9) Das darf doch wohl nicht wahr sein!

Zach kehrte erst am späten Nachmittag in den Laden zurück. Schwer beladen mit Einkaufstüten stapfte er ins Hinterzimmer herein, wo Veronica es sich bei Keksen und grünem Tee im Sessel bequem gemacht hatte.

„Faules Stück Fleisch!“, polterte er theatralisch, als er die Tüten auf der Bar abstellte. „Keinen Zentimeter hast du dich bewegt, während dein alter Herr heldenmutig in den Urwald eingedrungen ist, um mit bloßen Händen einen Tiger für dein Abendessen zu erlegen.“

„Igitt!“, rief Veronica, „Du weißt doch, dass ich keinen Tiger mag. Außerdem hatte ich Vogelspinne bestellt.“

„Solange du deine Füße unter meinen Tisch hängst, isst du, was ich anschleppe.“

„Solange ich koche, wird gegessen, was ich verlange. Im übrigen war ich nicht ganz so faul, wie es dir vielleicht scheint.“

„Ach nein? Was hast du denn auf die Beine gestellt?“

„Mich. Und dann habe ich mich damit von der Eingangstür bis hierher zum Sessel transportiert.“

„Na gut. Das will ich für dieses Mal gelten lassen“, lenkte Zach ein. „Schau, was ich erbeutet habe.“ Er zog Milch- und Saftflaschen aus einer der Tüten, aus einer anderen einen Eisbergsalat, Broccoli, Bohnen, Lauch, Zwiebeln, Kartoffeln, einen Butterblock und ein paar Äpfel. „Der Salat hat sich besonders heftig gewehrt. Fast wäre er mir entkommen.“

Veronica klatschte in die Hände. „Du bist mein Held, Paps. Wenn ich einmal groß bin, will ich werden wie du.“

Eine weitere Tüte kehrte er einfach auf den Kopf und riss sie dann an den Zipfeln in die Höhe. Schokoladenriegel, Kekse, Kartoffelchips, Karamelbonbons, Popcorn, Marshmallows und andere Snacks polterten auf die Theke und von dort auf den Boden. „Alles, was das Denkerhirn so braucht“, verkündete er.

Eine Dose gesalzener Nüsse rollte Veronica vor die Füße. Sie hob sie auf. „Soll ich fett werden und an Arteriosklerose sterben?“ klagte sie.

„Das war der Plan. Vorher jedoch… Was hast du herausgefunden? Komm schon, ich sehe dir an, dass du gleich platzt, wenn du‘s nicht los wirst.“

„Das Wichtigste zuerst: Wir sind einer Meinung; wir logieren ab heute in Onkel Pauls Wohnung statt im Hotel. Ich habe dir auch schon ein Zimmer ausgesucht. Die Prinzessinnensuite gehört mir. Widerspruch zwecklos.“

Ihr Vater zuckte die Achseln. „Da bin ich wohl machtlos. Weiter.“

„Ich habe die Wohnung für unseren Einzug vorbereitet. Dabei bin ich auf Onkel Pauls Studierzimmer gestoßen, das den schickesten Arbeitsplatz im ganzen Königreich enthält. Du wirst Augen machen. Die Internetleitung – der Hammer. Das Ergebnis kommt schneller auf den Bildschirm, als man die Suchanfrage tippen kann.“

„Ja, ja, ja“, quakte Zach. „Solange er‘s schneller ausspuckt als du will ich zufrieden sein. Komm endlich auf den Punkt!“

„Tsk tsk,“ schnalzte Veronica. „Dass die jungen Leute von heute keine Geduld mehr aufbringen – schrecklich!“

Der Detektiv fletschte die Zähne. Seine Hände formten sich zu Krallen.

