Die Abenteuer von Zach und Veronica kann man jetzt kostenlos als PDF herunterladen:
- auf Deutsch, „Käferplage„;
- auf Englisch, „Campbell’s Fab Store„.
Gib den Roman gern an Familie, Freunde und Bekannte weiter
ein Kriminalroman von George Paxton
Die Abenteuer von Zach und Veronica kann man jetzt kostenlos als PDF herunterladen:
Gib den Roman gern an Familie, Freunde und Bekannte weiter
Sie klopfte ein zweites Mal an die Schlafzimmertür ihres Vaters. „Frühstück ist fertig“, rief sie gut gelaunt und wartete, ob sich drinnen etwas regte. Ein Lattenrost knarrte, Füße wurden geräuschvoll auf den Boden gestellt. Veronica kehrte zur Küche zurück, setzte sich an den gedeckten Tisch und wartete. Minuten später traten Maria und Zach ein und nahmen gegenüber Platz. Seit die Italienerin mit in das Haus an den Rainford Gardens eingezogen war, lag es jeden Tag an Veronica, den Kaffee aufzusetzen. Zu ihrer Belustigung benahmen sich die beiden wie frisch verliebte Teenager. Sie gab hierzu jedoch keinen Kommentar ab; vielmehr genoss sie die ungewohnte Vitalität ihres Vaters und die angenehme Gesellschaft der neuen Hausgenossin.
Und zugegeben: Sie verbrachten ihre Tage nicht lediglich mit Turteleien, sondern arbeiteten bis spät in die Nacht an Recherchen für ein Projekt, in das sie auch Veronica einbanden. Ihre Rolle bestand darin, das Konzept für eine Workshop-Reihe zum bewussten Umgang mit Medien zu entwerfen. Von der Schulung der Beobachtungsgabe über Methoden zur kritischen Daten- und Medienanalyse bis hin zu wissensphilosophischen Erörterungen würde sie ein breit angelegtes Programm für angehende freie Medienschaffende auf die Beine stellen. Es sollte Menschen helfen, aus dem passiven Konsum von Infotainment-Produkten auszusteigen, um die Herrschaft über den eigenen Geist wieder zu gewinnen… Ihr Vater hatte wirklich Talent, brandheiße Themen in langweilige Wörter zu packen, die mit Sicherheit niemand hinter dem Ofen hervorlockten. Und genau darum sollte sie selbst nicht nur die Autorin dieser Aktivität sein, sondern auch deren Gesicht.
Maria und Zach sammelten derweil Material für eine Serie von Dokumentationen, die im Stil von ‚Bilder, die die Welt bewegten‘ Verbrechen der Unterhaltungsindustrie aufdecken würde, beginnend mit dem aktuellen Stand der PID-Forschung. Darüber sprachen sie nun bei Tisch, kaum dass sie die erste Tasse geleert hatten.
„Die Veränderungen zwischen 1966 und 1967 hätten kaum krasser ausfallen können,“ erörterte Zach. „es ist ein Wunder, dass wir als Fans den Braten nicht gerochen haben. Das stinkt doch geradezu nach frischem Blut in der Band. Ich denke, diesen Aspekt müssen wir stärker herausarbeiten.“
„Die Wenigsten waren damals bereit, die veränderte Lage zu akzeptieren – selbst dann nicht, als sie mit der Nase darauf gestoßen wurden. Ich bezweifle grundsätzlich, dass Menschen allein aufgrund von vermittelten Informationen fähig sind, sich zu ändern“, erwiderte Maria. „Wir müssen Anknüpfungspunkte an Alltagserfahrungen finden, wenn wir mehr Erfolg haben wollen als die Aufklärer Ende der Sechziger.“
„Was ist nun eigentlich die Moral von der Geschichte?“, klinkte sich Veronica ins Gespräch. „Paul ist tot, und weiter? Worauf wollt ihr mit euren Filmen hinaus? Ich meine, was soll das Projekt von normalem Infotainment unterscheiden?“
„Die Botschaft zum Mitnehmen lautet nicht, dass Paul McCartney tot ist“, erklärte Maria. „Wir wissen nicht, welche der verschiedenen Storys stimmt, ob er einen Unfall hatte oder Satan geopfert wurde, ob er einen Aston Martin DB5 oder DB6 oder einen Austin Mini fuhr. Wir wissen nicht, ob andere Fahrzeuge darin verwickelt waren. Wir wissen nicht, wo oder wann genau es geschah, ob er eine Beifahrerin hatte und wenn ja, wie sie hieß oder ob sie überlebt hat. Wir kennen den wirklichen Namen seines angeblichen Nachfolgers nicht. Wir können nicht mit Bestimmtheit sagen, welche der Paul-ist-tot-Hinweise in Songs, Filmen, Fotos, Interviews oder auf Albumhüllen echt und welche eingebildet sind, oder welche der vielen möglichen Interpretationen die richtige ist. Wir wissen nicht einmal, ob er überhaupt tot ist oder nur einen symbolischen Tod in einem Initiationsritus gestorben ist, oder ob es sich um einen Marketing-Gag handelt oder um ein frei erfundenes Produkt der Beatlemania.“ Sie hielt kurz inne, um nachzudenken. „Wenn Ende 1966 etwas Gravierendes mit Paul geschehen ist und die ganzen Clues in den Beatles-Songs echte Hinweise sind,“ fuhr sie fort, „dann hat niemand etwas davon mitbekommen, bis drei Jahre später, 1969, jemand die Geschichte von Pauls Ableben in die Medien gedrückt hat. Danach konnte man das, was man aufgrund medialer ‚Enthüllungen‘ wahrgenommen hat, nicht mehr ungesehen machen. Man kann seither nur noch Stellung dazu beziehen.“
Veronica zuckte mit den Schultern. „Ok, die Beatles pflegten einen kreativen Umgang mit der Wahrheit – na und? Inwiefern betrifft uns Heutige ein fünfzig, sechzig Jahre alter Skandal?“
„Außer dass immer wieder Menschen im Umfeld dieser Leute unter seltsamen Umständen sterben und du fast eine von ihnen geworden wärst? Sir Pauls Ex-Frau Heather Mills meint sich mit der Behauptung schützen zu müssen, sie habe inkriminierende Informationen hinterlegt, die im Falle eines Falles an die Öffentlichkeit gelangen würden.“
„Schon klar. Aber wie wollt ihr eurem Publikum die Bedeutung der Affäre für andere als die direkt betroffenen Personen nahe bringen? Ich nehme doch an, dass es euch letztlich um mehr als die Beatles geht, oder? Wozu sonst die Workshop-Serie, die ich für euch planen und durchführen soll?“
„Du hast natürlich recht“, schaltete Zach sich ein. „Wie gesagt geht es keineswegs darum, Leute von PID zu überzeugen – der Theorie, dass Paul McCartney tot ist –, sondern sie für die Möglichkeit zu öffnen, dass offizielle Narrative in die Irre führen können oder sogar sollen. Um sich den wirklichen Geschehnissen anzunähern, sollten sie nicht nach mehrheitsfähigen Ansichten streben, sondern ihre Suche nach Wahrheit als individuelle Reise unternehmen. Was sich tatsächlich abspielte, werden wir vielleicht nie erfahren, aber wir können uns dem annähern, wenn wir Auslassungen, Lügen und Widersprüche in dem wahrzunehmen beginnen, was man uns vorsetzt. Immer und überall.“
Maria nickte. „Das betrifft alle medialen Ereignisse, jede klitzekleine Nachrichtenmeldung, die man liest, jedes Foto, das man sieht, jeden Songtext, den man hört, jedes Bild, das für Sekundenbruchteile in einem Musikvideo aufblitzt. Was weißt du wirklich über den Mann, den sie als den neuen Hitler porträtieren? Hast du schon mit ihm gesprochen? Was weißt du wirklich über Viren – hast du je welche gesehen? Was weißt du über die Rolling Stones oder Madonna, über Keanu Reaves oder Julia Roberts, über O.J. Simpson oder Steffi Graf? Nichts davon entstammt deiner eigenen Erfahrung; alles, was du zu wissen glaubst, hat dir irgendjemand unter die Nase gehalten; meist dieselben Leute, die dir die Musik, das Medikament, die Politik, den Krieg oder was auch sonst verkaufen wollen.“
„Also kann man gar nichts mehr glauben“, folgerte Veronica.
„Du darfst alles glauben, was du möchtest, aber du kannst, wenn du ehrlich bist, nur noch sehr wenig von dem wirklich wissen, was du bisher zu wissen glaubtest. Genau das ist der springende Punkt, und das ahnst du wahrscheinlich schon seit langem.“
Sie nickte. „Aber es ist verdammt anstrengend, danach zu leben.“
Zach lachte. „So ist das mit der Wahrheit. Sie ist oft unangenehm, manchmal schmerzhaft und darum selten mehrheitsfähig. Doch ohne sie gibt es keine Freiheit, keinen Frieden und letztlich auch kein Glück.“
„Es fällt mir trotz allem, was wir herausgefunden haben, immer noch schwer, die ganze Tragweite zu akzeptieren. Ich glaube, ich habe… Angst vor den Implikationen.“
Maria legte eine Hand auf Veronicas Schulter. „Ich finde es bewundernswert, dass du dir ihrer bewusst bist. Mach es dir etwas leichter, indem du sie begrüßt statt sie zu vermeiden zu versuchen. Denn wenn unser verändertes Verständnis der Wirklichkeit nicht in verändertes Verhalten münden soll, warum sich die Mühe machen, Wahrheit zu finden?“
Ende
Der Notsituation geschuldet hatte Johns Mini Cooper stärker gelitten, als Zach vorhersehen konnte. Die von abrupten Brems- und Abbiegemanövern geplätteten Reifen stellten dabei noch den geringsten Schaden dar. Sie konnten leicht ersetzt werden. Größere Probleme bereitete allerdings die Ausbesserung von Steinschlagspuren am Lack und von Beulen am Unterboden. Dem ideellen Wert, der nur am berühmten Erstbesitzer des Fahrzeugs gemessen wurde, tat dies jedoch keinen Abbruch. Zach sah daher keinen Grund zur Zerknirschung, auch wenn Maria ihn noch nach Monaten mit der Sache aufzog. Sie hing an dem Kleinwagen, dessen Beschaffung so viel Mühe und Geld gekostet hatte. Er aber war nur froh, dass sie getan hatten, was sie konnten, um Veronica zurückzubekommen. Zwar trugen sie rein gar nichts dazu bei, sie heil aus den Fängen Desmonds und Kites zu befreien; das Abzeichen für diese Leistung konnte seine Tochter sich selbst an die Brust heften. Aber die Entführung hätte ein ganz anderes Ende nehmen können, und in dem Fall hätte er sich nie verzeihen können, einfach zuhause vergeblich auf sie gewartet zu haben.
Die vierzehn Stunden im Foltergefängnis – einem Versteck, an dem der Wallace-Sprössling offenbar regelmäßig seinen perversen Neigungen nachging – hatten Veronicas Vertrauen in sich selbst und die Welt schwer angeschlagen. Wochenlang hatte sie kaum ein Wort aus eigenem Antrieb gesprochen. Auf Fragen reagierte sie bloß einsilbig.
Pauls Beisetzung, die nur wenige Stunden nach ihrer Heimkehr stattfand, waren sie alle drei fern geblieben. Sie fühlten sich unendlich müde. Und auch wenn an Schlaf wegen der gerade überstandenen Aufregung nicht zu denken war: Der emotionalen Belastung auf dem Friedhof konnten sie sich unmöglich stellen. Das hatte die Trauergäste zu allerhand Vermutungen verleitet, die nur mit Mühe zerstreut werden konnten, wie ihnen Henry später berichtete.
Desmonds Verschwinden löste mehrere Nachbeben aus, die Veronicas Psyche wiederholt erschütterten. Das Telefon klingelte am Nachmittag jenes Tages, als sie in ein Bettlaken gehüllt wieder im Fab Store ankam, fast ohne Unterbrechung, bis Maria es einfach aussteckte. Molly Jones, die vergeblich versucht hatte, den Verbleib ihres Gatten Desmond in Erfahrung zu bringen, erschien daraufhin am folgenden Morgen vor der Ladentür. Sie betätigte die elektrische Glocke so lange, bis Zach ihr schließlich öffnete. Aufgeregt erfragte sie jedes Detail der Vorkommnisse vom Montag und ließ sich nur mit Mühe davon abbringen, Veronica zu sprechen zu wollen. Gegen Abend berichtete der lokale Sender über den Brand des Hauses; mindestens ein Opfer sei zu beklagen gewesen. „Zu beklagen sind wohl eher die, die diesen Mann beklagen“, brummte Zach, verzichtete mit Rücksicht auf das Befinden seiner Tochter weitere Kommentare. In den Tagen darauf veröffentlichte die Polizei Angaben zu Zahl und Identität der Toten, was der Bekanntheit der Personen wegen eine gewisse Aufregung bei der Bevölkerung erzeugte. Fragen wurden laut, was ein leitender Beamter und ein Angehöriger des Geldadels an solch abgelegenem Ort zu tun hatten. Über die Brandursache wollten die Forensiker der Feuerwehr lange Zeit keine Einschätzung abgeben. Mangels Spuren, die die Anwesenheit Dritter nahelegten, einigte man sich auf die Hypothese, unvorsichtiger Umgang mit offenen Flammen – wahrscheinlich Kerzen – habe Kommissar Wickens und den Philanthropen Campbell das Leben gekostet.
