45) In der Falle

Veronica war es gelungen, Kites Leiche mit ihren Füßen zu packen und näher heranzuziehen, ein halbes Dutzend Zoll bei jedem Durchgang. Die Nacht war kühl, doch die Arbeit trieb ihr Schweiß auf die Haut. Eine Viertelstunde später hatte sie es endlich geschafft. Der Kadaver lag direkt unter ihr. Sie klemmte den Griff des Dolchs zwischen ihre Füße, zog ihn aus den Dielen – das war schwieriger, als sie gedacht hatte – und führte die Beine nach oben. Den ersten Versuch brach sie ab, bevor sie Kopfhöhe erreichte, denn sie hielt die Klinge in einem ungünstigen Winkel. Beim zweiten Versuch gelang es ihr, den Lederstreifen, der ihre Hände mit dem Seil des Flaschenzugs verband, ein Stückchen einzuschneiden, bevor ihr die Kraft ausging. Schließlich, im dritten Anlauf, gab das Leder nach, riss die letzten Millimeter von allein entzwei und entließ Veronica in den freien Fall. Einen Sekundenbruchteil später grub sich ihr Hintern in Kites Bauch und Brust. Seine Rippen zersplitterten mit dem Knirschen einer zerquetschten Tüte Kartoffelchips. Ihr Gewicht presste die Luft aus seinen Lungen. Sie entwich durch den verengten Kanal seines Adamsapfels. Kites Stimmbänder vibrierten ein allerletztes Mal, wobei sie ein hässliches Gurgeln abgaben. Veronica, von ihrer unsanften Landung einem erneuten Schmerzgewitter ausgesetzt, glaubte einen Schrei zu vernehmen. Hatte Kite noch gelebt oder hatte sie den Laut selbst ausgestoßen? Schwer zu sagen.

Langsam rollte sie sich auf die Seite, herunter von dem Hünen. Sie wollte nur die Augen schließen, ruhen… schlafen… Nein! Sie durfte jetzt nicht das Bewusstsein verlieren, musste den Raum verlassen, das Haus, die Gegend. Mühsam rappelte sie sich auf. Von unten war das Stöhnen eines Mannes zu vernehmen. Jemand befand sich im Zimmer direkt unter ihrem. Desmond? Oder gab es einen weiteren Gefangenen? Hatten sie ihren Vater geschnappt? Bei dem Gedanken griff eine eisige Faust nach ihrem Herz. Wenn ihr Vater hier war, durfte sie nicht einfach davonschleichen. Sie musste zweifelsfrei feststellen ob auch er sich in diesem Landhaus befand oder nicht. Und das hieß, sie musste Desmond ausschalten.

Da ihre Muskeln nun entspannten, begann sie die Kühle auf der nackten Haut zu spüren. Sobald sie draußen war, würde sie frieren. Und natürlich lag es ihr fern, bei der Rückkehr nach Liverpool im Adamskostüm – müsste es nicht Evakostüm heißen?, dachte sie – aus dem Wagen zu steigen. Ihr Kleid konnte sie vergessen; es war völlig hinüber. Kites Klamotten mussten mehrere Nummern zu groß ausfallen; sie würden sie beim Kampf mit Desmond behindern. Ihr Blick fiel auf das Bett. Ohne lang zu überlegen zog sie das Laken ab und fabrizierte ein Wickelgewand daraus, das genug Beinfreiheit zum Treten und Rennen ließ. Sie ging zur Tür.

Verdammt! Sie hatte völlig vergessen, dass es im ganzen Haus keine Klinken gab. Wie war Kite hereingekommen? Ein Schlüsselbund klapperte in ihrem Gedächtnis; Desmond, der die Tür hinter Kite wieder zuzog. Ein Augenblick der Panik überrollte Veronica. Falls sie auf den Kommissar angewiesen war, um aus diesem Raum hinaus zu gelangen, standen ihre Chancen ungefähr fünfzig-fünfzig. Hektisch durchsuchte sie die Wäsche des Hünen, die auf den Boden gefallen war, als sie das Laken abzog.

Da – in einer seiner Hemdtaschen, ein einzelner Schlüssel mit einem Plastiketikett. Sie fischte ihn heraus. Auf dem Etikett stand: ‚Landhaus General‘. Die Detektivin schickte ein Dankgebet gen Himmel. Dann schnappte sie den Dolch, schloss leise die Tür auf und trat auf den im Dunkeln liegenden Gang hinaus. Das Streulicht aus dem hinter ihr liegenden Raum ließ wenig erkennen. Sie tastete neben der Tür nach einem Lichtschalter, fand jedoch keinen. Also ging sie zurück. Die Kerzen, die der Psychopath für sein perverses Ritual verwendet hatte, waren bis auf eine, die zu einem Stummel heruntergebrannt war, bei ihrem Kampf erloschen. Sie öffnete das Schränkchen unter dem Fenster, in der Hoffnung, eine Taschenlampe zu finden. In der hintersten Ecke stand eine Kerosinlampe. Sie prüfte den Tank; er war fast maximal gefüllt. Der Docht nahm die Kerzenflamme dankbar entgegen und brannte sofort hell. So ausgestattet begab sie sich umgehend nach draußen.

Der Korridor endete wenige Schritte rechts von ihr an einem Fenster, das sich zum Gelände hinter dem Haus öffnete. In der anderen Richtung erstreckte sich der Gang gute fünfzehn Meter. Einem Impuls folgend entschied sie, zuerst die Tür zu öffnen, um zu sehen, ob sich jemand darin aufhielt. Weder wollte sie etwaige weitere Gefangene zurücklassen, noch war sie darauf erpicht, einen etwaigen Feind im Rücken zu behalten. Sie schloss auf und leuchtete hinein. Der Raum war ähnlich eingerichtet wie ihr ehemaliges Gefängnis aber ansonsten leer. Erleichtert kehrte sie zum Gang zurück, folgte ihm einige Meter nach rechts und sah wie erwartet auf halber Länge ein Treppenhaus das rechter Hand nach unten führte. Veronica lauschte. Unten bewegte sich nichts. Also schlich sie weiter, um die Zimmer hinter den beiden verbliebenen Türen zu untersuchen. Auch sie waren Kopien des ersten, in dem nun Kites Leiche auf den Dielen lag; auch sie waren leer.

Wieder im Gang wagte sie einen Blick aus dem nach vorn zeigenden Fenster. Da es keinerlei Lichtquelle als die Sterne und das Streulicht umliegender Ortschaften gab, konnte sie die Zufahrt nur schemenhaft erkennen. Ihr GT parkte noch genau so, wie sie ihn abgestellt hatte. Schräg dahinter stand ein eiförmiges Etwas, das Kites Fahrzeug sein musste. Sie kehrte um und ging zum Treppenhaus. Wieder lauschte sie, dann stieg sie langsam, Schritt für Schritt, die steilen hölzernen Stufen hinunter. Sie zählte zwölf Stufen, bevor sie die letzte, die dreizehnte betrat. Bis hierhin war es ihr gelungen, völlig geräuschlos ins Erdgeschoss hinabzugehen, doch gerade, als sie auf den Steinfußboden der Eingangshalle treten wollte, knarzte das Holz. Das Geräusch explodierte in die Stille des Hauses wie der Eröffnungsakkord von ‚A Hard Day‘s Night‘ in die Einlaufrille einer LP.

Veronica gefror an Ort und Stelle. Jeden Moment musste sich eine der vier Türen öffnen – sie rechnete mit jener auf der anderen Seite in der linken Ganghälfte; der Tür, die zu dem Raum unterhalb ihres Gefängnisses führte – und dann würde Desmond mit gezücktem Revolver herausstürmen, um sie völlig unzeremoniell niederzustrecken. Sie hielt den Atem an, um jedes noch so kleine Geräusch hören zu können, doch es rührte sich auch weiterhin nichts. Auf Zehenspitzen schlich sie zu besagter Tür, legte ein Ohr an das Blatt, lauschte. Stille. Langsam führte sie den Schlüssel ein. Sein leises metallisches Klickern wuchs in ihrer Vorstellung zu einem unüberhörbaren Rattern an. Sie konnte nur hoffen, dass Desmond zu beschäftigt war, um darauf zu achten. Sie befahl der inneren Stimme, für einen Moment den Mund zu halten. Aber was, wenn auf der anderen Seite sein Schlüssel steckte?, greinte der Quälgeist. Dann locken wir ihn heraus, direkt in die Klinge des Dolches, entgegnete sie; und jetzt halt endlich die Klappe! Die Stimme grummelte, sah jedoch davon ab, auf ein weiteres Dutzend Eventualitäten hinzuweisen, die ihre Pläne durchkreuzen konnten.


