ganz und gar unglaublich.“

„Bis letzte Woche bist du in ausgelatschten Tennisschuhen herumgerannt, und plötzlich kannst du dir so viele Stöckels leisten wie einst Imelda Marcos,“ lachte Zach.

„Und genauso unverdient. Bis letzte Woche kannte ich keinen Onkel Paul; du hast dich im Streit von ihm getrennt, ihn seit zwanzig Jahren nicht gesehen, weißt weder, wie er gestorben ist noch wo er begraben liegt, aber von einem Tag auf den anderen macht er dich zum Millionär. Das ist ein kleines bisschen beunruhigend, oder?“

„Nur so lange, bis diese Fragen geklärt sind. Dr. Miller wird uns schon morgen alles erzählen, und dann…“

„Und dann was?“, bohrte Veronica. „Hängst du unsere Detektei an den Nagel, um alte Autogrammkarten berühmter Musiker an Touristen in Hawaii-Hemden zu verkaufen?“

„Wohl kaum. Dafür fehlt mir die Geduld. Andererseits…“ Er überlegte. „Paul wird sein Vermögen sicher nicht mit Kleinkram gemacht haben. Die Immobilie mitten im Stadtzentrum war sicher enorm teuer. Ihr Kauf hätte sich nur gelohnt, wenn der Laden auch in großem Maßstab Gewinn abzuwerfen versprach. Er wird Raritäten und Unikate gehandelt haben: Cobains letzte Gitarre, die Kulissen vom Pepper-Album der Beatles oder irgendwelche Beethoven-Manuskripte. Dafür spricht auch, dass sich der geschätzte Verkaufswert der noch vorhandenen Waren auf über drei Millionen Pfund beläuft.“

„Man muss sich in der Materie gut auskennen, um aus altem Schrott Geld herauszuschlagen,“ wandte Veronica ein. „Im Gegensatz zu Briefmarken gibt es für seltene Memorabilien bestimmt keine Kataloge oder Preislisten. Du brauchst eine gute Nase, um geeignetes Material aufzuspüren und musst Kontakte zu Sammlern pflegen, um abschätzen zu können, was man an wen für wie viel Kohle weiterverscherbeln kann. Onkel Paul hatte von seiner Zeit beim Sender her bestimmt erstklassige Verbindungen in die Szene. Wir hingegen werden jemand damit beauftragen müssen, den Laden weiterzuführen oder abzuwickeln, sonst verwandelt sich diese Goldgrube in ein schwarzes Loch.“

Zach nickte. „Da hast du wahrscheinlich recht. Aber schauen wir uns die Sache doch erst einmal an, ehe wir voreilige Schlüsse ziehen.“

„Yep. Ich bin dafür, dass wir an der nächsten Pizzeria halten und ordentlich Ballast aufnehmen. Ich komme mir vor, als schwebte ich einige Zentimeter über dem Boden. Mir schwirrt der Kopf.“

„Rate mal, wem noch,“ grunzte Zach.


Am nächsten Morgen schliefen die beiden aus. Sie ließen das Hotelfrühstück sausen – zur Enttäuschung all jener, die gehofft hatten, einen weiteren Auftritt Ludwig Lederrachens erleben zu dürfen – und suchten stattdessen einen Pub auf, der Brunch servierte. Nachdem sie ausgiebig gespeist hatten, steuerte Veronica den Wagen wieder in die Yewtree Road. Mrs Jones ließ sie ein und übergab ihnen einen Ordner mit Unterlagen sowie ein Inventarverzeichnis mit der Aufschrift ‚Campbell‘s Fab Store‘. „Nehmen Sie doch einen Augenblick Platz.“ Sie deutete auf den Eingang zum Wartezimmer. „Dr. Miller wird in wenigen Minuten mit den Haustürschlüsseln eintreffen.“

Zach legte die Papiere auf einen Stuhl neben Veronica, die sich gesetzt hatte. Wieder packte ihn eine seltsame Unruhe. Er begann, wie bereits am Vortag, die Fotos zu inspizieren, die in solch scharfem atmosphärischen Kontrast zu den heiteren Gemälden über ihnen standen: Eines zeigte die vier Pilzköpfe in schwarze Kutten gekleidet, die Gesichter weitgehend im Schatten der Kapuzen verborgen. Auf dem nächsten sah man einen Mann, dessen Gesicht von Bandagen verdeckt war, vor einer Kulisse mit exotischen Pflanzen stehen, zusammen mit einer Person, die eine Hornbrille trug und ihn um fast einen Kopf überragte. Auf einem weiteren Foto präsentierte ein formell gekleideter älterer Herr eine auf ein Samtkissen gebettete historische Waffe, vielleicht eine Streitaxt oder ein Kriegshammer. Ihm gegenüber stand John Lennon mit hängenden Schultern, sichtlich übernächtigt.

Zach wollte seine Tochter fragen, was sie über die Szenen dachte, wurde aber, genau wie am Vortag, unterbrochen – diesmal von Veronica selbst, die das Inventarbuch studiert hatte. „Phantastisch!, Du wirst staunen, was Onkel Paul alles in seinem Laden angeboten hat,“ sagte sie aufgeregt. „Die Trümmer der Gitarre, die Jimi Hendrix auf dem Isle of Man-Festival gespielt hat; ein Zombie-Kostüm namens Eddie, mit dem jemand auf Iron Maidens Killers-Tour über die Bühne wankte; eine Perücke von Tina Turner aus der Zeit mit Ike. Und ja, tausende von Autogrammkarten, alte Ausgaben von Musikzeitschriften, signierte Plektren, Vinylscheiben und anderer Klimbim, aber die wertvollsten Stücke stammen fast alle von den Beatles. Er hat sie auf Bestellung beschafft. Hier, das sind die Namen der Käufer, dahinter der vereinbarte Preis. Wären wir nicht solche Intelligenzbestien würde ich sagen, wir haben mehr Glück als Verstand.“ Sie grinste. Dann bemerkte sie seine Miene. „Was ist?“

Die Tür ging auf, Dr. Miller trat ein.


Sie folgten dem SUV des Notars in die Innenstadt von Liverpool. Die Straßen waren um diese Zeit nur mäßig befahren, so dass sie es in einer Dreiviertelstunde schafften. Statt ihnen einfach nur die Schlüssel zu Laden, Wohnung und Fahrzeug zu überreichen, hatte Dr. Miller angeboten, die Räumlichkeiten für sie zu öffnen. Es gebe einiges zu beachten, sagte er, das er ihnen vor Ort zeigen werde, und er wolle auch seinem Versprechen nachkommen, etwas über die Umstände von Mr Campbells Tod zu erzählen. Und so bogen sie schließlich in die Victoria Street ein, rollten über eine steile Rampe in eine Tiefgarage und fädelten in die ziemlich engen Nischen ein. Es gab nur wenige freie Plätze, so dass die beiden Fahrzeuge in einiger Distanz zu einander standen. Parkplätze, erklärte Dr. Miller, nachdem sie schließlich gemeinsam über eine Treppe auf Straßenniveau zurückgekehrt waren, seien Mangelware so nahe am Touristenzentrum. Es gebe jedoch reservierte Buchten für die Anwohner. Auf einer solchen stehe auch Mr Campbells Wagen. Ob sie ihn gleich sehen wollten?

„Ist es weit?“, fragte Veronica.

„Nein, er befindet sich auf dem Weg zum Laden,“ erwiderte der Notar.

„Dann zeigen Sie uns den Weg,“ meinte Zach.

Über den unscheinbaren Nebeneingang eines Restaurants betraten sie ein Treppenhaus, das sie wieder unter die Erde führte. Durch eine Stahltür gelangten sie auf ein weiteres Parkdeck – ausschließlich für Anlieger –, in dessen entlegenstem Eck sie eine verschlossene Garage erwartete.

Zach sah Miller fragend an. „Ist das nicht ein bisschen übertrieben für einen alten Wagen?“

Miller lachte. „Nicht irgendeinen alten Wagen – einen der Austin Mini Cooper S, die Epstein 1965 für die Beatles besorgt hat! Das Fahrzeug wurde von Harold Radford den Sonderwünschen des Käufers angepasst und wäre schon allein deshalb kein Besitz, den man unbeaufsichtigt am Straßenrand stehen lässt.“ Er zückte einen Schlüsselbund, öffnete das Garagenschloss, drehte am Knauf und riss das Rolltor auf. Ohne nennenswertes Geräusch glitt es nach oben, bis es in eine Haltestellung geriet. Hinter der Öffnung war automatisch eine Serie von Wandlampen angegangen. Sie tauchten einen kastenförmigen Kleinwagen, dessen salbeigrünes Heck ihnen zugewandt war, in warmes Licht. Der cremefarbene Lack des Dachs glänzte wie neu.

„Nett,“ ließ Zach mit einer Stimme vernehmen, der man eine gewisse Enttäuschung anmerken konnte. „Hat im Inventar nicht ‚Aston‘ gestanden?“

Miller lachte erneut. „Nein, Austin. Sie haben einen Aston Martin erwartet, einen DB5, wie James Bond ihn in ‚Goldfinger‘ fuhr, nur silberblau? McCartneys Aston Martin?“

„So ungefähr,“ gab Zach zurück.

„Der würde mir auch gefallen. Er ist leider in festen Händen, seit er vor vier, fünf Jahren für fast anderthalb Millionen Pfund in einer Auktion den Besitzer wechselte. Ich gebe zu, der würde zu Ihnen passen – und zu dem Sportwagen, den Ihre Tochter fährt.“ Wieder warf der Notar Veronica diesen eindringlichen Blick zu. Veronica starrte zurück.

„Wissen Sie, welchem der Beatles der Mini gehört hat?“, unterbrach Zach das Augenduell.

Miller musterte ihn für ein paar Sekunden, ohne eine Miene zu verziehen. „In Sammlerkreisen“ – er betonte das Wort auf eine Weise, die eine viel kleinere Personengruppe andeutete, als es normalerweise bezeichnete – „steht die Nummer ‚LGF 696D‘ für einen Wagen, der vor vielen Jahren spurlos von der Bildfläche verschwunden ist; nun, nicht ganz spurlos. Mr Campbell hat seine Beziehungen spielen lassen und ihn vor drei Jahren wieder aufgetrieben. Er steht mit einem Schätzwert von 183.000 Pfund im Inventar – angelehnt an den Erlös der Auktion, in der McCartneys Exemplar im September 2018 unter den Hammer kam. Aber Mr Campbell war weder dumm noch ungeduldig. Er konnte warten…“

„Warten? Worauf?“, warf Veronica ein.

„Darauf, dass der richtige Mann in sein Leben trat,“ erläuterte Miller. Er seufzte. „Die Welt ist so kurzatmig geworden. Für einen schnellen Riss verwerfen die Leute oft ihre gesamte Zukunft. Und wenn sie den kleinen Vorteil, den sie auf Kosten langfristigem Wohlstand einheimsen konnten, verspielt haben, stehen sie allein und mit leeren Händen da. Paulus Campbell war nicht so. Er war Teil von etwas Größerem, und er handelte vorausschauend. Und er wusste, man muss nur lange genug warten, bis der richtige Sammler zum richtigen Zeitpunkt erscheint – jemand, der ein Medienereignis oder einen Jahrestag zum Anlass nimmt, um sich John Lennons Mini Cooper zum gleichen Preis zu leisten, wie andere für Paul McCartneys Aston Martin DB5 bezahlt haben.“

„Das ist nicht Ihr Ernst?“ Zach hob skeptisch eine Braue.

„Es war Mr Campbells Erfolgsgeheimnis. Es funktionierte bei jedem einzelnen Stück, das er aufspürte, um es weiterzuverkaufen.“

„Nur, dass er dieses Mal zu lang gewartet hat.“

„Nun, er konnte ja nicht wissen, dass er so schnell aus dem Leben gerissen würde. Und hätte er gewusst, dass man ihn ermordet, hätte ihm der Erlös aus einem schnellen Verkauf auch nichts genützt.“

„Da haben sie natürlich re… Wie bitte? Sagten Sie gerade ‚ermordet‘?“

„Mein Beileid, Herr Ziegler, das ist leider das Schicksal, das der Herr Ihrem Stiefbruder zugemessen hat.“

4) Campbell’s Fab Store

Nachdem Zach und Veronica die Fassung wiedererlangt hatten, baten sie Dr. Miller, die näheren Umstände zu erläutern. Der Notar verschloss die Garage sorgfältig, dann führte er die Zieglers durch das Treppenhaus wieder in die Fußgängerzone. Auf dem Weg zum Laden erklärte er ihnen, was geschehen war.

„Mr Campbell schloss am 30. April, einem Samstag, den Laden kurz nach acht Uhr abends zum letzten Mal ab. Er hat die Kasse abgerechnet, das Warenbuch aktualisiert und begab sich anschließend über die interne Stiege nach oben in seine Wohnung. Soweit die Polizei ermitteln konnte, handelte es sich um einen ereignislosen Tag ohne größere Umsätze. Er hat ein paar Vinylscheiben und Andenken verkauft. In den frühen Morgenstunden kam es zu einer Auseinandersetzung mit einer unbekannten Person. Mr Campbell erlitt eine Reihe von Stichwunden und fiel am Fuß der Treppe zu Boden, wo er verstarb. Vom Täter fehlt jede Spur. Die Polizei glaubt, dass Ihr Verwandter einen Einbrecher überrascht hat.“

Miller blieb vor einem schmalen Gebäude stehen: eine fünf bis sechs Meter lange Fensterfront mit der Aufschrift Campbell‘s Fab Store, daneben eine Eingangstür, beides eingefasst von hübsch geschreinerten, kastanienbraun lackierten Holzrahmen. „Hier sind wir.“ Er zog den Schlüsselbund heraus, den sie schon in der Garage gesehen hatten.