Die junge Frau kicherte. „Also gut. Ich habe Henrys Informationen in diverse Suchmaschinen gespeist, um zu sehen, was die Welt von ihnen hält. Und siehe da: alles öffentlich verfügbar.“ Sie nahm einen Stapel Ausdrucke vom Beistelltischen, blies die Kekskrümel fort und deklamierte: „Die Times berichtete am 13. Juli 2004, dass ein englischer Tourist namens Fraser Claughton aus Tankerton in der Grafschaft Kent, damals 41 Jahre alt, auf einem Flohmarkt in Lara bei Melbourne, Australien, einen verschlissenen Koffer für seine Klamotten gekauft hat. Als er ihn öffnete, fand er – Zitat Times – ‚eine der wichtigsten Sammlungen an Beatles-Memorabilien,‘ den ‚heiligen Gral,‘ nach dem fast dreißig Jahre lang alle gesucht hatten: das sogenannte Mal-Evans-Archiv. Der Autor der Meldung deutet weder in seiner Überschrift noch im Text Vorbehalte an, sondern wurde recht konkret bezüglich des Inhalts des Koffers: Fotos – vierhundert an der Zahl –, Vinylalben, Konzertprogramme und versiegelte Tonbandbehälter, die die Aufschrift ‚Abbey Road … not for release‘ tragen. Auf den Tonbändern befänden sich alternative Versionen von We Can Work It Out und Cry Baby Cry, akustische und elektrische Versionen von weiteren Stücken, die später verworfen wurden, sowie Gespräche zwischen McCartney und Lennon. Peter Doggett, ein Berater des Auktionshauses Christie‘s, bestätigte, dass mit Ausnahme zweier Stücke alles ‚sehr aufregend klingt‘ und es gut möglich sei, dass es sich um Evans‘ Archiv handele. John Read, ein Kinderbuchverleger, der den glücklichen Finder in dieser Sache vertrat, stellte den Bezug zu Mal Evans unter Verweis auf Studiounterlagen her, die im Koffer gefunden worden seien und den Namen des Roadies trügen. Ein Mitarbeiter des Beatles-Labels Apple, Mark Lewisohn, äußerte sich als Einziger etwas vorsichtiger, da er die Tracks nur am Telefon gehört habe; er sei aber gewillt, sich überraschen zu lassen. Harmony Central berichtete am nächsten Tag, dass ein Viereinhalb-Stunden-Band bei Apple zur Verifikation liege. Alle präsentierten Fakten sind konkret genug, dass man Missverständnisse ausschließen kann.“

„Aber?“, hakte Zach nach.

„Aber die Los Angeles Times meldete am 18. Juli, dass Peter Nash, Leiter des britischen Fanclubs, die Tapes am 15. gehört habe und als falschen Alarm einstufe. Einen Monat später, am 18. August, veröffentlichte Yahoo News eine ausführliche Associated Press-Meldung, der vermeintliche Beatles-Schatz sei ‚fake;‘ das Original bleibe weiterhin verschollen. Peter, Nash, der den Fund im Auftrag eines britischen Senders untersucht habe, nenne die Angelegenheit nun einen publikumswirksamen Schwindel. Er habe fotokopierte Ticketabrisse gesehen, und die Fotos seien lediglich Laserscans aus den 90er Jahren; bei dem Material von den Bändern handele es ich um ‚die ganz normalen Tracks, die die meisten Beatles-Sammler eh schon besitzen.‘ Es gebe außerdem überhaupt nichts in dem Koffer, das auf Evans hinweise. Apple-Sprecher Geoff Baker sagte, er denke, bei dem Fund handle es sich um einen Schwindel.

AP gab an, Claughton, der glückliche Tourist, sei nicht aufzufinden. Die Times und Jack Malvern, ihr Reporter, wären für Kommentare nicht zu haben. John Read, der hier als Pop-Memorabilienhändler tituliert wird, nehme keine Anrufe entgegen. Und das Beste: Das Auktionshaus Christie‘s gab zur Kenntnis, dass sie, ausdrücklich, nicht für eine Einschätzung der Gegenstände kontaktiert worden seien und auch keiner ihrer Experten diese gesehen hätte.“

„Da laus mich doch glatt der Affe!“, stieß Zach hervor. „Also, entweder lügen dieser Fanclubleiter, die Presseagentur, der Apple-Sprecher und Christie‘s alle miteinander oder…“

„Oder der Tourist, sein Vertreter, der Times-Reporter und der Christie‘s-Berater haben alle gelogen und unser neuer Freund hat heute einhundertachtzigtausend Britische Pfund für eine Zeitungsente ausgegeben“, schloss Veronica. „Egal wie man es dreht oder wendet, man kommt nicht umhin, von einer Verschwörung zu sprechen.“

Zach überlegte eine Weile still, bevor er sagte: „Aufgrund der Zeitungsmeldungen allein könnten wir kaum mehr tun, als die Glaubhaftigkeit der Aussagen zu bewerten. Da wir jedoch den Streitgegenstand vorliegen haben – mehr noch, da wir mit kundigen Sammlern in Kontakt stehen, die bereit sind, erkleckliche Summen dafür hinzublättern – scheint die Gruppe der Leute, die ganz laut ‚Betrug!‘ schreien, selbst eine Betrügerbande zu sein, die den Deckel des Koffers zuhalten will.“

„Es sei denn, es gab mehr als einen Koffer“, warf Veronica ein. „Auch dafür fand ich Hinweise.“