Im Zuge der Ermittlungen wurden auch Veronica und Zachary Ziegler ins Präsidium geladen; sie als letzte der Polizei bekannte Person, die Wickens lebend gesehen hatte, und er, Zach, weil er aufgefallen war, als er sich nach dem Kommissar erkundigt hatte. Die Befragung fand mehr oder weniger für die Akten statt, denn es gab keinen Anlass, eine Verwicklung in den Brand zu vermuten. Veronica behauptete, den Kommissar in einem Parkhaus abgesetzt zu haben und dann getrennter Wege gegangen zu sein. Die Erinnerung an das, was der Mann ihr angetan hatte, schürte die Wut, was ihr half, die Zeugenbefragung zu überstehen, ohne in Weinkrämpfe auszubrechen. Die Warnung ihres Vaters, was geschähe, wenn man sie mit dem Angriff auf einen Staatsdiener in Verbindung brachte, ganz zu schweigen von seiner Tötung, verbot jeden Gedanken daran, die Verletzungen und Erniedrigungen, die ihr die beiden Männer zugefügt hatten, zur Anzeige zu bringen. Soweit es die Menschheit außerhalb ihres Haushalts betraf, hatte derlei nie stattgefunden.
Offiziell gab es auch die hunderten von Leichen nicht, die auf dem Grundstück beim abgebrannten Landhaus gefunden worden waren. Die ältesten schätzte man auf dreitausend Jahre, die jüngsten waren gerade einmal seit wenigen Monaten unter der Erde, wie Maria herausfand, als sie vorsichtig ihre Beziehungen spielen ließ, um mehr über den Stand der Ermittlungen herauszubekommen. Veronica fühlte sich im Licht dieser Nachrichten in der Entscheidung bestätigt, ihr Beinahe-Schicksal als weiteres Opfer einer Ritualmord-Dynastie zu verschweigen. Dass sie in Notwehr gehandelt hatte, als sie die Männer tötete, würde sie andernfalls nicht davor bewahren, aus dem Weg geschafft zu werden. Niemand hatte ein Interesse, dass die Öffentlichkeit erfuhr, dass Satanismus kein Nischenphänomen unter Heavy-Metal-Gruppen darstellte, sondern das Glaubensbekenntnis der Wahl von Menschen mit Rang und Namen war. Am wenigsten wollte es besagte Öffentlichkeit selbst wissen.
Insofern gab es keine Dringlichkeit, die Dokumentation von – wie manche es bezeichneten – Unterhaltungsverbrechen voranzutreiben. Es würde noch lange dauern, ehe man offen über das Problem sprechen können würde. Dennoch machte sich eine gewisse Niedergeschlagenheit unter jenen Familienmitgliedern breit, die gehofft hatten, Kites Sammlung von Beweisstücken für McCartneys Tod anzapfen zu können. Die Objekte würden auf unabsehbare Zeit hinter dicken Tresortüren verschwinden.
Mit einem lachenden und einem weinenden Auge nahmen die Zieglers, Rocky, Maria und Henry das Geständnis des Notars auf, dass das Autopsiefoto sich nun doch in seinem Besitz befinde. Sie gingen also – darin bestand die gute Nachricht – nicht mit völlig leeren Händen aus dem fatal verlaufenen Unternehmen heraus, das Familientreffen für ihre Zwecke zu nutzen. Der Preis, den sie dafür bezahlten, war der weitgehende Verlust des Vertrauens in Miller, der zugab, ihre Beute im Auftrag Kites abgefangen zu haben. Obwohl der Notar nie einen Hehl aus seiner juristischen Unterstützung für den Billy-Shears-Nachkommen gemacht hatte, sorgte die Preisgabe dieses Details für große Enttäuschung. Alle waren sich einig, dass die veränderte Lage neue Konzepte erforderte, wie das Projekt vorangetrieben werden sollte.
Eine Kette mit Bügelschloss hinderte sie am Öffnen des Gatters. Zach stellte den Motor ab, ließ jedoch das Licht brennen, um die Strecke bis zum Haus zu beleuchten. In der Eile ihres Aufbruchs hatten sie vergessen, eine Taschenlampe einzupacken. Der Detektiv und die Italienerin kletterten über das niedrige Tor. Die Zufahrt lag verlassen vor ihnen. Langsam gingen sie auf das Gebäude zu, dessen einziges Stockwerk zum Teil hinter hohem Gras verborgen lag. Die Fenster waren durch schwere Holzläden verbarrikadiert. Nicht der geringste Lichtstrahl war zu sehen. Zach und Maria lauschten in die tiefe, mondlose Nacht, doch außer dem Donnern des Ozeans, der dicht hinter dem ehemaligen Bauernhof an die Klippen brandete, hörten sie keine Geräusche. Nichts deutete auf die Anwesenheit von Menschen hin. Während Zach an die Holzbohlentür klopfte, ging Maria der Fassade entlang und rief laut Kirks und Veronicas Namen. Einige Minuten später stellten sie die Versuche ein. Sie umrundeten das Haus. Maria nahm Zach bei der Hand und führte ihn zielstrebig zu einer steinernen Sitzbank, die aufs Meer hinausblickte. Dort setzten sie sich erschöpft, legten die Arme um einander und schwiegen, Kopf an Kopf.
Veronica humpelte vom Haus weg auf die beiden abgestellten Autos zu. Hinter ihrem Sportwagen stand leicht versetzt der weiße Käfer mit der Nummer LMW 28IF. Sie schaute durch das Seitenfenster. Der Schlüssel steckte. Sollte sie ihn abziehen? Nein, besser keine Spuren ihrer Anwesenheit hinterlassen. Sie hinkte zu ihrem GT. Seine Tür war noch immer unverschlossen; auch hier steckte der Schlüssel neben dem Lenkrad im Zündschloss. Sie ließ sich auf den Fahrersitz fallen, warf das aus Bettlaken improvisierte Seil, mit dem sie durch eines der unvergitterten Fenster im ersten Stock geflüchtet war, in den Fußraum neben sich und startete den Wagen. Vorsichtig steuerte sie rückwärts, dicht an dem weißen Käfer vorbei. Sie achtete peinlichst genau darauf, nur auf dem geschotterten Pfad zu fahren, um keine Reifenabdrücke zu erzeugen. Im Haus würde das Feuer ihre Kleidung und die von ihr hinterlassene DNS vernichten. Wahrscheinlich würde es auch verhindern, dass man herausfand, dass die beiden Männer durch Fremdeinwirkung gestorben waren. Sie hatte keine Gewissensbisse deswegen. Sie hatte in Notwehr gehandelt und sie hoffte außerdem, dass den beiden Folterknechte im Jenseits ihr gerechtes Karma zuteil wurde. Aber sie wollte auf gar keinen Fall mit den Organisationen zu tun bekommen, die die Verbrechen dieser Männer deckten: die Polizei ihrer Majestät und die Illuminaten. Mit unter zwanzig Meilen pro Stunde lenkte sie den Wagen über kaum befestigte Landwege zurück in die Zivilisation.
Sie mochten etwa zwanzig Minuten so auf der Bank gesessen haben. Ein leichter Wind, der nun einsetzte, trug Gischt vom Meer heran, die sie langsam einnässte. Maria berührte Zachs Wange. Mattes Sternenlicht schimmerte in ihren Augen, während die Zeit zu gerinnen schien. Ihre Gesichter näherten sich, vorsichtig, zögernd. Nasenspitzen passierten einander, strichen sacht über die warme Haut ihres Gegenübers, bis seine Lippen sich auf ihre legten.
Erst als sie die M6 Richtung Liverpool erreicht hatte, gestattet sie es sich, aufzuatmen. Nur noch etwa anderthalb Stunden, dann war sie zuhause. Doch so langsam drohte die Müdigkeit sie zu übermannen. Sie nahm die Abfahrt zum nächsten Parkplatz und stellte den GT an einer Stelle ab, an der dichtes Gebüsch die Lichter des vorbeihuschenden Verkehrs vollständig blockierte. Sie verriegelte die Türen von innen, kippte die Sitzlehne nach hinten und fiel sofort in tiefen Schlaf.
„Lass uns umkehren.“ Niemand hatte die Worte ausgesprochen, und doch waren sie sich einig gewesen, dass es an der Zeit war, nach Hause zurückzufahren. Vor der verschlossenen Haustür des alten Gemäuers konnten sie nichts mehr für Kirk tun. Sie hielt sich an einem anderen Ort auf. Wahrscheinlich war sie nie hier gewesen, und dasselbe galt für Veronica. Maria sah keinerlei Anzeichen, dass in den Monaten seit der Sonnenwendfeier jemand das Grundstück betreten hätte.
Der Mini wartete geduldig jenseits des Gatters auf ihre Rückkehr. Seine Frontscheinwerfer brannten noch genau so hell wie vor einer halben Stunde, als sie ihn verlassen hatten. Es war leichtsinnig gewesen, seine Batterie an diesem entlegenen Ort zu beanspruchen, aber er nahm es ihnen nicht übel, sondern sprang sofort an, als Maria den Zündschlüssel drehte. Sie musste über einhundert Yards zurücksetzen, bevor sie eine Stelle erreichte, an der sie den Wagen wenden konnte. Von da an legten sich ihnen – abgesehen vom erbarmungswürdigen Zustand des Feldwegs – keine weiteren Hindernisse in den Weg. Zügig erreichten sie den Motorway gen Süden. Auf halber Strecke bat Zach um eine kurze Rast. Maria steuerte die nächste Ausfahrt an, einen unbeleuchteten Parkplatz. Während der Detektiv kurz zwischen die Büsche trat, um sich zu erleichtern, streckte Marie ausgiebig die vom Fahren verkrampften Glieder. Als Zach zurückkehrte, fragte er: „Sollen wir eine halbe Stunde rasten oder schaffst du den restlichen Weg?“
„Ich halte durch. Lass uns weiterfahren.“
Also stiegen sie wieder ein. Maria startete den Wagen, drückte sacht das Gaspedal und lenkte den Wagen zur M6 zurück. „Halt!“, rief Zach plötzlich. Hektisch stieg sie in die Eisen. Der Mini kam mit quietschenden Reifen zum Stehen. Zach riss die Beifahrertür auf. Schnell legte er die wenigen Schritte bis zu einem orange lackierten Sportwagen zurück, der am Straßenrand abgestellt war, brachte den Kopf ganz nah an dessen Seitenscheibe und schaute hinein. Eine blonde junge Frau starrte halb verschlafen, halb erschreckt zurück – Veronica.
Veronica war es gelungen, Kites Leiche mit ihren Füßen zu packen und näher heranzuziehen, ein halbes Dutzend Zoll bei jedem Durchgang. Die Nacht war kühl, doch die Arbeit trieb ihr Schweiß auf die Haut. Eine Viertelstunde später hatte sie es endlich geschafft. Der Kadaver lag direkt unter ihr. Sie klemmte den Griff des Dolchs zwischen ihre Füße, zog ihn aus den Dielen – das war schwieriger, als sie gedacht hatte – und führte die Beine nach oben. Den ersten Versuch brach sie ab, bevor sie Kopfhöhe erreichte, denn sie hielt die Klinge in einem ungünstigen Winkel. Beim zweiten Versuch gelang es ihr, den Lederstreifen, der ihre Hände mit dem Seil des Flaschenzugs verband, ein Stückchen einzuschneiden, bevor ihr die Kraft ausging. Schließlich, im dritten Anlauf, gab das Leder nach, riss die letzten Millimeter von allein entzwei und entließ Veronica in den freien Fall. Einen Sekundenbruchteil später grub sich ihr Hintern in Kites Bauch und Brust. Seine Rippen zersplitterten mit dem Knirschen einer zerquetschten Tüte Kartoffelchips. Ihr Gewicht presste die Luft aus seinen Lungen. Sie entwich durch den verengten Kanal seines Adamsapfels. Kites Stimmbänder vibrierten ein allerletztes Mal, wobei sie ein hässliches Gurgeln abgaben. Veronica, von ihrer unsanften Landung einem erneuten Schmerzgewitter ausgesetzt, glaubte einen Schrei zu vernehmen. Hatte Kite noch gelebt oder hatte sie den Laut selbst ausgestoßen? Schwer zu sagen.
Langsam rollte sie sich auf die Seite, herunter von dem Hünen. Sie wollte nur die Augen schließen, ruhen… schlafen… Nein! Sie durfte jetzt nicht das Bewusstsein verlieren, musste den Raum verlassen, das Haus, die Gegend. Mühsam rappelte sie sich auf. Von unten war das Stöhnen eines Mannes zu vernehmen. Jemand befand sich im Zimmer direkt unter ihrem. Desmond? Oder gab es einen weiteren Gefangenen? Hatten sie ihren Vater geschnappt? Bei dem Gedanken griff eine eisige Faust nach ihrem Herz. Wenn ihr Vater hier war, durfte sie nicht einfach davonschleichen. Sie musste zweifelsfrei feststellen ob auch er sich in diesem Landhaus befand oder nicht. Und das hieß, sie musste Desmond ausschalten.