Veronica musterte Fenster- und Türrahmen oberflächlich. „Sieht nicht aus, als wäre hier unlängst jemand eingebrochen. Die Farbe ist alt und zeigt lediglich zu erwartende Spuren von Abnutzung. Wie kam der Täter hinein?“

„Das ist unklar. Ich vermute, er wird Spezialbesteck benutzt haben.“

„Was ist mit der Videoüberwachung und der Alarmanlage?“ Zach zeigte auf technische Installationen über der Tür.

„Kein brauchbares Bildmaterial. Eine schattenhafte Figur trat in den Eingang, wo sie dem Sichtbereich der Außenkamera entzogen war. Ein Alarm wurde nicht ausgelöst. Zwanzig Minuten später verlässt sie das Lokal auf demselben Weg.“

„Das heißt, prinzipiell könnte Mr Campbell die Person eingelassen haben?“, erkundigte sich Veronica.

„Da bin ich überfragt. Vielleicht,“ sinnierte Miller. „Am besten lassen Sie sich den Polizeibericht zeigen. Ich kenne lediglich die Zeitungsberichte, denn ich war zu sehr von Mr Campbells Tod mitgenommen und darüber hinaus auch damit beschäftigt, alles bei einem Ableben Notwendige zu veranlassen.“

Zach nickte verständnisvoll. „Kann ich gut nachvollziehen. Ich bin selbst schockiert.“

Der Notar hatte den passenden Schlüssel identifiziert, steckte ihn ins Schloss der Ladentür und öffnete sie. Eine Glocke bimmelte. „Bitteschön. Treten Sie ein,“ sagte er, während er voranging.

Veronica und Zach folgten ihm in den Verkaufsraum. Die Helligkeit, welche das Schaufenster hereinließ, gab sich schon nach wenigen Schritten einem trüben Dämmerlicht geschlagen. Miller betätigte einen Schalter, Lampen flammten auf. Nun konnten sie sehen, dass sie höchstens fünfzehn Meter von der hinteren Wand trennten, in die eine massiv wirkende Tür eingelassen war. Es gab keine weiteren Öffnungen. Direkt hinter dem Eingang stand eine kleine Holztheke, darauf eine altertümliche Registrierkasse, ein klobiger schwarzer Fernsprecher mit Wählrad und ein Schallplattenspieler. Auch der Rest des Ladens war mit Holzmöbeln ausgestattet, die alt aber gut in Schuss gehalten waren: prall bestückte Bücherregale, Sortierkästen voller Schallplatten, eine Garderobe behängt mit extravaganter Bühnenkleidung, Tische voller Kleinkram, der sich als Instrumentenzubehör herausstellte, zwei Postkartenständer…

„Ich bin zwar nicht vom Fach, aber sehe hier nur gewöhnliche Musikantiquitäten“, stellte Veronica fest. „Kaum eines Verbrechens wert, wenn Sie mich fragen.“

„Das täuscht. Der Wert der in diesem Raum enthaltenen Gegenstände dürfte ein Mehrfaches Ihres gemeinsamen Jahreseinkommens betragen. Aber Sie haben natürlich insofern recht, dass man bei mangelnder Fachkenntnis wohl ziemlich schwer schleppen müsste, damit sich das Verbrechen lohnt. Man muss schon wissen, wo man hingreift.“

„Wo lagern denn die außergewöhnlichen Stücke, die im Inventar aufgelistet sind?“

„Im Hinterzimmer gibt es eine mit einer Stahltür versehene Nische, eine ehemalige Besenkammer, möchte ich meinen. Dort befindet sich auch der Aufgang zur Wohnung.“

„Die Treppe, auf der Onkel Paul gefunden wurde?“

Jules R. Miller nickte.

„Mit anderen Worten hat der nächtliche Besucher nicht nur das Sicherheitsschloss der Fronttür geknackt, sondern auch die Hintertür“, folgerte Zach. „Gilt dasselbe für den Besen-Safe?“

„Mr Campbell muss ihn erwischt haben, bevor der Einbrecher den Safe öffnen konnte. Wenn die Inventarlisten auf neuestem Stand waren – und daran habe ich keinen Zweifel – dann ging der Täter mit nahezu leeren Händen nach Hause. Es fehlen lediglich etwa zweitausend Pfund aus der Tageskasse, Wechselgeld, mehr oder weniger, und irgendein Manuskript, das wohl auf oder unter dem Tresen gelegen haben muss.“

„Weiß nicht,“ murrte Zach, „das kommt mir alles Spanisch vor. Ergibt das für dich Sinn, Veronica?“

„Man kann sich so manche Geschichte ausdenken, die darauf einen Reim ergibt. Wie wär‘s damit: Der Täter täuscht einen Notfall vor und erschleicht sich so Zutritt zum Verkaufsraum. Die Tür zum Hinterzimmer stand offen, weil Onkel Paul hindurchgegangen ist. Der Täter will ihn zwingen, den Safe zu öffnen, es kommt zur Auseinandersetzung. Danach gerät der Täter in Panik, schnappt sich das Geld und steckt das Manuskript ein, das er zufällig bemerkt, jedoch ohne zu wissen, um was es sich handelt. Dann flüchtet er. Derlei geschieht zwar meistens an Tankstellen oder in Alkoholläden, und statt des Stapels Papier geht eine Stange Zigaretten mit, aber Menschen sind schon für weniger als zweitausend Pfund umgebracht worden.“

„Alles Spekulation. Statten wir besser dem Polizeirevier einen Besuch ab.“

Miller, der dem Wortwechsel mit unbewegter Miene gefolgt war, meldete sich zu Wort: „Faszinierend. Sie haben einen scharfen Verstand, junge Dame, und ich würde mich nur zu gern noch ein Weilchen mit Ihnen über die Sache unterhalten. Leider ist meine Zeit auch heute begrenzt. Daher möchte ich vorschlagen, dass ich Ihnen den Rest des Gebäudes zeige, wenn Sie erlauben.“

„Selbstverständlich,“ stimmte Zach zu. „Wo befindet sich die sichere Kammer?“

„Kommen Sie.“

Der Notar geleitete sie durch die Hintertür in einen weiteren fensterlosen Raum. Nachdem er den Lichtschalter betätigt hatte, sah man, dass das Zimmer ein zweisitziges Sofa, einen dazu passenden Sessel, einen Couchtisch, sowie eine kleine Bar mit Kühlschrank und Kaffeemaschine enthielt. In einer Ecke führte eine steile Holztreppe in den Oberstock. Eine andere Ecke war abgemauert und mit einer stabilen Metalltür verschlossen.

„Der Pausenraum. Ihr Verwandter hat hier Gäste empfangen – Freunde, potenzielle Kunden, Vertreter.“ Miller trat vor die Metalltür, wählte einen Schlüssel und steckte ihn ins Schloss. Nach zwei Umdrehungen, die leise vertrauenerweckende Geräusche verursachten, klickte es satt. Miller zog am Griff. Die gewichtige und in der Tat beeindruckend massive Tür schwang auf. Die im Inventar erwähnten Gegenstände von besonderem Wert – Perücke, Gitarre und Zombie-Maske sowie einige Schallplatten, Tonbandrollen, Kleidungsstücke und Handschriften – lagen in Regalen, die eine Kammer von weniger als dreißig Quadratfuß umgaben. Daneben sah man auch kleinere Teile, die aus dem persönlichen Besitz berühmter Personen stammen mussten: ein kunstvoll ziselierter Goldring, eine perlmuttbesetzte Zigarettendose, zwei Meerschaumpfeifen, ein Teeservice und anderes mehr. „Hier verwahrte Paul… Mr Campbell Objekte, für deren Beschaffung er von seinen Kunden beauftragt worden ist.“

„…beziehungsweise solche Töpfe, die geduldig auf das Eintreffen des passenden Deckels warteten.“

„Welch ausgezeichnete Metapher; ganz recht, Ms Ziegler. Das Warenbuch wird Ihnen verraten, worum es sich jeweils handelt. Die Namen der Auftraggeber, sofern es solche gibt, sind im Buch verzeichnet. Ich empfehle Ihnen, mit den Kunden Kontakt aufzunehmen, um das Kapital zu verflüssigen und das Diebstahlrisiko zu minimieren. Vielleicht kommt der Einbrecher ja wieder, wenn etwas Gras über die Sache gewachsen ist. Leider notierte Mr Campbell Aufträge von Stammkunden ohne Adressdaten, und obendrein unter ihren Pseudonymen.“

„Pseudonyme? Weshalb das denn? Handelt es sich um Hehlerware?“, wollte Zach wissen.

Der Notar zog eine Grimasse. „Soweit ich Mr Campbell kannte, arbeitete er sauber. Natürlich gibt es Sammler, deren Enthusiasmus für ihr Steckenpferd… sagen wir, mit einer recht liberalen Auslegung der britischen Rechtsnormen einhergeht. Aber das war, wie erwähnt, nicht sein Metier.“

„Was war denn sein Metier?“, hakte Veronica nach.

„Die Musikszene Liverpools, Mersey Beat, das Cavern-Viertel, und vor allem die Beatles. Mr Campbell hat durch geschickte An- und Verkäufe von außergewöhnlichen Beatles-Fundstücken ein kleines Vermögen verdient. Er hatte in der Szene den Ruf, darüber hinaus fast jedes beliebige Objekt auf Wunsch beschaffen zu können. Hier in der Stadt sind wir stolz auf unsere Pilzköpfe; wir versuchen, die besten Stücke im Schoß der Familie zu behalten. Paul… hm… Mr Campbell hat maßgeblich dazu beigetragen, dass das möglich war. Der internationale Konkurrenzdruck ist enorm, wie man an den Auktionspreisen ablesen kann. Dennoch findet man ein halbes Dutzend der bemerkenswertesten Beatles-Sammlungen in Liverpool und der näheren Umgebung. Die Eigentümer kennen einander und treffen sich regelmäßig. Sie identifizieren sich mit ihren Idolen und haben sich entsprechende Spitznamen zugelegt.“

„Waren Sie Kunde bei meinem Stiefbruder? Sind Sie ebenfalls Sammler?“

„In sehr bescheidenem Maße. Wir alle hier pflegen unsere Nostalgie. Mir bedeutete die Fachsimpelei mit Mr Campbell mehr als der Besitz von materiellem Tand. Es war in besonderem Maße aufregend, seine Schritte mitzuverfolgen, wenn er wieder eines dieser extrem raren Objekt zu finden versuchte.“ Der Notar schien einen Moment in Erinnerungen zu schwelgen, dann sagte er: „Schauen wir uns die Wohnung an. Es wird bald Zeit für mich, die Rückfahrt anzutreten.“

5) Kraut wider Willen

Auf dem Weg nach oben mussten die drei am Fuß der Treppe einen größeren Fleck eingetrockneter dunkler Flüssigkeit überqueren. Am Boden und auf den ersten drei Stufen waren mit weißer Kreide die Umrisse einer Person markiert. Sie stakten mit weiten Schritten darüber hinweg, dann eilten sie den Rest des Weges hinauf. Die Wohnung erstreckte sich über zwei Stockwerke. Sie zeigte sich so unspektakulär wie der Laden darunter. Die Wände waren in angenehmen blassen Pastellfarben tapeziert, die Möblierung war schlicht aber edel. Weder schien die Wohnung überladen noch wirkte sie spartanisch; sie stellte in ihrer unaufdringlichen Schönheit ein Meisterwerk dar, für das die Welt edelstahlgerahmten Glases einerseits und skandinavischer Billigmöbel andererseits keine Sinne besaß. Zach und Veronica sahen sich befangen um, während der Notar eine Tür nach der anderen öffnete, damit sie hineinschauen konnten. Dann entschuldigte er sich noch einmal bei ihnen; die Pflicht rufe ihn nun. Gemeinsam begaben sie sich wieder in den Laden hinunter.

„Wir danken Ihnen für Ihre Bemühungen,“ ließ Zach ihn wissen, als er ihm die Hand schüttelte. „Ich möchte Sie wirklich nicht länger aufhalten, aber eine Frage hätte ich noch: Wo liegt mein Stiefbruder begraben?“

„Mr Campbell befindet sich in der forensischen Pathologie. Ich erhielt gestern Nachricht von der Mordkommission, dass sein Leichnam nun zur Bestattung freigegeben sei. Entsprechend seiner Anweisungen habe ich die Einäscherung und anschließende Beisetzung auf dem Toxteth Park Cemetary veranlasst. Darf ich Ihnen die Einladung an diese Adresse hier schicken oder haben Sie vor, nach London zurückzukehren?“

Veronica und Zach schauten einander an. Auf ein unauffälliges Handzeichen seiner Tochter hin erklärte der Detektiv, dass sie vorerst in Liverpool bleiben würden und ihm bescheid gäben, falls sie es sich anders überlegen sollten. „Dürfen wir Sie eventuell noch einmal mit Fragen belästigen? Sie wissen schon – es ist immer von Vorteil, wenn man jemand kennt, der mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut ist.“

„Selbstverständlich, Mr Ziegler. Jederzeit. Auf Wiedersehen! Goodbye, Ms Veronica.“

Der Notar hob den Schlüsselbund auf Augenhöhe, dann legte er ihn auf die Ladentheke. Er ging durch die Fronttür, wandte sich nach rechts und verschmolz innerhalb weniger Sekunden mit den seit ihrem Eintreffen merklich zahlreicher gewordenen Fußgängern.

