27) Kaspertheater

Spät am Abend hatte sich Zach doch noch aufgerafft, seine Aufgabenliste nach Prioritäten zu ordnen und den einzelnen Punkten ein Zeitbudget zuzuordnen. Da Semolina morgen in aller Frühe zum Putzen im Laden eintreffen würde, stand ihre Befragung ganz oben auf der Liste. Das fand er günstig, denn er vertraute ihr; er glaubte, sie würde wahrheitsgemäß auf seine Erkundigungen antworten. Überdies besaß sie eine scharfe Beobachtungsgabe. Daher hoffte er, dass ihre Aussagen den Einstieg in den Fall erleichterten. Eine bessere Interviewpartnerin konnte er kaum finden.

Was sie zu sagen hatte, würde möglicherweise, wenn nicht sogar wahrscheinlich, die Reihenfolge seiner Liste verändern. Dennoch musste er die Ermittlungen geordnet angehen. Er brauchte eine Aufstellung von Eröffnungsfragen, und bei der Gelegenheit würde er auch gleich für jeden Zeugen beziehungsweise Verdächtigen eine Karteikarte anlegen; auf ihr sollten die bekannten Informationen zur Person stehen und offene Fragen vermerkt werden. Das war ein mechanischer, wenig anspruchsvoller Vorgang, aber er half dabei, Ordnung im Datenwust zu halten, der erfahrungsgemäß schnell entstehen würde, und damit Zeit beim Wiederauffinden gesammelter Informationen zu sparen.

Er begann, die Karteikarten mit Hilfe des Warenbuchs, den Notizen aus dem Gespräch mit Henry und den Erinnerungen an Mr Kites Aussagen zu erstellen.


Viertel vor acht Uhr am nächsten Morgen ging Zach in den Laden hinunter, um Maria abzufangen, bevor sie ihre Arbeit begann. Sie besaß ihren eigenen Schlüssel, so dass sie jederzeit kommen und gehen konnte, ohne auf die Anwesenheit Paul Campbells angewiesen zu sein. Die Zieglers sahen keinen Grund, weshalb sie das Arrangement ändern sollten. Wenn Paul ihr vertraut hatte, konnten auch sie es. Wie an den beiden vorangegangenen Tagen traf die Italienerin zehn Minuten früher ein. Sie hatte ein freundliches Lächeln im Gesicht und grüßte Zach eher herzlich als höflich.

„Signora,“ sagte der Detektiv in gespielt italienischem Akzent, die zweite Silbe des Wortes betonend und mit jener überschwänglich südländischen Sprachmelodik, die er bei Maria aufgeschnappt hatte. „Wasse kaan ich Gutes für Sie tuun?“

Die Putzhilfe gab ihm einen Klaps auf den Unterarm und beäugte ihn spitzbübisch. „Ach, Sie! Malträtieren Sie die Sprache meiner Eltern nicht. Sonst rede ich Sie in Zukunft nur noch auf Schwäbisch an, Signore Ziegler.“

Zach tat erschreckt. Ein reumütiger Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. „Bloß nicht. Ich würde Ihr italienisch gefärbtes Englisch vermissen.“

„Na dann – Haben Sie heute einen besonderen Wunsch, was ich tun soll, oder spule ich mein normales Programm ab?“

„Ich hatte nicht den Eindruck, dass Sie Ihre Arbeit wie ein Roboter verrichten, Maria. Aber ich hege tatsächlich einen Wunsch. Kommen Sie nach hinten. Setzen wir uns. Es geht um ein ernstes Thema.“

Als sie im Hinterzimmer Platz genommen hatten, Zach im Sessel, Maria Borghese auf dem Sofa, sagte der Detektiv: „Veronica und ich haben gestern William Wallace Campbell besucht…“

„Ich weiß“, erwiderte die Italienerin.

„Sie wissen es? Woher?“

„Henry hat mir davon erzählt. Was in der Familie vor sich geht, bleibt zwar in der Familie, aber dort pflanzt es sich mit Überschallgeschwindigkeit fort.“

„Schön. Zuerst würde ich gern wissen, ob es zwischen meinem Stiefbruder und diesem… Campbell-Clan irgendwelche verwandtschaftlichen Beziehungen gibt.“

Veronica kam aus der Wohnung herunter, grüßte Maria herzlich und warf die Kaffeemaschine an. Dann setzte sie sich still auf die Treppe, um das Gespräch aus dem Hintergrund zu verfolgen.