Da ihre Muskeln nun entspannten, begann sie die Kühle auf der nackten Haut zu spüren. Sobald sie draußen war, würde sie frieren. Und natürlich lag es ihr fern, bei der Rückkehr nach Liverpool im Adamskostüm – müsste es nicht Evakostüm heißen?, dachte sie – aus dem Wagen zu steigen. Ihr Kleid konnte sie vergessen; es war völlig hinüber. Kites Klamotten mussten mehrere Nummern zu groß ausfallen; sie würden sie beim Kampf mit Desmond behindern. Ihr Blick fiel auf das Bett. Ohne lang zu überlegen zog sie das Laken ab und fabrizierte ein Wickelgewand daraus, das genug Beinfreiheit zum Treten und Rennen ließ. Sie ging zur Tür.
Verdammt! Sie hatte völlig vergessen, dass es im ganzen Haus keine Klinken gab. Wie war Kite hereingekommen? Ein Schlüsselbund klapperte in ihrem Gedächtnis; Desmond, der die Tür hinter Kite wieder zuzog. Ein Augenblick der Panik überrollte Veronica. Falls sie auf den Kommissar angewiesen war, um aus diesem Raum hinaus zu gelangen, standen ihre Chancen ungefähr fünfzig-fünfzig. Hektisch durchsuchte sie die Wäsche des Hünen, die auf den Boden gefallen war, als sie das Laken abzog.
Da – in einer seiner Hemdtaschen, ein einzelner Schlüssel mit einem Plastiketikett. Sie fischte ihn heraus. Auf dem Etikett stand: ‚Landhaus General‘. Die Detektivin schickte ein Dankgebet gen Himmel. Dann schnappte sie den Dolch, schloss leise die Tür auf und trat auf den im Dunkeln liegenden Gang hinaus. Das Streulicht aus dem hinter ihr liegenden Raum ließ wenig erkennen. Sie tastete neben der Tür nach einem Lichtschalter, fand jedoch keinen. Also ging sie zurück. Die Kerzen, die der Psychopath für sein perverses Ritual verwendet hatte, waren bis auf eine, die zu einem Stummel heruntergebrannt war, bei ihrem Kampf erloschen. Sie öffnete das Schränkchen unter dem Fenster, in der Hoffnung, eine Taschenlampe zu finden. In der hintersten Ecke stand eine Kerosinlampe. Sie prüfte den Tank; er war fast maximal gefüllt. Der Docht nahm die Kerzenflamme dankbar entgegen und brannte sofort hell. So ausgestattet begab sie sich umgehend nach draußen.
Der Korridor endete wenige Schritte rechts von ihr an einem Fenster, das sich zum Gelände hinter dem Haus öffnete. In der anderen Richtung erstreckte sich der Gang gute fünfzehn Meter. Einem Impuls folgend entschied sie, zuerst die Tür zu öffnen, um zu sehen, ob sich jemand darin aufhielt. Weder wollte sie etwaige weitere Gefangene zurücklassen, noch war sie darauf erpicht, einen etwaigen Feind im Rücken zu behalten. Sie schloss auf und leuchtete hinein. Der Raum war ähnlich eingerichtet wie ihr ehemaliges Gefängnis aber ansonsten leer. Erleichtert kehrte sie zum Gang zurück, folgte ihm einige Meter nach rechts und sah wie erwartet auf halber Länge ein Treppenhaus das rechter Hand nach unten führte. Veronica lauschte. Unten bewegte sich nichts. Also schlich sie weiter, um die Zimmer hinter den beiden verbliebenen Türen zu untersuchen. Auch sie waren Kopien des ersten, in dem nun Kites Leiche auf den Dielen lag; auch sie waren leer.
Wieder im Gang wagte sie einen Blick aus dem nach vorn zeigenden Fenster. Da es keinerlei Lichtquelle als die Sterne und das Streulicht umliegender Ortschaften gab, konnte sie die Zufahrt nur schemenhaft erkennen. Ihr GT parkte noch genau so, wie sie ihn abgestellt hatte. Schräg dahinter stand ein eiförmiges Etwas, das Kites Fahrzeug sein musste. Sie kehrte um und ging zum Treppenhaus. Wieder lauschte sie, dann stieg sie langsam, Schritt für Schritt, die steilen hölzernen Stufen hinunter. Sie zählte zwölf Stufen, bevor sie die letzte, die dreizehnte betrat. Bis hierhin war es ihr gelungen, völlig geräuschlos ins Erdgeschoss hinabzugehen, doch gerade, als sie auf den Steinfußboden der Eingangshalle treten wollte, knarzte das Holz. Das Geräusch explodierte in die Stille des Hauses wie der Eröffnungsakkord von ‚A Hard Day‘s Night‘ in die Einlaufrille einer LP.
Veronica gefror an Ort und Stelle. Jeden Moment musste sich eine der vier Türen öffnen – sie rechnete mit jener auf der anderen Seite in der linken Ganghälfte; der Tür, die zu dem Raum unterhalb ihres Gefängnisses führte – und dann würde Desmond mit gezücktem Revolver herausstürmen, um sie völlig unzeremoniell niederzustrecken. Sie hielt den Atem an, um jedes noch so kleine Geräusch hören zu können, doch es rührte sich auch weiterhin nichts. Auf Zehenspitzen schlich sie zu besagter Tür, legte ein Ohr an das Blatt, lauschte. Stille. Langsam führte sie den Schlüssel ein. Sein leises metallisches Klickern wuchs in ihrer Vorstellung zu einem unüberhörbaren Rattern an. Sie konnte nur hoffen, dass Desmond zu beschäftigt war, um darauf zu achten. Sie befahl der inneren Stimme, für einen Moment den Mund zu halten. Aber was, wenn auf der anderen Seite sein Schlüssel steckte?, greinte der Quälgeist. Dann locken wir ihn heraus, direkt in die Klinge des Dolches, entgegnete sie; und jetzt halt endlich die Klappe! Die Stimme grummelte, sah jedoch davon ab, auf ein weiteres Dutzend Eventualitäten hinzuweisen, die ihre Pläne durchkreuzen konnten.
Ihr Ritt zum Ferienhaus der Sammler – man konnte die ‚Fahrt‘ über den mit Schotter bestreuten und mit Schlaglöchern reichlich gesegneten Feldweg kaum anders bezeichnen – kostete sie nochmals eine wertvolle halbe Stunde. Die Landschaft um sie herum lag in solch tiefer Finsternis, dass man den Eindruck haben konnte, eine der entlegensten Weltgegenden zu durchqueren, wenn auch die Sterne über ihnen nicht ganz so klar funkelten, wie es in einem solchen Fall zu erwarten gewesen wäre. Dank der Wegbeschreibung des Taxifahrers wussten sie, dass sie das Ziel ihrer Reise beinahe erreicht haben mussten. Bestimmt waren es nur noch wenige hundert Yards bis… Da! Quer über den Feldweg, der rechts und links von Weidezäunen begrenzt wurde, ragte ein verschlossenes Gatter. Hinter diesem, gerade noch im Licht der Mini-Scheinwerfer schattenhaft zu erkennen, lag ein niedriges Gebäude. „Das ist es!“, rief Maria.
Der Schlüssel ließ sich ganz leicht im Schloss drehen. Ein letzter Widerstand gegen eine Federung, als der Riegelbolzen geräuschlos aus seiner Nut glitt, dann konnte Veronica die Tür aufdrücken. Millimeterweise öffnete sie das Blatt, auf jede Regung achtend, die von drinnen vielleicht vernehmbar gewesen wäre. Als sich ein Spalt bildete, sah sie, dass es dahinter fast völlig dunkel war. Nur das Flackern einer Kerzenflamme warf bewegte Schatten an die Wand. Es herrschte Stille. Mutig schob sie die Tür Stück für Stück weiter auf. Zeitungsstapel, Pappkartons, Brennholz, ein Stuhl, die Kante eines niedrigen Tisches, die Lehne eines Sofas kamen zum Vorschein. Es roch nach Alkohol, Zigarettenrauch und Geschlechtsverkehr. Auf der Lehne ruhten ein paar Stiefel; Beine ragten aus ihnen hervor, die eindeutig Desmond gehörten. Vorsichtig bewegte sie den Kopf zur Seite, um mehr von der Szenerie zu erfassen. Der Kommissar lag mit halb heruntergelassenen Hosen auf dem Sofa und schlief.
Veronica packte den Dolch fester, dann betrat sie den Raum. Vorsichtig arbeitete sie sich auf ihr Ziel zu, sorgfältig darauf achtend, nirgends anzustoßen. Auf halbem Wege stellte sie die Kerosinlampe ab. Vielleicht brauchte sie die freie Hand. Sie näherte sich dem Kopfende des Sofas. Wickens atmete gleichmäßig. Sie wusste, was sie zu tun hatte, wusste, dass kein Weg daran vorbeiführte, und hatte dennoch Hemmungen… zögerte, ihm die Gurgel durchzuschneiden. Zitternd führte sie den Dolch an seine Kehle. Millimeter trennten die rasiermesserscharfe Kante des Metalls von der Haut. Sie hielt inne. Eine leichte Berührung nur, doch der Polizist schrak sofort aus dem Schlaf, fuhr hoch und direkt in die Klinge. Ein Schrei entwich ihm; mit panischen Bewegungen rappelte er sich auf. Der Schnitt war nicht tief, aber er begann umgehend zu bluten. Veronica zuckte erschreckt zurück, stolperte über einen Stuhl und landete rücklings auf dem Boden. Der Dolch entglitt ihrer Hand und kreiselte in eine Ecke des Raums. Wickens, der ihr nachsetzen wollte, wurde von seiner auf Halbmast stehenden Hose zu Fall gebracht. Er landete auf Veronicas Beinen. Seine Hände griffen nach ihrem Hals, doch als es ihr gelang, einen rechten Schwinger gegen sein Ohr zu landen, rollte er von ihr herunter. Hastig krabbelte Veronica rückwärts von ihm fort.
Dann bemerkte sie ihren Fehler. Sie hatte dem Mann den Weg zu ihrer Waffe freigegeben. Der zögerte keinen Moment. Er zog die Hose hoch, hechtete nach dem Dolch, fuhr dann sofort herum und stürzte in ungeahnter Geschwindigkeit auf sie zu. Der einzige Gegenstand, den sie zu fassen bekam, war die Kerosinlampe. Mit ausgestrecktem Arm schnappte sie den Tragebügel, führte die Lampe im Halbkreis um ihren Kopf und drosch sie, so kraftvoll sie konnte, gegen Desmonds Schläfe. Glassplitter und Kerosin spritzten durch die Luft; brennbare Flüssigkeit ergoss sich über den Getroffenen, dessen Kopf und Schultern sofort in Flammen aufgingen. Wickens röhrte vor Schmerzen. Er taumelte knapp an der jungen Frau vorbei durch den Raum, die Hände gegen sein Gesicht schlagend. Dann stolperte er, fiel mit dem Kopf voraus gegen eine Wand und brach bewusstlos in der Ecke zusammen, wo die Zeitschriften und das Holz gelagert waren.
Veronica überlegte kurz, ob sie den Brand löschen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Sie war in den Raum gekommen, um Wickens zu töten und sie hatte ihr Ziel fast erreicht. Wodurch er starb, war ihr gleichgültig. Entweder sie machte ihrem Entführer, dem Mörder ihres Onkels, hier und jetzt den Garaus oder er würde sie, ihren Vater und womöglich noch andere Menschen ins Jenseits befördern. Als Polizist standen ihm hierfür zahlreiche Wege offen und er konnte seine Spuren mühelos verwischen.
Nein, dass er jetzt starb, war nur gerecht, und es war besser für alle. Sie wollte Sorge tragen, dass dieser Raum und der darüber liegende mit der Leiche Kites vollständig ausbrannten. Geschwind häufte sie Kartonagen und Papier um den Mann auf und schob das Sofa und die beiden Stühle dicht daneben. Innerhalb einer Minute brannte alles lichterloh. Sie öffnete ein Fenster. Dann zog sie sich eilig zurück, denn es wurde unangenehm heiß hier drin. Schnell durchsuchte sie die drei anderen Räume des Erdgeschosses, eine Küche, ein Bad und einen Lagerraum. Es war überall dunkel, aber es befand sich außer ihr eindeutig niemand mehr im Haus. Auch im Keller sah sie nach. Sie fand einen Lichtschalter. Regale voller Spirituosen und haltbarer Lebensmittel, aber keine lebende Seele. Sie hastete die Treppen hinauf, zurück in die Eingangshalle. Der Raum auf der rechten Seite hatte sich bereits in eine Flammenhölle verwandelt. Das Feuer schlug fauchend durch die Tür, die sie offen gelassen hatte, in den Korridor. Hitze, Qualm und Gestank nach verbranntem Fleisch zogen ihr entgegen.