Schweigen breitete sich aus. Veronica beäugte kurz den Postkartenständer, bevor sie zum Bücherregal wanderte, um dessen Inhalt mit schief gelegtem Kopf zu inspizieren. Zach blätterte ohne großes Interesse durch die Vinylscheiben in den Sortierkästen. Nach einer Weile sagte er: „Hast du auch so einen Durst? Komm, lass uns irgendwo hingehen.“

Ein breites Grinsen legte sich auf Veronicas Gesicht. „Zwei Dumme – ein Gedanke,“ stimmte sie zu. „Ich habe auf dem Weg hierher einen Irish Pub gesehen.“


Es wurde dann doch nicht der Pub. Sie ließen sich von Touristen und Feierabendpendlern durch die Fußgängerzone des Cavern-Viertels treiben, vorbei an Restaurants, Andenkenläden, Bekleidungshändlern und um diese Uhrzeit geschlossenen Nachtbars. Schließlich, als sie genug frische Luft getankt hatten, betraten sie eine italienische Gaststätte. Sie nahmen einen Tisch direkt an der Fensterfront, von wo sie das Geschehen draußen weiter verfolgen konnten.

„Die Atmosphäre in Liverpool gefällt mir,“ verkündete Zach.

„Ja, man könnte sich daran gewöhnen. Hier in der Altstadt wird man sein Geld aber schneller los, als wieder welches hereinkommt,“ erwiderte Veronica.

„Das ist nun buchstäblich ein Luxusproblem, für dessen Lösung wir uns jahrelang Zeit nehmen können.“

„Wenn wir wie Rockstars in Hotels wohnen und jeden Abend auf einer Flaniermeile essen gehen, wird es nicht übermäßig lang dauern, Paps. Wir sollten behutsam damit umgehen und uns gut überlegen, wofür wir es ausgeben.“

„Ich bin sehr froh, eine solch verantwortungsvolle Tochter großgezogen zu haben. Aber wir sind gerade erst angekommen. Dein Onkel Paul hat uns ein unglaublich großzügiges Geschenk hinterlassen. Gleichzeitig verbinden sich damit eine ganze Reihe Verpflichtungen und Probleme. Ich denke, es steht uns zu, das Notwendige mit dem Angenehmen zu verbinden.“

Eine etwa fünfzigjährige Frau erschien mit einer Wasserkaraffe und Gläsern, schenkte ein und reichte ihnen die Karte.

„Ob sie auch Käsespätzle haben?“, scherzte Zach auf Deutsch.

„Dad! Mach jetzt keine Faxen. Wir hatten Aufregung genug.“

„Noi, hemmer net,“ mischte sich die Kellnerin in breitestem Schwäbisch ein, „abr probierat Se onsre Käs-Schbageddie; die send fascht genau so guat.“

Vater und Tochter schauten ihr erstaunt ins Gesicht, dann brachen sie in prustendes Lachen aus. Gäste an den Nachbartischen drehten sich neugierig zu ihnen um.

„Von Timbuktu bis Tokyo – die Schwaben sind auch überall anzutreffen,“ frotzelte Zach. „Leider bin ich selbst keiner. Nur im Ländle geboren. Wir unterhalten uns besser auf Hochdeutsch.“

„Kann ich nicht,“ gab die Kellnerin in aufgesetzt königlichem Englisch zurück. Sie grinste breit. „Ich bin übrigens auch keine Schwäbin. Meine Großeltern kamen in den 1960ern als Gastarbeiter von Milano nach Sindelfingen.“

„Und nun sind sie keine Engländerin,“ spann Veronica den Faden weiter.

„Ganz recht. Hier bin ich ‚die Kraut‘, aber das macht mich zu etwas Liebenswertem in den Augen der Leute. In Württemberg wären meine Kinder als Reingeschmeckte aufgewachsen. Im Übrigen liegt Liverpool nicht gerade in Afrika. Hier leben die Leute eben so gut wie im Ländle.“

Zach nickte wissend. Veronica schenkte der Frau ein warmes Lächeln. Diese nahm nun Haltung an, brachte ihren Bestellblock in Anschlag und erkundigte sich in gestelztem Englisch: „Wünscht der geschätzte Herr die Käse-Spaghetti zu ordern?“

„Gerne. Bitte mit geschmelzten Zwiebeln oben drauf. Und ein Bier dazu.“

„Sehr wohl, Sir.“

Veronica bestellte Lasagna und ließ sich Wein empfehlen. Dann verließ die Kellnerin den Tisch.

Zach wechselte das Thema. „Was hältst du von dem guten Doktor?“, erkundigte er sich.

„Miller? Ich weiß nicht. Hast du bemerkt, wie er mich anschaut?“

„Er scheint ein Mensch zu sein, der hinter Fassaden zu sehen versteht.“

„Das ging für meinen Geschmack ein wenig zu tief.“

„Na komm, er blieb streng auf dein Gesicht fixiert. Und du hast dich sehr gut gehalten. Ich denke, du hast den Test bestanden.“

„Den Test?“

„Ich vermute, er versucht herauszufinden, ob wir das Zeug haben, an Pauls Stelle zu treten.“

„Da hege ich so meine Zweifel,“ sagte Veronica. „Keiner von uns kann eine massenproduzierte Schallplatte von einer Rarität unterscheiden, geschweige denn die Geschichte der Beatles in allen Details wiedergeben. ‚In Sammlerkreisen steht die Nummer ‚LGF 969D‘ für einen Wagen, der vor vielen Jahren spurlos von der Bildfläche verschwunden ist‘,“ äffte sie den belehrenden Tonfall des Notars nach.

„696. Lennons Zulassung lautete LGF 696D.“

Veronica verdrehte die Augen.

„Gib dem Mann eine Chance. Der Verlust von Paul war für ihn größer als für uns, das Trostpflaster dagegen bedeutend kleiner. Und unterschätze deinen alten Herrn nicht. Vielleicht finde ich einen Weg, wie wir den Laden weiterlaufen lassen können. Auf seine besondere Weise scheint er für das kulturelle Leben hier ähnlich wichtig zu sein wie der Cavern-Club.“

„Ich kann‘s nicht erklären, weshalb, aber ich habe ein komisches Bauchgefühl bei Miller.“

„Ich möchte mich bald etwas ausführlicher mit ihm über Paul unterhalten. Vielleicht nach der Beerdigung. Ich habe immer noch keine Ahnung, wie er zu dem Mann geworden ist, als der er starb, was ihn bewegt hat, wer seine Freunde waren und all das. Was wir über sein Ende in Erfahrung gebracht haben, ist ebenfalls nicht gerade viel,“ lamentierte Zach.

Veronica griff nach seiner Hand. „Dann lass uns doch in den nächsten Tagen mit der Polizei reden. Die können uns sicher mehr sagen.“

„Gute Idee.“

Die Kellnerin servierte ihre Getränke, lächelte ihnen zu und verkündete, dass das Essen nicht lange auf sich warten lassen würde. Die Stimmung erholte sich deutlich. Sie speisten genussvoll und redeten bis in die späten Abendstunden. Als sie sich auf den Rückweg zum Hotel begaben, herrschte in Liverpools Gassen bereits feuchtfröhliches Partygedränge.

6) I ONEI X HE ◊DIE

Sie hatten beschlossen, dass sie in der Frage, ob sie Pauls Wohnung und Laden behalten wollten – oder auch nur die Wohnung –, ein Gefühl dafür bekommen mussten, was das in der Praxis bedeutete, und dass sie daher mehr Zeit dort verbringen sollten. Sie würden den Warenbestand sichten, ein wenig im Hinterzimmer abhängen, irgendwann ein paar Nächte im Oberstock schlafen. Daher fuhren sie kurz nach acht Uhr in der Frühe ins Zentrum. Es war relativ still in den Gassen des Cavern-Viertels. Die Mathew Street verbreitete das Feeling einer Konzertfläche am Morgen ‚danach.‘ Ein Reinigungstrupp fegte Glasscherben, Papierknäuel, Servietten und Zigarettenstummel zusammen. Die Rainford Gardens lag ähnlich entvölkert. Sie öffneten die Ladentür, knipsten das Licht an und warfen die Mäntel über den Tresen.

Veronica schaute sich um. „Wo fangen wir an?“

„Das Unangenehme zuerst. Mir graust ein wenig vor dem Fleck am Boden, aber wenn wir hier mehr Zeit verbringen wollen, entfernen wir ihn am besten so früh wie möglich.“

Veronica nickte. „Ob Onkel Paul die Reinigung wohl selbst getätigt hat?“ Sie entnahm ihrer Jackentasche ein Notizbuch, zog die oberste Schublade am Tresen auf, kramte darin herum und entnahm ihr dann einen Bleistift. Während sie schrieb, proklamierte sie: „Ad 1: Putzhilfe…“ Sie überlegte. „Wo wir gerade über Personal nachdenken – Ad 2: Verkaufshilfe?“

„Ganz wichtig: Wie bekommen wir Kontakt zu Pauls Stammkundschaft?“, ergänzte Zach.

„Notiert. Während du darüber nachdenkst, inspiziere ich kurz die Küchen- und Badezimmerschränke. Vielleicht finde ich Reinigungsmittel.“

Es dauerte tatsächlich nicht lange. Ein Spind im Hinterzimmer enthielt alles Nötige. Statt ihren Vater zu rufen, begab Veronica sich selbst an die Arbeit. Der Kreideumriss wich ihrem Angriff sofort. Mit ihm verging auch das seltsame Gefühl, dass sich außer ihr noch jemand im Raum befand. Der Drang, über die Schulter zu blicken, ließ nach. Der Blutfleck wehrte sich natürlich hartnäckiger. Nach einer knappen Viertelstunde hatte er jedoch das meiste von seiner Intensität verloren. Nur ein unscharfer dunkler Schemen deutete an, wo Paulus Campbell gelegen hatte. Sie verdeckte ihn mit Auslegeware.

Veronica deponierte Bürsten, Eimer und Fleckenmittel wieder im Spind. Sie entnahm dem Kühlfach der Bar eine Cola. Der Fruchtsaft war leider schon verdorben. Sie stellte die halb leere Flasche mit ihrem schimmligen Inhalt in den Papierkorb, ging dann zum Sofa und ließ sich hineinfallen. Sie schaute sich um. Alles wirkte normal. Es gab keine Kampfspuren, keine zerbrochenen Gegenstände, keine verformten Geländer oder ähnliches. Alles musste sehr schnell vonstatten gegangen sein… oder das Opfer hatte seinen Mörder gekannt und war nichts ahnend auf ihn zugegangen oder hatte ihm arglos den Rücken zugedreht. Ging es um Geld? Wertgegenstände? Oder hatte es Streit gegeben… worüber? Sie schüttelte den Kopf. Alles Spekulationen. Sie wusste zu wenig, um den Tathergang nachvollziehen zu können.

Ihr Blick fiel auf einen kleines kreisrundes schwarz gerahmtes Bild neben der Tür zum Verkaufsraum, direkt unterhalb einer handsignierten Porträtaufnahme des jungen Paul McCartney. Es mochte vielleicht 15 bis 20 Zentimeter Durchmesser besitzen. Das Motiv kam ihr bekannt vor. Ein Schriftzug, der dem oberen Kreisbogen folgte, besagte „Sgt. Pepper‘s“. Aha, dachte sie. Ein Ausschnitt von einem Album-Cover der Beatles. Natürlich kannte sie die LP aus dem Plattenschrank ihres Vaters. Hier in Liverpool war ihr Anblick allgegenwärtig. Der Rest des Bildes ergab jedoch keinen Sinn für sie. Der Schriftzug wiederholte sich spiegelbildlich am unteren Rand. Dazwischen, an der breitesten Stelle, eingerahmt von Ornamenten, stand:

I ONEI X HE DIE

Was sollte das denn? Sie sprang vom Sofa auf und trat nah an das Bild heran. Nein, sie hatte sich nicht verlesen. Sie war sich gleichzeitig sicher, dass die Zeile so nicht auf dem Cover abgedruckt war. Wie aber lautete der Originaltext? Sie konnte sich nur undeutlich erinnern. Veronica kniff die Augen zusammen. Eine haarfeine Linie teilte die Inschrift waagerecht genau in der Mitte. Die untere Hälfte des Bildes sah leicht verschwommen aus. Also handelte es sich tatsächlich um das Foto einer Spiegelung. Wie seltsam. Sie konnte sich keinen Reim auf die Sache machen. ‚HE DIE‘ – er stirbt… oder starb – klang irgendwie bedrohlich. Das spitze Symbol zwischen den beiden Wörtern schien wie ein Pfeil nach oben zu zeigen, wo ein leicht pausbäckiger Paul von dem wesentlich größeren Foto auf sie herunterlächelte.

„Du musst damals ungefähr in meinem Alter gewesen sein, höchstens ein oder zwei Jahre älter“, dachte sie. „Gut, dass du nicht gestorben bist, Herzchen“ murmelte sie, „sonst wären der Welt viele großartige Songs entgangen.“ Auch ihr Onkel hieß Paul, erinnerte sie sich. Nur wenige trauerten um ihn. Die Welt war ungerecht – aber sie war voll guter Musik.

Veronica löste sich von McCartney‘s Gesicht, dann öffnete sie die Tür zum Verkaufsraum, um nach einem Sgt.-Pepper-Album suchen zu gehen. Sie wollte wissen, was die von der Spiegelung verdeckte Hälfte des Originalbilds zeigte.