Ihr Ritt zum Ferienhaus der Sammler – man konnte die ‚Fahrt‘ über den mit Schotter bestreuten und mit Schlaglöchern reichlich gesegneten Feldweg kaum anders bezeichnen – kostete sie nochmals eine wertvolle halbe Stunde. Die Landschaft um sie herum lag in solch tiefer Finsternis, dass man den Eindruck haben konnte, eine der entlegensten Weltgegenden zu durchqueren, wenn auch die Sterne über ihnen nicht ganz so klar funkelten, wie es in einem solchen Fall zu erwarten gewesen wäre. Dank der Wegbeschreibung des Taxifahrers wussten sie, dass sie das Ziel ihrer Reise beinahe erreicht haben mussten. Bestimmt waren es nur noch wenige hundert Yards bis… Da! Quer über den Feldweg, der rechts und links von Weidezäunen begrenzt wurde, ragte ein verschlossenes Gatter. Hinter diesem, gerade noch im Licht der Mini-Scheinwerfer schattenhaft zu erkennen, lag ein niedriges Gebäude. „Das ist es!“, rief Maria.


Der Schlüssel ließ sich ganz leicht im Schloss drehen. Ein letzter Widerstand gegen eine Federung, als der Riegelbolzen geräuschlos aus seiner Nut glitt, dann konnte Veronica die Tür aufdrücken. Millimeterweise öffnete sie das Blatt, auf jede Regung achtend, die von drinnen vielleicht vernehmbar gewesen wäre. Als sich ein Spalt bildete, sah sie, dass es dahinter fast völlig dunkel war. Nur das Flackern einer Kerzenflamme warf bewegte Schatten an die Wand. Es herrschte Stille. Mutig schob sie die Tür Stück für Stück weiter auf. Zeitungsstapel, Pappkartons, Brennholz, ein Stuhl, die Kante eines niedrigen Tisches, die Lehne eines Sofas kamen zum Vorschein. Es roch nach Alkohol, Zigarettenrauch und Geschlechtsverkehr. Auf der Lehne ruhten ein paar Stiefel; Beine ragten aus ihnen hervor, die eindeutig Desmond gehörten. Vorsichtig bewegte sie den Kopf zur Seite, um mehr von der Szenerie zu erfassen. Der Kommissar lag mit halb heruntergelassenen Hosen auf dem Sofa und schlief.

Veronica packte den Dolch fester, dann betrat sie den Raum. Vorsichtig arbeitete sie sich auf ihr Ziel zu, sorgfältig darauf achtend, nirgends anzustoßen. Auf halbem Wege stellte sie die Kerosinlampe ab. Vielleicht brauchte sie die freie Hand. Sie näherte sich dem Kopfende des Sofas. Wickens atmete gleichmäßig. Sie wusste, was sie zu tun hatte, wusste, dass kein Weg daran vorbeiführte, und hatte dennoch Hemmungen… zögerte, ihm die Gurgel durchzuschneiden. Zitternd führte sie den Dolch an seine Kehle. Millimeter trennten die rasiermesserscharfe Kante des Metalls von der Haut. Sie hielt inne. Eine leichte Berührung nur, doch der Polizist schrak sofort aus dem Schlaf, fuhr hoch und direkt in die Klinge. Ein Schrei entwich ihm; mit panischen Bewegungen rappelte er sich auf. Der Schnitt war nicht tief, aber er begann umgehend zu bluten. Veronica zuckte erschreckt zurück, stolperte über einen Stuhl und landete rücklings auf dem Boden. Der Dolch entglitt ihrer Hand und kreiselte in eine Ecke des Raums. Wickens, der ihr nachsetzen wollte, wurde von seiner auf Halbmast stehenden Hose zu Fall gebracht. Er landete auf Veronicas Beinen. Seine Hände griffen nach ihrem Hals, doch als es ihr gelang, einen rechten Schwinger gegen sein Ohr zu landen, rollte er von ihr herunter. Hastig krabbelte Veronica rückwärts von ihm fort.

Dann bemerkte sie ihren Fehler. Sie hatte dem Mann den Weg zu ihrer Waffe freigegeben. Der zögerte keinen Moment. Er zog die Hose hoch, hechtete nach dem Dolch, fuhr dann sofort herum und stürzte in ungeahnter Geschwindigkeit auf sie zu. Der einzige Gegenstand, den sie zu fassen bekam, war die Kerosinlampe. Mit ausgestrecktem Arm schnappte sie den Tragebügel, führte die Lampe im Halbkreis um ihren Kopf und drosch sie, so kraftvoll sie konnte, gegen Desmonds Schläfe. Glassplitter und Kerosin spritzten durch die Luft; brennbare Flüssigkeit ergoss sich über den Getroffenen, dessen Kopf und Schultern sofort in Flammen aufgingen. Wickens röhrte vor Schmerzen. Er taumelte knapp an der jungen Frau vorbei durch den Raum, die Hände gegen sein Gesicht schlagend. Dann stolperte er, fiel mit dem Kopf voraus gegen eine Wand und brach bewusstlos in der Ecke zusammen, wo die Zeitschriften und das Holz gelagert waren.

Veronica überlegte kurz, ob sie den Brand löschen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Sie war in den Raum gekommen, um Wickens zu töten und sie hatte ihr Ziel fast erreicht. Wodurch er starb, war ihr gleichgültig. Entweder sie machte ihrem Entführer, dem Mörder ihres Onkels, hier und jetzt den Garaus oder er würde sie, ihren Vater und womöglich noch andere Menschen ins Jenseits befördern. Als Polizist standen ihm hierfür zahlreiche Wege offen und er konnte seine Spuren mühelos verwischen.

Nein, dass er jetzt starb, war nur gerecht, und es war besser für alle. Sie wollte Sorge tragen, dass dieser Raum und der darüber liegende mit der Leiche Kites vollständig ausbrannten. Geschwind häufte sie Kartonagen und Papier um den Mann auf und schob das Sofa und die beiden Stühle dicht daneben. Innerhalb einer Minute brannte alles lichterloh. Sie öffnete ein Fenster. Dann zog sie sich eilig zurück, denn es wurde unangenehm heiß hier drin. Schnell durchsuchte sie die drei anderen Räume des Erdgeschosses, eine Küche, ein Bad und einen Lagerraum. Es war überall dunkel, aber es befand sich außer ihr eindeutig niemand mehr im Haus. Auch im Keller sah sie nach. Sie fand einen Lichtschalter. Regale voller Spirituosen und haltbarer Lebensmittel, aber keine lebende Seele. Sie hastete die Treppen hinauf, zurück in die Eingangshalle. Der Raum auf der rechten Seite hatte sich bereits in eine Flammenhölle verwandelt. Das Feuer schlug fauchend durch die Tür, die sie offen gelassen hatte, in den Korridor. Hitze, Qualm und Gestank nach verbranntem Fleisch zogen ihr entgegen.

Veronica rannte nach links, zum Vordereingang. Die Haustür besaß keine Klinke, genau wie alle anderen Durchlässe im Gebäude. Sie brauchte einen Schlüssel! Wo…? Hatte sie ihn etwa…? Sie schaute in Richtung der Feuersbrunst, die keine Rückkehr zulassen würde. Der Schlüssel steckte in der Tür gegenüber, wo sie ihn zurückgelassen hatte, bevor sie in den Keller hinabgestiegen war. Den Versuch, ihn abzuziehen, musste sie abbrechen. Qualm und Hitze ließen es nicht zu, dass sie sich der Tür näherte, doch ohne den Schlüssel gab es keinen Weg hinaus. Die Fenster im Erdgeschoss waren vergittert. Sie saß in der Falle.

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