Veronica rannte nach links, zum Vordereingang. Die Haustür besaß keine Klinke, genau wie alle anderen Durchlässe im Gebäude. Sie brauchte einen Schlüssel! Wo…? Hatte sie ihn etwa…? Sie schaute in Richtung der Feuersbrunst, die keine Rückkehr zulassen würde. Der Schlüssel steckte in der Tür gegenüber, wo sie ihn zurückgelassen hatte, bevor sie in den Keller hinabgestiegen war. Den Versuch, ihn abzuziehen, musste sie abbrechen. Qualm und Hitze ließen es nicht zu, dass sie sich der Tür näherte, doch ohne den Schlüssel gab es keinen Weg hinaus. Die Fenster im Erdgeschoss waren vergittert. Sie saß in der Falle.
Es war der heikelste Teil ihres Plans, denn ihre Befreiung und damit ihr Leben hing davon ab, dass sie den Dolch in ihren Besitz bekam. Daher verfolgte ein Teil ihres Bewusstseins mit Interesse jede seiner Positionsveränderungen.
Die Klinge rotierte langsam, während sie einen hohen Bogen durch die Luft beschrieb. Es fehlte nicht viel, dann hätte sie Veronica getroffen. Als Kite die Hände aus seinem malträtierten Schritt zum Hals gerissen hatte, nahmen sie die Waffe mit und gaben sie auf halbem Wege frei. Nachdem sie den höchsten Punkt auf Höhe von Veronicas Ellbogen erreicht hatte, folgte ihre Flugbahn wieder der Schwerkraft. Knapp hinter Veronica bohrte die gefährliche Spitze sich in die Holzdielen des Bodens. Während die junge Frau ihre Pendelbewegung zum zweiten Mal innerhalb einer Minute aufzuhalten versuchte, achtete sie darauf, ihr nicht zu nahe zu kommen. Zum einen wollte sie natürlich keine Verletzung riskieren; zum anderen hoffte sie, ihre Fußfessel mit der Schneide öffnen zu können.
Zuerst musste sie jedoch neben den Pendelschwingungen auch ihre Muskeln und ihren Geist wieder unter Kontrolle bringen. Ihr Atem ging in schweren, rauhen Stößen, einem halben Grunzen, das womöglich auch in anderen Teilen des Hauses zu hören war. Es ließ sich leider nicht vermeiden. Als ihr Körper wieder still stand, konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit auf die Lunge, holte in regelmäßigen tiefen Zügen Luft durch die Nase und entließ sie in rhythmischen Stößen durch die Lippen. Sie zählte im Stillen mit. Nach etwa dreißig Durchgängen hatte sie sich so weit wieder in der Gewalt, dass sie es wagen konnte, die akrobatischen Anstrengungen zu unternehmen, mit denen sie ihre Fesseln durchtrennen wollte. Sie trippelte zum Dolch, der glücklicherweise fast direkt unter ihrer Aufhängung stecken geblieben war, stützte sich auf den rechten Fuß und begann mit dem linken eine winzige Auf- und Abbewegung. Der Lederstreifen glitt über die Klinge, leistete jedoch einigen Widerstand. Eine ganze Weile war nur das rhythmische Tappen ihrer Fußsohle auf den Dielen zu hören. Veronica musste das Gewicht mehrmals auf das jeweils andere Bein verlagern, bis die Fessel endlich entzwei ging.
Wieder verschnaufte sie einige Minuten. Ihr Rücken schmerzte, die mit frischem Blut versorgten Füße begannen zu kribbeln und ihre Arme und Hände waren ihrer unnatürlichen Haltung wegen beinahe taub. Noch immer lagen zwei schwere Arbeiten vor ihr. Sie musste, den Dolch zwischen die Füße geklemmt, ihre Handfesseln aufschneiden. Es würde unausweichlich dazu führen, dass sie in fötaler Haltung, Steiß voraus, zu Boden fiele. Wahrscheinlich würde es ihr das Becken brechen. Sie brauchte etwas Weiches. Das Bett stand leider außerhalb ihrer Reichweite, stellte sie fest. Keine Chance, die Matratze zu erreichen, um sie mit den Füßen auf den Boden zu ziehen. Kurz erwägte sie, die zerfetzten Überreste des schwarzen Kleides, das Kite ihr im Stürzen vom Leib gerissen hatte, zu verwenden, doch der Stoff war zu dünn, um den Aufprall nennenswert mildern zu können. Sie hätte etwas Ordentliches anziehen sollen, meldete sich eine innere Stimme. Resolut würgte sie sie ab. Es nützte nichts, Fehlentscheidungen zu betrauern; sie ließen sich nicht mehr ändern, und vermutlich böte selbst eine gut gefütterte Daunenjacke zu wenig Puffer.
Da fiel ihr Blick auf den Hünen.
Sie waren natürlich nicht die einzigen Reisenden, die der M6 den Rücken kehrten, um ihr Glück auf Landstraßen zu versuchen. Auch dort bewegte der Verkehr sich nur zähflüssig, aber immerhin bewegte er sich. Trotzdem waren Maria und Zach froh, jenseits der Unfallstelle wieder die wesentlich schnelleren Motorways benutzen zu können. Fast hätten sie der hypnotischen Wirkung des unter ihnen hinwegsausenden Asphaltbandes wegen die Ausfahrt verpasst. Der Mini besaß zum Glück gute Bremsen, und im letzten Moment nahmen sie die Kurve mit quietschenden Reifen. Die schleichende Müdigkeit verflog in Sekunden. Sie würden es brauchen. Der letzte Streckenabschnitt kostete die größte Anstrengung, denn in dieser ländlichen Gegend konnte man sich leicht verfahren. Maria hatte den Weg zum Ferienhaus der Familie noch nie bei Nacht zurückgelegt und hoffte, dass sie trotz der widrigen Umstände die Orientierung behielt.
Donald Wickens lag bequem auf einige Kissen gebettet auf der altmodischen Couch im Zimmer direkt unter Veronicas Gefängnis. Er schaute zur Decke und lauschte den Geräuschen, die durch die Bohlen zu ihm herunter drangen. Holz war ein guter Schallträger. Er hatte ein Bier in der Linken und eine Kippe zwischen den Lippen. Zwar bedauerte er, dieser naseweisen Göre nicht selbst bescheidstoßen zu können, dafür genoss er das akustische Lustspiel, das der Boss mit ihr veranstaltete. Er hörte Kites Schritte, als dieser sein Opfer umrundete, hörte das Reißen des Stoffs, von der Klinge zerschnitten, hörte die Kommentare des Schlossherrn über Veronicas Körper und malte sich die Szene aus, die sich ihm bieten musste. Seine Rechte öffnete Knopf und Reißverschluss seiner Hose, die schnell eng zu werden drohte.
Wieder Schritte über ihm, kurz Stille, dann schrie Veronica heiser, Kite grunzte. Es folgte fast sofort ein schweres Poltern auf den Deckendielen. „Ja, gib‘s ihr feste!“, feuerte Wickens knurrend seinen Boss an. Als hätte Kite ihn gehört, war sogleich ein dumpfer Schlag und ein weiterer lauter Schrei des Mädchens zu hören, während ihr Peiniger undefinierbare tierische Laute von sich gab. Sie japste ein paar Mal stöhnend. Wickens, höchst erregt, lauschte begierig nach weiteren Reizen, doch dann kehrte wieder Stille ein. Er schaute auf die Wanduhr; Punkt Mitternacht. Schnitt Kite ihr gerade die Kehle durch? Enttäuscht seufzte er und wollte sich eben aufsetzen. Es konnte sein, dass der Boss ihn gleich zu sich rief, um die blutige Sauerei aufzuräumen. Doch da erklang von oben ein leises rhythmisches Stampfen. Die Reprise. Ein seliges Grinsen legte sich auf sein Gesicht, während seine Rechte den Rhythmus wie von selbst übernahm.
Nach wenigen Minuten erneut ein Augenblick der Stille. Was geschah nun? Etwas Schweres wurde über den Boden geschleift und mit einem satten Rummsen losgelassen. Schleifen, Rummsen, Schleifen, Rummsen. Im Takt dazu hörte er Veronica grunzen, den Lautäußerungen bei einem Tennismatch der Damen nicht unähnlich. Plötzlich ein schweres Poltern; etwas knirschte und splitterte. Das Mädchen stieß einen lauten, heiseren Schrei aus, Kites Lungen entwich ein hässliches Gurgeln. Wickens verlor die Kontrolle über seinen Körper und glitt in einen tranceähnlichen Wachtraum. Als sein Verstand das Steuer wieder übernahm, herrschte völlige Stille über ihm. Das Bier und das warme Licht der Kerze trugen ihn übergangslos in den tiefen Schlaf danach.
Sie hatten die Orientierung verloren. Es war müßig gewesen, unter den gegebenen Umständen etwas anderes zu erhoffen. Lag der Feldweg, der über eine halbe Stunde bis zum Haus führte, noch vor ihnen oder hatten sie ihn bereits verpasst? Alles sah in der Dunkelheit ganz anders aus, als in ihrer Erinnerung, doch Maria war sich fast sicher, dass sie die Abzweigung übersehen hatten. „Fahr bis zur nächsten Ortschaft“, wies sie Zach an. „Vielleicht können wir jemand nach dem Weg fragen.“
„Um ein Uhr in der Nacht?“, erwiderte der Detektiv zweifelnd. Man merkte ihm die Müdigkeit nach der langen Wegstrecke an. Dennoch weigerte er sich, ihr das Steuer zu überlassen. „Du darfst mich auf dem Rückweg ablösen“, hatte er gesagt. Er folgte jedoch ihrem Rat. Die Ortschaft, die sie gerade erreichten, bestand nur aus einigen wenigen Häusern. Es gab weder Seitenstraßen noch Laternen. Alle Gebäude lagen im Dunkeln, nichts regte sich. Nur in einem Fenster des letzten Hauses, am anderen Ende des Weilers, flackerte einsam das Licht eines Fernsehers. Zach hielt an, stieg aus und ging zur Tür des Gebäudes. Kein Klingelknopf. Er schaute sich suchend um. Da, ein Glockenseil. Er zog daran. Lautes metallisches Geläut, das bestimmt im halben Dorf gehört werden konnte, drang von hinter der Tür nach draußen. Ein Gesicht erschien am Fenster des Raums, in dem der Fernseher stand. Es sah verschlafen aus. Zach winkte. Das Gesicht verschwand wieder, dann öffnete sich eine Tür im Gebäudeinneren; schlurfende Schritte auf einem Dielenboden – unendlich langsam, wie es Zach schien.
„Wer ist da?“, fragte eine schläfrig klingende Stimme.
„Mein Name ist Ziegler. Ich… wir sind auf der Suche nach einem Ferienhaus und haben uns verfahren.“
Das Geräusch eines Riegels, der zurückgeschoben wurde. Die Tür ging halb auf. Ein Mann, vielleicht Mitte dreißig, gekleidet in eine von Trägern gehaltene Anzughose und Feinrippunterhemd, sah ihn müden Blickes an.
„Ich hoffe, wir haben Sie nicht geweckt“, erkundigte sich Zach.
„Kein Problem. Ich habe Fahrbereitschaft und bin vor dem Fernseher eingenickt. Danke für‘s Wecken.“ Ein Lächeln flog über das Gesicht des Mannes. „Wo soll‘s denn hingehen?“
Nun bemerkte der Detektiv das in die Jahre gekommene schwarze Taxi, das in einer offenen Garage neben dem Haus stand. „Ihres?“, fragte er, mit einer Kopfbewegung in Richtung des Wagens. Der Mann nickte. Zach sagte: „Hier in der Nähe gibt es einen abseits gelegenen alten Hof, der von unseren Freunden in Liverpool als Ferienwohnung benutzt wird. Kennen Sie den?“
„Den von den Beatles-Freaks?“, fragte der Taxifahrer zurück, das Gesicht skeptisch verzogen.
„Genau den“, bestätigte Zach, erleichtert, dass ihnen das Glück gleich bei der ersten Erkundigung wohl gesonnen war.
„Mann, Mann, ihr Stadtleute habt echt Nerven!“, kam die etwas unwillige Erwiderung.
Der Detektiv hätte gern gewusst, welche Bewandtnis es mit der Bemerkung hatte, befürchtete jedoch eine Tirade auszulösen, falls er fragte. Also erkundigte er sich erneut nach dem Weg: „Tut uns wirklich leid für die Störung. Können Sie uns sagen, wo wir abbiegen müssen, um hinzugelangen? Ich nehme doch an, die Zufahrt mündet hier in diese Straße; richtig?“
Der Taxifahrer erklärte ihm den Weg.
Maria und Zach loggten in mehrere weitere Online-Dienste ein, um herauszufinden, ob Kirk in den letzten vier Wochen Lebenszeichen beziehungsweise Hinweise hinterlassen hatte, wo sie sich gerade aufhielt. Ihre Konten auf verschiedenen sozialen Medien zeigten den gesamten Mai hindurch keinerlei Aktivitäten. Schließlich sahen der Detektiv und die Italienerin einander resigniert an. Stumm stellten sie dieselbe Frage: Was nun? Schließlich war Zach aufgestanden. „Gehen wir“, sagte er.
„Wohin?“, fragte Maria.