Nachdem seine Tochter die Tür hinter sich geschlossen hatte, versuchte Zach den Raum durch die Augen eines Geschäftsmanns zu betrachten. Was war das Konzept hier? Bezüge zur Musik der 1960er und den Beatles stachen erwartungsgemäß überdeutlich hervor. Ein Großteil der Aktivitäten im Herzen Liverpools, zuvorderst Themenkneipen, Kitschbuden und Retro-Klamottenläden, verdienten so ihr Geld. Skulpturen von John Lennon, Brian Epstein, Cilla Black und selbst der fiktiven Eleanor Rigby aus dem gleichnamigen Beatles-Song verwandelten die Fußgängerzone in einen Themenpark, in den sich Campbell‘s Fab Store hervorragend einfügte. Die Backsteinfassade mit ihrer in Holz gefassten Ladenfront verlieh dem Laden jene historisch korrekte Ausstrahlung, die gleichermaßen zu dessen Inhalt wie auch zu dessen weiterer Nachbarschaft passte. Als Andenkenladen für die durch die Straßen ziehenden Beatles-Fans wirkte er jedoch zu farblos und bieder, als Antiquitätengeschäft wiederum zeigte er zu wenige großformatige Stücke. Zach kannte einschlägige Geschäfte, etwa den London Beatles Store in der Baker Street; einige weitere hatte er in der unmittelbaren Nähe des Fab Stores entdeckt. Sie überfrachteten ihre Schaufenster mit kleinteiligem Kitsch, während es im Inneren kaum Platz genug gab, zwischen den mit Waren dicht beladenen Ständern, Tischen und Regalen hindurchzugehen.

Pauls Schaufenster präsentierte sich dagegen schlicht. Links stand lediglich eine lebensgroße Holzstatue McCartneys in seiner Peppers-Uniform, befremdlicherweise mit dem Rücken zur Straße; in der rechten unteren Ecke der Glasfront hatte Paul die leicht verzerrten Konterfeis der Fab-Four vom Rubber Soul-Album angebracht. Das war alles. Passanten konnten daher ohne Mühe das Ladeninnere sehen – den ganzen, sehr aufgeräumt wirkenden Laden. Sicher, das hatte Klasse, aber der Mangel an Glitzer würde einem Mangel an hereingespültem Kleingeld entsprochen haben, rechnete er sich aus. Paul musste also, genau wie der Notar beschrieben hatte, seinen Unterhalt mit Stammkundschaft bestritten haben. Der Eindruck von Seriosität konnte da nur nützlich sein. Kleinkram wie die Autogrammkarten, Gitarrensaiten („wie George Harrison sie verwendete“) oder Broschüren zur Musikgeschichte der Stadt dienten wohl eher dazu, irrtümlich hereingeschneiten Andenkensuchenden einem Alibikauf anzubieten, der ihnen den ehrenhaften Rückzug gestattete.

Zachs Gedankengang wurde vom Bimmeln der Türglocke unterbrochen. Ein älterer Herr trat ein. Er trug einen langen grauen Filzmantel, dunkle Hosen mit Bügelfalten, schwarz glänzende Lackschuhe und einen breitkrempigen Hut, den er schon beim Durchschreiten der Tür abnahm. Darunter zeigte sich schütteres graues zur Seite gekämmtes Haar.

„Einen schönen guten Morgen, Sir!“, grüßte der Mann. Zach schätzte ihn auf Anfang sechzig, wohl situiert, gebildet. Ihm fiel auf, dass der Neuankömmling sich nicht umschaute, sondern seine Neugier direkt auf ihn richtete. Kein Andenkenjäger, vermutete er.

„Guten Morgen“, grüßte er freundlich zurück. „So früh schon unterwegs? Es hat doch noch kaum ein Geschäft geöffnet.“

„Ja, bedauerlicherweise hat die Rockdiskothek geschlossen“, erwiderte der Mann lächelnd, „Um so erfreulicher, diesen fabelhaften Laden wieder von Licht erhellt zu sehen. Ich hatte schon befürchtet, er gehöre der Geschichte an.“

„Nun, eigentlich ist er im Moment tatsächlich zu. Wir führen lediglich eine erste Bestandsaufnahme durch.“

„Darf ich nach Ihrem werten Namen fragen, Sir?“

„Zachary Ziegler“, erwiderte Zach. „Und Sie sind…?“

„Oh, verzeihen Sie. Wie unhöflich von mir. Mein Name ist Bishop. Thomas Henry Bishop. Mr Campbells Laden gehörte seit dem Augenblick seiner Eröffnung zu meinem festen Programm, wenn ich in die Innenstadt kam. Paul – Mr Campbell – war ein Meister darin, verschollene Perlen wiederzubeschaffen. Es gab nur wenige Wünsche, die er mir nicht erfüllen konnte. Ich schätzte ihn auch als feinen, intelligenten Menschen, der stets für eine tiefsinnige Konversation zu haben war. Welch ein Verlust…“

„Mein Beileid, Mr Bishop“, sagte Zach seiner eigenen gemischten Gefühle wegen unbeholfen.

„Papperlapapp!“, fuhr Bishop auf. „Es ist an mir, Ihnen mein Bedauern auszusprechen. Schließlich ist… war er Ihr Bruder, Mr Ziegler. Er hat manchmal von Ihnen erzählt. Nur Gutes, natürlich.“

„Das fände ich erstaunlich. Es ist viel Wasser die Themse hinunter geflossen, seit wir zuletzt miteinander gesprochen haben. Dennoch…“

„Wenn Sie einem Fremden gestatten, Ihnen einen Rat zu erteilen: Grämen Sie sich nicht. Die Gründe für sein Untertauchen lagen mehr in seinen eigenen Versäumnissen begründet als in einem vermeintlichen Verschulden Ihrerseits.“ Bishop schaute ihm ernst aber freundlich ins Gesicht. „Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, Mr Ziegler?“, fragte er und fuhr ohne auf eine Antwort zu warten fort: „Kommen Sie erst einmal zu sich, finden Sie sich in Ihrer neuen Umgebung zurecht und lassen Sie uns zu gegebener Zeit bei einer Tasse Tee über den lieben Paul sprechen.“

„Besten Dank, Mr Bishop. Sie sind der zweite Freund meines Bruders, der mir begegnet – und der zweite, der das anbietet.“

Der Ältere lächelte wieder. „Da sich ihm so viele verbunden und auch verpflichtet gefühlt haben, werde ich vermutlich nicht der letzte bleiben. Aber bitte: Nehmen Sie mein Angebot an. Es wäre mir eine Freude!“

Ein Impuls drängte Zach, Bishop die Hand zu reichen, und dieser ergriff sie. „Es wäre auch mir eine Freude. Ich komme mit Sicherheit darauf zurück. Sind Sie bald wieder in der Stadt, Mr Bishop?“

„Nennen Sie mich bitte Henry.“

„Einverstanden. Ich bin Zachary.“

Sie schüttelten einander erneut die Hände.

„Freut mich, Zachary. Was Ihre Frage angeht: Ja, recht häufig sogar. Ich nehme jeden Montag mein Frühstück im Bistro dort drüben am Eck ein.”

„Was führte Sie dann heute hierher?“

„Wie angedeutet liegt mir der Laden sehr am Herzen. Ein weiterer… Freund hat mich auf Ihr Eintreffen aufmerksam gemacht. Da wollte ich die Gelegenheit ergreifen, ein paar Worte mit Ihnen zu wechseln.“

„Das sprach sich ja schnell herum. Ich hatte den Eindruck, Liverpool sei etwas größer als ein Dorf.“

Der Ältere schmunzelte. „Eine Großstadt, ohne Frage, wenn auch weit abgeschlagen im Vergleich zu London. Die Sammlerszene ähnelt allerdings einer Familie.“

„Verstehe. Ich kann der Familie leider nicht versprechen, dass der Fab Store weiter bestehen bleibt. Wie gesagt fangen meine Tochter und ich gerade erst an, die Lage zu erfassen. Ich muss Ihnen zudem gestehen, dass wir zwar durchaus Freunde der analogen Technik sind, das Metier meines Bruders jedoch kaum kennen. Wir sind Privatermittler, keine Musikexperten oder Kaufleute. Wir wären auf fachmännische Hilfe angewiesen.“

„Man könnte auch Paul ohne Einschränkung als eine Art Privatermittler bezeichnen. Statt Personen hat er eben Dinge aufgespürt. Wenn Sie Ihre eigene Detektei betreiben, besitzen Sie genug kaufmännisches Wissen, um eine saubere Abrechnung zu erstellen. Und was die fachliche Expertise betrifft: Es gibt keinen besseren Ort, an solche heranzukommen. Vielleicht kann ich helfen. Erwähnte ich schon, dass Ihr Bruder Freunde hatte?“

„Am Rande. Lassen Sie mich darüber nachdenken. In ein paar Tagen sehe ich die Dinge bestimmt klarer.“

7) Henry the Horse

„Dürfte ich Ihnen eine letzte Frage stellen – als Kunde?“, erkundigte sich Thomas Henry Bishop.

„Um was geht es?“, fragte Zach zurück.

„Einen Tag vor seinem Ableben erhielt ich einen Anruf von Mr Campbell, bezüglich einer Bestellung, die ich… die wir in Auftrag gegeben hatten. Er teilte mir mit, dass die Gegenstände eingetroffen seien.“

„Welche Gegenstände hatten Sie bestellt?“

„Wir – einige andere Sammler und ich – hatten nach einem Koffer mit einer Anzahl verschiedener Objekte darin suchen lassen. Ich interessiere mich dabei für die Tonbandspulen.“

„Ich habe welche im Lager gesehen. Lassen Sie mich das Warenbuch checken.“ Zach ging hinter den Tresen, zog das Buch heraus und fuhr mit dem Finger über die letzten Einträge. „Die einzigen Bänder, die hier verzeichnet sind, wurden auf den Namen ‚Horse‘ bestellt – Horse wie Pferd. Keine Einträge für Bishop. Ist Mr Horse einer Ihrer Kollegen?“

„Nein, das bin ich. Paul hat mich so genannt.“

„Wie originell. Bishop, der Läufer, Horse, der Springer – spielen Sie Schach?“

Thomas Henry Bishop kicherte vergnügt. „Mr Kite hat mir den Spitznamen ans Revers geheftet. Benötigen Sie einen weiteren Hinweis oder genügt das bereits?“

Zach starrte den Älteren ratlos an. Bishop schnaubte.

and of course Henry the Horse dances the waltz…“, sang er mit brüchiger Stimme. Und als sich bei Zach noch immer kein Verständnis regte, ergänzte er: „‚Being For The Benefit Of Mr Kite!‘, einer meiner persönlichen Favoriten, was Beatles-Songs angeht.“ Er trat an einen der Sortierkästen heran, aus dem er nach weniger als drei Sekunden des Suchens eine in transparentes Plastik gehüllte Schallplatte herauszog. „Voilà – Sgt. Pepper. Ich nehme an, das sagt Ihnen etwas.“ Auf eine bestätigende Geste Zachs drehte er die Scheibe um, tippte mit dem Zeigefinger genau auf die Mitte der knallroten textbedeckten Fläche und reichte sie Zach.

Der Detektiv schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. „Aber natürlich! In der Familie haben alle ein Pseudonym angenommen. Man hat mich gewarnt.“

Bishop alias Horse nickte, sagte jedoch kein Wort. Er legte den Kopf leicht schief, wie ein Lehrer, der auf weitere Erläuterungen des Schülers wartete.

„Sie sind also das Walzer tanzende Zirkuspferd…,“ stellte Zach fest. Er überlegte einen Moment. Dabei ließ er die Augen durch den Raum wandern. Plötzlich richtete er sie wieder auf sein Gegenüber. „Wer ist Mr Kite?“, stieß er hervor.

„Sehr gut! Sie stellen genau die richtige Frage. Wer ist dieser Mr Kite, zu dessen Gunsten wir hier sind? Es ist genau, wie ich sagte: Im Grunde besitzen Sie die nötigen Voraussetzungen zur Führung dieses Ladens bereits.“

„Nun, wer ist also Mr Kite?“

„So nennt sich der Besitzer der bedeutendsten und teuersten Sammlung von Beatles-Memorabilien im Königreich – wenn man von den Erzeugern dieser Objekte einmal absieht.“

„Mit Erzeugern meinen sie die Bandmitglieder selbst, nehme ich an.“

„Richtig. Und der einzige noch lebende und im Land ansässige Beatle – abgesehen von Pete Best, der nicht wirklich zählt – hört auf den Namen Sir James Paul McCartney. Stellen Sie sich vor, sie wären mit ihm verwandt; ob das wohl Spuren in Ihrer Sammlung hinterließe?“

„Wollen Sie damit andeuten, Mr Kite – oder wie auch immer er mit bürgerlichem Namen heißen mag –“

„Mr Kite besitzt im eigentlichen Sinn keinen bürgerlichen Namen,“ unterbrach ihn Bishop, „aber selbstverständlich benutzt er einen Klarnamen… den zu enthüllen ich ihm selbst überlassen möchte. Sie werden ihn früh genug kennenlernen. Kite war einer der Beteiligten an unserer kleinen Bestellung. Er hat das bedeutendste Objekt aus dem Koffer für sich reserviert.“

„Nun machen Sie mich neugierig. Was hat es mit diesem Koffer auf sich?“, erkundigte sich Zach.

„Lassen Sie uns nach hinten gehen. Es ist eine lange Geschichte, und ich muss mich setzen; meine Beine sind nicht mehr die Jüngsten.“

„In Ordnung. Ich schließe nur eben den Laden ab.“

Zach schritt zur Eingangstür, verriegelte sie, hängte das ‚Geschlossen‘-Schild, das auf den Boden gefallen war, wieder an den Haken am Fenster und führte Bishop zum Durchgang nach hinten. Als er eben nach der Klinke greifen wollte, ging die Tür auf und Veronica, die es scheinbar eilig hatte, in den Laden zu gelangen, prallte gegen seine Brust. Sie quiekte erschreckt, er gab ein atemloses „Uff!“ von sich.

„Wohin so eilig, junge Dame?“, fragte Zach.

„Wohin so eilig, mein Herr?“, fragte sie zurück. Sie musterte ihren Vater von oben bis unten; dann bemerkte sie den älteren Mann, der hinter ihm stand. Sie nickte ihm grüßend zu. Wieder an ihren Vater gewandt deutete sie auf die Schallplatte, die dieser noch immer in der Hand hielt. „Woher wusstest du, dass ich genau das hier suchte?“


Zach stellte Veronica und Bishop einander vor. Der Sammler erläuterte auch ihr sein Anliegen und erklärte, er sei bereit, den Zieglers bei der Abwicklung von Pauls letztem Auftrag behilflich zu sein. Er kenne die betreffenden Kunden.

