31) Fristlos gefeuert

„Gestern statteten wir Mr Kite einen Besuch ab. Wir sprachen über dies und das, unter anderem erwähnte er das letzte Familientreffen. Sie erinnern sich?“

„Aber ja“, antwortete Molly Jones. „Wir haben uns sehr gut unterhalten. Weshalb fragen Sie?“

„Mr Kite hat mich beauftragt, einige Nachforschungen bezüglich eines Gegenstandes anzustellen, der an jenem Abend verschwunden ist“, erklärte Zach. „Können Sie dazu etwas sagen? Ist Ihnen etwas aufgefallen, zum Beispiel ungewöhnliches Verhalten der einen oder anderen Person?“

„Sprechen Sie von dem Manuskript? Das hätte PC31 mitbringen müssen, aber er kam ja dann nicht. Wahrscheinlich dachte er, das Treffen sei verschoben worden.“

„Wie kommen Sie darauf, dass er das dachte? Hat er etwas Entsprechendes gesagt?“

„Ich… weiß nicht“, stotterte die Sekretärin. „Weshalb fragen Sie mich? Stehe ich unter Verdacht?“

„Nein, überhaupt nicht. Sie haben das Schloss verlassen, bevor der Gegenstand abhanden kam. Es geht übrigens um ein Foto. Wurde im Verlauf des Abends über eine solche Aufnahme geredet?“

„Nicht unter meinen Ohren.“

„Worüber wurde dann geredet? Gab es Streit? Begehrlichkeiten?“

„Im Gegenteil. Bis auf das schamlose Verhalten dieses Mädchens, Duchess of Kirkcaldy, verlief es recht harmonisch. Wir sprachen über Objekte, die wir künftig für unsere Sammlung sichern wollten, und wir tauschten Anekdoten über McCartney, Lennon und so weiter aus. Bloß dieses… Flittchen! Sie wollte die ganze Zeit nur über unanständige Dinge reden. Wie die sich schon angezogen hat! Ich hatte den Eindruck, am liebsten wäre sie gleich ganz nackt erschienen.“

„Was missfiel Ihnen an ihrem Aussehen?“

„Sie hatte sich in ein knallrotes Domina-Kostüm gezwängt, oben wie unten keinen Inch länger als unbedingt nötig. Meine Mutter hätte mir den Hintern versohlt, wenn ich in dem Alter so rumgelaufen wäre.“

„Vielleicht war sie ja darauf aus, dass einer der Männer das übernahm? Hatten Sie das Gefühl, sie war hinter einer bestimmten Person her?“

„Nein, sie hat mit allen geflirtet – unangenehm aufdringlich.“

„Sind manche der Männer darauf eingegangen?“

„Sie blieben alle höflich aber distanziert. Gottseidank.“

„Ihnen ist also nicht aufgefallen, dass sie irgendwann mit jemand verschwunden wäre – sagen wir, auf die Toilette?“

Molly Jones kratzte sich an der Wange. „Hmm, nein. Ich fände das auch gar zu lächerlich. Sie ist ja noch ein halbes Kind.“

„Wissen Sie, wie alt?“

„Nicht genau. Siebzehn? Keineswegs volljährig.“

„Woher kommt sie eigentlich? Wer hat sie in die Gruppe eingeführt, beziehungsweise wie kam der Kontakt zustande?“

„Wer sie ist, weiß keiner so genau. Henry vielleicht. Der hat sie letztes Jahr in den Laden mitgebracht. Man erzählt sich, sie sei der illegitime Spross eines Adligen und lebe von dessen großzügigen Unterhaltszahlungen.“

„Wann haben Sie das Schloss verlassen und wer war um die Zeit noch anwesend?“

„Puh, schwer zu sagen. Bis auf meinen Mann waren wir alle schon ziemlich angeheitert. Ich habe nicht auf die Uhr geachtet. Vielleicht zwischen zwölf und ein Uhr? Als feststand, dass PC31 nicht mehr vorbeikommen würde. Der Arme. Wäre er zum Treffen gegangen, könnte er noch leben.“ Sie dachte nach. „Seltsam. Da Sie nun fragen, fällt mir auf, dass nur noch wenige Familienmitglieder zugegen waren, als ich mich verabschiedete: Dr Robert, Mr Mustard, Rocky Raccoon und Henry the Horse. Henry sah ebenfalls aus, als wolle er bald aufbrechen.“

„Wo, glauben Sie, befanden sich die anderen?“

„Mr Kite hat sich eine Stunde früher zurückgezogen. Er sagte, er sei müde und gehe nach oben. Auf die anderen habe ich nicht geachtet.“

„Halten Sie es für möglich, dass er mit Semolina und Duchess ‚nach oben‘ ging?“

Molly Jones schaute ihn an, als käme ihr die Idee zum ersten Mal. Sie blieb stumm, zog jedoch eine Grimasse, die andeutete, sie wisse es nicht und wolle es auch nicht wissen.

„Eine letzte Frage: Sind Sie auf direktem Weg nach Hause gefahren oder haben Sie unterwegs irgendwo angehalten?“

„Wir sind über‘s Zentrum gefahren. Mein Mann wollte mit den Kollegen auf dem Präsidium etwas klären. Dann sind wir nach Hause gegangen.“

„Wie lang dauerte das Gespräch?“

„Etwa eine halbe Stunde. Ich bin im Auto eingeschlafen, sobald wir das Schloss verlassen hatten, und nur kurz aufgewacht, als er nahe der Wache hielt.“

„Wann sind Sie zu Hause angekommen?“

„Gegen vier Uhr. Hören Sie, das war nun die dritte ‚letzte Frage‘“, beschwerte sich Molly Jones. „Macht es Ihnen was aus, wenn wir über nettere Dinge reden?“

„Keineswegs. Entschuldigen Sie bitte meine Zudringlichkeit. Ich habe Ihnen noch gar nicht gesagt, wie sehr Sie mir in Ihrem Kleid gefallen.“

Die Sekretärin errötete und schaute zu Boden. „Dankeschön.“

„Sie hat es bei Paul gekauft“, warf Veronica ein, die das gesamte Interview hindurch still auf einem Schemel neben der kleinen Bar gesessen hatte.

„Ist das wahr? Und ich dachte, wir handeln in Musikalien.“

„Im weitesten Sinne ist das Kleid Teil der Geschichte der Beatles“, sagte Molly Jones. „Es gehörte Pattie Boyd…“

„…der ex-Freundin von George Harrison“, ergänzte Zach. „Ihnen steht es mindestens eben so gut.“

Jones errötete erneut. Von ihr unbemerkt tanzten Veronicas Augenbrauen. Zach zwinkerte seiner Tochter zu. Er sagte: „Würde es Ihnen etwas ausmachen, Ihren Mann zu informieren, dass ich gern mit ihm reden würde?“

„Donald? Er weiß bestimmt nicht mehr als ich.“

„Und wenn schon. Dann unterhalten wir uns eben bei einer Tasse Kaffee über das Sammeln oder den neuesten Ermittlungsstand zum Mord an meinem Stiefbruder. Ich kann Ihnen versichern, dass Veronicas Kaffee den im Präsidium bei weitem aus dem Feld schlägt. Möchten Sie ihn probieren?“

„Hört, hört!“, unkte seine Tochter.

„Einverstanden“, erwiderte Molly Jones.

Und so erhielt Ludwig Lederrachen eine weitere Gelegenheit, seine Künste vorzuführen, wenn auch unbezahlt.


Sehr spät am Abend klingelte das Telefon sein klassisches Metallglockengeläut, das den ganzen Tisch zum Schwingen anregte. Veronica hob den Hörer ab. „Anscchluss von Paul Campbell, Ziegler am Apparat.“

„Guten Abend, Veronica. Holen Sie mir Ihren Vater“, sagte eine hyänenhaft klingende Männerstimme.

„Wer spricht dort?“

„Sie wissen genau, wer hier spricht.“

„Ich weiß nur, dass Ihre Kinderstube zu wünschen übrig lässt. Wer spricht dort?“

„Holen Sie mir Ihren Vater an den Apparat!“, sagte die Stimme mit drohendem Unterton.

„Rufen Sie wieder an, wenn Sie Manieren gelernt haben.“ Veronica legte auf.

Zach streckte den Kopf zur Tür herein. „Wer war das?“

„Woher soll ich das wissen? Er wollte seinen Namen nicht nennen. Wahrscheinlich unser spezieller Freund der Schlossbesitzer.“

„Du hast echt Haare auf den Zähnen, dem Mann den Hörer aufzulegen. Ich bin ihm einen Anruf schuldig; erster Report.“

„Schlossbesitzer oder nicht – wenn er meint, mich herumkommandieren zu können, dann gibt‘s nur eine Antwort: Arsch lecken. Du lässt dir seine Gestapo-Manieren ja auch nicht gefallen.“

Zach verdrehte die Augen. Was erwartete er? Er hatte sie so erzogen – und er war zufrieden. Er lachte. „Dann will ich mal anrufen, um mir die Prügel abzuholen.“

„Gib bloß nicht klein bei. Für mein Verhalten stehe ich selbst ein“, sagte Veronica energisch, die Augenbrauen zusammengezogen.

Exakt in jenem Moment, als Zachs Hand über dem Hörer hing, klingelte das Telefon erneut. Er riss ihn von der Gabel und sagte barsch: „Ja!?“

„Mister Ziegler,“ sagte die Stimme am anderen Ende, „ist das Ihre Art, einen Auftrag zu erledigen?“

„Was gefällt Ihnen daran nicht?“

„Ihr Tonfall, zum Beispiel, oder dass man einfach auflegt. Was ist außerdem aus Ihrem versprochenen Tagesbericht geworden?“

„Wenn Sie einen anderen Tonfall wünschen, bekommen Sie ihn, sobald Sie anfangen, respektvoll mit Ihren Gesprächspartnern umzugehen. Ich bin keiner Ihrer Lakaien.“ Der Detektiv sprach langsam, ruhig und ziemlich leise. Vom anderen Ende hörte er kein Geräusch. Als der Anrufer Luft holte, schnitt er ihm das Wort ab: „Soweit es Ihren Auftrag betrifft: Ich war heute mit vorbereitenden Arbeiten beschäftigt, ohne die weitere Ermittlungen nur ein Stochern im Nebel darstellen – und ich habe zwei Zeugen vernommen. Es liegt in der Natur der Sache, dass deren Aussagen erst im Licht weiterer Erkenntnisse einzuordnen sind. Falls Sie in der Lage sind, die Lösung des Falls durch sachdienliche Hinweise zu beschleunigen – etwa, indem Sie die Tatsache erwähnen, dass das fehlende Objekt die ganze Nacht unbeaufsichtigt außerhalb des Safes herumlag –, wäre ich Ihnen sehr dankbar.“

„Ich sagte Ihnen, Sie sollen nicht gegen mich ermitteln!“, bellte Kites Stimme aus dem Hörer.

„Und ich sage Ihnen, dass es so nicht funktioniert. Sie lassen mich meine Arbeit auf meine bewährte Weise erledigen oder Sie suchen sich einen anderen Dummen, der Ihre eklatanten Verstöße gegen Vernunft und Anstand korrigiert.“

„Mit wem haben Sie gesprochen?“

„Das steht in meinem Abschlussbericht am kommenden Dienstag.“

„Sie sind gefeuert!“, schrie Kite ihn an.

„Wie Sie wünschen. Ich mache die Rechnung gleich fertig“, erwiderte Zach und ließ den Hörer auf die Gabel fallen. Das Geräusch und die Vibrationen, die der alte, schwere Festnetzapparat dabei erzeugte, befriedigten ihn zutiefst. Die Körperlichkeit des Vorgangs blieb nur wenig hinter dem Gefühl zurück, dem anmaßenden Anrufer tatsächlich eine schallende Ohrfeige verpasst zu haben. An dem Tag, an dem eine App erschien, die es realitätsgetreu emulieren konnte, würde er seine ablehnende Haltung gegenüber Smartphones vielleicht revidieren.

Veronica blähte die Backen und ließ die Luft langsam zwischen den Lippen entweichen. „Ich fürchte, die großen Aufträge können wir uns aus dem Kopf schlagen, ganz zu schweigen von unserer Aufnahme in die Familie.“

„Ganz recht. Daraus wäre sowieso nichts geworden, weil ich nie vorhatte, sein Schwarzgeld anzunehmen. Im Übrigen wird mir dieser seltsame Club mit seinen dehnbaren Moralvorstellungen immer suspekter. Wie hat Kite Maria und Henry bezeichnet – nicht flexibel genug?“

„Dass er uns keine Aufträge geben wird – okay. Mit unseren bescheidenen Erwartungen ans Einkommen kommen wir bestimmt auch ohne ihn blendend zurecht. Mir kann der Abstand zu dem Typ gar nicht groß genug sein. Dass wir ihn nun gegen uns aufgebracht haben, könnte dagegen das Ende des Fab Store bedeuten.“

„Und darum werde ich den Teufel tun, die Ermittlungen einzustellen. Wir brauchen etwas gegen ihn in der Hand. Was wir von Maria und Molly gehört haben, verschafft uns möglicherweise großkalibrige Munition.“

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