„Meines Wissens nicht“, fuhr die Italienerin fort. „Campbell ist hier ein so häufiger Familienname wie Müller, Meyer oder Schmidt in Deutschland.“

„Beruhigend. Er führte sich auf, als sei der Fab Store nach ihm benannt.“

„Si, das kann er gut.“

„Ich habe nach dem, was er sonst noch alles gesagt hat, tausend weitere Fragen. Die muss ich leider zurückstellen, denn Mr Kite hat mir einen dringenden Auftrag erteilt. Ich hoffe, Sie können mir dabei helfen.“

„Sicher, Signore. Welches Objekt sollen wir denn jetzt für ihn auftreiben?“

„Ein… Foto. Es handelt sich jedoch nicht um einen Auftrag für den Laden, sondern für mich in meiner Eigenschaft als Privatdetektiv.“

„Ach so? Wie kann ich helfen?“

„Kite sagte mir, dass am Abend des 30. April ein Familientreffen in seinem Schloss stattgefunden habe. Alle außer meinem Stiefbruder seien zugegen gewesen. An jenem Abend sei ein Foto aus seiner Sammlung abhanden gekommen. Können Sie mir etwas über den Gegenstand erzählen? Und wie verlief das Treffen?“

Die Italienerin hatte während seiner Worte überrascht die Augen aufgerissen, sich dann aber schnell wieder gefasst. Sie antwortete: „Normalerweise kommen wir alle halbe Jahre zusammen, um unsere neuesten Fundstücke herumzuzeigen. Üblicherweise koordinieren wir da auch weitere Beutezüge, um gezielt Lücken im Bestand zu füllen. Dieses Treffen galt jedoch dem Koffer, den Paul und ich nach monatelanger komplizierter Suche und endlosen Verhandlungen endlich nach Liverpool bringen konnten. Alle waren schon ganz gespannt. Das Objekt besitzt einen gewissen Kultstatus, nachdem es so lang verschollen war, sowie wegen seines Inhalts.“

„Was meinen Sie mit Lücken im Bestand?“, fragte Zach.

„Die Gegenstände sind zwar Privateigentum, aber wir sehen unsere Sammelaktivität als gemeinsame Bemühung, eine Art virtuelles Museum oder Dokumentationsprojekt aufzubauen.“

„Es gibt doch schon ein Beatles-Museum. Reicht das nicht? Was spricht dagegen, diesem zuzuarbieten?“

Maria Borghese verzog das Gesicht. „Signore Ziegler, nach allem, was Sie erfahren haben, glauben Sie da wirklich, das Beatles-Museum von Liverpool habe irgendein Interesse an unseren Memorabilien? Die spielen doch Kaspertheater für Familien mit Kindern. Den Hippies präsentieren sie die heile Welt der Sechziger, als der Dorfpolizist noch keine Ahnung hatte, wie Dope riecht oder wie ein Trip aussieht.“

„Und was spielen Sie? Schattenboxen?“, ereiferte sich Zach, doch es tat ihm sofort leid. „Entschuldigen Sie, Signora. Ich möchte nicht unhöflich sein. Auf mich macht dieses – wie nannten Sie es? – virtuelle Museum den Eindruck eines elitären Egotrips reicher Säcke wie dieses Mr Kite. Es entzieht sich meinem Verständnis, was eine integre Frau wie Sie darin zu suchen hat.“

„Schon gut. Ein paar von uns sind wie Kite, andere träumen tatsächlich von einem Dokumentationszentrum, in dem eines Tages die dunklen Seiten der Musikindustrie aufgearbeitet werden. Sowohl Ihr Stiefbruder als auch Henry und ich sind uns derselben bewusst. Die Zeit, wenn wir unser Wissen auf formelle Weise weitergeben können, liegt womöglich in ferner Zukunft. Im Moment müssen wir leider mit den selben Beschränkungen leben, die auch 9/11-Truther, ‚Covid-Leugner‘, ‚NWO-Spinner‘ und andere sogenannte ‚Verschwörungstheoretiker‘ betreffen. Am sichersten sind die Forschungen und die Sammlungen daher in privaten Händen aufgehoben.“

„Wie Sie es erklären, wird mir Ihr Anliegen verständlicher“, lenkte Zach ein. „Es könnte sogar sein, dass Sie recht haben. Auch einige der anderen Wissenschaften sind auf diese Weise entstanden. Ein paar Scharlatane sammeln Mumien, ein paar Idealisten sieben den Sand nach alten Knochen, ein paar Diebe plündern Gräber, ein paar Romantiker lesen antike Texte, ein paar Imperialisten schmücken sich mit historischen Federn fremder Völker. Es wird mehr zerstört als bewahrt, aber am Ende haben wir Archäologie, Anthropologie, Ethnologie, Historiografie und Soziologie als ordentliche Fächer, und die großen katalogisierten und dokumentierten Sammlungen im British Museum und anderswo.“ Er schwieg einen Moment. Dann sagte er: „Was war denn nun auf dem Foto zu sehen, das Kite angeblich gestohlen wurde?“

„Hat er es Ihnen nicht gesagt?“

„Sagen Sie mir, was es darstellt“, wich er der Beantwortung ihrer Gegenfrage aus.

Die Maschine spotzte und spuckte die letzten Tropfen kochenden Wassers über dem Kaffeepulver aus. Veronica schenkte drei Tassen ein, servierte ihrem Vater und Maria jeweils eine davon und setzte sich mit der dritten zurück auf die Treppe.

„Es handelt sich um eine Aufnahme aus der Pathologie. Man sieht die nackten Schultern und den Kopf eines toten Mannes – zumindest sieht man, was vom Kopf noch übrig ist. Er ist weiß, hat dunkle Haare, keinen Bart. Er macht den Eindruck, als sei er jung gestorben, aber sein Alter war ohne Gesicht natürlich schwer zu schätzen…“ Langsam fügte sie hinzu: „Der Schädel war durch den Schlag mit einem stumpfen Gegenstand bis zum Gaumen hinunter gespalten.“

„Uh, grausig. Konnten Sie an irgend etwas erkennen, wer der Tote war?“

„Nein. Der Leichnam war zwar weitgehend von Blut und Hirnmasse gereinigt worden, aber ich entdeckte keinerlei Anhaltspunkte für eine Identifizierung. Es gibt zwei Datenpunkte, die eine gewisse Hypothese stützen…“

„Sie glauben, dass man ihn auf dem Bild sieht?“

„Kite konzentriert seine Sammelaktivität auf Paul-ist-tot-Material; Punkt eins. Punkt zwei: Sie können dasselbe Bild für einen Sekundenbruchteil in einem der Videoclips zum Song 1882 sehen – McCartneys Song 1882.“

„Billy hat das Autopsiefoto eines Mannes mit gespaltenem Schädel in einem Promo-Video gezeigt?“

„Si. Bis es aus dem Verkehr gezogen wurde. Sie müssen die 2:31 lange Version ansehen. Bei 1:59 blitzt es kurz auf. Bevor man begreift, was es darstellt, flackern drei weitere Bilder über den Bildschirm. Das ganze Machwerk steckt voll seltsamer, scheinbar unzusammenhängender Bilder und Symbole. Da unterscheidet es sich in nichts von den Streifen zahlreicher namhafter Kollegen, die den MTV-Kids ins Unterbewusstsein gepumpt werden.“

„Ich will gar nicht daran denken, was das in deren Köpfen anrichtet. Woher kennen Sie das Foto? Hat Kite es auf dem Treffen herumgezeigt?“

„Die meisten von uns kannten es aus dem Musikvideo. Da wir den Tod des biologischen Paul McCartney für gegeben erachten, klopfen wir jede neue Veröffentlichung im Umfeld der Beatles nach Hinweisen ab. Kite hat sich den Originalabzug des Fotos schon Jahre früher beschafft, sagt er. Er prahlt gern damit, hat uns aber nie einen Blick darauf gewährt.“

„Haben nicht Sie und mein Stiefbruder es besorgt?“

„Nein, er hat Desmond darauf angesetzt.“

„Desmond Jones? Donald Wickens, der Polizist?“

„Genau der. Er besitzt Drähte bis ganz nach oben. Er weiß wahrscheinlich sogar, wo Paul McCartney den Unfall hatte.“

Zach schnaubte. „Er wollte mich überzeugen, dass ich ganz schön dumm sei, Ammenmärchen wie die Doppelgängertheorie zu glauben.“

„Natürlich. Es ist sein Job.“

Der Detektiv überlegte einen Moment, ob er schockiert sein oder sich in Marias gelassenes ‚Natürlich‘ ergeben sollte. Er entschied sich für die zweite Option. Er hatte während seiner Laufbahn als privater Ermittler zu viel erlebt, um Illusionen über das Gute im Menschen zu hegen. Er glaubte an dieses Gute, o ja. Jeder neue Erdenbürger wurde damit geboren; und dann wurde er Tag für Tag unbarmherzig in Formen geprügelt, auf denen Wörter wie ‚Arbeitskraft‘, ‚Konsument‘, ‚Steuerzahler‘, ‚Bürger‘ oder ‚Kanonenfutter‘ standen. Er wurde so lang niedergeknüppelt, bis jeder Knochen seines Rückgrats gebrochen und er zu benommen oder weichgekocht war, um für etwas geradezustehen, das nicht der Schmerzvermeidung diente. Nur wenige Menschen waren heutzutage zu mehr fähig.

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