Veronica fühlte sich in ihrem Innersten erschüttert. Die Informationen, die sie von Maria erhielt, verliehen dem, was sie zu wissen glaubte, eine völlig neue Bedeutung. Sie veränderten das Bild, das sie sich von der Welt gemacht hatte, dramatisch. Die Weiterungen, die sich daraus ergaben, konnte sie im Moment natürlich nur schemenhaft absehen, doch ihr Ausmaß mutete schon jetzt monströs an. Etwas in ihr stellte sich quer, wollte nicht wahrhaben, was ein anderer Teil ihres Verstandes als korrekt erkannte. Dass die Wirklichkeit anders beschaffen war, als offizielle Stellen sie darstellten, hatte sie dank langer tiefschürfender Gespräche mit ihrem Vater längst begriffen, aber konnte denn… alles falsch sein, einschließlich ihrer eigenen Erklärung dafür, weshalb so vieles zwischen den Menschen – gelinde gesagt – ungünstig verlief?
Sie unternahm einen schwachen Versuch, Marias Erläuterungen zu relativieren: „Mir scheint das übertrieben. Die meisten Leute, die ich kenne, hegen keine bösen Absichten. Sie wollen nur das Beste für sich, ihre Familie und Nachbarn. Man kann ihnen doch nicht vorwerfen, dass sie Spaß haben oder ihre Jobs behalten möchten.“
„Wir alle wollen das. Es ist völlig natürlich. Aber wenn das alles ist – wenn es jenseits von mir selbst und dem, was zu mir gehört, keine Werte, Tugenden oder Ziele gibt, und wenn ich nicht bereit bin, meinen Vorteil mit dem Wohlergehen anderer in Einklang zu bringen –, dann entsage ich dem Guten. Und ich fördere den Zerfall aller Gemeinschaft. Inzwischen lösen sich nicht mehr nur unsere Gesellschaften und Familien auf, sondern auch der einzelne Mensch als Person: Viele haben keine Ahnung, wer sie sind oder was sie sind. Sie besitzen keine eigene Identität mehr und damit auch keinen eigenen Willen. Sie werden zu Freiwild für jeden Rattenfänger mit genug Geld und Einfluss, der sie für seine Zwecke instrumentalisiert. Sagen Sie mir: Wo stehen wir heute im Vergleich zu den Sechzigern? Sieht es danach aus, als ob der naive Wunsch, es möge mir und den Meinen gut gehen, zu einer besseren Welt geführt hat? Gibt es weniger Verbrechen, Lügen, Kriege, Armut, Ausbeutung und Umweltprobleme? Oder geht der Plan der Olympier auf, das Vertrauen in die alten Strukturen zu zerstören und die Gesellschaft immer mehr zu atomisieren?“
Veronica schüttelte den Kopf. „Sie stellen es so dar, als hätte diese ominöse… Elite… alles unter Kontrolle. Ich kann einfach nicht glauben, dass sie mit solch monströsen Plänen durchkommen könnten. Die Leute würden sich wehren.“
„Oh, die Kontrolleure müssen ihre satanische Zielen nicht einmal hinter dem Berg halten. Alles, was ich Ihnen erzähle – und mehr –, können Sie in Veröffentlichungen von Regierungen, globalistischen NGOs, transatlantischen Thinktanks und so weiter wiederfinden. Der Chef des Weltwirtschaftsforums – selbst eine Marionette – brüstet sich damit, seine Puppen weltweit in Regierungen, Parlamenten und Konzernen sitzen zu haben. Ihre Namen stehen in öffentlich zugänglichen Listen, aber die Bevölkerungen gehen weiterhin schön brav wählen und arbeiten. Erinnern Sie sich; es ist ja gar nicht lang her: Wie viele Leiter von Institutionen, Verwaltungsstellen, Organisationen, Medienhäusern, Gewerkschaften, Kirchen, Verbänden, Kultureinrichtungen, großen Vereinen und Konzernen haben Sie gezählt, die dem Narrativ vom Killervirus widersprochen haben? Wie viele haben Zweifel an der Wirksamkeit der Maßnahmen geäußert? Wie viele haben Bedenken wegen der eklatanten Rechts- und Verfassungsbrüche im Namen der Gesundheit zu Protokoll gegeben oder die massiven Angriffe auf die Menschenwürde verurteilt? Wie viele Maßnahmenverweigerer kennen Sie in Ihrem Umfeld? – Und was geschah mit den wenigen, die es wagten, aufzumucken?“
„Ich…“ Die Stimme der jungen Detektivin versagte.
„Die Olympier haben uns genau dort, wo sie es wollen. Wachen Sie auf, Veronica. Die Welt, in der wir leben, ist kein Zufallsprodukt. Sie wird aktiv gestaltet von Leuten, die Motive, Mittel und Gelegenheit haben, ihre erklärten Ziele durchzusetzen.“
„Alright!“, brüllte John Lennon, dann verklangen die letzten verzerrten Gitarrentöne. Zach, der den frühen Nachmittag nutzte, ein paar der besten Gassenhauer der Beatles auszugraben, fühlte sich in seiner Rolle als Diskjockey wie um dreißig Jahre verjüngt. Veronica nahm die Ablenkung dankbar an. Während ihr Vater den Plattenspieler am Verkaufstresen bestückte, tanzte sie die Gänge des Ladens entlang nach hinten und wieder nach vorn. Gemeinsam hatten sie ‚Michelle‘ und ‚All You Need Is Love‘ mitgesungen und zu den aggressiven Tönen von ‚Revolution‘ abgerockt.
„Nach all dem, was ich über sie in Erfahrung gebracht habe, gefällt mir ihre Musik noch immer so gut wie in meiner Jugend“, sagte Zach.
„Und doch fühlt es sich ein wenig anders an“, widersprach Veronica. „Es geht zumindest mir so. Dir nicht?“
„Klar. Da schwingt nun etwas mit, das wir früher nicht gehört haben – besonders, was die Texte angeht. Wenn damals ‚Revolution‘ lief, sprach es meine rebellische Ader an. Du verstehst schon: der Sound, der Titel… Heute bemerke ich erst, dass das Stück eigentlich gar kein Aufwiegler ist. John gibt zu verstehen, dass manche scheinbar revolutionären Handlungen ins Leere laufen, und, naja, wir alle wollen Veränderung; was soll‘s?“
„Ja. Maria erwähnte heute früh so etwas in der Art. Alle schreien ‚Revolution! Revolution!‘, ohne zu wissen, was sie jenseits der Zerstörung der alten Ordnung damit erreichen wollen. Was am Ende im Gedächtnis hängen bleibt, ist der Titel des Stücks und die Unzufriedenheit mit dem eigenen Dasein. Ich vermute, die Beatles hätten ihre Hände in Unschuld gewaschen, wenn ihnen jemand Aufruf zur Rebellion vorgeworfen hätte.“
„Bei mir hat‘s ganz toll funktioniert“, stimmte Zach ihr zu.
„Ist dir übrigens aufgefallen, dass John singt: ‚But when you talk about destruction, don‘t you know that you can count me out… in‘? Was soll das denn aussagen?“
Zach blickte erstaunt auf. „Wirklich?“
„Ja, am Ende der ersten Strophe.“
„Nein, habe ich überhört.“ Er startete den Plattenspieler erneut und legte den Tonarm auf die Einlaufrille der Scheibe. Diesmal wiegte er nur sanft mit dem Kopf im Takt, während er intensiv den Textzeilen folgte. „Tatsächlich!“, brach es aus ihm hervor, als kurz nach Johns Äußerung, dass man nicht auf ihn zählen solle, ein winziges dahingehauchtes Wörtchen das genaue Gegenteil verkündete. „Kreuzdonnerwetter,“ fluchte er, „gibt‘s denn bei diesem Musikverein kein einziges Mal eine klare Aussage?“
Veronica grinste. „Vielleicht solltest du zu den Stones wechseln. Von denen bekommst du Satan, Sex und Drogen ohne alberne Versteckspiele geliefert.“
Zach suchte etwas, das er nach ihr werfen konnte, fand aber nur einen Bleistiftstummel. Veronica fing ihn aus der Luft. Sie legte den Kopf schief und kicherte: „Dann lass dich halt weiter von deiner Käferbande plagen.“
Spät am Abend steckte Veronica ihren Kopf ins Studierzimmer. Zach saß noch immer über seine Karteikarten gebeugt und schrieb Notizen. „Willst du nicht bald ein Ende finden? Es geht auf Mitternacht zu.“
„Was bist du? Die Weltuntergangsuhr?“, scherzte der Detektiv.
„Nein, deine Mutter. Und nun ab ins Bett!“
„Och, jetzt schon?“, quengelte Zach. „Darf ich das hier noch fertig machen?“
„Zachary Archibald!“, donnerte Veronica.
„Na schön. Es geht eh nur um Kleinigkeiten. Sieh mal, das ist der Plan für die Interviews. Ich habe heute die restlichen Zeugen abtelefoniert.“ Er zeigte ihr den Terminkalender.
Sie las: „Freitag 14 Uhr: Miller; Samstag 9 Uhr: Rocky; 13 Uhr: Mustard; Sonntag 9 Uhr: Paul; Montag 10 Uhr: Henry. – Okay, wir werden also zügig durchkommen, trotzdem bleibt genug Luft für vertiefende Recherchen… oder Verschnaufpausen. Was geschieht am Sonntag?“
„Der Postbote brachte heute einen Brief von Miller. Pauls Einäscherung ist für neun Uhr angesetzt.“
„Oh…“ Sie schwieg einen Augenblick. Dann fragte sie: „Ich war noch nie bei so etwas dabei. Ist das gruselig anzusehen?“
„Nein. Wir werden am offenen Sarg Abschied nehmen – also im konkreten Fall erst einmal ‚Hallo‘ sagen. Zwanzig Jahre… davor gruselt mich am meisten.“
Veronica nickte. Sie hatte schon Erfahrungen mit dem Tod gesammelt, sogar Leichen angefasst. Pauls Anblick würde sie wohl nicht schockieren. Aber sie konnte sich vorstellen, dass es besonders bedrückend für ihren Vater sein musste, nach so langer Zeit der Trennung nur noch einem Toten zu begegnen.
„Danach wird die Kiste verschlossen und verschwindet durch eine Öffnung“, fuhr Zach fort. „In ein paar Tagen bekommen wir die Asche in einer Urne überreicht; alles sehr sauber und antiseptisch. Es ist kein Vergleich zu dem, was ich in Varanasi gesehen habe. Dort verbrennen sie die Leichen offen auf Holzstößen und streuen die Asche danach in den Ganges. Du kannst alles ganz genau beobachten.“
„Eines Tages werde ich es mir ansehen. Doch gerade jetzt…“
„Gerade jetzt brauchen wir keinen weiteren Nervenkitzel. Ganz meine Meinung.“ Er klappte den Bildschirm in die Tischfläche zurück und erhob sich. „Zeit, etwas Ruhe zu finden.“
Sie verließen das Studierzimmer. Veronica hielt vor ihrer Tür inne. Ohne sich umzudrehen sagte sie: „Gute Nacht, John-Boy.“
Zach lächelte. „Gute Nacht, Elizabeth.“
„Guten Morgen, Signore Ziegler“, grüßte Maria ihren Arbeitgeber am Freitag Morgen. „Heute sind sie aber früh auf den Beinen. Haben Sie etwas vor?“
„Guten Morgen, Mrs Borghese. Ja, ich habe tatsächlich Termine, aber erst am Nachmittag. Ich schlief ein wenig unruhig. Da dachte ich, der Tag nimmt einen besseren Anfang, wenn ich etwas tue, statt mir das Kreuz platt zu liegen. Übrigens…“
„Si, Signore?“
„Was halten Sie davon, wenn wir uns die Höflichkeiten schenken uns beim Vornamen anreden?“
„Einverstanden.“
„Ich auch,“ rief Veronica, die gerade aus dem Hinterzimmer zu ihnen gestoßen war. „Veronica.“ Sie streckte der Italienerin die Hand hin. Die ergriff sie, schüttelte sie ein Mal und sagte: „Maria.“
„Nenn mich Zach“, sagte der Detektiv und streckte ihr ebenfalls die Hand hin. Maria reichte die ihre. Die beiden sahen sich einen Moment länger in die Augen, als die Etikette es erlaubte. Ein Hauch von Röte flog über Zachs Gesicht. Maria lächelte verträumt. Schließlich lösten sie die Hände.
„Steht heute etwas Besonderes an?“, erkundigte Maria sich.
„Du kochst uns allen einen schönen starken Kaffee“, kommandierte Zach. „Und währenddessen erzählst du uns, wie du zu deinem kuriosen Spitznamen gekommen bist.“
„Semolina Pilchard?“
Zach und Veronica nickten in perfektem Einklang, als folgten sie einer Choreographie. Maria lachte amüsiert. „Das ist schnell erklärt“, antwortete sie. „Er stammt aus dem Song ‚I am the Walrus‘ und verballhornt laut John den Namen eines englischen Polizisten, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, bekannte Musiker bei Drogendelikten zu erwischen.“
„Sowohl du als auch Onkel Paul führten Polizistennamen. Zufall?“, erkundigte sich Veronica.
Maria zuckte mit den Schultern. „Wir beide waren die Schnüffler der Familie, und wie die beiden Charaktere aus den Songs waren wir gut bei dem, was wir taten. Es passte gewissermaßen.“