„Möchten Sie etwas trinken? Tee, Kaffee, Cola, Wasser? Saft ist leider keiner mehr im Haus“, sagte Veronica.

„Einen Milchkaffee, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Miss Veronica. Ich darf Sie doch so nennen?“

„Kein Problem, Mr Bishop.“

„Henry. Ich bestehe darauf.“

„Einverstanden. Dad, möchtest du auch einen Kaffee?“

Zach, dem erst jetzt bewusst wurde, dass er ihren Gast in den Raum geführt hatte, der vom Blut seines Bruders gezeichnet war, nickte abwesend. Seine Augen suchten die Stelle am Boden. Voll Erleichterung nahm er zur Kenntnis, dass Veronica in der kurzen Zeit gute Arbeit geleistet hatte. Ein Fußabstreifer lag auf der ersten Treppenstufe, ein kleiner Teppich davor. Von der weiß nachgezeichneten Kontur der Leiche war nichts mehr zu sehen.

Henry – the Horse, schoss Zach erneut durch den Kopf – schien unbekümmert. Er ließ sich in den Sessel sinken, den Veronica ihm angeboten hatte. Die junge Frau begab sich an den Bartresen, setzte die Kaffeemaschine in Gang und ließ sich dann neben ihrem Vater aufs Sofa nieder.

„Verstehe ich das richtig?“, erkundigte sich der Detektiv. „Sie und einige andere Personen haben meinen Stiefbruder auf die Suche nach einem Koffer geschickt, der diverse Objekte Ihres Interesses enthielt.“

„Korrekt, Mr Ziegler… Zachary.“

„Sie möchten diese getrennt erwerben. Ihr Anteil daran sind die Tonbänder, die ich im Safe gesehen habe, ja? Dieser Mr Kite ist mit von der Partie und –“ Er überflog den Songtext. „Die Hendersons? Wer noch?“

„Nicht die Hendersons. Mr Kite und Mr Mustard werden die Manuskripte übernehmen, Molly Jones möchte den Koffer als solchen erwerben. Zusätzlich zu seiner Vergütung hätte Paul alle weiteren Inhalte behalten dürfen. Wir wissen nicht, worin diese genau bestehen. Es war von hunderten signierter Autogrammkarten die Rede, dazu Photographien, Konzertprogramme und Schallplatten.“

„Was hat es mit diesem Koffer auf sich? Wer hat ihn gepackt und wo ging er verloren?“

Bishop atmete ein Mal tief durch, überlegte kurz, dann begann er zu erzählen: „Im Juli 2004 ging eine Meldung durch die Presse, nach fast dreißig Jahren sei das sogenannte ‚Mal-Evans-Archiv‘ wieder aufgetaucht. Ein englischer Tourist habe auf einem australischen Flohmarkt für kleines Geld einen alten Koffer mitgenommen. Beim Öffnen habe sich herausgestellt, dass sich Beatles-Raritäten darin befanden, unter anderem Mitschnitte von Aufnahme-Sessions nie veröffentlichter Songs. Papiere, die man außerdem enthalten fand, legten nahe, dass der Koffer Mal Evans, dem Road Manager und engen Vertrauten der Beatles, gehört haben musste. Mehrere Experten äußerten sich sofort zuversichtlich, dass es sich um authentische Memorabilien handelte, doch schon Tage später widerriefen alle diese Einschätzung wieder. Sie gaben Erklärungen ab, lediglich ein Sammelsurium wertloser Kopien habe sich in dem Koffer befunden; bei den Tonaufnahmen habe es sich um gängige Bootlegs gehandelt. Sie verweigerten weitere Interviews. Auch der englische Tourist ist nie wieder in Erscheinung getreten. Über den weiteren Verbleib des Koffers beziehungsweise seines Inhalts gab es keine Erkenntnisse.“

Veronica, die zwischenzeitlich aufgestanden war, kam mit einer Kanne Kaffee und drei Tassen zurück. „Leider haben wir keine frische Milch im Haus. Möchten Sie Milchpulver oder trinken Sie ihn lieber schwarz, Henry?“

„Schwarz bitte.“

Nachdem Veronica eingegossen hatte, rührte er gedankenverloren etwas Zucker in die dampfende Brühe. Daher entging ihm sowohl die rasche Bewegung, mit der Zach seine Tasse entleerte, als auch Veronicas beherztes Zugreifen, das verhinderte, dass das Porzellan anschließend auf den Tisch gehämmert wurde.

„An dieser Geschichte kam uns manches spanisch vor,“ führte der Sammler weiter aus, „insbesondere die schnelle Vorabbestätigung des Fundes durch Menschen, die einen Ruf zu verlieren hatten. Das ist unüblich – gerade angesichts der späteren Meldung, dass sich kein bisher unveröffentlichtes Material darunter befunden habe. Was genau begeisterte die sogenannten Experten an den ersten Kostproben so dermaßen, dass sie ihr Berufsethos vergaßen?“

„Das finde auch ich dubios“, warf Zach ein. „Da Sie den Koffer durch Paul aufspüren haben lassen, nehme ich an, dass Sie im Gegensatz zu den Experten von seiner Echtheit ausgehen. Wenn diese ihr Fach verstanden, müssen sie also mit ihrem abschließenden Urteil gelogen haben. Warum?“

„Es sieht für uns danach aus, als seien sie zurückgepfiffen worden. Über die Gründe kann man lange spekulieren, aber wir vermuten, dass die Bestätigung der Authentizität der Tonbänder die unangenehme Frage aufgeworfen hätte, weshalb zu keinem Zeitpunkt die eigentliche Sensation, das Manuskript von Mal Evans‘ Memoiren, erwähnt wurde.“

„Moment, Moment, Moment!“ rief Veronica dazwischen. „Das geht mir etwas zu schnell. Wie kommen plötzlich diese Memoiren ins Spiel?“

„Evans war ein Beatles-Fan der ersten Stunde. Nachdem er die Band live gesehen hatte, arbeitete er für sie zunächst als Türsteher. Er machte sich schon bald als Laufbursche, Roadie und Mädchen-für-alles unentbehrlich. Da er sehr viel Zeit mit den vier Jungs verbrachte, die alle wesentlich jünger als er waren, wurde er darüber hinaus zu einem engen Freund, dem sie ihre Sorgen anvertrauten. Das gestattete ihm Einblicke, die außer ihm nur wenigen anderen Personen vergönnt waren. Das enge Verhältnis dauerte bis weit über die Auflösung der Band hinaus an.“

Zach wiegte den Kopf. „Der Mann hatte also Dinge zu erzählen, die man in keiner anderen Beatles-Biographie lesen kann. Ist sein Buch eigentlich veröffentlicht worden oder haben ihn die Jungs verklagt?“

„Weder das eine noch das andere. Malcolm Frederick Evans ist am 5.1.1976 in seiner eigenen Wohnung in L.A. von der Polizei erschossen worden – kurz bevor er das Manuskript seiner Memoiren beim Verlag abliefern sollte. In dem nachfolgenden Chaos von Ermittlungen, Bestattungsvorbereitungen und Haushaltsauflösung ging nicht nur ein Koffer voller Beatles-Erinnerungsstücke verloren sondern auch das Manuskript. Sogar seine Asche verschwand während der Überführung nach England vorübergehend. Die näheren Umstände dieser tragischen Geschichte erweisen sich auch hier als dubios. Verschiedene Berichte enthalten kleine aber entscheidende Widersprüche zum Hergang. Ob das Manuskript sich in dem verschollenen Koffer befand, blieb ungeklärt, lag aber nahe. Der Zeitpunkt des Vorfalls erregte jedenfalls den Verdacht, dass zwischen der bevorstehenden Fertigstellung der Memoiren, dem gewaltsamen Tod des Autors und dem Verschwinden des Manuskripts ein finsterer Zusammenhang bestand.“

Stille herrschte im Hinterzimmer von Campbell‘s Fab Store. Für einige Augenblicke rührte sich niemand. Vater und Tochter schauten einander verblüfft an. Bishop nippte an seiner Kaffeetasse. Das leise Schlürfen schallte wie Motorenknattern durch den Raum. Zach räusperte sich. „Ich muss schon sagen… An Dramatik mangelt es Ihrer Geschichte nicht im Mindesten. Für mich waren die Beatles bisher lediglich vier geniale Musiker. Wer hätte gedacht, dass nach über einem halben Jahrhundert Geheimnisse zu lüften bleiben? So langsam verstehe ich Ihre Faszination für diese Band.“

Henry the Horse ließ sein Gebiss aufblitzen. „Ich möchte Sie nicht entmutigen, sich mit dem Gedanken an den Weiterbetrieb des Ladens anzufreunden, aber lassen Sie mich Ihnen sagen, dass diese Story weder den Anfang noch das Ende der zahllosen Ungereimtheiten im Umfeld der Gruppe darstellt. Wenn Sie ein wenig länger in diesen Abgrund starren, Zachary, wird schon bald etwas Ihren Blick erwidern.“

Veronicas Nackenhaare stellten sich auf. Die kryptische Inschrift, die sie studiert hatte, bevor die beiden Männer hereingekommen waren, stieg wieder in ihr Bewusstsein auf; ihre Augen suchten den kleinen kreisrunden Rahmen neben der Tür, dann schweiften sie zu Paul McCartney‘s jugendlichem Konterfei darüber. Unwillkürlich musste sie an das denken, was Ihr Vater über den anderen Paul, ihren Onkel, und die Gründe für dessen Verschwinden aus London gesagt hatte. War er wirklich nur unglücklichen Umständen zum Opfer gefallen oder gab es einen finsteren Zusammenhang?

8) Tonbandspulen

Jemand rief ihren Namen.

„Veronica? Erde an Mars, bitte kommen!“ Ihr Vater.

Sie schüttelte den Kopf. „Entschuldige. Ich war gerade in Gedanken.“

„Würde es dir etwas ausmachen, das Warenbuch hereinzuholen? Henry wird uns helfen, die Kunden zu identifizieren, die ihre Bestellungen noch nicht abgeholt haben.“

„Schon unterwegs.“

Als Veronica nach einer halben Minute wieder ins Hinterzimmer zurückgekehrt war, standen Henry und Zach vor dem geöffneten Safe. Sie reichte ihrem Vater das Buch. Die beiden Männer gingen die Einträge einen nach dem anderen durch und verglichen sie mit den Objekten im Safe. Ihr Vater zückte einen kleinen Zettelblock und einen Kugelschreiber, die er stets in seiner Hemdtasche mitführte. Er schrieb die Klarnamen auf, die Henry ihm nannte. Daneben notierte er weitere Angaben, die ihm wichtig schienen. Als sie die Inventur abgeschlossen hatten, war die Spannung im Gesicht des Detektivs einer gewissen Zufriedenheit gewichen. Veronica konnte sich vorstellen, weshalb. Sie würden nicht auf der Ware sitzen bleiben, sondern sie zu Geld machen können – eine Sorge weniger auf ihrer Liste der zu erledigenden Dinge. Sie hatten einen kleinen Erfolg erzielt und ein bisschen mehr Klarsicht bezüglich des Milieus gewonnen, in das sie unversehens eingetaucht waren.

Der Ältere zeigte nun auf ein flaches, ungefähr dreißig Zentimeter messendes quadratisches Gehäuse aus grauem PVC. „Das dürfte für mich hinterlegt sein“, meinte er.

Zach nahm die Plastikkassette aus dem Regal. Auf einer der Schmalseiten stand in schwarzem Filzstift:‚Abbey Road – nicht zur Veröffentlichung‘ geschrieben. Er öffnete den Verschluss und schaute hinein. Wie erwartet enthielt das Gehäuse eine Tonbandspule. „Wie viel Spielzeit ist das – vier Stunden?“

„Viereinhalb“, antwortete Henry, „Die Rolle stammt aus dem August 1969, von einem der letzten Studiotermine der Beatles, und ich habe keinen Zweifel, dass darauf nie gehörte Musik und Gespräche verewigt wurden.“

„Was macht Sie so sicher?“, wollte Veronica wissen.

„Weil die ‚Experten‘ das Evans-Manuskript verschwiegen haben, das nun einmal mit im Koffer lag. Sie haben den Fund zum Schund deklariert, um Fragen nach den gefährlichen Erinnerungen eines Mannes zu verhindern, die den Beatles-Mythos als Schneewittchen-Story entlarvt hätten.“

„Eine steile These. Darauf verwetten sie wie viele Britische Pfund?“

„Einhundertachtzigtausend, wie mit Ihrem Onkel ausgemacht.“

Veronica pfiff durch die Zähne. „Wollen Sie nicht wenigstens einmal hineinhören, bevor Sie so viel Geld ausgeben, Henry? Unter der Verkaufstheke steht ein Tonbandgerät.“

„Das ist unnötig, danke. Als Freund und als Ehrenmann stehe ich zu meinem Wort – selbst wenn das Band leer wäre.“

„Ich hätte nichts dagegen, ein Ohr zu riskieren“, schaltete sich Zach ein.

„Lassen Sie mich einen anderen Vorschlag anbringen“, wehrte Henry ab. „Was halten Sie von der Einladung zu unserer nächsten Feier, auf der ich die interessantesten Stellen zum ersten Mal der Familie zu Gehör bringen werde? Es wäre gleichzeitig eine gute Gelegenheit, Ihre künftigen Kunden kennenlernen und sich in Liverpools Gesellschaft einzuführen.“

Weder Zach noch Veronica zeigten sich begeistert. Sie mussten jedoch zugeben, dass ein Mann, der so viel Geld für etwas ausgab, das Recht hatte, sich das gute Stück zuerst einmal ganz allein zu Gemüte zu führen. Bishop begleitete die beiden Zieglers zur Registrierkasse, wo er ihnen erläuterte, wie Paul das Geschäft üblicherweise zum Abschluss gebracht hatte.