„Nach Norden natürlich. Zu eurer Hütte, oder was das ist. Mangels weiterer Anhaltspunkte halte ich das für besser, als hier herumzusitzen und die Fingernägel zu zerkauen.“
„Wie stellst du dir das vor?“, protestierte Maria. „Da hält kein Bus vor dem Haus. Von der nächstgelegenen Ortschaft fährt man eine halbe Stunde, und von Liverpool bis dort hin braucht man mit dem Auto mindestens drei bis vier Stunden – wenn man eines hätte.“
„Wir haben eins“, sagte Zach. „Komm mit.“
Maria folgte ihm aus dem Studierzimmer hinaus, den Flur entlang und die Treppen hinab. „Ich dachte, Veronica hat den Opel mitgenommen“, rief sie ihm hinterher.
„Hat sie“, antwortete Zach, der einen Schlüssel aus der Hosentasche fischte. Er schloss den Tresor auf, griff in eines der Regale und hielt Maria einen Wagenschlüssel unter die Nase.
„Johns Mini Cooper!“, hauchte sie mit großen Augen. „Das kannst du nicht machen.“
Zach zuckte mit den Schultern. „Wenn es um Veronica geht, nehme ich keine falschen Rücksichten.“ Er schnitt Maria, die den hohen Preis des Autos ins Feld führte, das Wort ab. „Ich bin ein sicherheitsbewusster Fahrer. Dem Mini wird nichts passieren. Bloß schade, dass er nur so wenige Meilen pro Stunde macht.“
„Man sagt, das Haus wurde über einer alten druidischen Kultstätte errichtet“, erzählte Kite im Plauderton. „Man sagt auch, dass sie hier Menschen geopfert haben. Bei Ausgrabungen sind tatsächlich ein Ringwall um das Haus und darunter ein unidentifizierbares quadratisches Fundament gefunden worden.“ Während er all das erläuterte, legte Kite seine Jacke auf dem Stuhl unter dem linken Fenster ab und öffnete die Knöpfe seines Hemdes. Er ging hinter ihr vorbei zu dem Schränkchen – kein Tischchen – unter dem rechten Fenster und entnahm ihm fünf Kerzenständer, eine Streichholzschachtel, eine Art Nierenschale und einen schwarzen Kapuzenumhang. Die Utensilien legte er auf das Bett. Er kam zurück und zog ihr mit einem Ruck die Strohmatte unter den Füßen weg.
„Hey!“ rief Veronica, die mit dem vollen Gewicht in die Lederriemen um ihre Handgelenke fiel. Während sie wieder auf ihre Füße zu gelangen versuchte, bemerkte sie die eingeritzten Symbole, die die Matte bisher verdeckt hatte. Sie stand beziehungsweise hing im Zentrum eines Pentagramms.
Kite fuhr mittlerweile fort, das Hemd abzulegen. „Heute Nacht sollst du meine Braut sein“, sagte er. „Das Ritual erfordert, dass wir uns passend kleiden – ich mich um, du dich aus.“ Er kicherte sein Hyänenkichern. „Keine Sorge, ich helfe dir natürlich.“ Er wandte sich dem Bett zu. Die Hose fiel, die Unterwäsche folgte.
Veronica schauderte. Die geballte Kraft, die der Riese verkörperte, schien ihr beim Anblick seiner Muskeln plötzlich unüberwindlich. Für einen Moment verzagte sie, rief sich aber sofort zur Ordnung. Sie würde ihn besiegen! Sie würde ihn besiegen, weil sie musste.
Er streifte den schwarzen Kapuzenumhang über. Dann begann er, die Kerzen anzuzünden und verteilte sie in gleichen Abständen um das Pentagramm. „Ich bin fertig,“ verkündete er fröhlich. „Nun bist du an der Reihe.“ Vor ihr bei der letzten Kerze kniend schaute er zu ihr auf. Das Flackern der Flammen verwandelte sein Gesicht unter der Haube für einen Moment in die Fratze eines Dämons. „Bleib genau so stehen!“, befahl Kite. „Du siehst perfekt aus.“ Als hätte sie eine Wahl!
Langsam erhob er sich. Wieder ging er zu dem Schränkchen, wo er den Dolch, den er dort abgelegt hatte, ergriff. Er trat hinter sie und kniete nieder. Veronica spürte ein Zupfen am unteren Saum ihres Kleids. Ein Geräusch zerreißenden Textils. Der Druck, den der Stoff auf ihre Oberschenkel ausgeübt hatte, schwand. Kite führte die scharfe Klinge langsam weiter entlang ihrer Körpermitte nach oben und beendete die Bewegung erst, als er ihren Nacken erreicht hatte. Das schwarze Kleid, nur noch an ihren Schultern hängend, verhüllte sie nun lediglich von vorn. Kite zog an den Bändeln ihres Bikini-Oberteils und durchtrennte sie mit schnellen Schnitten. Dasselbe wiederholte er bei ihrem Höschen. Zufrieden betrachtete er sein Werk. Furcht stieg in Veronica auf. Nie in ihrem Leben war sie so schutzlos ausgeliefert gewesen.
„Unsere… Gäste… sind normalerweise sehr viel jünger als du“, sagte er. Seine Stimme klang raubkatzenhaft. „Für dein hohes Alter hast du dich recht gut in Schuss gehalten. Schau dir nur diese schönen Muskeln an!“ Er sagte es fast bewundernd. Seine Finger strichen über ihre Rippen. Dann glitten sie ihrer Wirbelsäule entlang. Die junge Frau nahm alle Kraft zusammen, um nicht aufzuschreien. Ihre Angst überwältigte sie fast, doch sie wusste, was geschähe, wenn sie ihr nachgab. Der Riese sprach es für sie aus: „Im Moment meiner höchsten Lust wirst du sterben.“ Der Zeigefinger seiner Linken fuhr über ihre Halsschlagader.
Bitte, bitte, bleib da nicht stehen!, flehte Veronica still. Alles hing nun davon ab, dass sie ihn sehen konnte. Wenn er einfach so fortfuhr, wäre ihr jede Möglichkeit genommen, ihn zu erledigen.
Er tat ihr den Gefallen. Kite schritt langsam um sie herum, baute sich vor ihr auf und hob den Dolch direkt vor ihre Augen. Im Kerzenschein schimmerten Ornamente auf der kurzen und rasiermesserscharfen Doppelklinge. Sie würdigte diese jedoch keines zweiten Blickes, sondern schaute daran vorbei in die Augen des Psychopathen, die im Schatten der Haube fast nur durch ein Glitzern auszumachen waren. Vorsichtig beugte sie die Knie, bis ihr Körper mit seinem vollen Gewicht am Seil hing. Ihre Gelenke schmerzten schlimm. Dennoch nahm sie eine S-Haltung ein, die Künstler aller Epochen in Gemälden und Skulpturen abgebildet hatten. Sie hoffte es wirkte verführerisch genug, ihn über ihre Anspannung hinwegzutäuschen.
Ihr Plan ging auf. Mit der rechten Hand des Hünen verließ der Dolch den Raum zwischen ihren Gesichtern. Seine Linke streckte er nach dem Halsausschnitt des lose an ihr herabhängenden Kleides aus, während der dazugehörige Fuß des Mannes ihn einen Schritt näher an Veronica herantrug. Blitzschnell spannte sie ihre Muskeln, zog ihre noch immer zusammengebundenen Beine ruckartig in eine Hockstellung und rammte ihm die Knie mit aller Macht in die Hoden. Ein heiserer Schrei entrang sich ihrer Kehle. Fast im selben Moment kollabierte Kite. Er schlug mit der Nase hart gegen ihre Schulter und ging mit einem lauten Grunzen zu Boden, wo er in Embryonalstellung liegen blieb. Reflexhaft hatte er beide Hände zu Fäusten geballt in seinen Schritt gepresst, in der linken die Reste ihres schwarzen Kleides, in der rechten den Dolch. Dass die Klinge tief ins Fleisch seiner Schenkel schnitt, schien er nicht zu bemerken.
Greller Schmerz durchzuckte auch die junge Frau. Ihre Handgelenke bluteten nun, die Schulter explodierte regelrecht in Schmerzen, und auch die Knie beschwerten sich. Es fiel ihr schwer, sich auf die Pendelbewegung zu konzentrieren, in die sie durch den Angriff geraten war. Sie musste einen weiteren Schlag ausführen, und er musste präzise sitzen. Nach einer gefühlten Ewigkeit stand sie endlich still. Der Perversling wendete ihr den Kopf zu, um sie anzuschauen. Wenn sie nicht schnell handelte, würde er den Körper folgen lassen und sich auf den Rücken drehen. Danach befände er sich wahrscheinlich außerhalb ihrer Reichweite. Erneut spannte sie die Muskeln, zog vorsichtig die Knie an und verharrte für den Bruchteil einer Sekunde in dieser Stellung. Sie zielte – und sie genoss den Augenblick. Dann schossen die mit einem Lederband zusammengeknoteten Beine senkrecht nach unten. Wieder schrie sie. Ihre Fersen bohrten sich in seine Kehle, die mit einem undefinierbaren Geräusch nachgab. Kite riss die Augen auf und auch den Mund, doch eine Lautäußerung war ihm nun verwehrt. Die Hände um den Hals gelegt zuckte er noch einige Sekunden. Ein leises Gurgeln sollte das Letzte sein, was der dreißigste Nachfahr von William Braveheart Wallace von sich gab. Veronicas innere Uhr tickte zwanzig weitere Sekunden, bevor sie 0:00 Uhr meldete. Neumond.
Der Vorbesitzer hatte Lennons Mini Cooper nicht nur fahrtauglich sondern gut in Schuss gehalten. Der Kleinwagen brummte mit neunzig Meilen die Stunde über die M6 nach Norden, der schottischen Grenze entgegen. Fast zwei Stunden lang beglückte sie der Asphaltstrang mit freier Fahrt, doch dann verdichtete sich der Verkehr zusehends, wurde immer langsamer und kam schließlich ganz zum Stillstand. Da es kurz vor Mitternacht war, schaltete Zach das altertümliche Radio ein, in der Hoffnung, die Nachrichten enthielten Informationen über das Ausmaß der Behinderung. Während sie im Schritttempo weiterschlichen, verkündete die Sprecherin eine Meldung zum Tod des Aaron S., eines reichen Bürgers und Kulturförderers der Stadt Liverpool. Die Polizei von Liverpool habe bekannt gegeben, dass sie vorbehaltlich letzter forensischer Untersuchungen nun ‚mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit‘ von einem Suizid ausging. Mr S. habe sich am Sonntag Abend mit einer kleinkalibrigen Waffe selbst in den Kopf geschossen und sei auf der Stelle verstorben. Als Motiv würden finanzielle Schwierigkeiten vermutet.
Zach und Maria schauten einander vielsagend an. „In den Hinterkopf, gleich zwei Mal! Schon klar!“, meinte der Detektiv.
„Von finanziellen Schwierigkeiten kann ebenfalls keine Rede sein. Mustard hat die Suche nach Mal Evans‘ Koffer mit hunderttausend Pfund vorfinanziert“, merkte die Italienerin an. „Was geht hier vor?“
„Meinst du, er könnte derjenige gewesen sein, der McCartneys Autopsiefoto mitgehen hat lassen?“
Maria schaute ihn betroffen an. „Ich halte nicht viel von Kite und traue ihm kein bisschen weiter, als ich sehen kann. Er ist ein grober und manchmal brutaler Mensch; aber… Mord? Ich weiß nicht.“
„Mangels Verwicklung in andere kriminelle Machenschaften, von denen wir nichts wissen – wer sonst sollte ein Interesse an Mustards Tod haben und in der Lage sein, die polizeilichen Ermittlungen zu beeinflussen?“
Die Italienerin rieb nervös die Hände aneinander. Sie schaute missmutig in die Rücklichter des zähfließenden Verkehrs vor ihnen. Gerade wollte sie wieder zu reden beginnen, da unterbrach der Detektiv sie mit einer schnellen Geste. Er drehte am Lautstärkeregler des Radios, das inzwischen vermehrt rauschte. Er justierte die Frequenz nach, bis er mit der Qualität der Übertragung zufrieden war, gerade rechtzeitig, dass sie die Verkehrsmeldung für die M6 hören konnten. Ein Unfall hatte beide Fahrbahnen in nördlicher Richtung blockiert. Nur der Standstreifen stand für die Weiterfahrt zur Verfügung. Fahrzeuge stauten sich bereits auf fast zehn Meilen. Verkehrsteilnehmer wurden gebeten, den Streckenabschnitt weiträumig zu umfahren.
Zach fluchte, dann riss er das Steuer herum und schoss am Fahrbahnrand an den stehenden Autos vorbei. Ein Hupkonzert folgte dem Mini. Zweihundert Yards weiter drängelte er sich an einer Ausfahrt in eine Lücke zwischen zwei anderen Verkehrsteilnehmern, die den Motorway verließen.
Desmond war ohne weiteren Kommentar durch die Tür nach draußen entschwunden. Sie hörte ihn die Treppe hinuntergehen. Veronica blieb sich selbst überlassen in dem Raum zurück. Das zur Decke führende Seil hielt ihre Arme nach oben ausgestreckt, so dass sie sich weder setzen noch hinlegen, sondern nur stehen oder hängen konnte. Stehfolter, dachte sie. Doch schlimmer als das Stehen empfand sie das Kribbeln in ihren Armen und Händen, gegen das sie nichts unternehmen konnte. Sie drehte sich um ihre eigene Achse, um den Raum in Augenschein zu nehmen. Der stechende Kopfschmerz hatte etwas nachgelassen und auch ihr Sehvermögen stabilisierte sich so langsam. Leider herrschte nun finstere Nacht. Ohne den Mond und ohne eine künstliche Beleuchtung in der Nähe spendete nur das Band der Milchstraße ein schwaches Licht, das die Gegenstände in ihrem Gefängnis als undeutliche Schemen, schwarz vor dunklerem Schwarz, erkennen ließ.
