6) I ONEI X HE ◊DIE

Sie hatten beschlossen, dass sie in der Frage, ob sie Pauls Wohnung und Laden behalten wollten – oder auch nur die Wohnung –, ein Gefühl dafür bekommen mussten, was das in der Praxis bedeutete, und dass sie daher mehr Zeit dort verbringen sollten. Sie würden den Warenbestand sichten, ein wenig im Hinterzimmer abhängen, irgendwann ein paar Nächte im Oberstock schlafen. Daher fuhren sie kurz nach acht Uhr in der Frühe ins Zentrum. Es war relativ still in den Gassen des Cavern-Viertels. Die Mathew Street verbreitete das Feeling einer Konzertfläche am Morgen ‚danach.‘ Ein Reinigungstrupp fegte Glasscherben, Papierknäuel, Servietten und Zigarettenstummel zusammen. Die Rainford Gardens lag ähnlich entvölkert. Sie öffneten die Ladentür, knipsten das Licht an und warfen die Mäntel über den Tresen.

Veronica schaute sich um. „Wo fangen wir an?“

„Das Unangenehme zuerst. Mir graust ein wenig vor dem Fleck am Boden, aber wenn wir hier mehr Zeit verbringen wollen, entfernen wir ihn am besten so früh wie möglich.“

Veronica nickte. „Ob Onkel Paul die Reinigung wohl selbst getätigt hat?“ Sie entnahm ihrer Jackentasche ein Notizbuch, zog die oberste Schublade am Tresen auf, kramte darin herum und entnahm ihr dann einen Bleistift. Während sie schrieb, proklamierte sie: „Ad 1: Putzhilfe…“ Sie überlegte. „Wo wir gerade über Personal nachdenken – Ad 2: Verkaufshilfe?“

„Ganz wichtig: Wie bekommen wir Kontakt zu Pauls Stammkundschaft?“, ergänzte Zach.

„Notiert. Während du darüber nachdenkst, inspiziere ich kurz die Küchen- und Badezimmerschränke. Vielleicht finde ich Reinigungsmittel.“

Es dauerte tatsächlich nicht lange. Ein Spind im Hinterzimmer enthielt alles Nötige. Statt ihren Vater zu rufen, begab Veronica sich selbst an die Arbeit. Der Kreideumriss wich ihrem Angriff sofort. Mit ihm verging auch das seltsame Gefühl, dass sich außer ihr noch jemand im Raum befand. Der Drang, über die Schulter zu blicken, ließ nach. Der Blutfleck wehrte sich natürlich hartnäckiger. Nach einer knappen Viertelstunde hatte er jedoch das meiste von seiner Intensität verloren. Nur ein unscharfer dunkler Schemen deutete an, wo Paulus Campbell gelegen hatte. Sie verdeckte ihn mit Auslegeware.

Veronica deponierte Bürsten, Eimer und Fleckenmittel wieder im Spind. Sie entnahm dem Kühlfach der Bar eine Cola. Der Fruchtsaft war leider schon verdorben. Sie stellte die halb leere Flasche mit ihrem schimmligen Inhalt in den Papierkorb, ging dann zum Sofa und ließ sich hineinfallen. Sie schaute sich um. Alles wirkte normal. Es gab keine Kampfspuren, keine zerbrochenen Gegenstände, keine verformten Geländer oder ähnliches. Alles musste sehr schnell vonstatten gegangen sein… oder das Opfer hatte seinen Mörder gekannt und war nichts ahnend auf ihn zugegangen oder hatte ihm arglos den Rücken zugedreht. Ging es um Geld? Wertgegenstände? Oder hatte es Streit gegeben… worüber? Sie schüttelte den Kopf. Alles Spekulationen. Sie wusste zu wenig, um den Tathergang nachvollziehen zu können.

Ihr Blick fiel auf einen kleines kreisrundes schwarz gerahmtes Bild neben der Tür zum Verkaufsraum, direkt unterhalb einer handsignierten Porträtaufnahme des jungen Paul McCartney. Es mochte vielleicht 15 bis 20 Zentimeter Durchmesser besitzen. Das Motiv kam ihr bekannt vor. Ein Schriftzug, der dem oberen Kreisbogen folgte, besagte „Sgt. Pepper‘s“. Aha, dachte sie. Ein Ausschnitt von einem Album-Cover der Beatles. Natürlich kannte sie die LP aus dem Plattenschrank ihres Vaters. Hier in Liverpool war ihr Anblick allgegenwärtig. Der Rest des Bildes ergab jedoch keinen Sinn für sie. Der Schriftzug wiederholte sich spiegelbildlich am unteren Rand. Dazwischen, an der breitesten Stelle, eingerahmt von Ornamenten, stand:

I ONEI X HE DIE

Was sollte das denn? Sie sprang vom Sofa auf und trat nah an das Bild heran. Nein, sie hatte sich nicht verlesen. Sie war sich gleichzeitig sicher, dass die Zeile so nicht auf dem Cover abgedruckt war. Wie aber lautete der Originaltext? Sie konnte sich nur undeutlich erinnern. Veronica kniff die Augen zusammen. Eine haarfeine Linie teilte die Inschrift waagerecht genau in der Mitte. Die untere Hälfte des Bildes sah leicht verschwommen aus. Also handelte es sich tatsächlich um das Foto einer Spiegelung. Wie seltsam. Sie konnte sich keinen Reim auf die Sache machen. ‚HE DIE‘ – er stirbt… oder starb – klang irgendwie bedrohlich. Das spitze Symbol zwischen den beiden Wörtern schien wie ein Pfeil nach oben zu zeigen, wo ein leicht pausbäckiger Paul von dem wesentlich größeren Foto auf sie herunterlächelte.

„Du musst damals ungefähr in meinem Alter gewesen sein, höchstens ein oder zwei Jahre älter“, dachte sie. „Gut, dass du nicht gestorben bist, Herzchen“ murmelte sie, „sonst wären der Welt viele großartige Songs entgangen.“ Auch ihr Onkel hieß Paul, erinnerte sie sich. Nur wenige trauerten um ihn. Die Welt war ungerecht – aber sie war voll guter Musik.

Veronica löste sich von McCartney‘s Gesicht, dann öffnete sie die Tür zum Verkaufsraum, um nach einem Sgt.-Pepper-Album suchen zu gehen. Sie wollte wissen, was die von der Spiegelung verdeckte Hälfte des Originalbilds zeigte.


Nachdem seine Tochter die Tür hinter sich geschlossen hatte, versuchte Zach den Raum durch die Augen eines Geschäftsmanns zu betrachten. Was war das Konzept hier? Bezüge zur Musik der 1960er und den Beatles stachen erwartungsgemäß überdeutlich hervor. Ein Großteil der Aktivitäten im Herzen Liverpools, zuvorderst Themenkneipen, Kitschbuden und Retro-Klamottenläden, verdienten so ihr Geld. Skulpturen von John Lennon, Brian Epstein, Cilla Black und selbst der fiktiven Eleanor Rigby aus dem gleichnamigen Beatles-Song verwandelten die Fußgängerzone in einen Themenpark, in den sich Campbell‘s Fab Store hervorragend einfügte. Die Backsteinfassade mit ihrer in Holz gefassten Ladenfront verlieh dem Laden jene historisch korrekte Ausstrahlung, die gleichermaßen zu dessen Inhalt wie auch zu dessen weiterer Nachbarschaft passte. Als Andenkenladen für die durch die Straßen ziehenden Beatles-Fans wirkte er jedoch zu farblos und bieder, als Antiquitätengeschäft wiederum zeigte er zu wenige großformatige Stücke. Zach kannte einschlägige Geschäfte, etwa den London Beatles Store in der Baker Street; einige weitere hatte er in der unmittelbaren Nähe des Fab Stores entdeckt. Sie überfrachteten ihre Schaufenster mit kleinteiligem Kitsch, während es im Inneren kaum Platz genug gab, zwischen den mit Waren dicht beladenen Ständern, Tischen und Regalen hindurchzugehen.

