44) Verfahren

Es war der heikelste Teil ihres Plans, denn ihre Befreiung und damit ihr Leben hing davon ab, dass sie den Dolch in ihren Besitz bekam. Daher verfolgte ein Teil ihres Bewusstseins mit Interesse jede seiner Positionsveränderungen.

Die Klinge rotierte langsam, während sie einen hohen Bogen durch die Luft beschrieb. Es fehlte nicht viel, dann hätte sie Veronica getroffen. Als Kite die Hände aus seinem malträtierten Schritt zum Hals gerissen hatte, nahmen sie die Waffe mit und gaben sie auf halbem Wege frei. Nachdem sie den höchsten Punkt auf Höhe von Veronicas Ellbogen erreicht hatte, folgte ihre Flugbahn wieder der Schwerkraft. Knapp hinter Veronica bohrte die gefährliche Spitze sich in die Holzdielen des Bodens. Während die junge Frau ihre Pendelbewegung zum zweiten Mal innerhalb einer Minute aufzuhalten versuchte, achtete sie darauf, ihr nicht zu nahe zu kommen. Zum einen wollte sie natürlich keine Verletzung riskieren; zum anderen hoffte sie, ihre Fußfessel mit der Schneide öffnen zu können.

Zuerst musste sie jedoch neben den Pendelschwingungen auch ihre Muskeln und ihren Geist wieder unter Kontrolle bringen. Ihr Atem ging in schweren, rauhen Stößen, einem halben Grunzen, das womöglich auch in anderen Teilen des Hauses zu hören war. Es ließ sich leider nicht vermeiden. Als ihr Körper wieder still stand, konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit auf die Lunge, holte in regelmäßigen tiefen Zügen Luft durch die Nase und entließ sie in rhythmischen Stößen durch die Lippen. Sie zählte im Stillen mit. Nach etwa dreißig Durchgängen hatte sie sich so weit wieder in der Gewalt, dass sie es wagen konnte, die akrobatischen Anstrengungen zu unternehmen, mit denen sie ihre Fesseln durchtrennen wollte. Sie trippelte zum Dolch, der glücklicherweise fast direkt unter ihrer Aufhängung stecken geblieben war, stützte sich auf den rechten Fuß und begann mit dem linken eine winzige Auf- und Abbewegung. Der Lederstreifen glitt über die Klinge, leistete jedoch einigen Widerstand. Eine ganze Weile war nur das rhythmische Tappen ihrer Fußsohle auf den Dielen zu hören. Veronica musste das Gewicht mehrmals auf das jeweils andere Bein verlagern, bis die Fessel endlich entzwei ging.

Wieder verschnaufte sie einige Minuten. Ihr Rücken schmerzte, die mit frischem Blut versorgten Füße begannen zu kribbeln und ihre Arme und Hände waren ihrer unnatürlichen Haltung wegen beinahe taub. Noch immer lagen zwei schwere Arbeiten vor ihr. Sie musste, den Dolch zwischen die Füße geklemmt, ihre Handfesseln aufschneiden. Es würde unausweichlich dazu führen, dass sie in fötaler Haltung, Steiß voraus, zu Boden fiele. Wahrscheinlich würde es ihr das Becken brechen. Sie brauchte etwas Weiches. Das Bett stand leider außerhalb ihrer Reichweite, stellte sie fest. Keine Chance, die Matratze zu erreichen, um sie mit den Füßen auf den Boden zu ziehen. Kurz erwägte sie, die zerfetzten Überreste des schwarzen Kleides, das Kite ihr im Stürzen vom Leib gerissen hatte, zu verwenden, doch der Stoff war zu dünn, um den Aufprall nennenswert mildern zu können. Sie hätte etwas Ordentliches anziehen sollen, meldete sich eine innere Stimme. Resolut würgte sie sie ab. Es nützte nichts, Fehlentscheidungen zu betrauern; sie ließen sich nicht mehr ändern, und vermutlich böte selbst eine gut gefütterte Daunenjacke zu wenig Puffer.

Da fiel ihr Blick auf den Hünen.


Sie waren natürlich nicht die einzigen Reisenden, die der M6 den Rücken kehrten, um ihr Glück auf Landstraßen zu versuchen. Auch dort bewegte der Verkehr sich nur zähflüssig, aber immerhin bewegte er sich. Trotzdem waren Maria und Zach froh, jenseits der Unfallstelle wieder die wesentlich schnelleren Motorways benutzen zu können. Fast hätten sie der hypnotischen Wirkung des unter ihnen hinwegsausenden Asphaltbandes wegen die Ausfahrt verpasst. Der Mini besaß zum Glück gute Bremsen, und im letzten Moment nahmen sie die Kurve mit quietschenden Reifen. Die schleichende Müdigkeit verflog in Sekunden. Sie würden es brauchen. Der letzte Streckenabschnitt kostete die größte Anstrengung, denn in dieser ländlichen Gegend konnte man sich leicht verfahren. Maria hatte den Weg zum Ferienhaus der Familie noch nie bei Nacht zurückgelegt und hoffte, dass sie trotz der widrigen Umstände die Orientierung behielt.


Donald Wickens lag bequem auf einige Kissen gebettet auf der altmodischen Couch im Zimmer direkt unter Veronicas Gefängnis. Er schaute zur Decke und lauschte den Geräuschen, die durch die Bohlen zu ihm herunter drangen. Holz war ein guter Schallträger. Er hatte ein Bier in der Linken und eine Kippe zwischen den Lippen. Zwar bedauerte er, dieser naseweisen Göre nicht selbst bescheidstoßen zu können, dafür genoss er das akustische Lustspiel, das der Boss mit ihr veranstaltete. Er hörte Kites Schritte, als dieser sein Opfer umrundete, hörte das Reißen des Stoffs, von der Klinge zerschnitten, hörte die Kommentare des Schlossherrn über Veronicas Körper und malte sich die Szene aus, die sich ihm bieten musste. Seine Rechte öffnete Knopf und Reißverschluss seiner Hose, die schnell eng zu werden drohte.

Wieder Schritte über ihm, kurz Stille, dann schrie Veronica heiser, Kite grunzte. Es folgte fast sofort ein schweres Poltern auf den Deckendielen. „Ja, gib‘s ihr feste!“, feuerte Wickens knurrend seinen Boss an. Als hätte Kite ihn gehört, war sogleich ein dumpfer Schlag und ein weiterer lauter Schrei des Mädchens zu hören, während ihr Peiniger undefinierbare tierische Laute von sich gab. Sie japste ein paar Mal stöhnend. Wickens, höchst erregt, lauschte begierig nach weiteren Reizen, doch dann kehrte wieder Stille ein. Er schaute auf die Wanduhr; Punkt Mitternacht. Schnitt Kite ihr gerade die Kehle durch? Enttäuscht seufzte er und wollte sich eben aufsetzen. Es konnte sein, dass der Boss ihn gleich zu sich rief, um die blutige Sauerei aufzuräumen. Doch da erklang von oben ein leises rhythmisches Stampfen. Die Reprise. Ein seliges Grinsen legte sich auf sein Gesicht, während seine Rechte den Rhythmus wie von selbst übernahm.

Nach wenigen Minuten erneut ein Augenblick der Stille. Was geschah nun? Etwas Schweres wurde über den Boden geschleift und mit einem satten Rummsen losgelassen. Schleifen, Rummsen, Schleifen, Rummsen. Im Takt dazu hörte er Veronica grunzen, den Lautäußerungen bei einem Tennismatch der Damen nicht unähnlich. Plötzlich ein schweres Poltern; etwas knirschte und splitterte. Das Mädchen stieß einen lauten, heiseren Schrei aus, Kites Lungen entwich ein hässliches Gurgeln. Wickens verlor die Kontrolle über seinen Körper und glitt in einen tranceähnlichen Wachtraum. Als sein Verstand das Steuer wieder übernahm, herrschte völlige Stille über ihm. Das Bier und das warme Licht der Kerze trugen ihn übergangslos in den tiefen Schlaf danach.