Es gab ein kleines quadratisches Tischchen oder Schränkchen unter dem rechten Fenster; sie sah nur die Deckplatte. Rechts daneben, in einer Ecke des Raums, zeichnete sich wegen der vermutlich weißen Laken etwas heller ein Bett ab. Unter dem anderen Fenster sah es so aus, als stünde dort ein Stuhl. Links an der einwärts führenden Wand sah sie die Umrisse des eisernen Leuchters, an dem ihr Seil befestigt war. Am anderen Ende der Wand hing ein weiterer, meinte sie zu erkennen. Es folgte die Zimmerecke, auf deren Existenz sie nur schließen konnte, denn die Innenwand lag vollständig im Schatten. Außer der mittig angebrachten Türöffnung, die sie gesehen hatte, als Desmond hindurchgegangen war, kannte sie keine Details ihrer Beschaffenheit.
Noch immer wusste sie nicht, wie spät es war. Als sie aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war, hatte sie gerade noch die letzten Augenblicke der Dämmerung erlebt. Wie lang hatte sie mit Wickens gesprochen? Es mochten fünfzehn oder zwanzig Minuten gewesen sein, plus die Zeit, die sie auf die Inspektion des Raums verwendet hatte. Sie schätzte, es musste nun halb acht Uhr sein. Sie drehte sich der Fensterseite zu. Ihr Blick wanderte hinaus zum Sternenhimmel. Die Stellung der Konstellationen über dem Horizont sagte ihr, dass ihre Schätzung gut getroffen war. Ab jetzt würde ihre innere Uhr mitlaufen, die sie zuletzt im Wallace-Schloss trainiert hatte. Das verschaffte ihr drei Annehmlichkeiten: Sie würde orientiert bleiben, sie wäre beschäftigt und es beruhigte die Nerven. Wenn sie eine Chance haben wollte, hier lebend und un… Sie schauderte, als Marias Beschreibung aus ihrer Erinnerung aufstieg, wie Kite mit Kirk umgesprungen war.
Wenn sie hier lebend herauskommen wollte, griff sie den Gedanken neu auf, musste sie voll konzentriert bleiben. Sie musste jeden noch so kleinen Vorteil mit maximaler Wirkung gegen ihre Entführer einsetzen. Einer dieser Vorteile bestand darin, dass man sie wahrscheinlich unterschätzte. Mit ihren fünf Fuß zehn war sie nicht übermäßig groß; sie war jung und hatte ein sanftes Gesicht, und sie hatte ihre Kenntnis verschiedener Kampfsportarten noch nicht in Liverpool anwenden müssen. Das Überraschungsmoment war auf ihrer Seite, aber natürlich nur ein einziges Mal. Sie würde Erfolg haben oder… Der Gedanke war müßig.
„Ist es möglich, dass der Polizist meinte, Desmond sei nur im Moment abwesend?“, fragte Maria Borghese.
Zach schüttelte energisch den Kopf. „Nein, er hat ausdrücklich gesagt, der Kommissar sei heute nicht im Dienst. Er war jedoch auf der Wache und hat diese laut Angaben des Jungspunds an der Rezeption zusammen mit Veronica verlassen. Wenn er nicht am Fall Senfkorn arbeitet, wo könnte er dann hingegangen sein?“
„Frag mich etwas Leichteres. Das einzige, das mir einfällt, ist unser Ferienhaus an der schottischen Grenze.“
„Du meinst, Kirk befindet sich dort und sie sind hingefahren? Gibt es ein Telefon im Haus?“
„Das Gebäude liegt dermaßen abseits, dass wir mehrere Kilometer Kabel aus eigener Tasche hätten bezahlen müssen. Das war es uns nicht wert, zumal man ja ein Mobiltelefon mitnehmen kann, wenn man erreichbar sein möchte. In der Regel wollten wir aber nur unsere Ruhe.“
Zach richtete sich plötzlich in seinem Sitz auf der Rückbank des Taxis auf, das sie ins Stadtzentrum trug. „Ha! Du bist ein Genie!“ Er drückte Maria einen Kuss auf die Wange.
„Ich weiß,“ sagte sie lächelnd, „ aber womit habe ich deine Lobpreisung verdient?“
„Mir hätte schon längst einfallen können, Kirk mittels Handy-Ortung aufzuspüren.“ Die restlichen Fahrminuten schwieg der Detektiv. Er rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her. Als sie endlich vor dem Laden angekommen waren, warf er eine Einhundert-Pfund-Note auf den Beifahrersitz und sprang ohne weiteres Aufhebens aus dem Wagen.
Maria bedankte sich beim Fahrer. „Behalten Sie den Rest“, sagte sie. Dann folgte sie Zach in den Laden. Als sie die Tür hinter sich schloss, war er schon nirgends mehr zu sehen.
Die Zeit verrann, ihre innere Uhr tickte mit. Veronica begann, sich Pläne für mehrere Szenarien zurechtzulegen. Als sie zufrieden war, dachte sie an ihren Vater. Er vermisste sie bestimmt schon seit der Mittagszeit. Was würde er unternommen haben, als klar war, dass sie sich wahrscheinlich in Schwierigkeiten befand? Bestimmt drehte er jeden Stein auf der Suche nach ihr um, doch ob er in der Lage war, ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort nicht nur in Erfahrung zu bringen, sondern auch rechtzeitig zu erreichen, musste sie bezweifeln. Also: keine Fehler! Sie war auf sich allein gestellt.
Die Detektivin überlegte gerade, ob sie ihren Geist und die Beine erfrischen sollte, indem sie zu schlafen versuchte, oder ob sie Hände und Arme noch etwas schonte, um sie gegebenenfalls gegen Kite einsetzen zu können. Alles hing davon ab, wie lange man sie noch in dieser quälenden Haltung stehen ließ. Ihre innere Uhr zeigte elf. Sie hörte draußen einen Käfermotor näherkommen. Das Geräusch war einfach mit nichts zu verwechseln. Das musste Kite sein. Man hatte ihr die Entscheidung abgenommen: Sie würde wach bleiben.
Das Knattern erstarb. Eine dünne Blechtür wurde zugeschlagen. Kurz darauf hörte sie den satten Ton der ins Schloss fallenden schweren Haustür. Ein kurzer unverständlicher Wortwechsel zwischen zwei Männern. Danach herrschte wieder Stille.
Der Laptop fuhr in nervenzerfetzend geringer Geschwindigkeit hoch. Kurz vor der Passworteingabe blieb er stecken. Zach fluchte und startete den Rechner neu. Maria legte eine Hand auf seinen Arm. „Vielleicht sollten wir Pauls Arbeitsrechner benutzen. Der läuft sehr viel schneller. Außerdem wird er besser gegen Schnüffelversuche abgesichert sein.“
„Ich brauche ein paar Spezialprogramme. Ohne die geht‘s nicht weiter.“ Zach presste die Lippen zusammen.
„Nimm den Laptop mit. Wir können ja parallel arbeiten“, erwiderte sie.
Maria fand tatsächlich einige nützliche Anwendungen auf Pauls Rechner, bevor es Zach gelang, den Laptop ans Laufen zu bringen. Der Detektiv hob eine Augenbraue, wunderte sich über die ungewöhnliche Ausstattung, stellte aber keine Fragen. Zu seiner Enttäuschung half ihnen das Ergebnis ihrer Recherche nicht weiter. Kirks Mobilnummer war seit einem Monat offline. Zuletzt war sie bei ihr zuhause registriert worden.
Eine halbe Stunde nach Eintreffen des Wagens hörte Veronica schwere Schritte auf der Treppe, dann auf den Holzdielen des Gangs. Vor ihrem Zimmer legte der Mann (?) eine Pause ein. Ein Schlüsselbund klackerte und klirrte, Metall schabte über das Holz der Tür. Mit einem Klicken öffnete sie sich. Licht fiel durch den schnell breiter werdenden Spalt. Es blendete sie, da ihre Augen auf die tiefe Dunkelheit des nächtlichen Raums eingestellt waren. Sie schloss die Lider gerade rechtzeitig, bevor grelle Wandlampen neben der Tür aufflammten. Die Gestalt, die sie kurz davor im Rahmen gesehen hatte, gehörte unverkennbar dem Schlossbesitzer mit seiner großen, kräftigen Figur. Sie hielt die Lider noch immer zugekniffen, als er sie ansprach.
„Welch seltenes Vögelchen hat sich da in meiner Falle gefangen? Hmhm!“, höhnte er im Tonfall eines Snobs. Als sie nicht reagierte, sagte er: „Du kannst die Augen wieder öffnen. Ich werde dich nicht fressen – jedenfalls nicht sofort.“ Wieder lachte er, doch diesmal ohne die geringste Spur von adligem Getue. Die Hyäne hatte die Oberhand gewonnen.
Vorsichtig linste Veronica aus zu schmalen Schlitzen verengten Lidern hervor. Das Licht blendete sie noch immer. Ihr Kopfschmerz flammte wieder auf, wenn auch ohne nennenswerten Biss. Gut. Zumindest würde sie sich konzentrieren können, wenn es die Situation erforderte. Hinter Kite, der sich direkt vor ihr aufgebaut hatte, sah sie Wickens im Türrahmen stehen. Ohne sich umzudrehen signalisierte der Hüne, der Polizist möge sie allein lassen. Desmond gehorchte. Die Tür fiel ins Schloss. Wie ihre Schwestern im Untergeschoss besaß auch sie keine Klinken, weder außen noch innen, bemerkte die junge Frau.
„Desmond hat mir berichtet, dass du die Kooperation verweigerst“, sagte Kite.
Veronica bemerkte die Klinge in seiner rechten Hand, einen zweischneidigen sehr kurzen Dolch. Ihr stockte der Atem. Sie hatte mit einer Pistole gerechnet und würde nun ihre Pläne buchstäblich aus dem Stand der neuen Situation anpassen müssen. Sie lachte unsicher.
„Das Lachen wird dir schon noch vergehen. Sieh, es ist nicht weiter schlimm. Im Grunde plagt mich nur die Neugier, wie weit ihr mit eurem albernen Detektivspiel gekommen seid. Ich glaube nicht, dass es euch gelungen ist, Beweise gegen mich zu sammeln. Falls doch – ich habe den guten Desmond Jones, der polizeiliche Ermittlungen stets von mir ablenkt.“ Der Dolch wanderte von der rechten in seine linke Hand, dann wieder zurück.
„Was haben Sie vor?“, fragte Veronica.
„Was ich vorhabe? Das liegt doch auf der Hand! Ich schaffe zuerst dich aus dem Weg, anschließend deinen Vater.“
„Das wird Ihnen überhaupt nichts bringen!“, rief sie. „Die gesamte ‚Familie‘ weiß bescheid. Wollen Sie die alle umbringen?“
„Das könnte ich natürlich. Es sind eh nur noch wenige übrig. PC31 habe ich als ersten erledigen lassen. Kirk hat meinen Dobermännern sehr gut geschmeckt, und gestern ist Mr Mustard zur Strafe für den Diebstahl über die Klinge gesprungen…“
Gegen den Entschluss, ihre Gefühle streng im Zaum zu halten, durchlief ein Schock Veronicas sämtliche Glieder. Ihre Lippen formten ein O. Sie wurde kreidebleich. Ohne das Seil, das sie in aufrechter Stellung hielt, hätte sie womöglich das Gleichgewicht verloren.
„…aber so weit brauche ich gar nicht zu gehen“, fuhr Kite fort. „Keine von diesen Memmen wird es wagen, einen Finger gegen mich zu erheben… Was ist? Wird dir übel? Soll ich den Onkel Doktor holen?“ Er verzog abschätzig den Mund. „Nein, den Anruf kann ich mir sparen. Bis er hier eintrifft, brauchen wir eher einen Bestatter.“ Er kicherte.
Veronica spuckte ihm ins Gesicht. Zum einen befriedigte sie damit ein tiefes Bedürfnis, zum anderen hoffte sie, ihn zu unbedachten Handlungen zu provozieren. Doch der Hüne wischte sich nur mit dem linken Ärmel den Speichel von der Wange. „Natürlich bist du sauer. Was habe ich erwartet?“ Dann setzte er wieder sein fieses Grinsen auf. „Du gefällst mir. Endlich eine, die Widerstand leistet. Ich liebe Herausforderungen.“ Seine Rechte fuhr nach vorn, dicht vor ihren Bauch, und ließ den Dolch in atemberaubender Geschwindigkeit zwischen Daumen und Zeigefinger kreiseln. Die junge Frau blieb unbewegt stehen. Sie starrte ihm feindselig in die Augen.
„Das Schicksal hat bestimmt, dass wir heute eine Neumondnacht haben;“ bemerkte Kite, „wie geschaffen für ein kleines Ritual. Hast du Lust?“
Die Stimme explodierte in Veronicas Gehörgängen wie ein brutal übersteuerter Konzertlautsprecher. Sie zog eine Grimasse. Langsam drehte sie sich auf die Seite und winkelte die Ellbogen an, um sich aufzurichten.
