4) Campbell’s Fab Store

Nachdem Zach und Veronica die Fassung wiedererlangt hatten, baten sie Dr. Miller, die näheren Umstände zu erläutern. Der Notar verschloss die Garage sorgfältig, dann führte er die Zieglers durch das Treppenhaus wieder in die Fußgängerzone. Auf dem Weg zum Laden erklärte er ihnen, was geschehen war.

„Mr Campbell schloss am 30. April, einem Samstag, den Laden kurz nach acht Uhr abends zum letzten Mal ab. Er hat die Kasse abgerechnet, das Warenbuch aktualisiert und begab sich anschließend über die interne Stiege nach oben in seine Wohnung. Soweit die Polizei ermitteln konnte, handelte es sich um einen ereignislosen Tag ohne größere Umsätze. Er hat ein paar Vinylscheiben und Andenken verkauft. In den frühen Morgenstunden kam es zu einer Auseinandersetzung mit einer unbekannten Person. Mr Campbell erlitt eine Reihe von Stichwunden und fiel am Fuß der Treppe zu Boden, wo er verstarb. Vom Täter fehlt jede Spur. Die Polizei glaubt, dass Ihr Verwandter einen Einbrecher überrascht hat.“

Miller blieb vor einem schmalen Gebäude stehen: eine fünf bis sechs Meter lange Fensterfront mit der Aufschrift Campbell‘s Fab Store, daneben eine Eingangstür, beides eingefasst von hübsch geschreinerten, kastanienbraun lackierten Holzrahmen. „Hier sind wir.“ Er zog den Schlüsselbund heraus, den sie schon in der Garage gesehen hatten.

Veronica musterte Fenster- und Türrahmen oberflächlich. „Sieht nicht aus, als wäre hier unlängst jemand eingebrochen. Die Farbe ist alt und zeigt lediglich zu erwartende Spuren von Abnutzung. Wie kam der Täter hinein?“

„Das ist unklar. Ich vermute, er wird Spezialbesteck benutzt haben.“

„Was ist mit der Videoüberwachung und der Alarmanlage?“ Zach zeigte auf technische Installationen über der Tür.

„Kein brauchbares Bildmaterial. Eine schattenhafte Figur trat in den Eingang, wo sie dem Sichtbereich der Außenkamera entzogen war. Ein Alarm wurde nicht ausgelöst. Zwanzig Minuten später verlässt sie das Lokal auf demselben Weg.“

„Das heißt, prinzipiell könnte Mr Campbell die Person eingelassen haben?“, erkundigte sich Veronica.

„Da bin ich überfragt. Vielleicht,“ sinnierte Miller. „Am besten lassen Sie sich den Polizeibericht zeigen. Ich kenne lediglich die Zeitungsberichte, denn ich war zu sehr von Mr Campbells Tod mitgenommen und darüber hinaus auch damit beschäftigt, alles bei einem Ableben Notwendige zu veranlassen.“

Zach nickte verständnisvoll. „Kann ich gut nachvollziehen. Ich bin selbst schockiert.“

Der Notar hatte den passenden Schlüssel identifiziert, steckte ihn ins Schloss der Ladentür und öffnete sie. Eine Glocke bimmelte. „Bitteschön. Treten Sie ein,“ sagte er, während er voranging.

Veronica und Zach folgten ihm in den Verkaufsraum. Die Helligkeit, welche das Schaufenster hereinließ, gab sich schon nach wenigen Schritten einem trüben Dämmerlicht geschlagen. Miller betätigte einen Schalter, Lampen flammten auf. Nun konnten sie sehen, dass sie höchstens fünfzehn Meter von der hinteren Wand trennten, in die eine massiv wirkende Tür eingelassen war. Es gab keine weiteren Öffnungen. Direkt hinter dem Eingang stand eine kleine Holztheke, darauf eine altertümliche Registrierkasse, ein klobiger schwarzer Fernsprecher mit Wählrad und ein Schallplattenspieler. Auch der Rest des Ladens war mit Holzmöbeln ausgestattet, die alt aber gut in Schuss gehalten waren: prall bestückte Bücherregale, Sortierkästen voller Schallplatten, eine Garderobe behängt mit extravaganter Bühnenkleidung, Tische voller Kleinkram, der sich als Instrumentenzubehör herausstellte, zwei Postkartenständer…