Pauls Schaufenster präsentierte sich dagegen schlicht. Links stand lediglich eine lebensgroße Holzstatue McCartneys in seiner Peppers-Uniform, befremdlicherweise mit dem Rücken zur Straße; in der rechten unteren Ecke der Glasfront hatte Paul die leicht verzerrten Konterfeis der Fab-Four vom Rubber Soul-Album angebracht. Das war alles. Passanten konnten daher ohne Mühe das Ladeninnere sehen – den ganzen, sehr aufgeräumt wirkenden Laden. Sicher, das hatte Klasse, aber der Mangel an Glitzer würde einem Mangel an hereingespültem Kleingeld entsprochen haben, rechnete er sich aus. Paul musste also, genau wie der Notar beschrieben hatte, seinen Unterhalt mit Stammkundschaft bestritten haben. Der Eindruck von Seriosität konnte da nur nützlich sein. Kleinkram wie die Autogrammkarten, Gitarrensaiten („wie George Harrison sie verwendete“) oder Broschüren zur Musikgeschichte der Stadt dienten wohl eher dazu, irrtümlich hereingeschneiten Andenkensuchenden einem Alibikauf anzubieten, der ihnen den ehrenhaften Rückzug gestattete.

Zachs Gedankengang wurde vom Bimmeln der Türglocke unterbrochen. Ein älterer Herr trat ein. Er trug einen langen grauen Filzmantel, dunkle Hosen mit Bügelfalten, schwarz glänzende Lackschuhe und einen breitkrempigen Hut, den er schon beim Durchschreiten der Tür abnahm. Darunter zeigte sich schütteres graues zur Seite gekämmtes Haar.

„Einen schönen guten Morgen, Sir!“, grüßte der Mann. Zach schätzte ihn auf Anfang sechzig, wohl situiert, gebildet. Ihm fiel auf, dass der Neuankömmling sich nicht umschaute, sondern seine Neugier direkt auf ihn richtete. Kein Andenkenjäger, vermutete er.

„Guten Morgen“, grüßte er freundlich zurück. „So früh schon unterwegs? Es hat doch noch kaum ein Geschäft geöffnet.“

„Ja, bedauerlicherweise hat die Rockdiskothek geschlossen“, erwiderte der Mann lächelnd, „Um so erfreulicher, diesen fabelhaften Laden wieder von Licht erhellt zu sehen. Ich hatte schon befürchtet, er gehöre der Geschichte an.“

„Nun, eigentlich ist er im Moment tatsächlich zu. Wir führen lediglich eine erste Bestandsaufnahme durch.“

„Darf ich nach Ihrem werten Namen fragen, Sir?“

„Zachary Ziegler“, erwiderte Zach. „Und Sie sind…?“

„Oh, verzeihen Sie. Wie unhöflich von mir. Mein Name ist Bishop. Thomas Henry Bishop. Mr Campbells Laden gehörte seit dem Augenblick seiner Eröffnung zu meinem festen Programm, wenn ich in die Innenstadt kam. Paul – Mr Campbell – war ein Meister darin, verschollene Perlen wiederzubeschaffen. Es gab nur wenige Wünsche, die er mir nicht erfüllen konnte. Ich schätzte ihn auch als feinen, intelligenten Menschen, der stets für eine tiefsinnige Konversation zu haben war. Welch ein Verlust…“

„Mein Beileid, Mr Bishop“, sagte Zach seiner eigenen gemischten Gefühle wegen unbeholfen.