„In einem der Fächer auf der linken Seite liegt ein Block mit Vertragsformularen. Den brauchen wir.“

Veronica stöberte in den dunklen Ablagen unter der Theke. Sie förderte den Block zutage. Die obersten Exemplare waren bereits ausgefüllt, wie sie beim Durchblättern feststellte. Auf dem dritten Blatt fand sie den gesuchten Namen, Thomas Henry Bishop. Als Vertragsgegenstand hatte Paul ‚1 Tonbandspule Abbey Road aus Evans-Archiv‘ eingetragen und als Kaufpreis standen tatsächlich einhundertachtzigtausend Pfund im entsprechenden Formularfeld. Käufer und Verkäufer hatten durch ihre Unterschrift den Vertrag zur Beschaffung des Objekts geschlossen. Zwei weitere Unterschriften standen noch aus: ‚Ware erhalten‘ und ‚Betrag erhalten‘.

Henry bestätigte den Erhalt der Ware. „Den Betrag werde ich Ihnen binnen eines Monats auf Pauls Geschäftskonto überweisen. Ich hoffe doch, Sie können bereits darüber verfügen.“

„Der Notar hat alles in die nötigen Bahnen gelenkt. Ich hatte bisher nur keine Gelegenheit, bei der Bank vorstellig zu werden. Das sollte natürlich nicht Ihr Problem sein, Henry. Wir sind Ihnen für Ihre Hilfe zu Dank verpflichtet.“

Der Ältere deutete eine Verbeugung an, reichte Vater und Tochter die Hand zum Abschied und setzte seinen Hut auf. Zach schloss ihm die Tür auf. Henry the Horse trat auf die Rainford Gardens hinaus, ein Tonband für einhundertachtzigtausend Pfund unter den Arm geklemmt, und entschwand in den Sonnenschein eines inzwischen weit fortgeschrittenen Morgens.


Der Besucher hatte ihre Planung ebenso wie ihre Konzentration über die Maßen beeinträchtigt. Zach beschloss daher, sich ein wenig die Beine zu vertreten, um den Kopf frei zu bekommen. Als er gegangen war, überlegte Veronica, ob sie einen der Punkte von ihrer Liste in Angriff nehmen könnte, fand jedoch keine rechte Lust dazu. Stattdessen stieg sie die Treppe hinauf in die Wohnung, um sich in Ruhe umzusehen. Es war still hier oben. Vom Betrieb auf den Straßen vor und hinter dem Haus war fast nichts zu hören. Falls sie hier einzogen, würden sie störungsfrei arbeiten und entspannen können. Es gab zwei mit Doppelbetten möblierte Schlafzimmer. Sie öffnete jenes, das sie aufgrund der persönlichen Gegenstände darin als Pauls Raum identifiziert hatte. Die Bettwäsche schien sauber, zeigte jedoch subtile Zeichen der Benutzung. Veronica prüfte die Schränke. Auf der Suche nach frischen Laken und Bezügen ließ sie ihre Finger über Pauls Kleidung wandern: Unterwäsche, Socken, Krawatten, Hemden, Hosen, Anzüge – alles wirkte elegant, wenn auch ein wenig altmodisch. Der Blick auf einige Etiketten bestätigte ihre Einschätzung, dass der Verstorbene dieselbe Größe getragen hatte wie ihr Vater.

Der Brustbereich einer der Mäntel war ausgebeult. Sie steckte ihre Hand in die Innentasche und zog einen langen prall gefüllten Geldbeutel heraus, wie ihn Markthändler normalerweise verwenden. Sie zögerte. War es indiskret von ihr, derart in die Privatsphäre eines ihr unbekannten Mannes einzudringen? Unsinn, schalt die Detektivin in ihr wirsch. Ihr Onkel war tot und ihr Vater hatte den Haushalt, der ihm rein rechtlich nun gehörte, noch nicht wirklich in Besitz genommen. Einen Augenblick stand sie unentschlossen vor dem offenen Kleiderschrank, dann siegte die gute Kinderstube. Ihr Vater hatte sie die Goldene Regel gelehrt, nach der sie so gut es in dieser verrückten Gesellschaft ging lebten. Sie behandelten andere, wie sie selbst behandelt werden wollten, und sie unterließen alles, was sie nicht ihrerseits durch die Hand eines Anderen erleiden wollten. Damit waren sie bisher ganz gut gefahren. Man wurde so nicht reich, aber man konnte jeden Tag reinen Gewissens schlafen gehen.

A propos schlafen gehen. Sie steckte den Geldbeutel ohne hineinzusehen in die Innentasche des Mantels zurück. Dann schnappte sie sich zwei Garnituren frischer Bettwäsche und tauschte die alten aus. Dasselbe wiederholte sie im Gästezimmer. Wo in Pauls Raum eine Schrankwand die Szene beherrschte, erstreckte sich hier ein maßgeschreinertes Regal, das fast zur Gänze mit Büchern gefüllt war. Zahlreiche Paperback-Romane mit allerlei Klassikern von Asimov bis Zola machten den Hauptbestand aus. Daneben standen ledergebundene und kartonierte Hardcover. Sie erkannte die Britannica und andere Nachschlagewerke. Einige Bände behandelten religionswissenschaftliche Themen. Manche sehr alt wirkende Schinken trugen lateinische Titel oder kryptische Symbole. Und natürlich gab es eine ganze Abteilung mit Musikbezug. Sie würde sich die Sammlung genauer ansehen, sobald sie etwas mehr zur Ruhe gekommen sein würde. Zwischen den beiden Fenstern, die warmes Licht durch die vordere Außenwand des Gebäudes ins Zimmer strömen ließen, stand ein schlichter Sekretär, den Veronica sofort mochte. Die vielen Schubladen, Türchen und Sortierfächer des Möbelstücks übten eine magische Anziehung auf sie aus. Sie hatte sich entschlossen: Sie würde ihrem Vater vorschlagen, vom Hotel in die Innenstadt zu ziehen, und sie würde ihn bitten, ihr diesen Raum zu überlassen.

Das Sahnehäubchen wäre allerdings ein Internet-Anschluss, dachte sie sich. Ihr Onkel mochte ein weit reichendes Netzwerk persönlicher Beziehungen besessen haben. Dass das allein gereicht hatte, um jene Wunder zu wirken, die man ihm nachsagte, bezweifelte sie. Hatten sie überhaupt einen Computer gesehen, als Miller, der Notar, sie durch die Wohnung führte? Es war erst gestern gewesen, aber sie hatten in den letzten Tagen so viele aufregende Informationen absorbieren müssen, dass die Erinnerung an ihre Tour wie durch ein gemustertes Chiffontuch betrachtet wirkte.

Direkt gegenüber wurde sie fündig. Ein großer Raum, dessen Wände auf allen Seiten vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen bedeckt waren, musste wohl das Studierzimmer gewesen sein. In der Mitte der schmaleren Seite gab es ein Fenster, vor dem ein moderner Liegesessel stand. Ein riesiger Schreibtisch beherrschte das Zentrum des Raums. Füße und Rahmen bestanden aus kräftig rotem Holz, die Tischplatte bestand aus milchig weißem Glas, in das auf der linken Seite ein versenkbarer 28-Zoll-Flachbildschirm eingelassen war. Zum zweiten Mal an diesem Tag stieß Veronica einen leisen Pfiff aus.

Sie setzte sich in den Science-Fiction-artigen Drehstuhl vor den Bildschirm und unterzog den Arbeitsplatz einer näheren Betrachtung. Sie sah keinen Rechner. Es mochte ein Kompaktgerät sein, das im Bildschirm oder auf dessen Rückseite installiert sein konnte; oder der Computer stand in einem anderen Zimmer. Praktischerweise sollte man ihn hier, von diesem Platz aus, einschalten können. Wo war der Knopf? Sie ließ ihre Finger über das Holz gleiten. Auf der Unterseite der Tischplatte spürte sie zwei kleine Erhebungen. Sie beugte sich hinunter und sah, wonach sie gesucht hatte. Sie drückte den rechten der beiden Knöpfe. Licht flammte unter dem milchweißen Glas der Oberfläche auf. Aha, dachte sie. Onkel Paul hat wohl des öfteren Baupläne, Dias oder ähnliches angeschaut. Dieses Möbel wäre dabei sicherlich eine große Hilfe gewesen.

Der andere Knopf musste den Computer hochfahren, vermutete sie.

9) Das darf doch wohl nicht wahr sein!

Zach kehrte erst am späten Nachmittag in den Laden zurück. Schwer beladen mit Einkaufstüten stapfte er ins Hinterzimmer herein, wo Veronica es sich bei Keksen und grünem Tee im Sessel bequem gemacht hatte.

„Faules Stück Fleisch!“, polterte er theatralisch, als er die Tüten auf der Bar abstellte. „Keinen Zentimeter hast du dich bewegt, während dein alter Herr heldenmutig in den Urwald eingedrungen ist, um mit bloßen Händen einen Tiger für dein Abendessen zu erlegen.“

„Igitt!“, rief Veronica, „Du weißt doch, dass ich keinen Tiger mag. Außerdem hatte ich Vogelspinne bestellt.“

„Solange du deine Füße unter meinen Tisch hängst, isst du, was ich anschleppe.“

„Solange ich koche, wird gegessen, was ich verlange. Im übrigen war ich nicht ganz so faul, wie es dir vielleicht scheint.“

„Ach nein? Was hast du denn auf die Beine gestellt?“

„Mich. Und dann habe ich mich damit von der Eingangstür bis hierher zum Sessel transportiert.“

„Na gut. Das will ich für dieses Mal gelten lassen“, lenkte Zach ein. „Schau, was ich erbeutet habe.“ Er zog Milch- und Saftflaschen aus einer der Tüten, aus einer anderen einen Eisbergsalat, Broccoli, Bohnen, Lauch, Zwiebeln, Kartoffeln, einen Butterblock und ein paar Äpfel. „Der Salat hat sich besonders heftig gewehrt. Fast wäre er mir entkommen.“

Veronica klatschte in die Hände. „Du bist mein Held, Paps. Wenn ich einmal groß bin, will ich werden wie du.“

Eine weitere Tüte kehrte er einfach auf den Kopf und riss sie dann an den Zipfeln in die Höhe. Schokoladenriegel, Kekse, Kartoffelchips, Karamelbonbons, Popcorn, Marshmallows und andere Snacks polterten auf die Theke und von dort auf den Boden. „Alles, was das Denkerhirn so braucht“, verkündete er.

Eine Dose gesalzener Nüsse rollte Veronica vor die Füße. Sie hob sie auf. „Soll ich fett werden und an Arteriosklerose sterben?“ klagte sie.

„Das war der Plan. Vorher jedoch… Was hast du herausgefunden? Komm schon, ich sehe dir an, dass du gleich platzt, wenn du‘s nicht los wirst.“

„Das Wichtigste zuerst: Wir sind einer Meinung; wir logieren ab heute in Onkel Pauls Wohnung statt im Hotel. Ich habe dir auch schon ein Zimmer ausgesucht. Die Prinzessinnensuite gehört mir. Widerspruch zwecklos.“

Ihr Vater zuckte die Achseln. „Da bin ich wohl machtlos. Weiter.“

„Ich habe die Wohnung für unseren Einzug vorbereitet. Dabei bin ich auf Onkel Pauls Studierzimmer gestoßen, das den schickesten Arbeitsplatz im ganzen Königreich enthält. Du wirst Augen machen. Die Internetleitung – der Hammer. Das Ergebnis kommt schneller auf den Bildschirm, als man die Suchanfrage tippen kann.“

„Ja, ja, ja“, quakte Zach. „Solange er‘s schneller ausspuckt als du will ich zufrieden sein. Komm endlich auf den Punkt!“

„Tsk tsk,“ schnalzte Veronica. „Dass die jungen Leute von heute keine Geduld mehr aufbringen – schrecklich!“

Der Detektiv fletschte die Zähne. Seine Hände formten sich zu Krallen.

Die junge Frau kicherte. „Also gut. Ich habe Henrys Informationen in diverse Suchmaschinen gespeist, um zu sehen, was die Welt von ihnen hält. Und siehe da: alles öffentlich verfügbar.“ Sie nahm einen Stapel Ausdrucke vom Beistelltischen, blies die Kekskrümel fort und deklamierte: „Die Times berichtete am 13. Juli 2004, dass ein englischer Tourist namens Fraser Claughton aus Tankerton in der Grafschaft Kent, damals 41 Jahre alt, auf einem Flohmarkt in Lara bei Melbourne, Australien, einen verschlissenen Koffer für seine Klamotten gekauft hat. Als er ihn öffnete, fand er – Zitat Times – ‚eine der wichtigsten Sammlungen an Beatles-Memorabilien,‘ den ‚heiligen Gral,‘ nach dem fast dreißig Jahre lang alle gesucht hatten: das sogenannte Mal-Evans-Archiv. Der Autor der Meldung deutet weder in seiner Überschrift noch im Text Vorbehalte an, sondern wurde recht konkret bezüglich des Inhalts des Koffers: Fotos – vierhundert an der Zahl –, Vinylalben, Konzertprogramme und versiegelte Tonbandbehälter, die die Aufschrift ‚Abbey Road … not for release‘ tragen. Auf den Tonbändern befänden sich alternative Versionen von We Can Work It Out und Cry Baby Cry, akustische und elektrische Versionen von weiteren Stücken, die später verworfen wurden, sowie Gespräche zwischen McCartney und Lennon. Peter Doggett, ein Berater des Auktionshauses Christie‘s, bestätigte, dass mit Ausnahme zweier Stücke alles ‚sehr aufregend klingt‘ und es gut möglich sei, dass es sich um Evans‘ Archiv handele. John Read, ein Kinderbuchverleger, der den glücklichen Finder in dieser Sache vertrat, stellte den Bezug zu Mal Evans unter Verweis auf Studiounterlagen her, die im Koffer gefunden worden seien und den Namen des Roadies trügen. Ein Mitarbeiter des Beatles-Labels Apple, Mark Lewisohn, äußerte sich als Einziger etwas vorsichtiger, da er die Tracks nur am Telefon gehört habe; er sei aber gewillt, sich überraschen zu lassen. Harmony Central berichtete am nächsten Tag, dass ein Viereinhalb-Stunden-Band bei Apple zur Verifikation liege. Alle präsentierten Fakten sind konkret genug, dass man Missverständnisse ausschließen kann.“

„Aber?“, hakte Zach nach.

„Aber die Los Angeles Times meldete am 18. Juli, dass Peter Nash, Leiter des britischen Fanclubs, die Tapes am 15. gehört habe und als falschen Alarm einstufe. Einen Monat später, am 18. August, veröffentlichte Yahoo News eine ausführliche Associated Press-Meldung, der vermeintliche Beatles-Schatz sei ‚fake;‘ das Original bleibe weiterhin verschollen. Peter, Nash, der den Fund im Auftrag eines britischen Senders untersucht habe, nenne die Angelegenheit nun einen publikumswirksamen Schwindel. Er habe fotokopierte Ticketabrisse gesehen, und die Fotos seien lediglich Laserscans aus den 90er Jahren; bei dem Material von den Bändern handele es ich um ‚die ganz normalen Tracks, die die meisten Beatles-Sammler eh schon besitzen.‘ Es gebe außerdem überhaupt nichts in dem Koffer, das auf Evans hinweise. Apple-Sprecher Geoff Baker sagte, er denke, bei dem Fund handle es sich um einen Schwindel.

AP gab an, Claughton, der glückliche Tourist, sei nicht aufzufinden. Die Times und Jack Malvern, ihr Reporter, wären für Kommentare nicht zu haben. John Read, der hier als Pop-Memorabilienhändler tituliert wird, nehme keine Anrufe entgegen. Und das Beste: Das Auktionshaus Christie‘s gab zur Kenntnis, dass sie, ausdrücklich, nicht für eine Einschätzung der Gegenstände kontaktiert worden seien und auch keiner ihrer Experten diese gesehen hätte.“

„Da laus mich doch glatt der Affe!“, stieß Zach hervor. „Also, entweder lügen dieser Fanclubleiter, die Presseagentur, der Apple-Sprecher und Christie‘s alle miteinander oder…“

„Oder der Tourist, sein Vertreter, der Times-Reporter und der Christie‘s-Berater haben alle gelogen und unser neuer Freund hat heute einhundertachtzigtausend Britische Pfund für eine Zeitungsente ausgegeben“, schloss Veronica. „Egal wie man es dreht oder wendet, man kommt nicht umhin, von einer Verschwörung zu sprechen.“

Zach überlegte eine Weile still, bevor er sagte: „Aufgrund der Zeitungsmeldungen allein könnten wir kaum mehr tun, als die Glaubhaftigkeit der Aussagen zu bewerten. Da wir jedoch den Streitgegenstand vorliegen haben – mehr noch, da wir mit kundigen Sammlern in Kontakt stehen, die bereit sind, erkleckliche Summen dafür hinzublättern – scheint die Gruppe der Leute, die ganz laut ‚Betrug!‘ schreien, selbst eine Betrügerbande zu sein, die den Deckel des Koffers zuhalten will.“

„Es sei denn, es gab mehr als einen Koffer“, warf Veronica ein. „Auch dafür fand ich Hinweise.“

„Als wäre der Fall nicht schon kompliziert genug. Na gut, hau mir eine weitere Kofferstory um die Ohren.“

„Welche davon?“ Veronica ließ die Papiere, aus denen sie zitiert hatte, neben den Sessel fallen und nahm einen weiteren Stapel Ausdrucke vom Tisch. „Geschichten gibt es in Hülle und Fülle. Mal Evans, wenigstens darin sind sich alle Quellen einig, war wohl derjenige, der noch vor den Freundinnen, Frauen und Managern der Band die vollständigsten und tiefsten Einblicke in das Denken und Handeln der Beatles gehabt hat. Als Mädchen für alles schleppte er Koffer, lenkte den Tourbus, baute Instrumente auf, besorgte Essen und kümmerte sich um das persönliche Wohlergehen der Musiker. Er beschaffte ihre Unterhosen und wusch ihre Socken, buchstäblich. Manchmal durfte er einfache Klänge und Geräusche zu den Aufnahmen beitragen, war Stichwortgeber für einige Songs und tauchte in Nebenrollen ihrer Filme auf. Dabei blieb er stets bescheiden und diskret. Zwar führte er von Anfang an Tagebuch, plauderte jedoch nie aus dem Nähkästchen. Erst Ende 1975, also fünf Jahr nach der Bandauflösung, machte er von sich reden. In einem Fernseh- und mehreren Radiointerviews erzählte er von seinem Memoiren-Projekt, das zunächst ‚200 Miles to go‘ – Noch 320km – hieß, später auf den Titel ‚Living the Beatles Legend‘ – Ich lebte die Beatles-Legende – umgetauft wurde. Abliefern sollte er das fertige Manuskript angeblich am 12. Januar 1976, aber es gibt auch Quellen, die sagen, er habe noch ein halbes Jahr mehr Zeit gehabt. Wie dem auch sei, es kam der Abend des 4., 5. oder 6. Januar 1976 – je nachdem, welche Quelle man heranzieht…“

„Das ist ja unglaublich!“, polterte Zach.

„…aber wahr. In der damaligen Ausgabe des Rolling Stone Magazins nennt Patrick Snyder den 4. Januar. Die Wikipedia nennt den 5., bezieht sich dabei jedoch auf eine Meldung der LA Times vom selben Tag, das heißt, die Ausgabe, die berichtet, was am 4. geschehen ist. Eine Sonntagsausgabe der Londoner Times, die des Jahrestages gedenkt, behauptet, Mal Evans‘ Ehefrau sei am Morgen des 5. über den Tod ihres Mannes am Vorabend informiert worden. In einem Blog aus dem Jahr 2012 fand ich auch den 6. Januar, aber das war vermutlich ein Tippfehler.

Welchen Datums auch immer, erschossen worden ist er von zwei, drei oder vier namentlich bekannten Polizisten, wiederum je nachdem, welcher Quelle man Glauben schenkt. Seine damalige Freundin, Frances Hughes, mit der er zusammenlebte, hat wohl den Ghostwriter der Memoiren, einen gewissen John Hoernie, angerufen, weil Mr Evans jenes Abends psychisch völlig am Ende gewesen sein soll. Angeblich stand er unter Valium und Alkohol. Das Gespräch der beiden Männer scheint unglücklich verlaufen zu sein, denn Evans nahm eine Waffe zur Hand, die je nach Quelle entweder eine Pistole oder ein Gewehr gewesen ist, und entweder eine Luftwaffe oder scharf gewesen sein soll. Die Freundin alarmierte die Polizei. Die Beamten forderten Evans angeblich auf, die Waffe fallen zu lassen, was dieser verweigerte, und so feuerten sie sechs Schüsse auf ihn ab, vier davon tödlich.“

„Vielleicht sollte man sich den Polizeibericht zusenden lassen“, warf Zach ein.

„Das hat schon eine gewisse Tina Foster versucht, wurde jedoch abgewiesen.“

Zach schüttelte den Kopf.

„Hier beginnt jedenfalls die Geschichte um das sogenannte Memorabilien-Archiv. Die Polizei hat die Anwesenden als Zeugen mitgenommen und einiges an Gegenständen sichergestellt. Von diesem Moment an sind die Memoiren verschwunden. Einer Version nach haben die Behörden den Koffer verbummelt, einer anderen zufolge hat ein enger Freund, der Sänger Harry Nilsson, Evans‘ Sachen gepackt und mit seiner Asche nach London geschickt, zu Evans‘ Witwe Lily. Beides ging verloren. Die Urne tauchte wenig später am Flughafen wieder auf. Eine Truhe voller persönlicher Gegenstände, darunter seine Tagebücher, wurde erst 1986 im Keller des New Yorker Verlags Grosset and Dunlap gefunden, bei dem die Memoiren erscheinen hätten sollen. Man informierte Yoko Ono, die die Sachen freundlicherweise an Mrs Evans weiterleitete.“

„Wie kommt das Zeug nach New York, wenn es nach London gesendet wurde? Was haben persönliche Effekten bei einem Verlag zu suchen? Und warum gibt dieser sie ausgerechnet Yoko?“, warf Zach ein.

„So spielt halt das Leben eben manchmal.“ Veronica kniff ein Auge zu. Ihr Vater schnaubte.

„Wie ich das sehe, haben wir es mit zwei, vielleicht sogar drei Chargen zu tun: Eventuell einem Koffer, den die Polizei von Los Angeles verbummelte, einer Kiste, die aus welchen Gründen auch immer für zehn Jahre beim Verlag versumpfte, und einer weiteren Kiste, die auf dem Weg nach London verschollen ging.“

„Und welche davon enthielt das Manuskript?“

„Könnte im Prinzip in jeder der Chargen gesteckt haben. Bis vor kurzem behauptete die Witwe, die Memoiren nicht zu besitzen, aber nun hat sie Ken Womack, einen bekannten Beatles-Spezialisten, beauftragt, sie zu veröffentlichen; ebenso die Tagebücher.“

„Einfach so? Ups, ich habe mich geirrt? Hier ist das Ding, nach dem die Beatles-Verrückten dieser Welt fünfundvierzig Jahre lang gesucht haben? Lächerlich!“, ereiferte sich der Detektiv.

„Um so lächerlicher, als wir sicher wissen, dass es in unserem Koffer lag, nicht in der New Yorker Kiste, die Yoko Ono an Lily Evans geschickt hat. Was veröffentlicht dieser Womack also da?“

„Hoernies Kopie, könnte eine harmlose Antwort lauten. Irgendwie gibt es mir in der Sache aber zu viele Ungereimtheiten und seltsame Zufälle. Weshalb hielt Mrs Evans das Manuskript geheim, statt es zu Geld zu machen?“

„Weil Yoko es bisher zurückgehalten hat? Oder einer der Beatles mit Prozessen gedroht hat?“, schlug Veronica vor.

„Mit anderen Worten, weil Mal Evans etwas zu erzählen hatte, das die erfolgreichste Band der Welt in ein neues Licht rückt. Es würde erklären, weshalb diese Gang von ‚Experten‘ die Echtheit des Koffers so vehement abgestritten hat. Ehrlich gesagt glaube ich an diesem Punkt nicht mehr an Zufälle. Wie hat Henry das genannt?“

„Schneewittchengeschichten.“

„Schneewittchengeschichten, so ist es. Ich kann zwar noch nicht exakt bestimmen, worin die Wahrheit besteht, aber ich kann mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen, dass sie nicht so harmlos sein wird, wie sie bei oberflächlicher Betrachtung erscheint. Dafür liegen zu viele Fehlinformationen über normalerweise einfach zu bestimmende Tatsachen vor.“

„Erkennst du schon einen Pfad in dem ganzen Durcheinander, Paps?“

„Es gibt etwas, das mich beunruhigt. Da verkündet jemand, dass er nun endlich über seine Zeit bei den Beatles reden will, und dann stirbt er plötzlich – nicht einfach so, sondern unter ungewöhnlichen Umständen. Dummerweise verschwindet seine Memorabilien-Sammlung, jedoch nicht nur ein Teil, sondern alle Teile gleichzeitig auf verschiedenen Wegen – einschließlich der berüchtigten Memoiren. Jahrzehnte später tauchen sie hier bei uns und zur gleichen Zeit bei der Witwe auf – und wieder stirbt ein Mann unter seltsamen Umständen, wieder verschwindet im selben Moment das Manuskript…“

Veronica horchte auf. „Hm? Wie bitte?“

„Tut mir leid, mein Schatz. Ich hatte noch keine Gelegenheit, es dir zu sagen. Als Henry und ich das Inventar prüften, fanden wir alle Objekte wie im Warenbuch verzeichnet – mit Ausnahme der Memoiren. Miller erzählte uns sogar davon, erinnerst du dich? Er sagte, Pauls Mörder habe die Kasse ausgeräumt und das Manuskript bei der Gelegenheit mit eingepackt.“

„Das darf doch wohl nicht wahr sein!“, rief Veronica

10) Nicht mehr alle Beatles in der Band

Sie saßen in einer Art Katerstimmung am Frühstückstisch. Keiner von ihnen hatte gut geschlafen in dieser ersten Nacht im neuen Domizil. Zach hatte von reißzahnbewehrten Koffern geträumt, die nach seinen Ärmeln und Hosenaufschlägen schnappten und ihn in verschiedene Richtungen zu zerren versuchten.

Bevor sie in einen traumlosen Schlaf gesunken war, hatte Veronica stundenlang über der Frage gebrütet, wie man alltägliche Zufälle von absichtlich inszenierten Ereignissen unterscheiden könnte. „Cui bono,“ sagte sie in die Stille der Campbell‘schen Küche hinein.

„Wie bitte?“, erkundigte sich ihr Vater, dessen Blick aus weiter Ferne zurückkehrte.