„Ich bin zwar nicht vom Fach, aber sehe hier nur gewöhnliche Musikantiquitäten“, stellte Veronica fest. „Kaum eines Verbrechens wert, wenn Sie mich fragen.“

„Das täuscht. Der Wert der in diesem Raum enthaltenen Gegenstände dürfte ein Mehrfaches Ihres gemeinsamen Jahreseinkommens betragen. Aber Sie haben natürlich insofern recht, dass man bei mangelnder Fachkenntnis wohl ziemlich schwer schleppen müsste, damit sich das Verbrechen lohnt. Man muss schon wissen, wo man hingreift.“

„Wo lagern denn die außergewöhnlichen Stücke, die im Inventar aufgelistet sind?“

„Im Hinterzimmer gibt es eine mit einer Stahltür versehene Nische, eine ehemalige Besenkammer, möchte ich meinen. Dort befindet sich auch der Aufgang zur Wohnung.“

„Die Treppe, auf der Onkel Paul gefunden wurde?“

Jules R. Miller nickte.

„Mit anderen Worten hat der nächtliche Besucher nicht nur das Sicherheitsschloss der Fronttür geknackt, sondern auch die Hintertür“, folgerte Zach. „Gilt dasselbe für den Besen-Safe?“

„Mr Campbell muss ihn erwischt haben, bevor der Einbrecher den Safe öffnen konnte. Wenn die Inventarlisten auf neuestem Stand waren – und daran habe ich keinen Zweifel – dann ging der Täter mit nahezu leeren Händen nach Hause. Es fehlen lediglich etwa zweitausend Pfund aus der Tageskasse, Wechselgeld, mehr oder weniger, und irgendein Manuskript, das wohl auf oder unter dem Tresen gelegen haben muss.“

„Weiß nicht,“ murrte Zach, „das kommt mir alles Spanisch vor. Ergibt das für dich Sinn, Veronica?“

„Man kann sich so manche Geschichte ausdenken, die darauf einen Reim ergibt. Wie wär‘s damit: Der Täter täuscht einen Notfall vor und erschleicht sich so Zutritt zum Verkaufsraum. Die Tür zum Hinterzimmer stand offen, weil Onkel Paul hindurchgegangen ist. Der Täter will ihn zwingen, den Safe zu öffnen, es kommt zur Auseinandersetzung. Danach gerät der Täter in Panik, schnappt sich das Geld und steckt das Manuskript ein, das er zufällig bemerkt, jedoch ohne zu wissen, um was es sich handelt. Dann flüchtet er. Derlei geschieht zwar meistens an Tankstellen oder in Alkoholläden, und statt des Stapels Papier geht eine Stange Zigaretten mit, aber Menschen sind schon für weniger als zweitausend Pfund umgebracht worden.“

„Alles Spekulation. Statten wir besser dem Polizeirevier einen Besuch ab.“

Miller, der dem Wortwechsel mit unbewegter Miene gefolgt war, meldete sich zu Wort: „Faszinierend. Sie haben einen scharfen Verstand, junge Dame, und ich würde mich nur zu gern noch ein Weilchen mit Ihnen über die Sache unterhalten. Leider ist meine Zeit auch heute begrenzt. Daher möchte ich vorschlagen, dass ich Ihnen den Rest des Gebäudes zeige, wenn Sie erlauben.“

„Selbstverständlich,“ stimmte Zach zu. „Wo befindet sich die sichere Kammer?“

„Kommen Sie.“

Der Notar geleitete sie durch die Hintertür in einen weiteren fensterlosen Raum. Nachdem er den Lichtschalter betätigt hatte, sah man, dass das Zimmer ein zweisitziges Sofa, einen dazu passenden Sessel, einen Couchtisch, sowie eine kleine Bar mit Kühlschrank und Kaffeemaschine enthielt. In einer Ecke führte eine steile Holztreppe in den Oberstock. Eine andere Ecke war abgemauert und mit einer stabilen Metalltür verschlossen.