Sie hatten die Orientierung verloren. Es war müßig gewesen, unter den gegebenen Umständen etwas anderes zu erhoffen. Lag der Feldweg, der über eine halbe Stunde bis zum Haus führte, noch vor ihnen oder hatten sie ihn bereits verpasst? Alles sah in der Dunkelheit ganz anders aus, als in ihrer Erinnerung, doch Maria war sich fast sicher, dass sie die Abzweigung übersehen hatten. „Fahr bis zur nächsten Ortschaft“, wies sie Zach an. „Vielleicht können wir jemand nach dem Weg fragen.“

„Um ein Uhr in der Nacht?“, erwiderte der Detektiv zweifelnd. Man merkte ihm die Müdigkeit nach der langen Wegstrecke an. Dennoch weigerte er sich, ihr das Steuer zu überlassen. „Du darfst mich auf dem Rückweg ablösen“, hatte er gesagt. Er folgte jedoch ihrem Rat. Die Ortschaft, die sie gerade erreichten, bestand nur aus einigen wenigen Häusern. Es gab weder Seitenstraßen noch Laternen. Alle Gebäude lagen im Dunkeln, nichts regte sich. Nur in einem Fenster des letzten Hauses, am anderen Ende des Weilers, flackerte einsam das Licht eines Fernsehers. Zach hielt an, stieg aus und ging zur Tür des Gebäudes. Kein Klingelknopf. Er schaute sich suchend um. Da, ein Glockenseil. Er zog daran. Lautes metallisches Geläut, das bestimmt im halben Dorf gehört werden konnte, drang von hinter der Tür nach draußen. Ein Gesicht erschien am Fenster des Raums, in dem der Fernseher stand. Es sah verschlafen aus. Zach winkte. Das Gesicht verschwand wieder, dann öffnete sich eine Tür im Gebäudeinneren; schlurfende Schritte auf einem Dielenboden – unendlich langsam, wie es Zach schien.

„Wer ist da?“, fragte eine schläfrig klingende Stimme.

„Mein Name ist Ziegler. Ich… wir sind auf der Suche nach einem Ferienhaus und haben uns verfahren.“

Das Geräusch eines Riegels, der zurückgeschoben wurde. Die Tür ging halb auf. Ein Mann, vielleicht Mitte dreißig, gekleidet in eine von Trägern gehaltene Anzughose und Feinrippunterhemd, sah ihn müden Blickes an.

„Ich hoffe, wir haben Sie nicht geweckt“, erkundigte sich Zach.

„Kein Problem. Ich habe Fahrbereitschaft und bin vor dem Fernseher eingenickt. Danke für‘s Wecken.“ Ein Lächeln flog über das Gesicht des Mannes. „Wo soll‘s denn hingehen?“

Nun bemerkte der Detektiv das in die Jahre gekommene schwarze Taxi, das in einer offenen Garage neben dem Haus stand. „Ihres?“, fragte er, mit einer Kopfbewegung in Richtung des Wagens. Der Mann nickte. Zach sagte: „Hier in der Nähe gibt es einen abseits gelegenen alten Hof, der von unseren Freunden in Liverpool als Ferienwohnung benutzt wird. Kennen Sie den?“

„Den von den Beatles-Freaks?“, fragte der Taxifahrer zurück, das Gesicht skeptisch verzogen.

„Genau den“, bestätigte Zach, erleichtert, dass ihnen das Glück gleich bei der ersten Erkundigung wohl gesonnen war.

„Mann, Mann, ihr Stadtleute habt echt Nerven!“, kam die etwas unwillige Erwiderung.

Der Detektiv hätte gern gewusst, welche Bewandtnis es mit der Bemerkung hatte, befürchtete jedoch eine Tirade auszulösen, falls er fragte. Also erkundigte er sich erneut nach dem Weg: „Tut uns wirklich leid für die Störung. Können Sie uns sagen, wo wir abbiegen müssen, um hinzugelangen? Ich nehme doch an, die Zufahrt mündet hier in diese Straße; richtig?“

Der Taxifahrer erklärte ihm den Weg.

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