„Papperlapapp!“, fuhr Bishop auf. „Es ist an mir, Ihnen mein Bedauern auszusprechen. Schließlich ist… war er Ihr Bruder, Mr Ziegler. Er hat manchmal von Ihnen erzählt. Nur Gutes, natürlich.“

„Das fände ich erstaunlich. Es ist viel Wasser die Themse hinunter geflossen, seit wir zuletzt miteinander gesprochen haben. Dennoch…“

„Wenn Sie einem Fremden gestatten, Ihnen einen Rat zu erteilen: Grämen Sie sich nicht. Die Gründe für sein Untertauchen lagen mehr in seinen eigenen Versäumnissen begründet als in einem vermeintlichen Verschulden Ihrerseits.“ Bishop schaute ihm ernst aber freundlich ins Gesicht. „Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, Mr Ziegler?“, fragte er und fuhr ohne auf eine Antwort zu warten fort: „Kommen Sie erst einmal zu sich, finden Sie sich in Ihrer neuen Umgebung zurecht und lassen Sie uns zu gegebener Zeit bei einer Tasse Tee über den lieben Paul sprechen.“

„Besten Dank, Mr Bishop. Sie sind der zweite Freund meines Bruders, der mir begegnet – und der zweite, der das anbietet.“

Der Ältere lächelte wieder. „Da sich ihm so viele verbunden und auch verpflichtet gefühlt haben, werde ich vermutlich nicht der letzte bleiben. Aber bitte: Nehmen Sie mein Angebot an. Es wäre mir eine Freude!“

Ein Impuls drängte Zach, Bishop die Hand zu reichen, und dieser ergriff sie. „Es wäre auch mir eine Freude. Ich komme mit Sicherheit darauf zurück. Sind Sie bald wieder in der Stadt, Mr Bishop?“

„Nennen Sie mich bitte Henry.“

„Einverstanden. Ich bin Zachary.“

Sie schüttelten einander erneut die Hände.

„Freut mich, Zachary. Was Ihre Frage angeht: Ja, recht häufig sogar. Ich nehme jeden Montag mein Frühstück im Bistro dort drüben am Eck ein.”

„Was führte Sie dann heute hierher?“

„Wie angedeutet liegt mir der Laden sehr am Herzen. Ein weiterer… Freund hat mich auf Ihr Eintreffen aufmerksam gemacht. Da wollte ich die Gelegenheit ergreifen, ein paar Worte mit Ihnen zu wechseln.“

„Das sprach sich ja schnell herum. Ich hatte den Eindruck, Liverpool sei etwas größer als ein Dorf.“

Der Ältere schmunzelte. „Eine Großstadt, ohne Frage, wenn auch weit abgeschlagen im Vergleich zu London. Die Sammlerszene ähnelt allerdings einer Familie.“

„Verstehe. Ich kann der Familie leider nicht versprechen, dass der Fab Store weiter bestehen bleibt. Wie gesagt fangen meine Tochter und ich gerade erst an, die Lage zu erfassen. Ich muss Ihnen zudem gestehen, dass wir zwar durchaus Freunde der analogen Technik sind, das Metier meines Bruders jedoch kaum kennen. Wir sind Privatermittler, keine Musikexperten oder Kaufleute. Wir wären auf fachmännische Hilfe angewiesen.“

„Man könnte auch Paul ohne Einschränkung als eine Art Privatermittler bezeichnen. Statt Personen hat er eben Dinge aufgespürt. Wenn Sie Ihre eigene Detektei betreiben, besitzen Sie genug kaufmännisches Wissen, um eine saubere Abrechnung zu erstellen. Und was die fachliche Expertise betrifft: Es gibt keinen besseren Ort, an solche heranzukommen. Vielleicht kann ich helfen. Erwähnte ich schon, dass Ihr Bruder Freunde hatte?“

„Am Rande. Lassen Sie mich darüber nachdenken. In ein paar Tagen sehe ich die Dinge bestimmt klarer.“

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