„Der Pausenraum. Ihr Verwandter hat hier Gäste empfangen – Freunde, potenzielle Kunden, Vertreter.“ Miller trat vor die Metalltür, wählte einen Schlüssel und steckte ihn ins Schloss. Nach zwei Umdrehungen, die leise vertrauenerweckende Geräusche verursachten, klickte es satt. Miller zog am Griff. Die gewichtige und in der Tat beeindruckend massive Tür schwang auf. Die im Inventar erwähnten Gegenstände von besonderem Wert – Perücke, Gitarre und Zombie-Maske sowie einige Schallplatten, Tonbandrollen, Kleidungsstücke und Handschriften – lagen in Regalen, die eine Kammer von weniger als dreißig Quadratfuß umgaben. Daneben sah man auch kleinere Teile, die aus dem persönlichen Besitz berühmter Personen stammen mussten: ein kunstvoll ziselierter Goldring, eine perlmuttbesetzte Zigarettendose, zwei Meerschaumpfeifen, ein Teeservice und anderes mehr. „Hier verwahrte Paul… Mr Campbell Objekte, für deren Beschaffung er von seinen Kunden beauftragt worden ist.“

„…beziehungsweise solche Töpfe, die geduldig auf das Eintreffen des passenden Deckels warteten.“

„Welch ausgezeichnete Metapher; ganz recht, Ms Ziegler. Das Warenbuch wird Ihnen verraten, worum es sich jeweils handelt. Die Namen der Auftraggeber, sofern es solche gibt, sind im Buch verzeichnet. Ich empfehle Ihnen, mit den Kunden Kontakt aufzunehmen, um das Kapital zu verflüssigen und das Diebstahlrisiko zu minimieren. Vielleicht kommt der Einbrecher ja wieder, wenn etwas Gras über die Sache gewachsen ist. Leider notierte Mr Campbell Aufträge von Stammkunden ohne Adressdaten, und obendrein unter ihren Pseudonymen.“

„Pseudonyme? Weshalb das denn? Handelt es sich um Hehlerware?“, wollte Zach wissen.

Der Notar zog eine Grimasse. „Soweit ich Mr Campbell kannte, arbeitete er sauber. Natürlich gibt es Sammler, deren Enthusiasmus für ihr Steckenpferd… sagen wir, mit einer recht liberalen Auslegung der britischen Rechtsnormen einhergeht. Aber das war, wie erwähnt, nicht sein Metier.“

„Was war denn sein Metier?“, hakte Veronica nach.

„Die Musikszene Liverpools, Mersey Beat, das Cavern-Viertel, und vor allem die Beatles. Mr Campbell hat durch geschickte An- und Verkäufe von außergewöhnlichen Beatles-Fundstücken ein kleines Vermögen verdient. Er hatte in der Szene den Ruf, darüber hinaus fast jedes beliebige Objekt auf Wunsch beschaffen zu können. Hier in der Stadt sind wir stolz auf unsere Pilzköpfe; wir versuchen, die besten Stücke im Schoß der Familie zu behalten. Paul… hm… Mr Campbell hat maßgeblich dazu beigetragen, dass das möglich war. Der internationale Konkurrenzdruck ist enorm, wie man an den Auktionspreisen ablesen kann. Dennoch findet man ein halbes Dutzend der bemerkenswertesten Beatles-Sammlungen in Liverpool und der näheren Umgebung. Die Eigentümer kennen einander und treffen sich regelmäßig. Sie identifizieren sich mit ihren Idolen und haben sich entsprechende Spitznamen zugelegt.“

„Waren Sie Kunde bei meinem Stiefbruder? Sind Sie ebenfalls Sammler?“

„In sehr bescheidenem Maße. Wir alle hier pflegen unsere Nostalgie. Mir bedeutete die Fachsimpelei mit Mr Campbell mehr als der Besitz von materiellem Tand. Es war in besonderem Maße aufregend, seine Schritte mitzuverfolgen, wenn er wieder eines dieser extrem raren Objekt zu finden versuchte.“ Der Notar schien einen Moment in Erinnerungen zu schwelgen, dann sagte er: „Schauen wir uns die Wohnung an. Es wird bald Zeit für mich, die Rückfahrt anzutreten.“

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