„Als wäre der Fall nicht schon kompliziert genug. Na gut, hau mir eine weitere Kofferstory um die Ohren.“

„Welche davon?“ Veronica ließ die Papiere, aus denen sie zitiert hatte, neben den Sessel fallen und nahm einen weiteren Stapel Ausdrucke vom Tisch. „Geschichten gibt es in Hülle und Fülle. Mal Evans, wenigstens darin sind sich alle Quellen einig, war wohl derjenige, der noch vor den Freundinnen, Frauen und Managern der Band die vollständigsten und tiefsten Einblicke in das Denken und Handeln der Beatles gehabt hat. Als Mädchen für alles schleppte er Koffer, lenkte den Tourbus, baute Instrumente auf, besorgte Essen und kümmerte sich um das persönliche Wohlergehen der Musiker. Er beschaffte ihre Unterhosen und wusch ihre Socken, buchstäblich. Manchmal durfte er einfache Klänge und Geräusche zu den Aufnahmen beitragen, war Stichwortgeber für einige Songs und tauchte in Nebenrollen ihrer Filme auf. Dabei blieb er stets bescheiden und diskret. Zwar führte er von Anfang an Tagebuch, plauderte jedoch nie aus dem Nähkästchen. Erst Ende 1975, also fünf Jahr nach der Bandauflösung, machte er von sich reden. In einem Fernseh- und mehreren Radiointerviews erzählte er von seinem Memoiren-Projekt, das zunächst ‚200 Miles to go‘ – Noch 320km – hieß, später auf den Titel ‚Living the Beatles Legend‘ – Ich lebte die Beatles-Legende – umgetauft wurde. Abliefern sollte er das fertige Manuskript angeblich am 12. Januar 1976, aber es gibt auch Quellen, die sagen, er habe noch ein halbes Jahr mehr Zeit gehabt. Wie dem auch sei, es kam der Abend des 4., 5. oder 6. Januar 1976 – je nachdem, welche Quelle man heranzieht…“

„Das ist ja unglaublich!“, polterte Zach.

„…aber wahr. In der damaligen Ausgabe des Rolling Stone Magazins nennt Patrick Snyder den 4. Januar. Die Wikipedia nennt den 5., bezieht sich dabei jedoch auf eine Meldung der LA Times vom selben Tag, das heißt, die Ausgabe, die berichtet, was am 4. geschehen ist. Eine Sonntagsausgabe der Londoner Times, die des Jahrestages gedenkt, behauptet, Mal Evans‘ Ehefrau sei am Morgen des 5. über den Tod ihres Mannes am Vorabend informiert worden. In einem Blog aus dem Jahr 2012 fand ich auch den 6. Januar, aber das war vermutlich ein Tippfehler.

Welchen Datums auch immer, erschossen worden ist er von zwei, drei oder vier namentlich bekannten Polizisten, wiederum je nachdem, welcher Quelle man Glauben schenkt. Seine damalige Freundin, Frances Hughes, mit der er zusammenlebte, hat wohl den Ghostwriter der Memoiren, einen gewissen John Hoernie, angerufen, weil Mr Evans jenes Abends psychisch völlig am Ende gewesen sein soll. Angeblich stand er unter Valium und Alkohol. Das Gespräch der beiden Männer scheint unglücklich verlaufen zu sein, denn Evans nahm eine Waffe zur Hand, die je nach Quelle entweder eine Pistole oder ein Gewehr gewesen ist, und entweder eine Luftwaffe oder scharf gewesen sein soll. Die Freundin alarmierte die Polizei. Die Beamten forderten Evans angeblich auf, die Waffe fallen zu lassen, was dieser verweigerte, und so feuerten sie sechs Schüsse auf ihn ab, vier davon tödlich.“

„Vielleicht sollte man sich den Polizeibericht zusenden lassen“, warf Zach ein.

„Das hat schon eine gewisse Tina Foster versucht, wurde jedoch abgewiesen.“

Zach schüttelte den Kopf.