„Lass dir helfen“, sagte die Stimme. Es klang wie ein Brüllen. Hand über Hand zog der Polizist geschwind an dem Seil. Über ihr quietschte Metall. Dann spannte sich der Strick und riss die Arme unter ihr weg. Schmerzhaft klatschte sie mit Brust und Bauch auf den Boden, wurde aber sogleich an den Händen in die Höhe gerissen, wobei sich ihr Rücken bis zur Grenze des Erträglichen durchbog. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten entfuhr ihr ein Schrei. Der Strick schleifte sie ein Stück nach vorn, während er ihren Körper in aufrechte Stellung zog, zunächst auf die Knie, dann auf die Füße. Bei dem Versuch, Halt zu finden, spürte sie, dass auch diese gefesselt worden waren.
Sie stand nun, an den eigenen Armen hängend, zu fast voller Höhe aufgerichtet. Die Aufwärtsbewegung stoppte. Desmond war drei Schritte zurückgetreten. Er wickelte das Seil um die schmiedeeiserne Halterung einer klotzigen Wandlampe. Er kam wieder näher, umrundete ihre Gestalt. Mit kurzen Blicken prüfte er den Sitz der Lederstreifen um ihre Hand- und Fußgelenke. „So gefällst du mir besser“, sagte er. „Du hast wohl geglaubt, du kannst mich drankriegen, hm? Da musst du früher aufstehen.“
Veronica schwieg. Sie fühlte sich noch zu schwach, um auf eigenen Beinen zu stehen. Das Bild, das ihre Augen lieferten, wurde immer wieder unscharf. Der Polizist legte eine Hand auf ihre linke Hüfte und begann ihren wie ein Sack an dem Strick hängenden Körper erneut im Uhrzeigersinn zu umrunden, wobei er die Hand erst über ihren Bauch, dann die rechte Hüfte und schließlich ihr Kreuz gleiten ließ. Die Furcht, dass aus der Belästigung Missbrauch werden könnte, schoss weitere Nadeln in ihr Hirn, gab ihr aber gleichzeitig die Kraft, die Kontrolle über ihren Körper wieder zu erlangen. Sie drückte die Knie durch. Endlich stand sie auf ihren Fußsohlen. Um Desmond aus seinen Phantasien zu reißen, sprach sie ihn an: „Wo ist Kirk? Was haben Sie mit ihr gemacht?“
Der Polizist, der nun wieder links neben ihr stand, lachte, schüttelte den Kopf, lachte erneut. „Die gute Duchess feierte ein Wiedersehen mit ihrem Märchenprinz“, raunte er ihr ins Ohr. „Ich glaube, die beiden hatten eine ganze Menge besprechen.“ Seine Hand strich in einer illustrativen Geste über ihren Hintern.
„Ist sie hier?“, würgte Veronica hervor.
„Nie gewesen.“ Der Polizist überlegte. „Eines der Dinge, die wir von ihr in Erfahrung zu bringen versuchten, ist der Verbleib des Fotos. Weißt du zufällig, wer es gestohlen hat?“
„Ja…“, sagte Veronica, der ein Ausdruck von Ekel über die Gesichtszüge lief.
„Geht‘s auch ein bisschen konkreter oder muss ich es dir mit einem Angelhaken aus der Nase ziehen?“
„Sie selbst, Wickens. Sie haben das Bild aus den Polizeiarchiven gestohlen.“
Donald Wickens alias Desmond Jones verlor für einen Moment die Fassung. Mit hassverzerrter Grimasse spuckte er: „Das hat dir der Teufel verraten!“
Es war ihrer prekären Lage unangemessen, doch Veronica konnte das Lachen, das aus ihr hervorbrach, beim besten Willen nicht zurückhalten. Zu sehr erinnerte Desmonds Ausbruch an das Märchen vom Rumpelstilzchen. Es fehlte nur noch, dass er mit dem Fuß aufstampfte und im Boden versank. „Genau der ist es gewesen“, prustete sie.
Der Fausthieb, der sie in die Niere traf, kam unerwartet, und er trieb ihr alle Luft aus den Lungen. Ihre Beine gaben nach, sie baumelte erneut an ihren Handgelenken vom Kälberstrick. Wutentbrannt trat Desmond in ihr Sichtfeld. Es sah aus, als wolle er sie auch von vorn bearbeiten, doch er hatte sich schon wieder im Griff. „Halt dein loses Mundwerk im Zaum oder ich vergesse, dass du für den Chef reserviert bist“, zischte er. „Los, sag mir, was du und dein Alter herausgefunden habt. Vielleicht lässt Kite dann noch genug von dir übrig, dass du aus eigener Kraft von hier rauskriechen kannst.“
„Andernfalls passiert… was?“, wagte sie ihn herauszufordern, da er offenbar Befehl hatte, sie in Ruhe zu lassen. Vielleicht konnte sie ihm nützliche Informationen entlocken.
„Andernfalls kommst du auf einem Altar zu liegen. Oder Kite überlässt dich mir, wenn er mit dir durch ist. Es wird mir eine ganz besondere Freude sein, dich möglichst lange am Leben zu halten.“ Ein Grinsen mit weit aufgerissenen Augen und gebleckten Zähnen huschte über seine Visage. Die Dämonenfratze verschwand so schnell wieder, wie sie erschienen war. „Leider war mir mit deinem Onkel weniger Zeit vergönnt. Ich musste kurzen Prozess machen. Befehl ist Befehl.“
Veronica, die sich aufgerappelt hatte, öffnete den Mund. „Sie…?“
„Ja, ich. Kite trug mir auf, Paul anzurufen und ihm mitzuteilen, dass das Treffen verschoben sei. Aus irgend einem Grund schien der Penner ganz froh darüber zu sein. Nachts um halb vier ging ich dann zum Laden und klingelte ihn raus. Er machte auf und ich sagte, es gäbe etwas Wichtiges zu besprechen. Wie erwartet führte er mich nach hinten. Ich streckte ihn mit sechs Stichen in Kreuzform nieder, genau um 3:33 Uhr. Dann plünderte ich die Kasse, um eine falsche Spur zu legen, und ging zum Wagen zurück.“ Der Polizist schien mich seiner Leistung zufrieden zu sein.
An Veronicas staubverschmierten Wangen bahnten Tränen zwei Flüsse bis zum Kinn. „Warum?“, wimmerte sie, „Warum nur?“
„Na, du kannst Fragen stellen… Zur höheren Ehre Luzifers natürlich – und damit der blöde Sack das Maul darüber hält, was in dem Manuskript steht oder wer es jetzt besitzt.“
„Verdammte Schweine!“, presste die junge Frau zwischen zwei Schluchzern hervor.
„Sieht nicht so aus, als könnte ich dich überzeugen, mit mir auszugehen.“ Desmond kicherte. „Wie dem auch sei, ich habe Kite informiert. Er müsste bald eintreffen. Soll der entscheiden, wie es mit dir weitergeht. Ich denke, wir können noch mehrfach Nutzen aus dir ziehen, bevor wir dich entsorgen.“
Er hinterließ eine Notiz für Veronica an der Tür zum Hinterzimmer, dann verließ Zach den Laden. Ein Taxi wartete bereits vor dem Fab Store auf ihn. Innerhalb fünfundzwanzig Minuten erreichte das Fahrzeug die Straße, in der Mr Mustard wohnte. Polizeifahrzeuge blockierten die Zufahrt. Zach stieg aus und ging zur Barriere. Ein Beamter trat auf ihn zu. „Sie können hier nicht weitergehen,“ sagte er, „wir haben die Straße für Ermittlungszwecke gesperrt.“
Hielt der Mann ihn für blind? Am liebsten hätte er ihn einfach beiseite geschoben, aber das war natürlich nicht ratsam, wenn man an seiner Freiheit hing. Er versuche es stattdessen mit einem Trick: „Mein Name lautet Ziegler. Ich habe einen Termin bei Kommissar Wickens. Man sagte mir, er leite die Untersuchung hier.“
Das Gesicht des Uniformierten verwandelte sich plötzlich in eine steife Maske. „Papiere!“, herrschte er den Detektiv an. Zach reichte ihm seinen Ausweis. Der Polizist rief einen Kollegen herbei und zeigte ihm das Dokument. Die beiden flüsterten kurz miteinander, dann ging der Kollege mit dem Ausweis zu einem der Fahrzeuge hinüber. „Was wollen Sie von Kommissar Wickens?“, fragte der Polizist.
„Mit Verlaub, das geht nur ihn und mich etwas an.“
„Er ist heute nicht im Dienst. Wer hat Sie hierher geschickt?“
Was geht hier vor sich?, überlegte Zach. Ein Todesfall mit seltsamen Umständen, der Leiter der Mordkommission nicht im Dienst, und dann dieses Quasi-Verhör – hier stimmte entschieden ganz und gar nichts. Ohne mit der Wimper zu zucken sagte er: „Der junge Mann an der Rezeption des Reviers. Naja, wenn der Kommissar schon fort ist, kann man nichts machen. Wissen Sie zufällig, wo ich ihn finde?“
„Tut mir leid, darüber kann ich Ihnen gegenüber keine Angaben machen. Und nun verlassen Sie bitte den Ort. Es gibt hier nichts zu sehen!“
Fast hätte Zach laut aufgelacht. Das sah den Bullen wieder ähnlich. Ein Mann lag in seinem eigenen Blut, doch nein, es gab hier nichts zu sehen. „In Ordnung. Könnte ich bitte meinen Ausweis zurück haben? – Danke, Officer.“
Der Detektiv wanderte zur anderen Straßenseite, wo eine kleine Menschenmenge auf dem Gehweg stand. Einige diskutierten angeregt, die meisten anderen starrten neugierig herüber, in der Hoffnung, einen Blick auf die Geschehnisse am Tatort erhaschen konnten. Sein kleiner Wortwechsel mit dem Polizisten war eine willkommene Abwechslung gewesen, die die wahrscheinlich seit Stunden andauernde Ereignislosigkeit unterbrach. Routinemäßig prüfte er die Gesichter der Anwesenden, suchte nach besonderen Gefühlsregungen und speicherte seine Eindrücke in einer eigens dafür reservierten Ecke seines Gedächtnisses. Er entdeckte Maria Borghese etwas abseits der Menge. Sie unterhielt sich mit einer kleinen schmächtigen Frau gehobenen Alters. Beide sahen mitgenommen aus. Er trat hinzu und sagte: „Grüß dich, Maria.“
„Zach, was machst du denn hier?“ Sie umarmten einander kurz.
„Ich bin auf der Suche nach Veronica und Desmond, und dachte, ich versuche mein Glück einmal hier“, sagte der Detektiv, nachdem sie wieder auf Abstand gegangen waren.
„Es gibt keine Neuigkeiten. Sie lassen nichts heraus“, erwiderte die Italienerin. Mit gesenkter Stimme fuhr sie fort: „Ohne meine Freundin hier, eine von Mr Senfkorns Nachbarinnen, würde ich völlig im Dunkeln tappen.“ Sie stellte die beiden einander vor.
Die ältere Dame hieß Cilia Appleby. Sie trug eine dünnrandige Brille mit einer Silberkette um den Hals und machte einen aufgeweckten Eindruck. Ihr listiger Blick glitt schnell über die versammelten Menschen, wohl um sicherzustellen, dass niemand Interesse an ihnen zeigte. Die Erkundung schien zu ihrer Zufriedenheit ausgefallen zu sein, denn sie sagte leise: „Ich war eine der ersten, die den Leichnam gefunden hat. Mr Senfkorn lag in seinem Wohnzimmer in Hockstellung auf der Seite, ein kleines Loch im Nacken und ein weiteres im Hinterkopf. Das halbe Gesicht war weggesprengt…“ Sie schüttelte sich. „Da habe ich entschieden, dass ich nicht als Zeugin in Erscheinung treten werde. Das ist mir zu heiß. Wissen Sie, junger Mann, ich war früher Kriegsberichterstatterin für die Times. Ich erkenne eine Hinrichtung, wenn ich eine sehe, und ich habe kein Bedürfnis, den Leuten, die das verbrochen haben, im Wege zu stehen.“
„Eine weise Entscheidung. Ich habe mich vor etwa einer Stunde auf der Polizeiwache nach dem Fall erkundigt. Ein Beamter antwortete mir, dass er zu diesem Selbstmord nichts sagen könne.“ Er ließ die Brauen tanzen. Sowohl Maria als auch Cilia Appleby rissen die Augen auf. „Machen wir, dass wir hier weg kommen. Mein Taxi wartet an der nächsten Straßenecke.“
Maria drückte die alte Dame herzlich, dann verabschiedeten sie sich.
Hecken und niedrige Natursteinmauern behinderten die Sicht. Der Weg führte mehrere Kilometer lang einspurig über holprige Traktorpfade. Im tief liegenden GT war von der Landschaft wenig zu sehen. Er rollte wegen seiner zu geringen Bodenfreiheit außerdem lediglich in Fahrradgeschwindigkeit seinem Ziel entgegen. Wer hier draußen lebte, sollte besser in keine Situation geraten, die schnelle Hilfe von außen erforderte, dachte Veronica. Bis Krankenwagen, Polizei oder Feuerwehr einträfen, hätte sich das Problem von selbst erledigt, wenn auch nicht notwendigerweise zum Guten. Doch schließlich deutete Desmond auf eine Öffnung in dem Wall, dem sie seit einigen Minuten schon gefolgt waren. Sie bog ab, und da war es: das Ferienhaus der ‚Familie‘.
Seine Form lies auf ein historisches Bauernhaus schließen, dessen Erbauer wohlhabend gewesen sein mussten, denn es besaß sowohl einen großzügigen Grundriss als auch ein zweites Stockwerk. Es war gut in Schuss gehalten worden; der Dachstuhl hing nicht durch, die Schindeln glänzten im Sonnenlicht, die Wände standen gerade und waren sauber verputzt. Doch das Gebäude sah verlassen aus. Die Holzläden an den Fenstern des Erdgeschosses waren sämtlich geschlossen. Keine Wäsche hing zum Trocknen auf der Leine, kein Fahrzeug stand im Hof.
Das Gefühl von weiträumiger Einsamkeit war mit Händen zu greifen. Wenn man ein bisschen Abstand zur Zivilisation brauchte, konnte dieser Ort Balsam für die geschundene Seele bieten. Doch sie suchten ja nicht das Alleinsein, sondern eine junge Menschin, die seit einem Monat aus Liverpool verschwunden war. Wenn sie sich hier draußen befand, verheimlichte sie ihre Anwesenheit sogar vor jenen, die sich zufällig in diese gottverlassene Gegend verirrten. Und wer an einem ohnehin versteckt liegenden Ort seine Spuren verwischte, hatte Grund zur Furcht. Veronica spürte Kribbeln im Bauch, das Kitzeln einer Intuition, die wenig Gutes verhieß. Es gelang ihr auf den wenigen Metern, die der GT brauchte, um auszurollen und stehen zu bleiben, jedoch nicht, eine Ursache dafür zu ergründen. Sie stellte den Motor ab.
Sie öffneten die Fahrzeugtüren nicht sofort aus, sondern blieben einen Augenblick sitzen. und lauschten den Geräuschen, die durch die heruntergekurbelten Seitenfenster hereindrangen. Abgesehen vom Knacken des Motors, der abzukühlen begann, hörten sie lediglich einige Singvögel und das Säuseln eines leichten Windes. Ihre Augen suchten die Hausfront und die nähere Umgebung ab, doch an dem Eindruck von Verlassenheit änderte sich nichts. Veronica sah Desmond fragend an. Er schaute zurück, dann deutete er durch eine Kopfbewegung an, sie sollten zur Haustür gehen. Also stiegen sie aus. Veronica zog das halblange schwarze Kleid glatt, das vom Sitzen zerknittert war.
Langsam näherten sie sich der Eingangstür, die die Längsseite mittig in zwei gleich große Hälften teilte. Dem wuchtigen Rahmen und der groben Machart der Tür nach zu urteilen musste sie dem Ansturm eines Rammbocks standhalten können. Der Polizist griff in eine der Taschen seiner ärmellosen Strickjacke. Ein Sicherheitsschlüssel kam zum Vorschein. Er steckte ihn ins Schloss und drehte zwei Mal. Ein leises Klickern verkündete, dass der Mechanismus den Weg freigeben würde. Das Türblatt gab dem Druck der Schultern des Mannes sofort nach. Es schwang ohne Geräusch nach innen und zeigte sich im Profil genau so kräftig, wie Veronica vermutet hatte. Desmond trat ein; die Detektivin folgte ihm dichtauf. Er schloss die Tür sofort wieder. Sie rastete mit sattem Ton ein.
Sie befanden sich in einem Gang, der, wie es für sie aussah, durch das ganze Haus bis zur rückwärtigen Außenmauer verlief, wo eine weitere massive Tür wieder nach draußen führte. Rechts und links gingen je zwei Türen ab. Zwischen ihnen sah Veronica auf der linken Seite eine Treppe nach oben und direkt gegenüber eine eben solche nach unten führen. Eine dünne Staubschicht bedeckte den Boden. Nichts wies darauf hin, dass das Haus derzeit eine Bewohnerin hatte. Sie wollte sich eben zu Desmond umdrehen, um ihn zu fragen, weshalb keine der Türen eine Klinke besaß, da traf sie ein harter Schlag an der linken Schläfe. Sie rollte die Augen nach oben und fiel bewusstlos zu Boden.
Gegen halb zwei verließen Henry und Maria den Laden. Beide umarmten Zach noch einmal und sprachen ihm Mut zu. Der Detektiv brütete weitere zwanzig Minuten über der Geschichte von Mustards Tod, bevor ihm einfiel, dass Veronica aufs Polizeirevier gefahren war. Sie sollte eigentlich längst zurückgekehrt sein. Da er es nicht länger allein aushielt, schnappte er eine Jacke und ging zu Fuß zur Wache. So würde er nebenbei vielleicht Gelegenheit erhalten, ein paar Worte mit Wickens zu wechseln, der ihm, wenn er darüber sprechen durfte, bestimmt mehr über Mustards Tod erzählen konnte als das Lokalradio. Doch an der Rezeption teilte ihm ein junger Polizist mit, dass der Kommissar und Veronica bereits am frühen Morgen das Haus mit unbekanntem Ziel verlassen hatten. Über den Stand der Ermittlungen zum Selbstmord des reichen Sammlers dürfe er nichts sagen. Es werde aber nach Rückkehr des Kommissars eine offizielle Verlautbarung geben.
„Sagten Sie ‚Selbstmord‘?“ fragte Zach verdutzt.
„Tut mir leid, ich darf Ihnen wirklich keine weiteren Auskünfte erteilen.“
Zach schaute den jungen Uniformierten zweifelnd an, dann machte er kehrt, um nach Hause zurück zu gehen. Ein Gefühl der Beklemmung nistete sich in seinem Geist ein. Wo befanden sich Wickens und Veronica? Redeten sie noch immer miteinander? Er glaubte eher, dass sie schon getrennter Wege gingen. Wickens mochte sich zwecks Ermittlungen am Tatort befinden; Veronica wollte ein paar Besorgungen erledigen. Sie bummelt womöglich gerade durch die Innenstadt und konnte jederzeit wieder im Laden eintreffen. Er beschleunigte seine Schritte. Doch als er den Fab Store in den Rainford Gardens betrat, fand er das Gebäude verlassen vor. Zach beschloss, noch ein wenig zu warten. Er setzte zwei Tassen Kaffee auf, die er, als die Brühe durchgezogen war, umgehend hinunterstürzte. Er ging zum Telefon neben der Registrierkasse, nahm den Hörer ab und rief Molly Jones, Wickens‘ Frau, an ihrem Arbeitsplatz bei Notar Miller an.
„Mrs Wickens, guten Tag. Hier spricht Zachary Ziegler.“
„Good day, Mr Ziegler“, flötete die Sekretärin. „Was können wir für Sie tun?“
„Mrs Wickens, entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich suche nach Ihrem Mann. Auf der Wache teile man mir mit, er habe das Gebäude in der Frühe verlassen. Wissen Sie zufällig, wohin er gegangen ist?“
„Nein, da kann ich Ihnen leider nicht helfen. Er sagt mir selten, was er tagsüber unternimmt. Das bringt sein Beruf so mit sich, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sie hatten doch einen Termin mit ihm. Ist er nicht erschienen?“
„Eine andere Verpflichtung kam mir dazwischen. Veronica ging an meiner statt zum Gespräch. Seither sind die beiden verschwunden.“
„Ach, die werden schon wieder auftauchen. Machen Sie sich keine Sorgen“, erwiderte die Sekretärin gut gelaunt.
„Wahrscheinlich haben Sie recht“, erwiderte Zach. „Haben Sie übrigens heute die Lokalnachrichten gehört?“
„Dazu hatte ich keine Zeit. Es war viel Betrieb bei uns. Wie hoch hat der FC Liverpool gewonnen?“
„Keine Ahnung. Ich meinte die Meldung über Mr Mustard.“
„Mustard? Hält er wieder peinliche Reden über Corbyns angeblichen Antisemitismus?“
„Kaum. Er wurde gestern Nacht erschossen.“
„Erschossen?“, quiekste es aus dem Schellack-Hörer.
Zach nickte. Dann fiel ihm ein, dass sie es nicht sehen konnte. Er sagte: „Ja. Es kam kurz nach zehn Uhr im Radio. Wissen Sie, ob er sich Feinde gemacht hat?“
„Zeigen Sie mir einen Juden, der keine Feinde hat. Aber gleich erschießen? Wer macht den so etwas?“
„Wir werden es früh genug erfahren, hoffe ich. Schalten Sie das Radio ein. Die Polizei will bald eine Stellungnahme abgeben.“
„Mache ich. Mr Ziegler, ich muss nun leider das Gespräch beenden. Soeben sind Kunden eingetreten. Richten Sie Veronica Grüße von mir aus, wenn sie zurückkehrt. Auf Wiedersehen!“
„Auf Wiedersehen, Mrs Wickens.“ Er legte auf.
Zach knirschte mit den Zähnen. „Verdammt!“, knurrte er. Seine beiden aussichtsreichsten Versuche, etwas über Veronicas Verbleib und den Mustard-Fall herauszufinden, waren ohne Ergebnis geblieben. Was nun?
Ein stechender Schmerz in ihrem Kopf war das erste, was sie bei der Wiederkehr ihres Bewusstseins begrüßte. Ihre Augenlider fühlten sich geschwollen an, daher entschied sie, dass sie diese erst einmal geschlossen halten würde. Sie prüfte den Zustand ihres Körpers, indem sie ihre Aufmerksamkeit von der pochenden Schläfe abwandte und langsam der Wirbelsäule entlang nach unten schickte. Sie lag auf der Seite, unter ihr eine Strohmatte. Gesicht und Hals meldeten keine Probleme. Die rechte Schulter fühlte sich an, als habe sie einen Boxhieb erhalten, schien abgesehen davon jedoch okay zu sein. Als ihr geistiges Auge bei den Handgelenken ankam, bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Sie… war gefesselt! Ein Alarmsignal raste durch die Arme ins Gehirn. Die junge Frau erwachte schockartig aus ihrer Benommenheit. Sie riss die Lider auf und betrachtete ihre Hände, die durch einen kräftigen Lederstreifen in Gebetsstellung zusammengebunden waren. Ein dort angeknoteter Kälberstrick wand sich von ihr fort über den Boden, um in etwa einem Meter Entfernung wie eine Kobra in die Höhe zu steigen. Mehr konnte sie aus ihrer Position nicht erkennen.
Es herrschte schummriges Zwielicht in dem Raum, dessen holzvertäfelten Wände nur wenige Meter entfernt aufragten. Wie spät mochte es sein? Veronica versuchte die Lichtquelle auszumachen. Langsam drehte sie sich auf den Rücken. Sie stöhnte laut. Ihr Kopf drohte zu explodieren. Als der sternenbesetzte Himmel vor ihren Augen sich wieder auflöste, folgte ihr Blick dem Seil nach oben. Was war das? Sie sah, dass es um mehrere Rollen geschlungen war, die an einem Haken von der Balkendecke herabhingen. Jenseits davon fiel es wieder dem Boden entgegen. Die Auflösung des Bildrätsels lag gefühlt in Griffweite, aber verborgen durch einen Nebel aus Kopfschmerzen und Desorientiertheit.
Die Lichtquelle! Sie hatte doch herausfinden wollen, woher das Licht kam, in der Hoffnung, die Tageszeit abschätzen zu können. Unter Vermeidung jeglicher anderer Bewegungen lies sie langsam den Blick kreisen. Es gab zwei Fenster auf der einen Seite des Raums. Die Dämmerung war schon weit fortgeschritten, doch die Reste von Tageslicht am schwarzblauen Himmel und tauchten alles in geisterhaftes Grau. Dann hatte sie also den ganzen Tag bewusstlos dagelegen… „Desmond!“, war ihr nächster Gedanke. Er hatte sie in diese Einöde gelockt und dann niedergeschlagen. Warum? Wollte er sie umbringen, weil sie ihm auf die Spur gekommen war? Panik flammte auf und ließ sogleich wieder nach. Das hätte er längst erledigen können. Er wollte etwas von ihr, brauchte sie noch für etwas, das zu ergründen im Moment zu viel Geisteskraft von ihr erfordert hätte. Sie ließ den Gedanken fahren und wandte sich erneut dem Problem ihrer gefesselten Hände zu. Als sie diese vor ihr Gesicht hob, bemerkte sie dahinter eine Gestalt an der Stelle, wo das Seil von den mysteriösen Rollen bis zum Boden hing. Ihre Umrisse glichen jenen des Polizisten.
Bis jetzt hatte er reglos außerhalb des Gesichtskreises der jungen Frau gestanden und still beobachtet, wie sie langsam wieder zu Bewusstsein gelangte. Als deutlich wurde, dass sie ihn bemerkt hatte, erhob er seine Stimme.„Ah, Miss Schlaumeier ist aufgewacht. Ich habe mich schon gesorgt, dass der Schlag ein wenig zu hart gewesen sein könnte“, sagte er höhnisch.