„Wem nützt es – cui bono“, erklärte Veronica. „Alte lateinische Redewendung. Heute würde man sagen: Folge dem Geld. Für sich genommen ist ein starker finanzieller Anreiz natürlich kein Schuldbeweis, kann aber ein vielversprechender Ermittlungsansatz sein.“

„Gelegenheit und Fähigkeit zur Tat müssen ebenfalls gegeben sein, wenn man eine Jury überzeugen möchte“, ergänzte Zach. „Außerdem mag es andere Motive als Geld geben.“

Veronica nickte. „Und man müsste den Beweis antreten, dass der Verdächtigte es auch wirklich getan hat. Was uns auf seine Fährte helfen könnte, wäre ein Muster, ein wiederkehrendes Element.“

Zach runzelte die Stirn. „Du siehst hier einen Fall?“

„Du nicht? Onkel Paul wurde ermordet; ein potenziell brisantes Dokument aus seinem Besitz verschwand in derselben Nacht. Es geht wahrscheinlich um Millionen von Pfund. Selbstverständlich ist das ein Fall.“

„Um den sich die örtliche Polizei oder Scotland Yard kümmert.“

„Das mag stimmen. Ich wage jedoch zu bezweifeln, dass sie die unbestreitbaren Parallelen zum Fall Mal Evans berücksichtigen.“

„Der echt schräg aussieht, aber man kann nicht vollständig ausschließen, dass die meisten Widersprüche in der Berichterstattung über Evans auf Kommunikationsstörungen zurückzuführen sind. Zufälle soll es geben.“

„Wer sagt ständig: ‚Ein Mal ist Zufall, zwei Mal ist Dummheit und drei Mal ist Absicht‘?“

„Zachary Archibald Ziegler.“

Veronica nickte. „Ein kluger Mann. Möchtest du hören, was seine noch klügere Tochter denkt?“

„Klär mich auf.“

Veronica kicherte vergnügt.

„Was gibt es da zu lachen?“

„‚Tochter klärt Vater auf‘ – wäre das eine coole Schlagzeile für die Bild?“

„In Zeiten um sich greifender Gender-Verwirrung ist das kein Witz, sondern eine zu Tränen reizende Notwendigkeit. Ich läse daher lieber ‚Mann beißt Hund‘; das gäbe mir ein lang vermisstes Gefühl von Normalität wieder… Worauf willst du eigentlich hinaus, Liebes?“

„Weißt du, wie die Leute bei SETI außerirdische Signale von kosmischem Hintergrundrauschen zu unterscheiden versuchen?“, fragte Veronica zurück. Ohne eine Antwort abzuwarten erläuterte sie: „Kommunikation kann man immer daran erkennen, dass sie Muster im ‚Text‘ hinterlässt, die man mit statistischen Graphen oder arithmetischen Formeln entdecken beziehungsweise darstellen kann. Dabei ist es egal, ob es sich um ägyptische Steintafeln, viktorianische Romane, mongolische Radiosendungen, italienische Schnulzenfilme oder verschlüsselte KGB-Nachrichten handelt. Man muss die enthaltene Botschaft nicht verstehen können, um zu erkennen, dass höchstwahrscheinlich ein sinntragendes Signal vorliegt. Eine statistisch signifikante Häufung bestimmter Marker teilt uns mit, dass wir es mit mehr als dem reinen Zufall zu tun haben.“

„Verstehe. Und das willst du nun auf Ereignisse übertragen?“

„Wie kommen die Ermittler der Mordkommission zu dem Schluss, es mit einem Serientäter zu tun zu haben?“

„Anhand identischer Spuren an verschiedenen Tatorten.“

„Exakt. Ein einzelner Mord stellt keine Serie dar. Ein erster weiterer Mord mit identischen Spuren sieht vielleicht nur zufällig so aus, als gehöre er zu einer Serie. Je mehr solcher Fälle man jedoch vorliegen hat, desto eindeutiger tritt die Absicht hinter ihnen zutage. Was wir brauchen, sind mehr Daten!“

„Ich hatte eigentlich vor, der Polizeiwache erst nächste Woche einen Besuch abzustatten…“

Veronica setzte ihr bezauberndstes Lächeln auf und klimperte mit den Wimpern. Zach brummte, dann griff er nach einer weißen Serviette und schwenkte sie über seinem Kopf.


Zach lenkte den GT aus der Tiefgarage in den morgendlichen Berufsverkehr. Die Parkgebühren für zwei Tage hatten bereits ein kleines Vermögen gekostet. Zum Glück musste er sich darüber keine Gedanken mehr machen. Dank der Erbschaft würde er das jahrelang durchhalten. Doch falls sie hier blieben, würde er einen festen Platz kaufen; oder den Mini Cooper verkaufen, um den Opel an seiner Statt abzustellen.

Da es noch recht früh war, beschloss er, zunächst zum Hotel zu fahren, um das Zimmer zu kündigen und ihre Sachen in die Rainford Gardens zu bringen. Danach, gegen zehn Uhr, betrat er die Polizeiwache, wo er verlangte, den Leiter der Ermittlungen im Mordfall Campbell zu sprechen. Man führte ihn zu einer Bürotür und bat ihn, auf einem der Stühle davor Platz zu nehmen. Drinnen hörte er einen Mann telefonieren. Er konnte sich zwar auf den Inhalt des Gesprächs keinen Reim machen, aber diese Stimme fand er beeindruckend kräftig. Einige Minuten später fiel ein Hörer auf die Gabel, und kurz darauf näherten sich Schritte. Die Tür wurde aufgerissen.

„Mr Ziegler? Guten Tag. Kommen Sie herein.“

Zach war ein klein wenig enttäuscht von der Entdeckung, dass die Bärenstimme einem Mann von durchschnittlicher Größe, mittlerer Körperfülle und unauffälligen Gesichtszügen gehörte. Er nahm sich jedoch vor, ihn nicht zu unterschätzen. Der bleigraue Bürstenhaarschnitt vermittelte den Eindruck eines starken Willens. Er musterte das Namensschild, dem zufolge er mit D. Wickens sprach. „Guten Tag, Sir. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit nehmen, mir die Umstände des Todes meines Stiefbruders zu erläutern.“

„Ich bitte Sie! Als Angehöriger haben Sie ein berechtigtes Interesse an diesen Informationen. Soweit es die Ermittlungen zulassen, will ich Ihnen gern Auskunft geben… Setzen Sie sich doch.“ Er deutete auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Ehrlich gesagt hoffe ich auch, dass Ihnen etwas ein- oder aufgefallen ist, das uns weiterhelfen könnte.“

„Ich befürchte, dass ich Sie enttäuschen muss. Mein Stiefbruder und ich haben uns Jahrzehnte nicht gesehen oder gesprochen. Weder bin ich mit seiner Lebenswirklichkeit noch mit seinen Einstellungen, Gewohnheiten oder persönlichen Beziehungen vertraut. Außer dass er sich anscheinend zu einer der führenden Kapazitäten in Sachen The Beatles entwickelt hat, weiß ich praktisch überhaupt nichts über den Mann, der er zuletzt gewesen ist.“

„Das ist bedauerlich. Dennoch – falls Sie unter den Hinterlassenschaften Mr Campbells etwas finden, das eventuell einen Hinweis auf den Mord liefern könnte, rufen Sie mich jederzeit an.“ Er schob Zach eine Visitenkarte zu.

Der Detektiv nickte und steckte die Karte nach flüchtiger Betrachtung in eine Jackentasche. „Wären Sie so freundlich, die letzten Stunden in Mr Campbells Leben zu beschreiben, soweit Sie diese rekonstruieren konnten?“

„Viel zu erzählen gibt es nicht. Laut Zeugenaussagen einer Nachbarin verließ kurz vor acht Uhr abends ein letzter Kunde den Laden. Mr Campbell schloss die Tür von innen ab und knipste das Licht aus. Er hat eine Mahlzeit eingenommen. Gegen elf Uhr gingen auch in der Wohnung die Lichter aus. Um 3:05 Uhr in der Frühe registrierte die Außenkamera eine Gestalt, die im Eingang verschwand. Die Qualität der Aufnahmen lässt keinerlei Einzelheiten erkennen. Das Ladenlicht ging nicht an. Um 3:40 Uhr tritt die Gestalt wieder auf die Straße heraus und wendet sich in Richtung Whitechapel. Der Autopsiebefund besagt, dass Mr Campbell zwischen drei und vier Uhr verstorben ist. Ursache waren sechs Messerstiche im Brustbereich. Einer traf die Halsschlagader, ein weiterer das Herz. Wenn dieser Sache etwas Positives abzugewinnen ist, dann lediglich, dass Ihr Verwandter nicht gelitten hat.“

„Gab es Hinweise auf einen Kampf? Hat niemand etwas gehört?“, hakte Zach nach.

„Keine Hinweise, und alle schliefen fest – behaupten sie zumindest.“

„Wie stellt sich die Tat für die Polizei dar? Haben Sie Anhaltspunkte für ein Motiv? In welche Richtung ermitteln Sie?“

„Obwohl wir das Türschloss unbeschädigt fanden, glauben wir dennoch, dass es sich um einen Einbruch handelt. Mr Campbell hat die Person wohl überrascht und ist von ihr in einer Art Panikreaktion angegriffen worden.“

„Das schließen Sie woraus?“

„Dass der Täter Geld aus dem Laden entwendet hat, jedoch kaum Wertgegenstände.“

„Mit ‚Wertgegenstände‘ meinen Sie sicher das Evans-Manuskript. Fehlte sonst noch etwas?“

Wickens lächelte dem Detektiv freundlich zu. „Sehen Sie? Sie wissen tatsächlich etwas, das wir noch nicht wussten.“

„Ich dachte, das Fehlen des Manuskripts wäre Ihnen bekannt.“

„Ja, es steht schließlich im Warenbuch verzeichnet. Leider nennt der Eintrag nicht den Verfasser des Dokuments. Woher kennen Sie seinen Namen?“

„Gestern kam ein Kunde in den Laden, der erklärte, das Manuskript sei Teil einer Sammelbestellung, die er mit anderen Beatles-Freunden in Auftrag gegeben habe. Es handle sich um Mal Evans‘ Erinnerungen.“

Der Kommissar stutzte. „Wie heißt dieser Mann? Haben Sie sich den Namen gemerkt?“

Zach war sich nicht sicher, ob er Bishops Identität preisgeben sollte. Es könnte dem Mann, der sein erster Freund in Liverpool geworden war, eine Menge Schwierigkeiten bereiten. Er beschloss, darüber nachzudenken und Wickens eventuell später mehr zu erzählen. Er überlegte. Was konnte er dem Kommissar sagen? „Ich erinnere mich an seinen Vornamen. Er heißt Henry.“

Wickens‘ Gesicht verriet, dass er eine Spur witterte. „Henry? Sind Sie ganz sicher? Irgendwas vom Nachnamen – Angangsbuchstabe, Länge, Nationalität – im Gedächtnis hängen geblieben?“

Zach schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Im Moment geht alles drunter und drüber. Ich muss an hundert Dinge gleichzeitig denken. Es war ein englischer Name, wenn ich mich recht erinnere.“

„Wie sah er aus? Können Sie ihn beschreiben?“ Wickens schien aufgeregt.

„Er sah ein bisschen aus wie dieser berühmte Produzent aus den 1960ern… Wie hieß er gleich?“

„Phil Spector? Quincy Jones? George Martin?…“

„George Martin, genau. Sehr gepflegt, vielleicht gerade im Pensionsalter. Hilft Ihnen das weiter?“

Der Kommissar hatte sich wieder unter Kontrolle. Sein Gesichtsausdruck war nun verschlossen. „Man wird sehen. Natürlich darf ich Ihnen zu Details der Ermittlungen nichts sagen. Ich persönlich glaube aber, dass diesem Manuskript keine besondere Rolle zukommt.“

„Falls doch, ist mein Stiefbruder mindestens das zweite Mordopfer im Zusammenhang mit dem Ding.“

„Sie spielen auf diese Verschwörungstheorie an, nach der die L.A. Police auf Mr Evans gehetzt worden sei, um McCartneys Doppelgänger vor Entlarvung zu schützen?“ Wickens begann herzhaft zu lachen. „Vergessen sie‘s. Die Leute, die so etwas behaupten, haben nicht mehr alle Beatles in der Band.“ Er lachte erneut. „Überlegen Sie nur mal, wie viele Menschen Sir Paul persönlich kennen; er hat Familie hier in Liverpool. Was glauben Sie, wäre da los, wenn plötzlich ein fremder Mann vor der Tür stünde und sagte: ‚Hey, hier bin ich‘?“ Er musste gesehen haben, dass Zach diese Reaktion sauer aufstieß. Er lenkte ein: „Nichts für ungut, aber manchen ist die aufregendste Band der Welt, scheint es, nicht aufregend genug. Von diesen Revolvergeschichten sind so viele in Umlauf, dass keiner sie mehr ernst nimmt.“

„Mag sein“, knurrte Zach, dem die kräftige Stimme des Beamten inzwischen zuwider geworden war. Er wollte nur schnell hier weg. So stellte er seine letzte drängende Frage: „Kann ich meinen Verwandten in der Pathologie sehen?“

„Der Leichnam wird in Kürze an einen von Mr Campbells Anwalt beauftragten Bestatter übergeben. Danach sollte es möglich sein.“

Zach erhob sich unsicher aus seinem Stuhl. Er schüttelte Kommissar Wickens die Hand und versprach, sich melden zu wollen, falls ihm noch etwas einfallen sollte. Der Polizist versicherte, er werde Zach bei neuen Erkenntnissen auf dem Laufenden halten. Dieser verließ das Zimmer und steuerte zielstrebig auf den Kaffeeautomaten im Gang zu. Ein Pappbecher gefärbten Wassers verschwand in Sekundenschnelle in seinem Hals. Zach feuerte den leeren Behälter in den neben der Maschine stehenden Eimer. Diese Plörre rechtfertigte keinen weiteren Besuch, entschied er.