„Hier beginnt jedenfalls die Geschichte um das sogenannte Memorabilien-Archiv. Die Polizei hat die Anwesenden als Zeugen mitgenommen und einiges an Gegenständen sichergestellt. Von diesem Moment an sind die Memoiren verschwunden. Einer Version nach haben die Behörden den Koffer verbummelt, einer anderen zufolge hat ein enger Freund, der Sänger Harry Nilsson, Evans‘ Sachen gepackt und mit seiner Asche nach London geschickt, zu Evans‘ Witwe Lily. Beides ging verloren. Die Urne tauchte wenig später am Flughafen wieder auf. Eine Truhe voller persönlicher Gegenstände, darunter seine Tagebücher, wurde erst 1986 im Keller des New Yorker Verlags Grosset and Dunlap gefunden, bei dem die Memoiren erscheinen hätten sollen. Man informierte Yoko Ono, die die Sachen freundlicherweise an Mrs Evans weiterleitete.“

„Wie kommt das Zeug nach New York, wenn es nach London gesendet wurde? Was haben persönliche Effekten bei einem Verlag zu suchen? Und warum gibt dieser sie ausgerechnet Yoko?“, warf Zach ein.

„So spielt halt das Leben eben manchmal.“ Veronica kniff ein Auge zu. Ihr Vater schnaubte.

„Wie ich das sehe, haben wir es mit zwei, vielleicht sogar drei Chargen zu tun: Eventuell einem Koffer, den die Polizei von Los Angeles verbummelte, einer Kiste, die aus welchen Gründen auch immer für zehn Jahre beim Verlag versumpfte, und einer weiteren Kiste, die auf dem Weg nach London verschollen ging.“

„Und welche davon enthielt das Manuskript?“

„Könnte im Prinzip in jeder der Chargen gesteckt haben. Bis vor kurzem behauptete die Witwe, die Memoiren nicht zu besitzen, aber nun hat sie Ken Womack, einen bekannten Beatles-Spezialisten, beauftragt, sie zu veröffentlichen; ebenso die Tagebücher.“

„Einfach so? Ups, ich habe mich geirrt? Hier ist das Ding, nach dem die Beatles-Verrückten dieser Welt fünfundvierzig Jahre lang gesucht haben? Lächerlich!“, ereiferte sich der Detektiv.

„Um so lächerlicher, als wir sicher wissen, dass es in unserem Koffer lag, nicht in der New Yorker Kiste, die Yoko Ono an Lily Evans geschickt hat. Was veröffentlicht dieser Womack also da?“

„Hoernies Kopie, könnte eine harmlose Antwort lauten. Irgendwie gibt es mir in der Sache aber zu viele Ungereimtheiten und seltsame Zufälle. Weshalb hielt Mrs Evans das Manuskript geheim, statt es zu Geld zu machen?“

„Weil Yoko es bisher zurückgehalten hat? Oder einer der Beatles mit Prozessen gedroht hat?“, schlug Veronica vor.

„Mit anderen Worten, weil Mal Evans etwas zu erzählen hatte, das die erfolgreichste Band der Welt in ein neues Licht rückt. Es würde erklären, weshalb diese Gang von ‚Experten‘ die Echtheit des Koffers so vehement abgestritten hat. Ehrlich gesagt glaube ich an diesem Punkt nicht mehr an Zufälle. Wie hat Henry das genannt?“

„Schneewittchengeschichten.“

„Schneewittchengeschichten, so ist es. Ich kann zwar noch nicht exakt bestimmen, worin die Wahrheit besteht, aber ich kann mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen, dass sie nicht so harmlos sein wird, wie sie bei oberflächlicher Betrachtung erscheint. Dafür liegen zu viele Fehlinformationen über normalerweise einfach zu bestimmende Tatsachen vor.“

„Erkennst du schon einen Pfad in dem ganzen Durcheinander, Paps?“

„Es gibt etwas, das mich beunruhigt. Da verkündet jemand, dass er nun endlich über seine Zeit bei den Beatles reden will, und dann stirbt er plötzlich – nicht einfach so, sondern unter ungewöhnlichen Umständen. Dummerweise verschwindet seine Memorabilien-Sammlung, jedoch nicht nur ein Teil, sondern alle Teile gleichzeitig auf verschiedenen Wegen – einschließlich der berüchtigten Memoiren. Jahrzehnte später tauchen sie hier bei uns und zur gleichen Zeit bei der Witwe auf – und wieder stirbt ein Mann unter seltsamen Umständen, wieder verschwindet im selben Moment das Manuskript…“

Veronica horchte auf. „Hm? Wie bitte?“

„Tut mir leid, mein Schatz. Ich hatte noch keine Gelegenheit, es dir zu sagen. Als Henry und ich das Inventar prüften, fanden wir alle Objekte wie im Warenbuch verzeichnet – mit Ausnahme der Memoiren. Miller erzählte uns sogar davon, erinnerst du dich? Er sagte, Pauls Mörder habe die Kasse ausgeräumt und das Manuskript bei der Gelegenheit mit eingepackt.“

„Das darf doch wohl nicht wahr sein!“, rief Veronica

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert